Grimm - Killing Passion (Band 3) - Mika D. Mon - E-Book

Grimm - Killing Passion (Band 3) E-Book

Mika D. Mon

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Beschreibung

»Ich liebe es, wenn du weinst. Und ich liebe es, wenn du blutest.«»Dann lass mich bluten.«Du willst Rache, doch dazu musst du aufhören, zu flüchten, und selbst zur Jägerin werden.Wir sind gefallen, jetzt wird es Zeit, deine schwarzen Schwingen auszubreiten und zu fliegen, mein dunkler Engel. Gemeinsam mit mir.Wer ist Freund, wer ist Feind? Manche Grenzen sind nicht so klar, wie wir glauben. Und manchmal müssen wir selbst zu Monstern werden, um das Böse zu besiegen. Wie gut, dass du an meiner Seite bist, Grimm. Das tödlichste Monster von allen. Ein dunkler Liebesroman.

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Für Edith.

Gewidmet allen Verlorenen.

Es gibt einen Platz,

an den ihr gehört.

Vorwort

Die Grenzen zwischen Gut und Böse oder Richtig und Falsch sind oftmals nicht klar zu erkennen. Sie sind subjektiv.

Die Gesetze geben uns klare Definitionen.

Religionen geben uns einen freiwilligen Rahmen.

Aber das wahre Gute und das wahre Böse spielt sich in keinem Gerichtssaal und in keinem Gotteshaus ab, sondern in dem Herzen eines Menschen.

Und manchmal wird Recht zu Ungerechtigkeit.

Oder böse Taten zu etwas Gutem.

Warnung

Missbrauch und Gewalt sind der Alltag vieler Frauen und Männer. Sie treiben die Opfer in selbstmörderische Gedanken und hinterlassen tiefe Narben auf Körper und Seele. Diese Themen sind unter anderem auch Bestandteil dieses Buches. Lies es nur, wenn du bereit bist, dich damit auseinanderzusetzen.

Kapitel 1

Grimm

Ich dachte, sie würde zerbrechen. Aber mein Racheengel senkt weder sein Haupt, noch geht er in die Knie. In den dunklen Pupillen fackeln der Zorn und die Entschlossenheit wie wildes Feuer.

Während wir hilflos dabei zusehen, wie Dario, Lucias Ehemann und Erzfeind, aus seinem Gefangenentransport herausmarschiert und zu uns in die Kamera lächelt, ballen sich ihre Fäuste und ihr Kiefer spannt sich an.

Jeder von uns hatte geglaubt, dass mit dieser Niederlage der Widerstand in ihr brechen würde. Ich hatte mich bereit gemacht, sie aufzufangen, meine Arme um sie zu schließen, um mit ihnen wenigstens den Anschein zu erwecken, das Leid der Welt von ihr abzuschirmen.

Aber es war nicht nötig.

Lucia fällt nicht.

Stattdessen hebt sie ihren Kopf, sieht uns einen nach dem anderen an und verkündet dann:

»Ich werde ihn jagen.« Mit diesen Worten schmettert sie die Opferrolle von sich und wird zur Häscherin. »Ich werde ihn jagen. Finden. Töten.«

Diese dunkle Prophezeiung, die ihre zarten Lippen formen, lässt meine Mundwinkel nach oben zucken und das Organ in meiner Brust in freudiger Erregung schlagen.

Kapitel 2

Lucia

Noch immer stehe ich unter Schock. Ich fasse es nicht, dass Dario fliehen konnte. Dass ich mich von Ace und Curcio habe davon abbringen lassen, ihn auf der Stelle zu töten. Schon im Flugzeug von Kolumbien hierher hatte ich die Gelegenheit gehabt. Es wäre ganz leicht gewesen, ihm sein verdammtes Leben für immer auszuhauchen.

Aber Dario ist nicht nur mein zutiefst verachteter Ehemann, sondern auch der Sohn meines besten Freundes Curcio.

Ich verstehe, wieso er versucht hat, ihn zu retten. Wieso er nicht wollte, dass er stirbt. Blut ist eben dicker als Wasser und ich will mir nicht vorstellen, welche Vorwürfe er sich nun macht.

Als ich meinen Entschluss, ihn zu töten, allen verkündet hatte, hatte niemand mehr widersprochen. Letztendlich muss sogar der Vater einsehen, dass für diesen sadistischen Mistkerl jede Rettung zu spät kommt und die Welt ohne ihn besser dran ist.

Zudem habe ich die Verantwortung für meinen Familienclan und das damit verbundene Verbrechersyndikat übernommen. Ich habe entschieden, dass ich das Erbe meines Vaters annehmen und den Angelo-Clan von nun an leiten werde.

Dabei habe ich keine Ahnung davon.

Weder vom Drogen- oder Waffenhandel noch von Zuhälterei. Geschweige denn, dass eine Frau in diesem Business überhaupt respektiert würde. Ich weiß nicht, welche Hürden und Gefahren diesbezüglich noch auf mich warten. Wie vielen Machos ich ein Messer an die Eier halten muss, um zu bestehen. Doch mir ist klar, dass ich ohne Curcios Hilfe keinen Tag in dieser Welt überleben werde.

Wie geht es jetzt weiter?

Wie soll ich Dario finden und an den Männern vorbeikommen, die ihn all die Zeit bewachen werden? Im Gegensatz zu ihm oder Ace habe ich keine Kontakte, kein ganzes Netz an Spionen und Söldnern im Rücken. Wahrscheinlich habe ich nicht einmal Zugang zu den Geldern meiner Familie, da Dario als mein Gatte sich legalen Zugriff drauf geschaffen hat. Wobei zumindest Curcio als sein engster Vertrauter einen Einblick haben wird.

Noch immer stehen wir alle in Ace’ Wohnzimmer, der eingeschaltete Fernseher zeigt inzwischen Polizeieinsatzfahrzeuge mit Blaulicht, die das Schreckensszenario aufsuchen.

Alle Augen sind auf mich gerichtet.

Meine Aufmerksamkeit wandert zu Curcio. Kreidebleich sieht er aus in seinem kohlschwarzen Anzug. Er ist der Einzige, dessen Blick leer an mir vorbei geht. Kann ich ihn in der aktuellen Situation mit der Verwaltung der Familienvilla und der Geschäfte betrauen? Kann ich ihm zumuten, gegen seinen Sohn zu handeln? Ich muss – er muss!

»Wie soll es jetzt weitergehen?«, stellt Seth die Frage, die uns vermutlich allen auf der Zunge brennt.

Da ich keine Antwort habe, senke ich leicht den Kopf und atme tief ein.

Ace’ Augen werden schmal, als er mit kalter Miene zu dem Bildschirm blickt.

