Griechischer Abschied - Stella Bettermann - E-Book

Griechischer Abschied E-Book

Stella Bettermann

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Beschreibung

Nick Zakos, Halbgrieche und Star der Münchner Mordkommission, ist urlaubsreif. Doch aus Ferien wird nichts, weil auf einer griechischen Insel die Leiche einer deutschen Urlauberin gefunden wird. Da es sich um die Ehefrau eines ranghohen bayerischen Politikers handelt, wird Nick um Amtshilfe gebeten. Nick ist alles andere als begeistert — Griechenland kann ihm gestohlen bleiben, seit sein Vater die Familie verlassen hat. Doch als er schließlich auf der Dodekanesinsel ankommt, erwacht seine griechische Seele zum Leben — nicht zuletzt wegen der attraktiven Inselpolizistin Fani. Und in genau diese Seele muss er eintauchen, um den äußerst verwickelten Fall zu lösen, denn griechische Rache ist süß ...

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Das Buch

Nick Zakos, Halbgrieche und Kommissar der Münchner Mordkommission, ist urlaubsreif. Doch dann wird auf einer griechischen Insel die Leiche einer deutschen Urlauberin gefunden und Nicks ›Ferien‹ gestalten sich anders als geplant. Da es sich bei der Toten um die Ehefrau eines ranghohen bayerischen Politikers handelt, wird er um Amtshilfe gebeten. Nicks Begeisterung hält sich in Grenzen: Seit sein Vater die Familie verlassen hat, als Nick noch ein Kind war, kann Griechenland ihm gestohlen bleiben. Doch als er auf der Dodekanes-Insel ankommt, erwacht wider Erwarten sein griechischer Geist zum Leben – nicht zuletzt wegen der attraktiven Inselpoli­zistin Fani. Und mit diesem Gespür für griechische Emotionen gelingt es ihm, den verwickelten Fall um Schulden, Macht und Rache zu lösen.

Die Autorin

Stella Bettermann, Tochter einer Griechin und eines Deutschen, lebt mit ihrer Familie in München, wo sie als Journalistin und Autorin arbeitet. Ihre Griechenland-Bücher Ich trink Ouzo, was trinkst du so? und Ich mach Party mit Sirtaki waren Spiegel-Bestseller. Griechischer Abschied ist ihr Krimi-Debüt.

Stella Bettermann

GRIECHISCHER ABSCHIED

Kriminalroman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Mai 2015

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © Sakis Papadopoulos, Kollektion: Robert Harding World Imagery/Getty Images

ISBN 978-3-8437-1088-6

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Prolog

Der schrille Ton in ihrem Ohr schwoll an und ab wie eine Sirene. Alles um sie herum wankte. Die Treppen zum Hotel­eingang schienen auf einmal zu schwimmen und die Plastiktüte mit den drei Halbliterflaschen Retsina schlug mit einem klirrenden Geräusch gegen das eiserne Geländer.

Nein, ich bin nicht betrunken, sagte sie sich. Es waren nur ein paar Gläschen zum Mittagessen gewesen und dann die leichten Biere später am Hafen. So ein dünnes Gebräu, das man sowieso gleich wieder ausschwitzte bei diesen Temperaturen hier. Sicher war es nur die Hitze.

Vorsichtig ließ sie sich auf die steinernen Stufen sinken, die auch jetzt noch, in der anbrechenden Nacht, Sonnenwärme abstrahlten, und stellte Handtasche und Tüte neben sich ab. Erst mal tief durchatmen. Sie presste die Finger gegen ihr Ohr. Der Ton war noch da, leiser jetzt. Ein junges griechisches Paar trippelte mit einem höflichen »Kalispera« die Treppe hinab, der lange, dünne Rock der Frau streifte ihren nackten Arm wie eine Geisterhand.

Es war noch nicht spät, Abendessenszeit, zumindest nach südländischer Gepflogenheit. Sie mochte um diese Uhrzeit ­allerdings nichts mehr essen. Außerdem war sie müde, es war ein anstrengender Tag gewesen. Sie hatte viele Leute getroffen, viele Gespräche geführt, meist auf Englisch. Den Abend wollte sie in aller Ruhe bei einem kühlen Gläschen ausklingen lassen.

Sie strich sich die blonden Haare hinters Ohr und erschrak: Ihr Gesicht war überzogen von kaltem Schweiß. Aber immerhin fühlte sie sich nach der kurzen Verschnaufpause wieder etwas besser. Sie zog sich am Geländer hoch und bewältigte die wenigen Stufen problemlos.

Das Foyer des kleinen Hotels war vollkommen leer. An der Rezeption drehten sich summend die Rotorblätter eines Ventilators. Dennoch war die Luft stickig. Sofort kam das Schwindelgefühl zurück. Auch der hohe Ton in ihrem Kopf wurde wieder lauter. Am Ende des Raums, hinter der Tür, die in den Küchenbereich führte, läutete ein Telefon. Sie ging ein Stück in diese Richtung. Vielleicht gab es dort eine Köchin oder eine Putzfrau, die sie um Hilfe bitten konnte.

Auf halber Strecke blieb sie unschlüssig stehen. War das wirklich nötig? Höchstwahrscheinlich war ohnehin niemand da. Das Telefonläuten war immer noch nicht verstummt.

Neben dem Ventilator lagen die Schlüssel der Gäste auf dem Tresen aufgereiht. Die junge Rezeptionistin ließ sich nach zwanzig Uhr nicht mehr im Haus blicken, und einen Nachtportier gab es nicht. Sie griff nach dem Schlüssel mit der Nummer fünf und stolperte den Gang entlang bis zu ihrer Tür. Dort schob sie den Schlüssel mit zitternden Händen ins Schloss und taumelte in ihr Zimmer. Fast hätte sie sich übergeben müssen, als sie sich zu dem kleinen Kühlschrank hinunterbückte, um eine Flasche Wasser herauszuholen. Dann riss sie die Terrassentür auf, ließ sich aufs Bett sinken und presste sich den kalten Kunststoff der Wasserflasche gegen ihre Stirn.

Noch einmal erholte sie sich. Eine leichte Brise vom Meer bauschte die Vorhänge und brachte Abkühlung, und der Ausblick auf das sanfte Schaukeln der Fischerboote in der Bucht wirkte beruhigend auf sie. Dann bog die Fähre draußen vor dem Hafen um eine Felsformation und gelangte so in ihr Sichtfeld – das Schiff wirkte so unwirklich nah und erschreckend groß, dass sie das Gefühl hatte, sie könnte es berühren, wenn sie nur den Arm ausstreckte. Die Fähre war illuminiert wie ein ­gigantischer Weihnachtsbaum und so riesig, dass sie kaum in die kleine, pittoreske Bucht zu passen schien.

Sie hatte den abendlichen Anblick und die Geräusche des rasant einfahrenden Schiffes stets genossen, wenn sie mit einem Glas Retsina auf der kleinen Hotelterrasse saß.

Doch plötzlich war das Sausen in ihren Ohren wieder da, viel lauter als zuvor, und sie hatte das Gefühl, als würden sich gläserne Wände um sie schließen. Wie in einem Aquarium, unter Wasser. Jedes Geräusch von außerhalb drang nur noch als dumpfer Hall zu ihr: das Rasseln der Ketten, mit denen die Autoklappe heruntergelassen wurde, die Rufe und das Lachen am Hafen, die aufheulenden Motoren. Sie verspürte einen Druck auf der Brust, der stärker und stärker wurde und sich bis ins Unerträgliche steigerte. Auf einmal wusste sie, dass sie aus diesem Aquarium nie mehr herauskommen würde. Panik ergriff sie. Sie bäumte sich auf, ihr Körper schüttelte sich wie im Krampf, die zuckenden Beine verhedderten sich mit dem Leintuch. Sie wollte schreien, doch aus dem aufgerissenen ­Rachen kam nur ein qualvolles Krächzen. Den Körper grotesk verrenkt und ins Bettlaken verwickelt fiel sie aus dem Bett auf den harten Kachelboden. Sie spürte einen dumpfen Schmerz. Dann erlosch ihr Bewusstsein.

Kapitel 1

An den meisten Tagen konnte Hauptkommissar Nick Zakos seinen Kollegen Albrecht Zickler gut riechen, und zwar schon von weitem. Das war auch an diesem Morgen so. Ein appetitlicher Duft schlug Nick Zakos entgegen, als er die Tür zu ihrem gemeinsamen Büro öffnete. Zickler hatte die Beine hochgelegt und biss gerade herzhaft in seine Brotzeit.

»Auch eine Leberkassemmel?«, fragte der Kollege statt einer Begrüßung und hielt ihm eine alubeschichtete Tüte von der Metzgerei nebenan hin.

»Logisch! Danke«, sagte Zakos, fischte sich das andere Exem­­plar aus der Tüte und biss hinein.

Zakos fiel auf, dass sein Kollege etwas mitgenommen wirkte. Auch die Wahl seines Frühstücks ließ darauf schließen: Zickler hatte stets dann Gusto auf Deftiges, wenn er am Vortag feiern gewesen war.