»Dario wird untertauchen. Er muss sich zurückziehen und seine Wunden lecken. Das verschafft uns ein wenig Zeit. Ich werde alle Hacker und Spione mobilisieren, die ich finden kann. Sollte er irgendwo in Frankfurt oder der Umgebung bleiben, werden wir ihn früher oder später finden.«

»Du musst das nicht tun.« Ich trete an ihn heran und sehe ihm ins Gesicht, in seine viel zu blauen Augen für einen halben Italiener. Für einen Moment erwidert er stumm meinen Blick, dann ruckt eine seiner Brauen in die Höhe und ein süffisantes Lächeln umspielt die hart geschnittenen Lippen.

»Ich würde doch keine Lady im Stich lassen. Und schon gar nicht so eine schöne …« Ehe ich mich versehe, hält er meine Hand in seiner und haucht einen Kuss auf ihren Rücken. Schockiert entziehe ich sie ihm und reibe mit der anderen über die Stelle, wo seine Lippen meine Haut berührt haben, während ich ihm einen vernichtenden Blick zuwerfe. Er ignoriert ihn gekonnt und fährt fort:

»Wir sitzen jetzt alle in einem Boot. Da wir dir geholfen und Dario gemeinsam geschnappt haben, ist er jetzt unser aller Feind. Jeder Einzelne von uns steht auf seiner Abschussliste, also schlag dir deinen heldenhaften Alleingang direkt wieder aus dem Kopf, Frau Mafiaboss.«

»Es … es tut mir leid«, kommt es plötzlich von Curcio.

Ich drehe mich zu ihm und gehe auf ihn zu. Als ich nach seinen geballten Händen greife, bemerke ich, wie sehr sie zittern. Der Mann, dessen Zunge sonst so scharf ist wie Grimms Messer, steht völlig zerbrochen vor mir. Auch wenn es irgendwo in meinem Inneren sticht, weil er mir all das Leid zugemutet hat, um seinen Sohn zu schützen, will ich ihm diese Last abnehmen. Fest drücke ich seine Finger und versuche, seinen Blick einzufangen. Ich schüttele den Kopf.

»Nein, es ist nicht deine Schuld. Du hast getan, was du konntest und von dem du hofftest, dass es ein gutes Ende nehmen würde.«

»Ich habe ihn überhaupt erst zu deinem Vater gebracht, Lucia. Ich habe ihn in diese Welt geführt und gehofft, dass er darin seinen Platz findet. Stattdessen bringt er deine Familie um und versklavt dich. All die Zeit habe ich nur daneben gestanden und tatenlos zugesehen. Dich überredet, dich auf ihn einzulassen. Ich –«

»Cio!«, falle ich ihm ins Wort und er verstummt. Seine weit geöffneten, dunklen Augen glänzen verräterisch. Langsam lasse ich eine seiner Hände los, hebe meine an und lege sie ihm sanft an die kratzige Wange. »Stehst du auf meiner Seite?«

Sein Nicken ist verwirrt und zögerlich.

»Du musst dich entscheiden. Wenn du zu deinem Sohn gehen willst und an seiner Seite kämpfen willst, werde ich dich nicht aufhalten und dich auch nicht dafür verurteilen oder hassen. Aber wenn du an meiner Seite bleibst, dann muss ich mich auf dich verlassen können. Dann musst du es aus voller Überzeugung tun. Also sag mir, Cio – wem gilt deine Treue? Mir oder Dario? Ich habe dich das schon einmal gefragt und ich tue es erneut!«

Als er die Augen zusammenkneift, löst sich eine Träne und rollt über seine Wange.

»Meine Treue gilt dir«, haucht er die Worte, die er mir damals auf einen Zettel notiert hat.

Ich drücke seine Hand fest.

»Gut. Denn ich brauche dich. Ohne dich schaffe ich das alles nicht. Du hast zu mir gesagt, ich wäre für dich wie eine Tochter. Also sind wir auch Familie – oder nicht?«

Ein kleines Lächeln zupft an seinem Mundwinkel, als er nickt.

»Ich zähle auf dich«, flüstere ich noch, ehe ich einen Schritt zurück mache. Mit hängenden Schultern und leerem Blick sieht er zwar immer noch gebrochen aus, aber ich hoffe, dass er sich erholen wird. Zumindest habe ich das Gefühl, dass ich mich trotz allem auf ihn verlassen kann.

»Sollen wir uns jetzt erst einmal wieder aufteilen oder wäre es besser, beisammenzubleiben?«, fragt Seth. »Ich mache mir Sorgen um Kiki und die Kinder. Was, wenn sie nun auch ins Visier geraten?«

»Das werden sie nicht. Wir lassen den Hof einfach rund um die Uhr bewachen oder du holst sie …« Die Stimmen der anderen um mich herum scheinen immer leiser zu werden. Sie rücken in den Hintergrund. Die ganze Situation kommt mir völlig unwirklich vor. Ich habe so lange gekämpft, mich so viele Jahre vorangeschleppt und ein weiteres Mal ist mir meine Chance auf Frieden aus den Händen geglitten. Frieden. Der Weg dorthin ist bereits übersät mit Blut und Leichen. Es kommt mir falsch vor, es überhaupt noch so zu betiteln. Unwillkürlich wandert meine Hand zu dem kleinen Silbermedaillon um meinen Hals mit Sofias Bild und dem meiner Familie darin. Ich klammere mich an das kleine Stück Metall, als wäre es mein Anker. Gleichzeitig schweift mein Blick zu Grimm.

Er steht wenige Schritt von mir entfernt, sein totenkopfgleiches Gesicht wirkt völlig ausdruckslos. Seitdem wir alle schockiert aufgesprungen sind, weil der Gefangenentransport schiefgelaufen ist, hat er sich kaum bewegt und auch nichts gesagt.

Ich weiß nicht wieso, aber in mir keimt der Wunsch auf, dass er zur mir herüber kommt und ich mich an ihn lehnen kann. Einfach nur meine Stirn an seine Brust legen und die Augen schließen.

Pff. Wann bin ich so weich geworden? Seit wann brauche ich jemanden, um mich auszuweinen?

Der Versuch, diesen Wunsch im Keim zu ersticken, bleibt erfolglos. Grimm kommt nicht zu mir herüber, er nimmt mich nicht in den Arm und ich gehe auch nicht zu ihm. Stattdessen versuche ich, den Stich und die plötzliche Enge in meiner Brust zu ignorieren.

Nachdem wir uns einig sind, dass es sicherer ist, wenn wir alle erst einmal hier bei Ace bleiben, bis wir genauere Pläne haben, ist jeder losgezogen, um alles Notwendige aus den Wohnungen zu holen. Währenddessen hat Ace in der Etage unter seinem Penthouse ein paar Räumlichkeiten vorbereiten lassen, in denen wir unterkommen werden.

Obwohl die Situation alles andere als lustig ist, ist die Atmosphäre entspannt. Seth, Ace und Grimm verstehen sich gut. Sie scheinen ein eingespieltes Team zu sein und vor allem zwischen Seth und Ace gibt es oftmals Reibereien aufgrund ihres überschäumenden Testosterons. Sie arten jedoch nie aus und enden meist nur mit einem Augenrollen oder einem harmlosen Handgemenge.

Ben und Grimm halten sich im Hintergrund, wobei Ersterer Zweiteren kaum aus den Augen lässt. Mir fällt auf, wie häufig der Detektiv argwöhnische Blicke zu dem Killer wirft. Curcio hat sich dankbar in sein Zimmer zurückgezogen.

Auch Seths Familie ist angereist, da ihn der Gedanke, seine Frau oder Kinder könnten in die Schusslinie geraten, nicht losgelassen hat.

Ich fühle mich immer noch schlecht, weil ich die Ursache all dieses Aufruhrs bin. So viele Menschen haben sich in Gefahr gebracht, um mir zu helfen. Dabei kennen sie mich kaum. Oder machen sie es für ihren Freund? Für Grimm?

Am Abend stehe ich oben auf der Dachterrasse. Abgesehen von dem Nötigsten haben Grimm und ich nicht viele Worte miteinander gewechselt und ich fühle mich zunehmend unsicher in seiner Gegenwart. Daher bin ich hier hoch geflüchtet.

Die riesige Terrassenfläche ist von einer hüfthohen Steinbrüstung umringt, auf welcher sich zusätzlich noch eine Absturzsicherung aus Glas befindet, die mir bis zur Brust reicht. Der Ausblick über die Stadt ist atemberaubend. Weit unter mir funkeln die Lichter der Straßenlaternen, der Gebäude und die Scheinwerfer der Autos. Ampeln springen von Rot auf Grün und andersherum. Bunte Leuchtreklamen komplettieren das Lichtspektakel.

Während ich die Unterarme auf dem Geländer verschränke, streicht der milde Sommernachtswind durch mein Haar und mein Kleid. Ich schließe die Augen, lege meinen Kopf auf meine Arme und lausche den entfernten Geräuschen der Stadt sowie der Musik, die gedämpft aus Ace’ Wohnung zu mir herauf schallt. Es ist eine fernöstliche Melodie. Melancholisch, langsam und sehnsuchtsvoll. Irgendwie nichts, was ich dem Aufreißer zugetraut hätte.

Den Gedanken, wie ich Dario ausfindig machen und zur Strecke bringen kann, versuche ich von mir zu schieben. Morgen werde ich mit den anderen eine Lagebesprechung machen. Wir werden gemeinsam die nächsten Schritte überlegen. Ich muss mich gedulden. Also versuche ich, meinen Kopf freizubekommen.

Plötzlich spüre ich eine Präsenz hinter mir. Ein Kribbeln in meinem Nacken und ein Schauer, der meinen Rücken hinab fährt, verraten es mir. Es ist wie ein sechster Sinn.

Ich schnelle herum, doch in dem Moment, in dem ich meine Arme zum Angriff oder zur Verteidigung hebe, packen warme, raue Hände blitzschnell um meine Handgelenke. Grüne Augen glimmen in der Dunkelheit aus schwarzen Höhlen auf.

Mit geweiteten Augen und offenem Mund sehe ich Grimm an. Er hat es geschafft, sich völlig geräuschlos an mich heranzuschleichen und mich einzufangen. Nun ist er nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt und zieht mich noch näher an sich heran, als er einen Arm um meine Taille schlingt. Der Rock meines Kleides flattert. Ich pralle sanft gegen seine Brust und halte mich instinktiv mit der freigewordenen Hand an seiner Schulter fest. Auch das Gelenk der anderen lässt er los und umfasst stattdessen meine Finger mit seinen. Selbst durch den Stoff unserer Kleidung spüre ich die Hitze seiner Haut und der Duft nach Holz und Zitrone steigt mir in die Nase.

Ich kann nichts dagegen tun. Meine Knie werden weich, mein Herz schlägt höher und eine heiße Welle rauscht durch meinen Körper. Auch meine Wangen und meine Ohren werden warm, sodass ich dankbar bin, dass die Dunkelheit der Nacht die Röte verbirgt.

Als würde er merken, dass ich Mühe habe, auf den Beinen zu bleiben, hält er mich ganz fest. Seine schwarzen Lippen streifen den äußeren Rand meiner Ohrmuschel, als er sich zu mir lehnt.

»Tanz mit mir, mein dunkler Engel«, raunt seine tiefe Stimme so nah, dass ihr Bass die Härchen auf meiner Haut vibrieren lässt.

Verdammt, was ist nur mit diesem Typen los, dass er mir so den Kopf verdreht? Erst scheint er sich den ganzen Tag nicht für mich zu interessieren und dann sagt er so etwas!

Bevor seine Aufforderung mein lahmgelegtes Gehirn erreicht hat, zieht er mich in die Bewegung. Erst jetzt fällt mir auf, dass sein Arm um meine Taille und meine Hand in seiner, die Haltung von Tanzenden ist.

Im Takt der wehmütigen Klänge aus Ace’ Wohnung führt er mich über die Terrasse, hält mich dicht bei sich, sodass ich in seiner Umarmung versinke. Ohne mein Zutun passt mein Körper sich seinem an, folgen meine Füße seinen. Langsam drehen wir uns im Kreis und um die eigene Achse.

Plötzlich fühle ich mich wieder wie in einem Traum. Ganz fern der Realität. Bloß dass es dieses Mal kein Albtraum ist, sondern ein guter Traum. Einer, in dem ich für ein paar Atemzüge ein Mädchen sein kann. Eine Prinzessin in den Armen eines sanften Monsters, das die Welt für mich in Blut und Tod tauchen würde. Ein Märchen. Grausam und wunderschön.

Ich bin so froh, dass er hier bei mir ist, dass er die Ängste vertreibt und mir das Gefühl gibt, an keinem anderen Ort sicherer oder glücklicher sein zu können.

Kann die Welt nicht einfach aufhören, sich zu drehen?

Kann sie nicht stillhalten, jetzt, in diesem Augenblick, in dem ich in seinen Armen liege und meine Brust sich so leicht und weit anfühlt?

Können wir nicht über das Geländer stolpern und eng umschlungen hinab in die Tiefe stürzen? Für immer vereint in der Ewigkeit?

Als das Lied verklingt, möchte ich die Töne festhalten, damit sie nicht aufhören, die Melodie zu formen. Damit wir nicht anhalten. Doch ebenso wenig wie den Wind kann ich die Musik einfangen und so wird es für einen Moment still und wir bleiben stehen.