»Du schaust ganz schön fertig aus«, sagte Zakos. »War’s schlimm?«

Zickler nickte düster. »So einen Hängowa hatt ich schon lang nimmer. Am Ende warn wir sogar noch in der Sonnenstraße tanzen!« Er schüttelte sich.

Albrecht Zickler befand sich gerade in Endlosschleife auf Hochzeitsfeiern, Polterabenden und, wie gestern, auf Jung­gesellenabschieden. Er war jetzt Anfang dreißig, etwas jünger als Zakos, und sein Freundeskreis schien nichts anderes mehr im Sinn zu haben, als unter die Haube zu kommen. Und solche Anlässe wurden naturgemäß nicht mit Spezi und Saftschorle bestritten. Bei jedem anderen als Zickler, der mit seiner kräf­tigen Statur und Trinkfestigkeit all diesen Anforderungen gut standhalten konnte, hätte Zakos sich ernsthaft Sorgen gemacht.

»Irgendwann wird dieser Hochzeitsmarathon ja auch mal vorbei sein«, versuchte er seinen Kollegen zu trösten.

»Nix is, das geht weiter bis in den Oktober«, widersprach Zickler tapfer.

»Arbeiten kannst du aber schon, oder?«

»Immer! Aber ich könnte einen von deinen Muntermachern gebrauchen!«

»Ah, einen Elliniko!« Das war der griechische Mokka. Zakos verwahrte in der Teeküche eine Tüte des entsprechenden Kaffeepulvers. Er bezog es von den türkischen Gemüsehändlern im Viertel, denn die Türken brauten das Getränk ja auf die gleiche Weise wie die Griechen. Außerdem standen im Schrank noch eine kleine Blechkanne und ein Satz Espressotassen.

»Sollst du haben! So ein griechisches Kaffeethaki erweckt Tote zum Leben«, erklärte Zakos mit Inbrunst.

»Was für ein Saki?!«

»Ein Kaffeechen. Kaa-fee-thaa-kii …« Zakos hatte Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand zusammengelegt und fuchtelte damit vor seinem Gesicht herum, als würde er sich jede Silbe einzeln aus dem Mund ziehen. Es wirkte sehr südländisch.

»Schon gut. Heb dir die Hellas-Show für deine weiblichen Fans auf«, knurrte Zickler. »Sag mal, macht ihr das in Griechenland auch, Junggesellenabschied mit extra bedruckten T-Shirts und so?«

»Extra bedruckte T-Shirts?«, fragte Zakos zweifelnd. »Was stand denn drauf?« Die Vorstellung, dass der Kollege in einem Trupp grölender Kampftrinker in Einheitskluft durch die Stadt zog, fand er mehr als skurril.

»Ach, ist doch wurscht«, meinte Zickler und errötete.

»Kannst du mir doch ruhig erzählen«, beschwichtigte ihn Zakos und setzte ein vertrauenerweckendes Lächeln auf. »Ist doch nichts dabei.«

Zickler zögerte.

»Na, komm schon!«

»Also gut: ›Verliebt, verlobt, verkatert – Tobis Junggesellenabschied‹«, nuschelte Zickler.

»Wie bitte? Verliebt, verlobt und was?«

»Verkatert«, murmelte Zickler und blickte zu Boden.

»Und mit so was läufst du rum?«, prustete Zakos heraus. »Auf offener Straße?«

»Mei. War halt so. Aber jetzt erzähl mal: Was machen die griechischen Junggesellen?«

»Puh!«, machte Zakos. Er hatte nicht die geringste Ahnung. Schließlich war er in Untergiesing aufgewachsen, nicht in Griechenland. »Die machen sich bestimmt auch zum Deppen, keine Sorge.«

»Aha, wie denn? Oder weißt du’s nicht, alter Pseudogrieche?«, frotzelte Zickler.

»In Griechenland macht sich der Bräutigam nicht vorher, sondern direkt bei der Trauung zum Affen. Da muss er nämlich ein Kränzlein aus weißen Blumen tragen. Mehr kann ich dir dazu beim besten Willen nicht sagen.«

»Der Bräutigam? Nicht die Braut?«

»Doch, die auch. Beide halt!«

»Hart!« Zickler schüttelte den Kopf. »Und woher weißt du das?«, fügte er misstrauisch hinzu.

Zakos überlegte, und dann prustete er heraus: »Aus My Big Fat Greek Wedding natürlich! So, und jetzt mache ich dir schnell den Ka…«

Hinter Zakos erklang ein vornehmes Räuspern. Er fuhr her­um. Heinrich Baumgartner, Chef der Münchner Mordkommission und Zakos’ direkter Vorgesetzter, hatte sich im Türrahmen aufgebaut. Auch er sah heute nicht gut aus, trotz des teuer wirkenden Leinenanzugs und der neuen Sonnenbrille, die ihm noch wie zufällig im melierten Haar steckte. Die übliche frische Sonnenbräune in seinem Gesicht, die vom häufigen Mountainbiken herrührte, war an diesem Tag einem fahlen Grauton gewichen.

»Wir haben eine Brandleiche! Ihr müsst sofort los!«

Zickler seufzte und wischte sich den Mund mit einer der dünnen Papierservietten vom Metzger ab.

»Wo?«, fragte Zakos.

»Am Flaucher, rechte Isarseite, kurz vor der Holzbrücke. Muss ganz übel ausschauen.« Baumgartner blickte sich im Zimmer um. »Ihr solltet mal lüften. Hier drinnen riecht’s wie in ­einer Metzgerei.«

Zakos riss das Fenster zum Innenhof des Polizeipräsidiums in der Ettstraße auf, wo gerade zwei Kollegen von der Schutzpolizei ihre Motorräder starteten.

»Die Spurensicherung ist schon unterwegs«, erklärte Baumgartner ein bisschen lauter, um den Lärm zu übertönen. »Die Kollegen haben schon kurz mit der Frau gesprochen, die die Leiche gefunden hat. Sie wartet am Fundort auf euch, damit sie vernommen werden kann. Steht offenbar unter Schock, redet aber wie ein Wasserfall. Ihr Hund hat die Leiche aufgespürt. Es ist ein Mann, ansonsten aber unkenntlich.«

»Hauptsache, es ist keine Wasserleiche«, meinte Zickler im Plauderton. »Bei Wasserleichen wird’s Nick the Greek nämlich immer speiübel. Bei einer Grillleiche hingegen …«

Zakos versetzte ihm unauffällig einen Fußtritt, um den Rede­fluss zu unterbrechen. Sein Kollege hatte eindeutig noch Rest­alkohol.

Der Chef schaute erstaunt. »Was ist denn heute mit dem los?«, fragte er Zakos, als wäre Zickler gar nicht anwesend.

»Gar nix, wieso?«

»Nur so, der ist ja heute richtig redselig. Übrigens kommt die Astrid Kaminski mit. Du bist ja bald im Urlaub, Nick, da ist es am besten, wenn sie sich gleich in den Fall einarbeiten kann.«

»Die Astrid?«, fragte Zickler und wirkte auf einen Schlag vollkommen klar. Kommissarsanwärterin Kaminski konnte er nicht leiden. »Wieso denn die Astrid? Muss ich ausgerechnet mit der unerfahrensten Mitarbeiterin ermitteln, die wir haben, wenn der Nick weg ist? Kann man mir in so einer Situation nicht …?«

Aber Baumgartner hatte offenbar beschlossen, Zickler an diesem Tag keinerlei Gehör mehr zu schenken, und verließ den Raum.

Der Morgen war zu schön, um ihn mit einer Leiche zu verbringen, dachte Zakos. Insbesondere am Flaucher. Die Isar plätscherte in frischem Grüngrau dahin, und auf der Kiesbank ­lagen bereits eine Menge Leute und sonnten sich. Sogar vereinzelte Grillfeuer qualmten auf, dabei war es noch nicht mal zehn Uhr vormittags. Zakos wunderte sich immer wieder, wie viele Menschen tagsüber Zeit hatten.

Er selbst war bereits vor sieben Uhr aufgestanden und joggen gegangen. Auf dem Weg zurück in seine Altbauwohnung in der Sommerstraße hatte er noch einen Stapel weißer Hemden aus der Reinigung abgeholt. Ihm war aufgefallen, dass das Pilsstüberl neben der Reinigung verschwunden war. Hier würde demnächst eine Sushi-Bar einziehen, wie ein Aushang informierte.

Zakos mochte Sushi, und das alte Stüberl, aus dem stets ­penetranter Bierdunst und der unappetitliche Geruch nach altem Bratfett auf die Straße gedrungen war, hatte er nie von innen gesehen. Dennoch verspürte er Wehmut. Zakos wohnte in Giesing, seit er denken konnte, er war hier zur Schule gegangen und hatte bei 1860 Fußball gespielt. »Sein« altes Viertel, das bis dato noch nicht so überkandidelt war wie die benachbarten Stadtteile in Münchens Zentrum, drohte nun auch schicker und vor allem immer teurer zu werden.