Als er von mir ablassen will, schlinge ich schnell meine Arme um seinen Bauch und drücke mein Gesicht in den schwarzen Stoff seines Pullovers. Erst spüre ich, wie sich seine Muskeln unter meiner Berührung anspannen, dann wird er nach und nach lockerer. Ein leises Schnauben verrät mir, dass er über mein stures Festklammern lacht, dann legt er einen Arm um mich, eine Hand an meinen Nacken und seinen Kopf auf meinen.

»Nur kurz«, nuschele ich gegen seine Brust.

»So lange du willst.«

Kapitel 3

Grimm

Mein ganzer Körper fühlt sich an, als würden Tausende Ameisen durch meine Venen krabbeln. Besonders in Brust und Bauch führen sie regelrecht einen Tanz auf. Es fühlt sich fremdartig an. Irgendwie beängstigend, weil es ungewohnt ist, aber auch schön. So schön, dass meine Mundwinkel ganz ohne mein Zutun nach oben wandern. Ein bisschen fühle ich mich, als würde ich idiotisch grinsen. Vermutlich dasselbe selige Grinsen, welches ich auch auf Seths Gesicht erkenne, wenn Kiki und die Kinder um ihn herum sind.

Wärme strahlt durch mich hindurch. Ausgehend von den Stellen, an denen Lucia mich berührt. Vielleicht ist es einfach ihre Körperwärme? Nein, das kann nicht sein. Eine ähnliche Hitze flutet mich, wenn ich sie nur ansehe.

Es ist kompliziert. Wer soll all die Empfindungen denn interpretieren können? Ich jedenfalls nicht.

Lucia löst sich von mir und hinterlässt leere Kälte, die in mir den Drang hervorruft, sie schnell wieder zu füllen. Sie hebt ihren Kopf und sieht mir in die Augen. Selbst in der Dunkelheit erkenne ich einen roten Schimmer auf ihren Wangen. Dabei muss ihr nichts peinlich sein. Wenn sie schwach ist, soll sie sich an mich lehnen, wenn sie einsam ist, kann sie mit mir sprechen, wenn sie traurig ist, küsse ich ihre Tränen fort. Ich freue mich über jede Regung von Leben.

»Keine Sorge, ich werde nicht zulassen, dass Dario dir jemals wieder auch nur ein Haar krümmt«, sage ich leise.

Leicht weiten sich ihre Augen, ehe sie sanft werden und ein kleines Lächeln auf ihren Lippen erscheint.

»Danke, dass du diesen Weg mit mir gehst.«

»Je blutiger, desto besser«, antworte ich und zucke die Schultern. »Ich werde da sein, Lucia. Deine Hand führen, die das Messer hält, welches seine Kehle durchschneidet. Lass uns morgen zusammen kämpfen und trainieren.«

Sie nickt entschlossen.

»Okay. Diesmal werde ich es dir aber nicht so leicht machen wie beim Messerwerfen!« Ihre Hand formt sich zur Faust, die sie mir herausfordernd präsentiert. Ich küsse ihre geballten Finger, woraufhin sie vor mir zurückweicht und sich verlegen eine ihrer schwarzen Strähnen hinter das Ohr streicht.

Mir gefällt es, wenn sie diese weiblichen Seiten zeigt. Schüchtern ist – oder unsicher. Es lässt in mir den Wunsch, sie zu beschützen, nur noch stärker werden.

»Ich geh mal rein. Irgendwie bin ich sehr müde. Kommst du mit?«

Leicht schüttele ich meinen Kopf.

»Ich komme nach. Ein wenig möchte ich noch hier oben bleiben.«

Sie nickt, sieht mich noch kurz an, dann geht sie an mir vorbei und verschwindet in dem Gebäude. Einen Herzschlag lang sehe ich ihr nach, dann lege ich meinen Kopf in den Nacken und schaue hinauf zu den Sternen.

Lucia … ihr Name bedeutet »Licht«. Ich spüre, wie meine Lippen sich zu einem Schmunzeln kräuseln.

Ein dunkles Licht, das nur für mich scheint.

»Hallo, Prinzessin«, murmele ich in die Nacht.

Hinter mir höre ich das Geräusch von Schritten und ein leises Schnauben.

»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«

Ich drehe mich zu Kiki um. Ihre pastellrosa Haare hat sie zu einem unordentlichen Dutt auf ihrem Kopf geknotet und einige Strähnen flattern in dem Wind, der hier oben auf dem Dach weht. Hell und strahlend sieht sie aus mit ihrem Puppengesicht und dem babyblauen Kleid, das sie trägt. Auch sie besitzt die Gabe, mein totes Innerstes mit ein wenig Leben zu füllen.

»Ich habe deinen Geruch nach Zuckerwatte bis hierher gerochen«, necke ich sie.

Schockiert öffnet sich ihr Mund und sie schnuppert auffällig an sich.

»Das war ein Scherz. Ich habe gehört, wie du mir auf die Terrasse gefolgt bist. Warum hast du dich versteckt?«

Ertappt rümpft sie ihre Nase und kratzt sich verlegen am Kopf. »Ich wollte euch nicht stören. Es war schön, euch zuzusehen. Wenn ich auf mich aufmerksam gemacht hätte, hättet ihr sicher nicht so miteinander getanzt.«

»Doch hätte ich.«

»Du vielleicht, weil du kein Schamgefühl kennst! Lucia hätte sich bestimmt vor mir geziert oder es als unhöflich empfunden!«

Darauf weiß ich nichts zu erwidern. Kiki kennt sich wesentlich besser mit menschlichen Empfindungen aus als ich.

Zusammen gehen wir an die Brüstung heran und sehen gemeinsam hinab auf die Lichter der Stadt.

»Erinnerst du dich noch an damals, als du auf mich aufpassen solltest? Du hast mich gefragt, wie es sich anfühlt, verliebt zu sein«, sagt Kiki sanft und sieht dann zu mir herauf. »Jetzt kennst du die Antwort, oder?«

Verdutzt hebe ich meinen Kopf leicht an.

»Kenne ich die?« Das ertappte Gefühl in meinem Inneren verwirrt mich.

Kiki dreht sich zu mir und legt ihre Hand auf meine, die auf dem Geländer ruht.

»Weißt du noch, wie ich es dir damals erklärt habe?«

»Wenn man unglücklich verliebt ist, dann leidet man. Aber es kann auch schön sein. Dein Herz schlägt schnell, du willst der Person, in die du verliebt bist, ganz nah sein. Es kribbelt über- all – besonders im Bauch«, gebe ich ihren genauen Wortlaut wieder und in dem Moment wird mir auch klar, wieso ich mich ertappt fühle. Eigentlich weiß ich es längst, wollte es mir nur nicht eingestehen, weil es so verdammt unwahrscheinlich ist.

Jemand wie ich kann nicht lieben.

Zu solchen Gefühlen bin ich einfach nicht in der Lage – habe ich gedacht. Aber ich habe mich geirrt. Die Anzeichen sind ganz eindeutig. Alles passt. Das Leiden, das schnelle Herzschlagen, das Kribbeln im Bauch!

Ich bin verliebt. So richtig verknallt!

Wie bescheuert.

»Hach, wie schön! Endlich hat es eine Frau geschafft, dein schwarzes Herzchen zu erwärmen!«, flötet Kiki und ihre türkisen Augen funkeln wie an Weihnachten.

»Fuck …«, knirsche ich jedoch hervor, sodass sie mich verwundert ansieht.

»Wieso fuck?«

»Das ist schlecht.«

»Was? Nein! Das ist gut! Wieso sollte es denn schlecht sein?«

»Weil das keine Zukunft hätte. Lucia wird nach Kolumbien zurückkehren und ihren Clan übernehmen. Sie wird jemanden heiraten, der ihr dort helfen kann. Ihr Leben wird nicht hier stattfinden …«

Kiki blinzelt und neigt den Kopf schief.

»Aber du kannst doch mit ihr gehen, oder nicht? Ace wird dich gehen lassen. Natürlich würden wir dich vermissen, aber wenn du sie liebst, dann …«

»Ich spreche nicht mal spanisch.«

»Das kannst du lernen.«

Langsam senke ich meinen Kopf und streiche mir mit einer Hand über meinen glatten Schädel, verharre im Nacken und massiere ihn.

»Wie soll so ein Leben denn aussehen? Ich bin kein Mafioso. Ich bin ein Auftragsmörder.«

»Eine Mafia-Chefin braucht sicher einen guten Killer.« Kiki zuckt die Schultern und schüttelt dann den Kopf. Sie sieht entsetzt aus. »Wie ich hier rede! Als wäre das völlig normal! Manchmal vergesse ich wirklich, dass du Menschen tötest. Genauso, wie ich das bei Seth gerne verdrängt habe.«

»Wenn es keine Menschen wie dich geben würde, die in uns nicht nur Monster, sondern auch Menschen sehen würden, dann wären wir ziemlich einsame Männer.«

Kiki schenkt mir daraufhin ein mildes Lächeln.

»Denk einfach nicht zu viel nach, Grimm. Wenn du sie gern hast, wenn sie dein Herz zum Schlagen bringt, dann wird es nichts geben, was euch auseinanderbringen kann. Kein Job, keine Entfernung und kein anderer Mensch. Es wird sich ganz sicher ein Weg finden.«

Ihr Optimismus ist wirklich unschlagbar. Aber sie hat recht.

»Ich werde alles aus dem Weg räumen, was zwischen uns kommt«, bestätige ich, woraufhin sie mich kritisch beäugt.

»Das klingt bei dir ein bisschen gruselig.«

»Ich bin ja auch gruselig.«

Kiki lacht und boxt mir mit ihrer kleinen Faust gegen die Brust. Anschließend zwinkert sie mir zu.

»Kilian hat übrigens nach dir gefragt.«

»Ist er noch wach?«

»Nein, er schläft bereits. Aber er wird sich freuen, dich morgen mal wieder zu sehen.«

Als ich wenige Minuten später in das Zimmer trete, das Ace in der Etage unter seiner für uns eingerichtet hat, ist es dunkel und Lucia schläft bereits. Nur das Licht der Stadt, das durch die Glasfront hereinfällt, erhellt den Raum und ihre Gestalt. Leise, um sie nicht zu wecken, trete ich an das große Bett heran. Die weißen Laken um sie herum lassen ihre fahle Haut noch bleicher erscheinen, ebenso wie ihr rabenschwarzes Haar, das ihr in einem geflochtenen Zopf über der Schulter liegt. Mit geschlossenen Augen und friedlich ruhendem Ausdruck sieht sie aus wie eine Leiche auf dem Totenbett – wären da nicht ihre gleichmäßigen Atemzüge und der sanfte Schlag ihres Pulses am Hals.

Ich muss den Drang unterdrücken, sie zu berühren, mit meinen Fingerspitzen über ihre weiche Haut zu streichen. Während ich sie betrachte, breitet sich wieder diese Wärme in meiner Brust aus.

Ich will sie nicht gehen lassen. Ich will sie nicht verlieren. Sie soll an meiner Seite bleiben – für immer. Damit ich dieses Gefühl in meinem Innern nicht verliere.

Plötzlich breitet sich ein Bild in meinem Kopf aus, wie die weißen Laken sich um sie herum rot verfärben, sich mit ihrem Blut vollsaugen und sie so für immer friedlich in meinem Bett liegen könnte.

Ich weiß, dass diese Gedanken nicht richtig sind – dass sie vermutlich sogar krank sind, aber ich kann mich nicht dagegen wehren. Die Vorstellung, sie zu töten, habe ich von Anfang an abgelehnt. Es war mir zuwider, jemanden zu töten, der innerlich abgestorben ist. Aber in den letzten Wochen ist Lucia regelrecht wiederauferstanden. Sie lebt. Und das lässt den Wunsch, ihr dieses Leben auszuhauchen, aufflammen.

»Worüber denkst du nach, Onkel?«

Ich erschrecke mich vor der Jungenstimme, die hinter mir flüstert.

»Kilian!« Ich hätte ihm nicht zeigen dürfen, wie man geräuschlos geht und sich unbemerkt an jemanden anschleicht. »Ich dachte, du schläfst.«

»Ich bin aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Also, was machst du da?«

Einen Moment blicke ich den kleinen Jungen mit dem dunklen Haar und den großen, türkisleuchtenden Augen noch an, dann wende ich mich wieder Lucia zu. Kilian stellt sich neben mich und blickt sie ebenfalls an.

»Ich denke darüber nach, sie zu töten«, flüstere ich wahrheitsgemäß.

»Wieso?«

Ein leises Seufzen verlässt meine Kehle.

»Ich liebe sie und ich will sie nicht verlieren. Wenn ich sie umbringen würde, könnte sie nirgendwohin verschwinden und mich niemals allein lassen.«

Als mein Blick in den Augenwinkel wandert und ich Kilian beobachte, sehe ich Erkenntnis und Verständnis in seinen Augen. Eine ganz andere Reaktion, als sie jeder normale Mensch gezeigt hätte. Er weiß, was ich meine. Er kann es nachvollziehen.

»Dann tu es.«

Meine Mundwinkel zucken, obwohl ich versuche, es zu unterdrücken. Seine Kaltblütigkeit sollte mich nicht amüsieren. Er hatte einen schweren Start in sein Leben und seine Eltern verzweifeln über seine Unfähigkeit, Mitgefühl zu empfinden. Ich allerdings komme nicht umhin, mich sehr verbunden mit ihm zu fühlen.