Nach dem Frühstück hatte Zakos wieder einmal mit sich gerungen, ob er an diesem sonnigen Morgen umweltbewusst mit dem Fahrrad oder doch mit dem Wagen in die Ettstraße fahren sollte, und sich dann – wie meist – fürs Auto entschieden. Er hatte ein Faible für Autos, sein zwei Jahre alter Audi A6 besaß Ledersitze und ein Sonnendach. Endlich war ein Tag, an dem man es auch nutzen konnte. Zumindest morgens. Wenn Zakos abends nach Hause fuhr, war es meist schon zu kühl.

»Sind diese Leute eigentlich alle arbeitslos?«, wandte er sich angesichts der morgendlichen Sonnenanbeter an der Isar an seine beiden Begleiter. »Oder haben die im Lotto gewonnen? Was meint ihr?«

Er bekam keine Antwort. Zickler stierte beim Gehen auf den Boden und grummelte Unverständliches vor sich hin. Er hätte den Mokka wirklich dringend nötig gehabt. Aber daraus war nun nichts geworden. Astrid, die wegen ihres zierlichen Körperbaus im Dezernat auch die »kleine Astrid« genannt wurde, zuckte die Achseln. Sie wirkte angespannt, aber das tat sie immer, fand Zakos.

Kornelius Wagner, der Kollege von der Spurensicherung – weithin sichtbar in seinem weißen Spurensicherungsoverall und mit seiner Halbglatze, die in der Morgensonne rötlich leuchtete –, erwartete sie ungeduldig.

»Hi, tut’s mir einen Gefallen und schafft’s mir endlich die Alte mit dem Hund vom Hals!«, begrüßte er sie genervt und zeigte auf eine füllige ältere Frau, die sich etwas entfernt am Wegrand postiert hatte und einen kläffenden Yorkshire-Terrier an der Leine hielt. Offensichtlich die Dame, die den Leichenfund gemeldet hatte. »Der Köter nervt! Die ganzen Köter hier nerven!« Wagner konnte Hunde nicht ausstehen.

Allerdings wimmelte es tatsächlich nur so von Hunden. An der Isar wurden täglich Massen von Vierbeinern Gassi geführt, und die ließen sich von dem weiß-roten Plastikabsperrband, mit dem Wagner und seine Truppe den Fundort gesichert hatten, nicht fernhalten. Auch der uniformierte Polizist, der dazu abgestellt war, die Tiere zu vertreiben, kämpfte auf verlorenem Posten.

»Ja mei, ihr braucht’s halt einfach mehr von den Burschen«, sagte Zickler und wies mit dem Kinn auf den Kollegen, der armwedelnd und laut rufend versuchte, gleichzeitig einen jungen Golden Retriever und einen flinken Jack Russell zu verscheuchen. Der Blick, den Wagner seinem Kollegen Zickler daraufhin zuwarf, war so giftig, dass dieser sich wortlos auf den Weg zu dem angeleinten Kläffer und dessen Besitzerin machte.

»Der ist schon ein echter Schlauberger, dein Spezl«, sagte Wagner und schob die Ärmel des Overalls zurück. »Wo soll ich denn die ganzen Leute herkriegen, kann er mir das auch ver­raten?«

»Geh, komm schon, er meint’s doch gar nicht so. Der Al­brecht quatscht halt gern, kennst ihn doch!« Zakos setzte ein strahlendes Lächeln auf.

Wagner zuckte mit den Schultern und sagte ein wenig freundlicher: »Fünf Minuten brauch ich noch.« Dann ver­schwand er hinter der Absperrung im Gebüsch.

Zakos steckte die Hände in die Hosentaschen und blickte in den unglaublich blauen Frühsommerhimmel. Wieder musste er lächeln.

»Du bist richtig gut drauf, oder?«, fragte Astrid und blickte unter aschblonden Locken zu ihm hoch. »Freust dich schon auf deinen Urlaub?«

Zakos nickte, den Kopf weiterhin in den Nacken gelegt.

»Griechenland wahrscheinlich, oder?«

»Frankreich«, erwiderte er. »Die Eltern meiner Freundin haben bei Biarritz ein Ferienhaus.«

»Nobel, nobel«, sagte Astrid.

»Mhm«, machte Zakos. Auch ihm kam es oft so vor, als ob alles, was mit Sarah zu tun hatte, irgendwie nobel und elegant war.

In diesem Moment hörten sie Wagner pfeifen, kurz darauf steckte er den Kopf aus dem Grün. »Jetzt könnt ihr kommen. Aber bitte da entlang, und nichts zertrampeln.«

Die Leiche befand sich im kühlen Schatten auf einem Bett aus Bärlauch. Das Gesicht lag auf der Erde und war kaum zu sehen. Der ganze Körper wies schwerste Verbrennungen auf. Am schlimmsten betroffen waren die Hände, beziehungsweise das, was von ihnen noch übrig war. Astrid presste erschrocken eine Faust vor den Mund.

»Wo ist er denn, der Grillunfall?«, hörte man Zickler, der durch das Gebüsch zu ihnen vordrang. Dann verstummte er und stieß geräuschvoll den Atem aus.

»Ein Grillunfall ist hier wohl eher auszuschließen«, meinte Wagner lapidar. »Wobei natürlich weitere Laboranalysen bezüglich eventueller Holzkohlepartikel abzuwarten wären.«

Er räusperte sich.

»Klar ist, dass die tödlichen Verbrennungen durch eine ­extrem hohe Temperatur entstanden sind. Also waren Brandverstärker im Spiel. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Benzin – riecht ihr’s? Ihr müsst ein bisschen näher rankommen!«

Niemand rührte sich. Schließlich riss Zakos sich zusammen und umrundete die Leiche. Von der anderen Seite konnte man einen Blick auf das Gesicht des Opfers werfen. Er zwang sich, genau hinzusehen, nach Details zu suchen. Nein, es war wirklich nichts mehr zu erkennen, außer der Tatsache, dass das Haar des Mannes dunkel war, mit zahlreichen grauen Strähnen.

»Außerdem ist der Mann nicht hier zu Tode gekommen, wie unzweifelhaft feststeht«, rezitierte Wagner weiter. »Offenbar wurde er erst in den frühen Morgenstunden hier abgelegt. Dafür spricht auch, dass die Leiche keinerlei Bissspuren von Tieren aufweist.«

Astrids Gesichtszüge drohten jeden Moment zu entgleisen.

»Fußabdrücke?«, fragte Zakos.

»Und ob, jede Menge, ganz klar erkennbar. Ein spitzenmäßiger Boden ist das hier. Für uns jedenfalls. Da gleich hinter dir: jede Menge herrlichster Abdrücke.«

Zakos ging in die Knie. »Die sind ja winzig«, stutzte er. »Wie von einem Kind. Wie geht das denn?«

»Tja. Das geht, weil es wirklich der Abdruck eines Kinderschuhs ist«, stellte Kornelius fest. »Oder von einer sehr zier­lichen Frau. Größe 34 oder 35, schätze ich. Turnschuhe, vielleicht Converse. Bald wissen wir Genaueres.«

»Gibt’s Schleifspuren?«, wollte Zakos wissen.

»Nicht wirklich. Aber es gibt Reifenspuren. Genauer: Radlspuren«, sagte Wagner und wandte sich an eine junge Mit­arbeiterin, die Zakos noch nicht kannte. »Zeig mal einen Abdruck, Laura.«

»Laura Westphal«, stellte sie sich lächelnd vor. »Die Abdrücke sind noch nicht ganz trocken, Chef. Aber eines wissen wir schon: Die Spuren stammen nicht nur von einem Fahrrad, sondern auch von einem Radanhänger, in dem der Tote anscheinend transportiert wurde.«

»Ein Fahrradanhänger für Kinder?«, fragte Zakos verblüfft.

»Du sagst es, Nick«, entgegnete Wagner. »Ein Kinder-Radl­anhänger mit einer Brandleiche drin. Hat man auch nicht alle Tage.«

»Es gibt solche Anhänger aber auch extra für Hunde«, meldete sich Astrid zu Wort. »Meine Oma hat auch so einen. Die ist nämlich Hundesitterin.«

»Stimmt. Hundeanhänger kann natürlich auch sein«, sagte Wagner und blickte düster zu dem uniformierten Kollegen hin­über, der gerade einen Dackelbesitzer lautstark ermahnte, doch bitte sein Zamperl zurückzupfeifen. Mit mäßigem Erfolg. Das Tier preschte auf seinen Stummelbeinen geradewegs auf sie zu.

»Mei o mei, jeden Morgen brauch ich so was nicht! Vor allem net, wenn ich vorher Party gemacht hab«, stöhnte Zickler auf dem Rückweg zum Wagen. Er hatte kein Problem damit, sein Unwohlsein zu artikulieren. Er mochte skurrile Eigenheiten haben, aber er verstellte sich nicht. Das war das Angenehme an ihm.