»Nein«, antworte ich. »Jemanden zu töten ist böse. Das macht man nicht.«

»Wieso nicht? Wieso ist es böse?«

Puh, schwierige Fragen, die der Kleine mir da stellt. Ich weiß keine Antwort darauf außer: »Wenn du andere Menschen tötest, verletzt es die, die du liebst und es macht sie traurig. Meine Mama habe ich ganz schlimm traurig gemacht, als ich einen Menschen tötete. Und jemanden, den ich liebe, will ich nicht traurig machen.«

»Wieso macht es sie denn traurig? Ich verstehe das nicht …«

Kilian sieht mich verzweifelt an. Wie ein kleiner Junge, der seine Mathehausaufgaben nicht lösen kann.

»Es ist einfach so«, ist alles, was ich ihm sagen kann. Eine völlig unzufriedenstellende Antwort für ein Kind. »Ich werde meine Freundin hier nicht töten. Weißt du warum?«

Er schüttelt den Kopf.

»Wenn sie einmal tot ist, kommt sie nicht wieder, denn der Tod ist ewig. Das Leben gibt es nur ein Mal und es ist ohnehin kurz. Deswegen möchte ich erst mein Leben mit ihr verbringen und wenn wir irgendwann genug gelebt haben, dann sterben wir zusammen.« Ich lächele den sechsjährigen Jungen leicht an, der mich ansieht und versucht, meinen Worten zu folgen. »Außer sie will mich verlassen. Ich werde nicht zulassen, dass unsere Wege sich trennen. Dann würde ich sie töten.«

Kilian nickt und wendet seinen Blick wieder Lucia zu. Intensiv mustern seine kindlichen Augen ihr Gesicht und folgen dem Zopf ihres Haares.

»Sie ist hübsch.«

Ich nicke.

»Das ist sie. Hey, wehe du nimmst sie mir weg, dann muss ich dich umbringen.« Grinsend stupse ich ihn mit dem Ellbogen an und er kichert leise. Ein seltener Laut, denn Kilian lacht nicht viel. Ebenso wie er nicht geschrien hat, als er auf die Welt kam.

»Keine Sorge, Onkel. Mädchen mögen mich nicht. Niemand mag mich. Nicht einmal mein Papa.«

Meine Augen weiten sich, als der Schock über seine Worte durch meinen Körper fährt.

»Das stimmt nicht, Kilian. Er liebt dich. Wie kommst du darauf?«

Er antwortet mir nicht, sondern sieht Lucia weiterhin an. Als er seine Hand nach ihr ausstrecken will, halte ich ihn ab und schüttele meinen Kopf.

»Nicht, sie hat viel durchgemacht. Lass sie schlafen und sich ausruhen.«

Kilian lässt seine Hand sinken und nickt.

»Du solltest auch wieder schlafen gehen. Es ist spät.« Ohne darüber nachzudenken, umarme ich ihn kurz, was ihn sich völlig versteifen lässt. Mit Körperkontakt kann er noch schlechter umgehen als ich. Als ich mich von ihm löse, dreht er sich um und geht zur Tür.

»Gute Nacht, Onkel Grimm.«

»Gute Nacht, Kilian.«

Dann verschwindet er aus dem Raum. Ich frage mich, wie er darauf kommt, dass sein Vater ihn nicht leiden kann. Seth liebt seine Familie. Er liebt seine Kinder und versucht, sie zu schützen, mit allem, was er hat. Natürlich ist auch mir nicht entgangen, dass er mit Kilians Art nur schwer klarkommt. Aber, dass er seinen Sohn hasst? Nein.

Langsam drehe ich mich wieder zu Lucia.

Anstatt ihren Anblick im Tod festzuhalten, greife ich nun nach einem Blatt Papier und einem Bleistift und fange an, sie zu zeichnen. Angefangen bei den zarten Konturen ihres Gesichtes, über die Linien ihrer geschwungenen Lippen bis hin zu dem dichten Wimpernkranz und dem dunklen, geflochtenen Haar. Bis ich jedes noch so kleine Detail auf dem Blatt eingefangen habe. Als ich fertig bin, fühle ich mich etwas erleichtert.

Ich lege die Zeichenutensilien beiseite, mache mich im Badezimmer bettfertig und steige dann zu ihr unter die Bettdecke. Sowie sich die Matratze neben ihr senkt und ich meine Arme kurz darauf um ihre zierliche Gestalt schließe, dreht sie sich zu mir, murmelt leise etwas und kuschelt sich an mich.

Kapitel 4

Grimm

Dunkelheit umhüllt mich. Mein Atem geht flach, meine Herzfrequenz ist niedrig. Ich bewege mich keinen Millimeter.

Ich hocke in einer schmalen, versifften Gasse zwischen zwei Fachwerkhäusern. Sperrmüll, alte Säcke, deren Inhalt ich nicht wissen will, und ein umgeworfener Maschendrahtzaun liegen hier herum und die einzigen, die diese Gasse wohl ab und an betreten, sind Penner, um hier hinzupissen. Das Gute an dieser Lage ist, dass hier, sobald die Sonne untergegangen ist, kein Licht hereinfällt. So wie jetzt auch. Still und bewegungslos warte ich hier. Lauere. Der Kerl, auf den ich es abgesehen habe, der, dessen Tod mir Geld bringt, kommt jeden Moment durch diese Tür. Er befindet sich in einem von unzähligen Wohnwagen auf einem großen Parkplatz. Er ist Schausteller, dem mehrere Karusselle, Süßigkeiten- und Schießbuden gehören. Ich weiß nicht, warum er sterben soll. Aber das ist mir auch egal. Der Auftrag kam via Brief und eine Anzahlung war ebenfalls darin.

Es hat mich einiges an Zeit und Nerven gekostet, diesen Moment abzupassen. Er ist immer umgeben von Menschen, seien es seine Kollegen oder die Kundschaft auf dem Markt. Ein sehr geselliger Typ. Es ist der 22. Dezember und hinter dem Parkplatz, um eine große Kirche herum, befindet sich ein Weihnachtsmarkt. Dieser dauert genau zwei Wochen und so war meine Zeit, ihn zu finden, zu beschatten und seine Arbeitszeiten und Gewohnheiten zu studieren, begrenzt und es war schwierig und anstrengend. Ich mag keine Märkte. Dort ist es immer voll, Bunt und laut. Hier in dieser Gasse vereint sich das Kinderlachen mit dem Gerede betrunkener Erwachsener und dem Zusammenspiel verschiedener Weihnachtslieder zu einer horrorfilmgleichen Atmosphäre. Es könnten Geräusche direkt aus der Hölle sein. Vielleicht kommt das aber auch nur mir so vor, weil ich weder etwas mit Weihnachten oder Glühwein noch mit Menschenmengen anfangen kann.

Die Familien, die mir in den Straßen entgegenkamen, waren glücklich, aufgeregt und voller Vorfreude. Sie wirkten so, als wäre das rostige Gequietsche der alten Kinderkarussells, das schrille Klingeln, bevor sie losfahren, oder die träge Leierkastenmusik, die »O du fröhliche« spielt, etwas Schönes, Erfreuliches.

Vor meinem inneren Auge sehe ich Betrunkene einander anrempeln und pöbeln. Kinder kreischen, heulen und treten, weil sie keine fünf Euro mehr für eine weitere Fahrt auf dem Feuerwehrauto bekommen. Penner erschnorren sich einen Glühwein nach dem anderen, damit ihnen warm wird und sie mit etwas Glück einfach im Schlaf erfrieren. Abgesehen von einer kleinen Abneigung gegen das Geschehen, löst es jedoch nichts in mir aus.

Ich weiß, dass es merkwürdig ist, so zu denken, aber das ist mir egal. Es ist mir schon immer egal, dass ich anders bin. Nur manchmal reizt es mich, zu wissen, ob es noch mehr Menschen gibt wie mich. Die kein Mitleid haben, die sich nur lebendig fühlen, wenn sie dem Tod am nächsten sind? Ich kann es mir nicht vorstellen. Natürlich bin ich schon ein paar Menschen begegnet, die mich dafür bezahlt haben, jemanden umzubringen. Diese Kerle hatten mit den Opfern auch kein Mitleid oder haben sie gar gehasst. Aber ansonsten erschienen sie mir vollkommen normal.

Ich blinzele einige Male, um diese Gedanken loszuwerden, und verharre weiter still und bewegungslos an die kalte Hauswand gepresst. Warte darauf, dass mein Ziel den Wohnwagen verlässt und zu mir kommt. Er wird an mir vorbeilaufen, da diese Gasse hier nur in einen Hinterhof und nicht zum Markt führt. Ich werde ihn schnell und lautlos greifen, zu mir in die Finsternis ziehen und ausschalten, wenn er auf meiner Höhe ist. Niemand kommt hier entlang. Niemand schaut hier herein. Es ist dunkel und Menschen neigen dazu, die Dunkelheit zu meiden. Seit ich hier lauere, sind insgesamt vier Personen den Weg gegangen, den mein Opfer gleich nehmen wird. Und alle vier haben ihre Schritte beschleunigt, nachdem sie einen Blick in meine Richtung geworfen haben. Gut für sie. Gut für mich.

Dann endlich! Die Tür des Campers öffnet sich und ein Kerl mit buntkariertem Hemd und Cordhose tritt heraus. Er hat dunkelbraune mit grauen Strähnen durchzogene Haare, ein verlebtes Gesicht und einen gezwirbelten, ebenfalls dunkelbraunen Bart.

Er schließt sein Zuhause ab und macht sich auf den Weg. Auf den Weg zu mir. Auf den Weg in seinen Tod.

Mein Herzschlag beschleunigt sich, meine Finger kribbeln ungeduldig und mich durchströmt ein starkes Gefühl von Leben. Während er gleich stirbt, werde ich einen Moment lang leben.

Leise ziehe ich mein Messer aus der Halterung an meinem Gürtel und umfasse es mit festem Griff. Der Mann schlendert auf mich zu, ist gut gelaunt und ahnt nicht das Geringste. Sie wissen nie, dass ich sie holen werde, das kann ich in ihren Gesichtern sehen. In ihren weit aufgerissenen Augen steht immer die Frage nach dem »Warum«. Entsetzt starren sie mich an und fragen sich, wieso sie sterben müssen.

»Hng«, ist der einzige Laut, den der Mann von sich geben kann, als ich aus den Schatten heraus nach ihm greife. Mit der einen Hand halte ich ihm Mund und Nase zu, während der Arm mit dem Messer um seinen Hals gelegt ist. Er stolpert hilflos einige Schritte zurück, als ich ihn tiefer in die Dunkelheit der Gasse ziehe. Im ersten Moment ist er so überrascht, dass er Probleme hat, auf den Beinen zu bleiben. Er hält sich verzweifelt an meinem Pullover fest. Ich löse meinen Arm von ihm, drücke mit der anderen Hand seinen Kopf nach oben und ziehe ihm die Klinge durch sein Fleisch. Sofort kann ich spüren, wie es warm in meinen Handschuh hineinläuft und er sich in meinem Griff versteift. Seine Finger krallen sich an meine Unterarme. Dann spüre ich, wie er sich bei dem Versuch zu husten noch weiter verkrampft. Da ich ihm weiterhin Mund und Nase zuhalte, endet sein Drang, einzuatmen, in einem gurgelnden Geräusch aus seinem Hals. Ich höre, wie er immer wieder Blut hinunterschluckt. Bei meinem tiefen Schnitt habe ich Luft- als auch Speiseröhre durchtrennt. So wird es nicht mehr lange dauern. Das weiß ich. Also ziehe ich seinen lediglich noch schwach zitternden Körper weiter nach hinten in die Gasse hinein und lasse ihn zu Boden sinken. Dort ersterben seine Bewegungen. Das Organ in meiner Brust schlägt immer noch schnell und aufgeregt, während ich seinen Geldbeutel herausziehe und alles an Bargeld herausnehme, was darin ist. Ich kann die Scheine gut gebrauchen, Mutters Heim ist teuer. Da dieser Auftrag hier den Eindruck eines Raubmordes vermitteln und nicht in Verbindung zu bringen sein soll mit meinem letzten Mord vor acht Monaten, kommt es mir gelegen.

Vor acht Monaten, so lange ist das schon wieder her. Wahrscheinlich kann sich mein Herz aus diesem Grund so schlecht beruhigen, es ist viel zu lange her, dass ich mich so lebendig gefühlt habe. Dass ich so glücklich gewesen bin.

Seufzend stecke ich das Geld ein. Ich beuge mich hinab, greife nach seinen Armen und ziehe ihn über den Asphalt hinter zwei aufeinandergestapelte Kisten. Als er so liegt, dass er vor neugierigen Blicken geschützt ist, wende ich mich zum Gehen.

»Respekt, das war gut! Hat Spaß gemacht, dir zuzusehen«, höre ich eine tiefe, ruhige Stimme. Sie kommt von einer dunklen Silhouette, die mir den Rückweg aus der Gasse versperrt. Ich mache mir keine Gedanken über seine Worte, sondern schnelle mit gezücktem Messer nach vorn.

Eine – wenn nicht die wichtigste – Regel beim Töten ist: keine Zeugen!