Auch Zakos fühlte sich schlecht, der Anblick der Leiche hatte ihn runtergezogen. Zwar war er als Kommissar der Mordkommision regelmäßig mit dem Anblick von Toten konfrontiert, doch war es nicht so, dass sich über die Jahre eine Gewöhnung eingestellt hätte. Im Gegenteil, in den letzten Jahren reagierte er eher dünnhäutiger als zu Beginn seiner Laufbahn. Damals hatte er eine aufgesetzte Coolness an den Tag gelegt und seine Betroffenheit gar nicht erst zugelassen.

»Bisschen durchatmen wäre jetzt vielleicht nicht schlecht, ein paar Minuten wenigstens«, schlug er vor. Astrid sagte nichts, aber Zakos fand, dass sie beunruhigend blass wirkte.

Sie bogen vom Uferweg ab und stapften durch das Kiesbett zum Fluss, vorbei an den Sonnenanbetern auf ihren Handtüchern und ein paar halbwüchsigen Jungs. Schulschwänzer wahrscheinlich, dachte Zakos. Sie hatten bereits ein paar leere Bierflaschen neben sich liegen.

Vorne am Ufer war die Luft vom Rauschen des Flusses erfüllt und fühlte sich kühler an. Zickler hob ein paar Kiesel auf und ditschte sie über die Wasseroberfläche. Astrid bat Zakos um eine Zigarette. Er zündete sich ebenfalls eine an und in­halierte tief. Das Bild des halbverbrannten toten Mannes, der achtlos ins Gestrüpp gekippt worden war, wirkte noch nach, aber hier am Wasser ging es allen etwas besser.

Sie schwiegen. Zickler und Astrid haben wahrscheinlich noch nie ein Gespräch miteinander geführt, dachte Zakos. Er fragte sich, wie das mit der Zusammenarbeit zwischen den beiden überhaupt funktionieren sollte. Dann fiel ihm wieder ein, dass das ausnahmsweise einmal nicht sein Problem war. Er würde demnächst in den Urlaub fliegen. Schlagartig entspannte er sich. Er hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen, auch nicht gegenüber Zickler.

Seit zwei Jahren hatte er keinen nennenswerten Urlaub mehr gehabt, es war immer etwas dazwischengekommen. Nun wollte er sich einfach nur freuen. Biarritz! In seinen Ohren klang das durchaus verheißungsvoll.

In diesem Moment läutete sein Handy. Er kramte das Gerät aus der Tasche seiner Lederjacke und presste es ans Ohr. Es war Baumgartner: »Hallo Nick, sag mal – du sprichst doch Griechisch, oder?«

Kapitel 2

Griesgrämig starrte Zakos in die saftiggrüne oberbayerische Sommerlandschaft.

Vor seinem offenen Autofenster zogen sanft geschwungene Hügel mit braun-weißen gescheckten Milchkühen vorbei, idyllische Kastanienalleen und schöne, geranienverzierte ­Bauernhöfe. Er fand das alles einfach nur zum Kotzen.

»Warum müssen diese Leute unbedingt am Arsch der Räuber wohnen, kannst du mir das mal verraten?«, wandte er sich an Zickler, mit einem Furor in der Stimme, als sei dieser verantwortlich dafür. Das kam bei Zakos nur selten vor, aber heute konnte er Albrecht Zickler nicht ausstehen und auch sonst nichts und niemanden.

Zickler zuckte die Achseln. Er sah unglücklich aus. Mit der ungewohnt schlechten Stimmung des Kollegen konnte er nicht umgehen.

»Du darfst net alles so negativ sehen«, sagte er jetzt vorsichtig. »Es hat doch auch seine guten Seiten …«

»Gute Seiten? So? Was sollen das denn für gute Seiten sein?«, fauchte Zakos wütend. »Oder findest du es vielleicht gut, dass ich meinen Urlaub jetzt schon wieder stornieren muss?«

»Nein, aber …«, setzte Zickler an.

»Obwohl ich schon seit Ewigkeiten keinen Urlaub mehr hatte?« Zakos’ Stimme wurde immer lauter.

»Nein, natürlich nicht, aber …«

»Und dass Sarah mich wahrscheinlich killt, wenn sie das erfährt, das findest du vielleicht auch noch gut?« Zakos schäumte.

»Die Sarah?«, sagte Zickler. »Ja – weiß sie denn noch gar nix?«

Zakos schüttelte den Kopf.

»Auweia!«, machte Zickler.

Zakos nickte.

»Und wann willst du’s ihr endlich sagen?«

»Ach, lass mich doch in Frieden!«, schnauzte Zakos ihn an.

Zickler blickte schweigend vor sich hin. Er hatte Sarah einmal wütend erlebt, als er Zakos berufsbedingt mit mehreren Stunden Verspätung in ihrer Zahnarztpraxis abgeliefert hatte. Er war verblüfft gewesen, dass ein so ätherisch wirkendes Wesen derart laut werden konnte. Frauen wie Sarah waren der Grund, warum Zickler als Single eigentlich gar nicht so unglücklich war.

»Ja, die Sarah … das ist Stress pur, oder?«, rutschte es Zickler heraus. Wider Erwarten wurde Zakos durch die Bemerkung aber nicht noch wütender, sondern nachdenklich.

»Kann sein. Aber es lohnt sich«, sagte er schließlich mit einem schiefen Lächeln.

Sarah wusste genau, was sie wollte, und das hatte Zakos von Anfang an imponiert. Sie brauchte keine Schulter zum Anlehnen – ganz im Gegensatz zu seinen früheren Freundinnen. Doch mit Sarahs Stärke war nicht immer einfach umzugehen, es gab oft Streit. Etwa darüber, dass sie es in den zwei Jahren, die sie bereits zusammen waren, nicht zu einem einzigen gemeinsamen Urlaub geschafft hatten.

Und nun war es schon wieder vorbei mit den Ferienplänen. Gestern, nach der Leichenbesichtigung am Flaucher, hatte ­Baumgartner ihn in sein Büro bestellt.

»Auf einer griechischen Urlaubsinsel ist vor einigen Wochen die Leiche einer deutschen Urlauberin gefunden worden«, hatte Baumgartner das Gespräch eingeleitet.

»Und?«, hatte Nick misstrauisch entgegnet.

Baumgartner sah ihn verzweifelt an und druckste ein wenig herum, bevor er sagte: »Es handelt sich um die Frau von Staatssekretär Augustin von Altenburg. Du weißt schon, der Spezi vom Innenminister. Sie ist vor ein paar Wochen – also Anfang Mai – in ihrem Hotelzimmer auf der Insel Pergoussa gefunden worden. Höchstwahrscheinlich ermordet. Das glauben zumindest die griechischen Ermittlungsbehörden. Aber sie kommen nicht weiter. Und jetzt haben sie Amtshilfe beantragt.«

»Viele Leute kommen im Urlaub um«, antwortete Zakos lapidar. »Ich sehe nicht, was das mit mir zu tun haben soll!« Noch hegte er eine, wenn auch leise, Hoffnung, die Sache abwenden zu können.

Baumgartner seufzte. »Nick, ich weiß ja, dass du schon lange nicht mehr Urlaub hattest. Aber was soll ich denn tun? Du sprichst ja sogar die Sprache!«

Zakos schnaubte wütend. »Als ob heute nicht jeder Englisch könnte. Auch in Griechenland!«

»Das ist doch nicht dasselbe! Außerdem …«, fuhr sein Chef fort. »Altenburg ist ein hohes Tier! Da musste ich doch zusagen, einen unserer besten Leute zu schicken. Die haben mir keine Wahl gelassen, Nick!«

»Wie bitte?!«, entfuhr es Zakos. »Dann ist bereits alles beschlossene Sache, oder was?«

Es wurde ein längeres Gespräch. Am Ende setzte sich Baumgartner durch. Es gab einfach kein echtes Argument, jemand anderen als Zakos nach Griechenland zu schicken, das musste er am Ende selbst einsehen, er war der beste Mann dafür. Und ein Urlaub konnte verschoben werden. Im Grunde war Zakos die ganze Zeit klar gewesen, dass er aus der Sache nicht her­auskommen würde. Was ihn fertigmachte, war die Aussicht, Sarah enttäuschen zu müssen. Auch einen Tag später wusste er immer noch nicht, wie er ihr beibringen sollte, dass es einmal mehr nichts werden würde mit ihrem gemeinsamen Urlaub.

»Aber jetzt mal abgesehen vom Problem mit der Sarah: Andere Kollegen würden sich die Finger lecken, wenn sie plötzlich in Griechenland ermitteln dürften«, fuhr Zickler fort, während sie zum Anwesen der von Altenburgs fuhren. »Schön am Meer sein, immer lecker frischer Fisch auf dem Tisch, ab und zu einen kleinen Ouzo kippen, und dann dieser leckere Kaffee und …«

»Ha!«, stieß Zakos bitter aus. »Super, echt! Da unten ist Krise, Ali! Viel zu wenig Beamte, Dauerstreiks, schlechte Spurensicherung, weil sie an allem sparen müssen, Korruption, Vetternwirtschaft. Ich kann mir das bildhaft vorstellen. Und zwischen zwölf und achtzehn Uhr erreichst du nix und niemanden, denn da herrscht Mittagsruhe und alle pennen!«

»Hm, wann warst du eigentlich das letzte Mal dort?«

»Weißt du doch, vor ein paar Jahren, die Woche in dem Hotel auf Kreta«, antwortete Zakos.

»Nein, ich meine so richtig! Bei deiner Familie!«

Zakos schwieg. Das war eine halbe Ewigkeit her. Zakos’ Großeltern waren damals noch am Leben gewesen. Oft hatte er die Sommerferien in ihrem Ferienhaus auf dem Peloponnes verbracht, auch sein Vater war mit seiner zweiten Ehefrau Dora und den beiden jüngeren Halbgeschwistern meist eine oder zwei Wochen dazugestoßen. Doch Zakos und Dora hatten sich immer weniger gut verstanden, denn er hatte sich von ihr her­umkommandiert gefühlt. Damals war er siebzehn ge­wesen. Nach dem Tod seiner Großeltern hatte Nick seinen Vater kaum noch gesehen. Es hatte natürlich Telefongespräche ge­geben – zu Weihnachten, an Nicks Geburtstag oder am Namenstag des ­Vaters. Bei den Griechen war der Namenstag ein wichtigerer Feier­tag als der Geburtstag. Zakos fiel siedend heiß ein, dass er in diesem Jahr ganz vergessen hatte, sich zu melden und seinem Vater zu gratulieren. Griechische Traditionen hatte er in München nicht wirklich auf dem Radarschirm, ebenso wenig wie seine Mutter, die Deutsche war und ebenfalls nie in Griechenland gelebt hatte.

»Wohl schon eine Weile her, was?«, meinte Zickler, als sie die Hauptstraße verließen. »Na ja, erzähl doch mal was über den Fall. Ich weiß ja fast gar nix. Die Frau lag morgens tot in ihrem Bett, nicht?«

»Genau, im Hotel. Kreislaufversagen, mit vierundfünfzig«, antwortete Zakos.

»Kann vorkommen. Vielleicht war’s ja recht heiß«, spekulierte Zickler.

»Davon kannst du ausgehen. Pergoussa ist eine Dodekanes-­Insel, ganz im Süden. Da ist im Sommer eine Bullenhitze. Trotzdem, irgendwie ist dem Inselarzt die Sache wohl komisch vorgekommen. Wahrscheinlich liegen nicht laufend irgendwelche Touris tot in ihren Betten herum, trotz der Hitze. Jedenfalls hat er sie nach Rhodos in eine Patho zur Untersuchung geschickt«, berichtete Zakos, was er von Baumgartner und aus dem Ermittlungsbericht der griechischen Behörden erfahren hatte.

»In die Pathologie? Nicht in die Gerichtsmedizin?«

»Nein, zuerst nicht. Für die Gerichtsmedizin gab es zunächst keinen Anhaltspunkt. Dann natürlich schon. Schau mal auf den Bericht, liegt im Handschuhfach.«

Zickler zog ein paar gefaxte Seiten heraus und runzelte die Stirn. »Ich kann aber kein Griechisch lesen«, sagte er.

»Ich auch nicht so richtig«, gestand Zakos. »Blätter halt um, dahinter steht alles noch mal auf Englisch.«

Zickler raschelte mit den Seiten und formte die englischen Wörter beim Lesen tonlos nach.

»Clonidin«, sagte er schließlich. »Ein Medikament?«

»Blutdrucksenker, und zwar in flüssiger Form. Sie hatte genug intus für zehn. Absolut tödliche Dosis. Hape sagt, damit hat vor zehn Jahren eine Krankenschwester in Brandenburg ein halbes Altersheim in den Himmel geschickt.« Hans-Peter Seidl war einer der für sie zuständigen Gerichtsmediziner. Zakos hatte ihn am Vortag bereits zu dem Fall konsultiert.

»Vielleicht steckt ja irgendein Inselarzt dahinter oder eine Klinik«, meinte Zickler.

»Es gibt aber gar kein Krankenhaus in dem kleinen Kaff, nur diesen einen Arzt. Und der hat selbst die Untersuchung der Leiche angeordnet. Das hätte er ja wohl kaum getan, wenn er ihr das Zeug vorher verpasst hätte.«

»Na ja«, sagte Zickler. »Vielleicht war alles nur ein Versehen.«

»Vielleicht. Oder es war Mord. Davon geht jedenfalls die griechische Polizei aus.«

Der Arsch der Räuber war in diesem Fall Seeshaupt an der Südspitze des Starnberger Sees, wo das Navi sie in eine schmale Sackgasse lotste. Von hier aus war das berühmte Gewässer nicht zu sehen, dafür hatte man einen offenen Blick auf einen der kleineren Osterseen, und in der Ferne erhoben sich die Alpen. Zusammen mit dem weiß-blauen Himmel erinnerte die Aussicht an einen dieser Ölschinken, wie sie gern über den Betten in altmodischen Frühstückspensionen hängen. Nur der hochmoderne weiße Quader, an dessen Eingang sie nun standen, störte den Eindruck des bayerischen Idylls.

Zickler drückte auf die Klingel, und eine Überwachungs­kamera über dem Eingang schwenkte in ihre Richtung. Sekunden später wurde die Tür von einem Mädchen in löchrigen schwarzen Leggings aufgerissen. Um den Hals trug sie ein Hundehalsband mit Metallnieten, und in ihrem tiefschwarz gefärbten Haar blitzten türkisfarbene Strähnen.

Zickler zuckte ein wenig zurück, und Zakos musste unwillkürlich grinsen. Ein Punkgirl hätte er an diesem Ort am allerwenigsten erwartet. Ein Mann um die sechzig trat von hinten an die Halbwüchsige heran. Sofort drehte sie sich um und schlurfte eine breite Treppe nach oben in den ersten Stock.

»Von Altenburg«, stellte sich der Mann vor. Er hatte wache Augen und ein aalglattes Lächeln. »Und das war meine Tochter Magdalena. Wollen Sie nicht hereinkommen?«

Altenburg führte sie durch den Flur ins Wohnzimmer. Er war strumpfsockig, außerdem trug er Jeans. So leger hatte sich Zakos einen Politiker nicht vorgestellt. Andererseits: Wann hatte er schon jemals einen zu Hause besucht?

»Wasser? Oder Kaffee?«, fragte von Altenburg bemüht höflich. Er wirkte übermüdet und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Kein Wunder angesichts der momentanen Situation, dachte Zakos. Dieser Mann musste Schlimmes durchmachen. Trotzdem war er ihm auf Anhieb unsympathisch.

Das liegt daran, dass ich selbst gerade so schlecht drauf bin, sagte sich Zakos. Er bemühte sich um ein Lächeln. Es fiel ziemlich schmal aus.

Normalerweise war er großzügig mit seinem Lächeln, auch während der Arbeit. Das entsprang keinem professionellen Kalkül, sondern tatsächlich seinem sonnigen Gemüt. Dass er Gesprächspartner dadurch spontan für sich einnehmen konnte, war ihm allerdings durchaus bewusst. Zickler sprach von »Charmebolzen-Taktik«, was Zakos ein wenig respektlos fand. Gemessen daran verfolgte Zickler eher eine Grantler-­Strategie und blickte bei Befragungen die meiste Zeit grimmig drein. Es sei denn, es ging zufällig ums Essen oder Trinken. Bei dem Wort Kaffee hatte Zickler sofort glänzende Augen bekommen.

»Frau Wiesend, unsere Haushälterin, ist zwar gerade beim Einkaufen«, sagte der Staatssekretär. »Aber natürlich kann ich Ihnen auch gern einen Kaffee machen. Oder vielleicht einen Espresso …?«

Zakos wollte schon dankend abwinken, aber Zickler kam ihm dazwischen.

»Da sag i net nein«, sagte Zickler begeistert, und von Altenburg verließ das Wohnzimmer. Von irgendwoher hörten sie das Mahlgeräusch einer Kaffeemaschine. Dann geschah länger nichts. Entweder, dachte Zakos, bedient er das Ding zum ersten Mal in seinem Leben, oder er lässt uns absichtlich hier ­schmoren. Auf jeden Fall kam es ihm vor, als warteten sie eine Ewigkeit im Wohnzimmer, was Zakos’ Laune weiter verschlechterte. Dafür hatten sie genügend Zeit, das stylische Interieur gebührend auf sich wirken zu lassen.

Die hintere Front des Hauses bestand komplett aus Glas, und einer der schilfumsäumten Osterseen präsentierte sich dadurch wie auf einer riesigen Fototapete. Kaum etwas im Raum lenkte von der Aussicht ab – das hellgraue Ledersofa, auf dem sie Platz genommen hatten, war mehr oder minder das einzige Möbelstück.

»Mich friert’s«, sagte Zickler, als sie eine Zeitlang so gesessen hatten.

»Du spinnst, es sind locker fünfundzwanzig Grad«, antwortete Zakos, doch er wusste genau, was der Kollege meinte.

Schließlich kam von Altenburg und balancierte vorsichtig ein kleines Tablett mit zwei braunen Kaffeetassen in den Händen. Als er sie vor den Beamten abstellte, schwappte die Brühe in die Untertassen.

»Herr von Altenburg, es tut mir sehr leid, dass wir Sie in dieser Situation behelligen müssen«, sagte Zakos, was sein Gegenüber mit einem leichten Schulterzucken quittierte.

»Aber Sie werden sicher verstehen, dass wir Ihnen einige Fragen stellen müssen, um die Todesursache Ihrer Frau aufklären zu können. Zunächst einmal: Wie kam es, dass Ihre Frau ganz alleine im Urlaub war? Konnten Sie sie nicht begleiten?«

Es war als neutrale Frage gemeint gewesen, aber von Altenburg reagierte wie auf einen Angriff. Er richtete sich ruckartig auf, und in seine Stirn grub sich eine Zornesfalte. »Es ist ja wohl nicht verboten, alleine zu verreisen!«, fauchte er.

Zickler warf Zakos einen schnellen Blick zu. Zakos wusste, sie hatten beide denselben Gedanken, nämlich dass etwas nicht stimmte. Kein Mensch echauffierte sich so, ohne einen Grund zu haben. Fragte sich nur, welchen. Es musste ja nicht gleich der Mord an der eigenen Frau sein.

Zakos’ Laune war durch von Altenburgs Ausbruch allerdings noch mieser geworden. Er hasste es, wenn Menschen ihre negativen Emotionen nicht im Griff hatten. Aber es half nichts.

»Herr von Altenburg, wir ermitteln in einem Mordfall«, sagte er in bemüht sanftem Tonfall. »Da müssen wir alle Hintergründe erforschen.«

»Das ist sicher auch in Ihrem Interesse!«, fügte Zickler hinzu. Er hatte eine kräftige Stimme, die ihm etwas sehr Bestimmtes verlieh. In solchen Momenten war das durchaus hilfreich, fand Zakos.

»Tut mir leid!«, sagte von Altenburg nun und fuhr sich mit der Hand durch das ohnehin zerraufte Haar. »Ich habe immer noch nicht so richtig begriffen, dass Renate tot ist. Wir waren über zwanzig Jahre verheiratet!« Er machte eine Pause und stierte ins Leere. »Und jetzt heißt es plötzlich: Mord. Ich kann mir das alles gar nicht vorstellen. Wie kann das sein?«

»Genau das versuchen wir herauszufinden«, sagte Zakos und bemührte sich zu lächeln. Diesmal gelang es ihm einigermaßen. »Also?«

»Es handelte sich eigentlich nicht um einen Urlaub, sondern um eine Geschäftsreise«, berichtete von Altenburg. ­»Renate war Immobilienmaklerin. Ihre Firma arbeitet mit Architekturbüros, Inneneinrichtern und auch Investoren zusammen. Renate hat sie zusammengebracht. Stets zum Vorteil aller Betei­ligten. Sie kannte Griechenland sehr gut, weil sie seit ihrer Jugend häufig dort gewesen ist. Sie sprach sogar ein bisschen Griechisch. Auf Pergoussa gibt es offenbar eine Vielzahl sehr interessanter Objekte, für die sich deutsche und inter­nationale Käufer finden lassen. Wegen der Krise in Griechenland hat sie gehofft, solche Objekte günstig erwerben zu können …«

»Zum Vorteil aller Beteiligten, wie?«, fiel ihm Zickler ironisch ins Wort.

Von Altenburg starrte ihn empört an, schwieg aber.

»Kann es sein, dass sie sich dadurch auf der Insel Feinde gemacht hat?«, fuhr Zickler fort. »Vielleicht ist ja nicht jeder erfreut gewesen, dass da jemand die finanzielle Notlage der Leute zu seinen Gunsten ausnutzen will.«

»Davon kann überhaupt nicht die Rede sein!«, entgegnete von Altenburg scharf, als wäre Zicklers Bemerkung vollkommen abwegig. »Renate ist keine rücksichtslose Spekulantin gewesen! Soweit ich weiß, handelte es sich bei den Objekten häufig um regelrechte Ruinen. Die Leute dort sind oft heilfroh, wenn sie die losbekommen. Außerdem war Renate kein Mensch, der sich Feinde schafft. Sie war sehr offen und kontaktfreudig und hatte viele alte Bekannte auf der Insel, die sie während ihres Aufenthaltes treffen wollte. Und sicher auch getroffen hat.«

»Das wissen wir. Die griechischen Kollegen haben die Handy-­Kontakte und die Mails auf dem Laptop Ihrer Frau ausgewertet«, sagte Zakos. »Es wäre trotzdem von Vorteil, wenn Sie eine Liste jener Personen erstellen könnten, mit denen sie in Griechenland zu tun hatte.«

»Ich?«, fragte von Altenburg entrüstet. »Ich kenne diese Leute gar nicht. Außer einer Engländerin, Liz heißt sie, die ein Reisebüro auf der Insel führt. Sie ist eine alte Freundin von Renate gewesen, und natürlich hat sie schon mehrfach bei mir angerufen. Sie ist auch total geschockt. Vielleicht kommt sie zur Trauerfeier kommende Woche.«

An diesem Punkt angelangt, stockte der Staatssekretär. Er stand abrupt auf, ging zur Glasfront und blickte schweigend hinaus auf den See.

»Es ist mir sehr wichtig, dass die Sache aufgeklärt wird«, sagte er schließlich. »Das werden Sie tun, nicht wahr?«

»Wir tun unser Bestes«, sagte Zakos. »Darauf können Sie sich verlassen.«

»Natürlich«, sagte von Altenburg.

»Ein paar Fragen hätten wir noch«, sagte Zakos nach einer Weile. »Und vielleicht wäre es ganz gut, wenn Sie sich noch ein paar Minuten zu uns setzen könnten.« Er wollte von Altenburgs Gesicht sehen, wenn er mit ihm sprach.

Widerwillig ließ sich der Politiker wieder auf dem Ledersofa nieder.

»Was gibt es denn noch?«, fragte er, erneut ganz von oben herab. »Ich habe zu tun.«

Zickler übernahm. Zakos konzentrierte sich darauf, von Altenburg zu beobachten.

»Zunächst mal Folgendes: Was können Sie uns über Ihre Ehe erzählen? Würden Sie sagen, es war eine glückliche Ehe?«

Von Altenburg riss die Augen auf, seine Empörung war nicht gespielt.

»Wie bitte?«

»Sie haben mich schon ganz richtig verstanden«, sagte Zickler.

»Das klingt ja, als würden Sie mich verdächtigen?« Von Altenburg stieß ein höhnisches Lachen aus. »Muss ich als Nächstes etwa ein Alibi vorlegen?«

»Das ist das übliche Prozedere, ja«, sagte Zickler. »Es handelt sich schließlich um Ermittlungen in einem Mordfall.«

»Es geht um einen Mordfall in Griechenland! Und genau dort sollten Sie meiner Meinung nach ermitteln! Doch während kostbare Zeit verstreicht, sitzen Sie hier bei mir und ­stellen merkwürdige Fragen. Aber bitte, wenn Sie wissen möchten, wo ich mich während Renates Griechenlandreise aufgehalten habe, können Sie sich selbstredend an mein Büro wenden. Dort sind alle Termine dokumentiert. Und was unsere Ehe angeht: Wir haben eine absolut harmonische und glück­liche Beziehung geführt. Dazu können Sie befragen, wen Sie möchten.« Von Altenburg erhob sich. »Sonst noch was?«

»Ja«, schaltete sich Zakos wieder ein. »Hatte Ihre Frau einen Geliebten?«

Er hätte diese Frage nicht stellen müssen, das war ihm völlig klar. Doch irgendwie tat es ihm heute gut, einen Mann wie von Altenburg zu reizen.

Der Staatssekretär starrte Zakos an. Dann rollte er theatralisch mit den Augen. »Nein. Zumindest – nicht, dass ich wüsste. Und um Ihrer Frage zuvorzukommen: Auch ich habe kein außereheliches Verhältnis. Darf ich Sie nun hinausbegleiten, meine Herren?«

»Einen Moment noch«, sagte Zickler. »Wir würden gern noch mit Ihrer Tochter sprechen.«

Von Altenburgs Gesicht verdüsterte sich, »Wenn’s sein muss. Aber gehen Sie bei meiner Tochter bitte ein wenig sensibler vor. Sie können sich ja vorstellen, in welchem seelischen Zustand sich das Kind befindet.« Dann läutete sein Handy. Er nahm ab, zeigte mit der Hand zur Treppe, vertiefte sich ganz in sein Telefongespräch und hatte die Kommissare offenbar sofort völlig vergessen.

Magdalena von Altenburg hatte, im Gegensatz zu ihrem Vater, ganz offensichtlich wenig Interesse am Seeblick. Die Außen­jalousien in ihrem Zimmer waren herabgelassen, und an den Glasfronten hingen verschlissene Bahnen aus ausgefranstem, dunklem Stoff. Als Zakos’ Augen sich an das diffuse Licht gewöhnt hatten, erkannte er, dass sie diese mit braunem Paketklebeband direkt auf die Scheiben gepappt hatte. Auch an den Wänden hingen schwarze Stofffetzen. Das Zimmer war vollkommen chaotisch, überall türmten sich Wäscheberge, und auf dem Schreibtisch standen Gläser, Tassen, verkrustete Schüsseln mit Müsliresten und Batterien von leeren Bionadeflaschen. Zickler verdrehte die Augen und setzte sich vorsichtig auf den Schreibtischstuhl, als fürchtete er, sich mit irgendetwas anzustecken.

Magdalena lag auf dem Bett und tippte in rasender Geschwindigkeit auf ihr Smartphone. Sie trug im Gesicht das, was Zakos insgeheim salopp als »Besteckkasten« bezeichnete: jede Menge Piercings, an der Unterlippe, an der Nase und an den Augenbrauen. Zakos fragte sich, wann sie wohl begonnen hatte, sich all das Blech einsetzen zu lassen – er meinte in den Unterlagen gelesen zu haben, dass sie erst vierzehn Jahre alt war. Wirklich noch ein Kind. Doch das sah man nur noch an ihren Füßen, winzige Mädchenfüße, die in geringelten Söckchen steckten.

Magdalena machte ihnen per Handzeichen klar, dass sie beschäftigt war. Dann tippte sie weiter. Erst nach einiger Zeit legte sie das Handy neben sich aufs Nachtkästchen, richtete sich auf und sagte: »Tut mir leid, aber das war wichtig!« Ob sie wohl gerade per Facebook oder WhatsApp mit ihren Freundinnen über den Tod ihrer Mutter chattete? Setzten sich junge Mädchen im Internet über persönliche Dinge auseinander, oder ging es immer nur um Belanglosigkeiten und Schul­tratsch? Er hatte keine Ahnung vom Seelenleben einer Vierzehnjährigen, musste Zakos sich eingestehen.

»Haben Sie eine Zigarette?«, fragte Magdalena. »Meine sind alle.«

Zickler lachte kurz auf, doch Zakos hielt ihr seine Schachtel hin, was Zickler mit einem vorwurfsvollen Blick quittierte. Magdalena holte einen überquellenden Aschenbecher unter dem Bett hervor.

»Wird jetzt so richtig ermittelt – wie im Film?«, fragte sie mit neugierigem Blick unter dem blauschwarzen Pony.

Zakos nickte, zündete sich selbst eine Zigarette an und setzte sich ans Fußende des Betts. Er hatte das Gefühl, es wäre gut, erst mal gar nichts zu sagen, sondern einfach nur zu rauchen.

Als von ihrer Zigarette nur noch ein Stummel übrig war, sagte Magdalena leise: »Mir wollten sie erst gar nicht verraten, dass es Mord war. Ich hab’s nur zufällig erfahren, weil ich gehört habe, wie mein Vater es Frau Wiesend gesagt hat. Krass, oder?«

Zakos blickte sie an. Langsam war er gespannt darauf, was sie zu erzählen hatte.

»Total krass«, sagte er und kam sich ob der Wortwahl ein wenig lächerlich vor. »Du hast schließlich ein Recht darauf, darüber Bescheid zu wissen.« Kurz hatte er Angst, er würde anbiedernd klingen. Aber es war genau der richtige Tonfall, sie fühlte sich ernst genommen.

»Ja, nicht wahr? Ich meine – sie war schließlich meine Mutter! Trotz allem!«, sagte Magdalena und drückte wütend ihre Kippe aus.

»Trotz was?«, fragte er sanft.

Sie seufzte, dann sagte sie anklagend: »Man konnte nicht mit ihr reden!«

Ihre Empörung rührte ihn. Als wäre es etwas ganz und gar Ungewöhnliches, dass Heranwachsende und ihre Eltern oft Kommunikationsprobleme hatten. Aber für jedes Kind war es natürlich neu, immer wieder. Die Erfahrung, dass sich so etwas mit der Zeit von selbst gibt, würde Magdalena allerdings niemals machen können.

»Und mit ihm?«

»Mit ihm sowieso nicht. Ist ja fast nie da. Mama war aber auch nur selten da, oft waren alle beide in München. Wir haben da noch eine Wohnung. Ich hab hier meine Ruhe. Frau Wiesend macht keinen Stress«, sagte das Mädchen.

»Und wenn doch mal alle beide zu Hause waren?«

»Dann haben sie sich eigentlich immer gestritten. Voll krass!«, sagte Magdalena und griff nach der nächsten Zigarette. Wieder schwieg Zakos neben dem düster vor sich hin starrenden, qualmenden Mädchen, während Zickler, der Nichtraucher war, kopfschüttelnd aus dem Raum ging und im Flur demonstrativ hustete.

»Und du hast immer alles voll mitbekommen?«, fragte er schließlich.

Sie nickte langsam. »Total! Das war denen so was von egal, dass man ihr Geschrei im ganzen Haus hören konnte.«

»Worum ging’s denn da eigentlich?«

Magdalena senkte den Kopf und blickte auf ihre Bettdecke.

»Um mich. Weil ich schon von zwei Schulen geflogen bin. Und um Mamas Trinkerei. Sie war doch Alkoholikerin!« Sie sprach das Wort aus, als sei es ein Beruf oder eine Nationalität.

Zakos machte demonstrativ große Augen, aber es schien ihr gar nicht aufzufallen. Wahrscheinlich dachte sie, dass er als Polizist von Berufs wegen bereits alles über ihre Familie wüsste, vielleicht aus irgendeiner Akte.

»Mama war ja oft in der Klinik, aber das hat nie lange geholfen. Papa sagte, wenn sie nicht endlich aufhört, dann lässt er sie für immer wegsperren. Deswegen ist sie ja auch abgehauen, nach Griechenland.«

»Krass!«, sagte Zakos. Diesmal kam ihm das Wort ganz automatisch aus dem Mund.

»Armes Kind!«

Zakos saß im Auto neben Zickler, der den Wagen zurück auf die Stadtautobahn lenkte. Der Besuch bei dem Staatssekretär hatte seine Laune nicht gebessert, im Gegenteil, er war sentimental geworden. Ein Zustand, den Zakos nur schwer ertragen konnte. Und nun meldete sich auch noch sein schlechtes Gewissen, wegen der Zigaretten, mit denen er sich das Vertrauen des Mädchens erkauft hatte.

»Ja, sehr bedauernswert. So wie all die anderen armen Schweine in diesen Luxusvillen«, meinte Zickler spöttisch. Zakos verdrehte die Augen. Sein Kollege hatte manchmal ziemlich mit Sozialneid zu kämpfen.

»Nein, ich meine es ernst – sie tut mir wirklich leid.«

»Warum? Weil sie Kette raucht und sich das Gesicht verhunzt hat? Das ist natürlich schon ein Grund, aber …«

»Nein, weil kein Mensch sich richtig um sie kümmert. So was nennt man Wohlstandsverwahrlosung.« Zakos musste an seine eigenen Eltern denken, an die ewigen Streitereien, die verpestete Atmosphäre daheim. »Ich hab ihr übrigens deine Handynummer gegeben. Falls mal was ist und sie mich in Griechenland nicht erreicht. Oder falls ihr noch was einfällt …«

Zickler seufzte. »Von mir aus …«

»Die Betroffenheitsshow habe ich Altenburg nicht abgenommen«, sagte Zakos. »Die Sache mit dem Alkoholismus und dem Dauerstreit dagegen klang für mich glaubhaft. Wahrscheinlich ist er ein Familientyrann, und sie konnte ihn nur sturzbesoffen ertragen.«

»Sie war vielleicht auch nicht so leicht auszuhalten«, gab Zickler zu bedenken. »Dauernd blau. Und dann dieses Haus! Das gemütlichste Zimmer war noch die muffige Gruftibude von der Kleinen. Die natürlich auch einen ziemlichen Schatten hat.«

»Hältst du ihn eigentlich für verdächtig?«, fragte Zakos.

»Ich würde dem alles zutrauen«, brummte Zickler. »Ein echter Unsympath. Aber ich glaub nicht, dass er’s war.«

»Ich auch nicht. Aber mal sehen. Du sprichst noch mit der Haushälterin, oder?«, bat ihn Zakos. »Und sein Terminplan muss natürlich auch gecheckt werden, und dann wär’s ganz gut, wenn ihr auch noch die Investoren von Renate von Altenburg aufsucht und euch in ihrer Immobilienfirma umhört.«

»Logisch«, sagte Zickler. »Aber denk dran, um den angekokelten Herrn vom Flaucher müssen wir uns hier auch noch kümmern. Und ob die Astrid dabei in irgendeiner Form eine Hilfe sein kann, bezweifle ich nach wie vor stark. Die hat einfach ihre Zunge verschluckt.«

»Aber auch nur, wenn du dabei bist«, entgegnete Zakos. »Astrid kannst du im Immobilienbüro der Altenburg recherchieren lassen, das kriegt die hin. Du musst halt delegieren lernen.«

»Wahrscheinlich geht’s eh gar nicht um Immobiliendeals, sondern nur um eine Säuferin und einen fiesen Ehemann, vor dem sie auf eine Urlaubsinsel geflüchtet ist«, sagte Zickler. »Damit er sie nicht wegsperrt!«

»Das mit dem Wegsperren hat er doch nur gesagt, um sie einzuschüchtern«, meinte Zakos.

»Klar. Und aus Rache hat sie sich umgebracht, damit er in Verdacht gerät!«, konterte Zickler.

»Nur dass kein Mensch ihn verdächtigt! Weil sie dieses Blut­hochdruckzeugs gar nicht hier, sondern in Griechenland geschluckt hat«, sagte Zakos. »Bescheuerte Idee! Hast du gerade ein Leistungstief? Unterzucker vielleicht?«

»Ich hab nie ein Leistungstief«, behauptete Zickler. »Ich hab einfach Hunger!«

Zakos musste schmunzeln. Es war das erste Lächeln an diesem Tag, das ihm leichtfiel: »Wusste ich’s doch!«

In dem Moment läutete sein Handy. Zakos fischte das Gerät aus seiner Brusttasche und blickte stirnrunzelnd auf das Display. Dann drückte er den Anruf weg.

»Sarah?«, fragte Zickler.

Zakos nickte düster. Hatte er eben noch einen Anflug besserer Laune gespürt, so war dieser sofort wieder verflogen.

»Und? Wann sagst du’s ihr jetzt endlich?«

»Jetzt geht das schon wieder los! Kannst du einen eigentlich nie in Ruhe lassen?«

»Ist ja schon gut!«, murrte Zickler. »Aber ich hab jetzt wirklich Kohldampf.«

Zakos entspannte sich. Zickler hatte gerade zwei Fälle am Hals. Und ob die unerfahrene Astrid ihm tatsächlich eine Hilfe sein würde, bezweifelte er im Grunde genauso wie sein Kollege.

»Weißt du was? Ich hab auch Hunger«, stellte Zakos fest. »Was meinst du, sollen wir später zu Mimi ins Pirgos ­fah­ren? Du ziehst dir jetzt noch eine Semmel rein, und heute Abend gibt es was Gescheites. Abschiedsessen quasi!«

Zickler strahlte. »Super Idee! Aber nur, wenn ihr nicht wieder die ganze Zeit Griechisch miteinander sprecht!« Dann fiel ihm noch etwas ein. »Und sag Mimi, dass er mich nicht küssen soll, ja? Das hasse ich nämlich.«

»Schaun wir mal«, meinte Zakos und grinste zum zweiten Mal an diesem Tag.

»Nein, jetzt ganz im Ernst, die Abbusselei braucht’s nicht. Sag ihm des halt!«, bat Zickler.

Zakos’ Grinsen wurde noch ein wenig breiter. Vielleicht war der Tag ja noch irgendwie zu retten.

»Ich schau, was ich tun kann. Aber garantieren kann ich nix!«

Es klappte natürlich nicht.

»Kallosta ta Pädia!«, rief Mimi Kalogeros, als er die beiden Kriminalbeamten erblickte, und verpasste Zickler umgehend zwei dicke, saftige Schmatzer, einen auf die linke und einen auf die rechte Wange. Zickler schaute unglücklich drein und machte die Sache damit nur noch schlimmer, denn nun legte Mimi ihm auch noch den Arm um die Schultern und drückte ihn besorgt an sich.

»Nikos, was ist los mit deinem Kollegen?«, fragte er. »Ist er schlecht drauf? Hat er Probleme?«

»Er hat einfach nur Hunger!«, sagte Zakos mit einem Seitenblick auf Zickler, den Mimi erst jetzt losließ, um Zakos herzlich in die Arme zu schließen. Er hatte Mimi natürlich nicht gebeten, Abstand zu Zickler zu halten. Mimi war Grieche durch und durch. Genauso gut könnte er einen Fisch bitten, das Schwimmen sein zu lassen.

»Wenn’s weiter nichts ist«, sagte Mimi. »Wir haben heute Paidakia vom Grill, Ali. Die magst du doch so gern!«

Bei diesen Worten hellte sich Zicklers Gesichtsausdruck sofort auf. Die Lammkoteletts, die Mimis Frau Roula in einer speziellen Sauce marinierte, fand er unwiderstehlich.

Über dem Gartenbereich im Hinterhof des griechischen Restaurants lag ein verlockender Grillduft, zwei Kellner eilten geschäftig durch die Reihen, und Mimis Tochter, die elfjährige Annoula, ging gerade von Tisch zu Tisch und verteilte Windlichter. Ein Summen wie von einem Bienenstock lag über der Szenerie. Zakos musste lächeln: Sein Freund und seine Frau hatten das Beste aus dem Lokal herausgeholt, das früher von Mimis verstorbenem Vater als unscheinbare Eckkneipe geführt worden war. Fast jedes Mal entdeckte Zakos eine kleine Veränderung. Diesmal waren es üppige Basilikumstauden, die einen Sichtschutz zum hinteren, nicht bewirtschafteten Teil des Hofes bildeten. Alles hier wirkte, als wäre man nicht in München, sondern auf einer griechischen Insel. Nur mit einem Unterschied: Um halb elf abends musste Mimi im Garten rigoros abkassieren – wegen der Anwohner.

»In Griechenland würde es das niemals geben!«, empörte er sich jeden Abend, und Zakos gab ihm jedes Mal im Brustton der Überzeugung recht. Ganz sicher war er sich allerdings nicht: Zakos hatte nie in Griechenland gelebt, ebenso wenig wie der Wirt. Mimi lebte schon seit seiner Kindheit im ersten Stock des Hauses in einer verwinkelten Altbauwohnung. Im zweiten Stock hatte Zakos mit seiner deutschen Mutter gewohnt, nachdem seine Eltern sich getrennt hatten und sein Vater nach Athen zurückgekehrt war. Sie kannten sich demnach schon seit ihrer Teenagerzeit, und als Zakos’ Mutter sich pünktlich zu seinem achtzehnten Geburtstag nach Ibiza verabschiedet hatte, um in einem Hotel zu arbeiten, war er sogar für ein Jahr bei seinem Freund Mimi und dessen Mutter Kleopatra eingezogen.

Heute nahm Kleopatra die Getränkebestellung auf, was im Falle von Zakos ebenfalls nicht ohne überschwängliche Begrüßung ablief.

»Mein Junge, agori mou! Lass dich küssen!«, rief sie, dann wurde Zakos geherzt, als wäre er ewig nicht mehr im Lokal gewesen. Dabei verging keine Woche, in der er nicht im Pirgos vorbeischaute.

»Was macht deine Mama?«, erkundigte sich Kleopatra. »Macht sie gerade Stress?« Anita Zakos hatte allein in der vergangenen Dekade sechsmal den Wohnort und noch öfter den Job gewechselt, ihr unstetes Temperament war immer wieder Gesprächsthema in der Familie Kalogeros gewesen.

»Ich glaube, sie wird ruhiger«, meinte Zakos. »Sie arbeitet immer noch bei John im Bioladen am Ammersee.« Der Aus­tralier war ihr derzeitiger Lebensgefährte.

»Immer noch bei Tsson!«, freute sich Kleopatra, die eng­lische Namen auch nach vierzig Jahren in Deutschland noch typisch griechisch aussprach. »Das ist gut! Und wo hast du ­Sarah gelassen?«

Genau in diesem Moment betrat Sarah den Hinterhof und bahnte sich einen Weg zu Zakos’ Platz. Sie trug ein atemberaubendes helles Kleid mit schmalen Trägern, und wie immer folgten ihr die Blicke von den Nachbartischen, die Sarah al­lerdings nicht wahrzunehmen schien. Stattdessen verteilte sie Küsschen an Mimi, der noch immer an Zakos’ Tisch lehnte. Sie musste sich dazu ein wenig hinabbeugen. Sarah war fast einen Meter achtzig groß und trug Schuhe mit Absätzen.

Dann ließ sie sich auf einen der meerblau gestrichenen Holzstühle mit der bastumwickelten Sitzfläche fallen und zwirbelte mit einer routinierten Bewegung die langen honigblonden Haare im Nacken zusammen.

»Was für eine Hitze!«, stöhnte sie mit ihrer tiefen Stimme. Diese Stimme, die im Kontrast zu ihrem elfenhaften Äußeren stand, fand Zakos besonders anziehend an ihr. »Nur gut, dass wir bald in Frankreich sind. Die Atlantikluft wird uns so richtig durchpusten!«

Es war nur ein winziger Moment, doch in ihm geschah zu vieles gleichzeitig: Zickler scharrte unter dem Tisch nervös mit den Schuhen. In Zakos’ Gesicht trat ein schuldbewusster Ausdruck, den er sofort mit einem Lächeln überspielte. Mimi, der von Zakos am Vortag in das Urlaubs-Problem eingeweiht worden war, blies unbewusst die Backen auf.

Sarah verstand in Sekundenschnelle. Noch so etwas, was Zakos eigentlich an ihr schätzte: ihre fixe Auffassungsgabe. Diesmal hatte er sie allerdings nicht einkalkuliert.

»Nein, Nicki, nein! Nicht schon wieder!«, rief sie.

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