Etwas in mir ist fast froh darüber, dass ich gesehen wurde, denn so kann ich dieses Gefühl von Leben gleich noch einmal spüren.

Aber der Kerl ist größer und schneller als gedacht und so kann er meinen Angriff nicht nur abwehren, sondern auch kontern. Nur einen Wimpernschlag später finde ich mich mit dem Gesicht an die Hauswand gedrückt wieder. Er presst mich mit seinem ganzen Körper gegen den rauen Putz und hält meine Hände zwischen uns eisern fest.

Was den Nahkampf angeht, hat dieser Kerl offenbar mehr Erfahrung als ich. Aber das war auch noch nicht nötig, denn bisher war jedes meiner Opfer tot, bevor es überhaupt bemerkte, dass ich da war. Mit 17 Jahren bin ich noch nicht am Ende meiner körperlichen Entwicklung und der Typ hat scheinbar nicht nur Kraft, sondern auch Ahnung von dem, was er tut.

Verdammt, schießt es mir durch den Kopf, als ich die Spitze einer Klinge spüre, die sich unter mein Kinn drückt. Ich bewege mich nicht mehr, halte still und warte ab, was er von mir will. Wenn er mich einfach nur tot sehen wollte, wäre ich es längst. Mein Puls rast und ich empfinde etwas, dass ich nicht ganz zuordnen kann. Es ist wie eine Mischung aus Angst und Freude.

»Geht man so mit seinem Auftraggeber um? Vor allem, wenn man die zweite Hälfte des Honorars noch gar nicht bekommen hat?«, fragt er mit schneidender, aber immer noch ruhiger Stimme.

»Auftraggeber?«

»Richtig. Ich habe dich beauftragt, diesen Kerl diesen … diesen … ich hab vergessen, wie er heißt … umzulegen. Ich wollte dich in Aktion sehen. Einer deiner letzten Auftraggeber hat von dir geschwärmt. Von dem Mann mit den Skeletthänden.«

»Carol. Carol Popescu«, sage ich ihm den Namen des Mannes, der wenige Meter hinter uns liegt. Tot. Wieso kennt er nicht mal seinen Namen? Bisher habe ich fünf Menschen getötet. Meine ersten zwei Morde ausgenommen, hatten meine Auftraggeber immer sehr ernste, persönliche Gründe, warum sie denjenigen tot sehen wollten. Nicht, dass ich danach gefragt hätte. Aber die Menschen scheinen sich dafür rechtfertigen zu wollen, dass sie einen Mord beauftragen. Dass dieser Kerl hier nicht mal den Namen desjenigen weiß, den er tot sehen wollte, irritiert mich.

»Ja, Carol, kann sein. Ist mir auch egal. Kann ich dich loslassen, ohne dass du auf mich losgehst? Ich bin nicht dein Feind. Wenn es so wäre, wärst du schon lange Geschichte. Ich und mein Chef sind an deinem Können interessiert und haben noch ein paar richtige Aufträge für dich.«

Richtige Aufträge? Der Kerl verwirrt mich zwar noch immer, aber ich nicke dennoch langsam. Dass mir die Spitze seines Messers dabei ins Fleisch schneidet, stört mich nicht.

»Okay, ich tu nichts.«

Langsam macht der Mann hinter mir einen Schritt zurück, lässt das Messer sinken und meine Handgelenke los. Ich drehe mich ebenso langsam um, damit ich ihn nicht mit zu schnellen Bewegungen erschrecke und er mich doch noch aufschlitzt. Apropos, womit hat er mich gerade bedroht? Mein eigenes Messer halte ich nämlich noch in der geschlossenen Faust. In dem Moment lenkt ein metallisches Klacken meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich sehe, wie mein Auftraggeber ein Butterflymesser schwungvoll um seinen Daumen wirbelt, es so schließt und dann in die Taschen seines schwarzen Hoodies wandern lässt, der meinem ziemlich ähnlich sieht. Daraus schauen schlanke, lange Beine in einer dunkelgrauen Jeans. Ich muss leicht hochsehen, um in sein Gesicht schauen zu können. Es ist ein bleicher Kerl mit hohen Wangenknochen, stahlgrauen Augen und schneeweißem Haar. Nicht nur auf dem Kopf, sondern auch seine Brauen und Wimpern sind weiß.

»Na, fasziniert?«, kommentiert er meine Musterung und streckt mir seine Hand entgegen. »Wenn auch nicht so faszinierend wie du. Ich bin Vice und mit wem hab ich die Ehre? Dem Sensenmann?«, scherzt er. Ich zögere. Nicht, weil ich ihm nicht die Hand gegeben, sondern weil ich mich nicht mit meinem Namen vorstellen will. Er neigt den Kopf leicht schräg und verengt die Augen.

»Du willst mir deinen Namen nicht verraten«, liest er meine Gedanken und ich nicke.

»Ja. Das wäre dumm von mir. Vice ist sicher auch nicht dein richtiger Name. Oder?«

Er zuckt die Schultern und lässt die Hand wieder sinken. »Nein. Ich habe auch keinen richtigen Namen. Du wirst irgendeinen Namen brauchen, denn ich oder mein Chef müssen dich ja ansprechen. Wir brauchen einen Decknamen für dich. Aber das ist ja auch grad egal. Ich will, dass du für mich arbeitest.«

Mir gehen so viele Fragen durch den Kopf, dass er beinahe wehtut. Wer ist sein Chef, was meint er mit »für sie arbeiten« oder dass er keinen richtigen Namen hat?

»Um welche Art Arbeit geht es?«, stelle ich die erste und für mich wichtigste Frage.

Vice’ schmale Lippen heben sich zu einem Lächeln, als er spricht.

»Na ja, du sollst all diejenigen umlegen, für die ich keine Zeit habe. Das ist es doch, womit ein Auftragsmörder wie du sein Geld verdient, oder? Ohne nachzufragen, ohne zu zögern. Diese Tatsachen und die Art, wie du es gemacht hast, haben mir sehr gut gefallen.«

Mein Gegenüber ist also auch ein Mörder, aber offenbar keiner, der irgendwo im Schatten hockt und versteckt zuschlägt, dafür ist er einfach zu groß, zu auffällig und zu … weiß. Über meinen eigenen stillen Wortwitz muss ich schmunzeln.

»Klingt interessant. Ich möchte mehr darüber erfahren«, bekunde ich mein ehrliches Interesse. »Hast du Carol als Opfer ausgewählt, weil es schwierig war? War es ein Test?«

Erneut zuckt mein Gegenüber mit den Schultern.

»Ja. Ich kenne ihn nicht, dachte aber, dass man deine Fähigkeiten an ihm gut prüfen kann. Was ich dann gesehen habe, war überragend. Fast so, als hätte ich ihm selbst meine Klinge durch die Kehle gezogen«, erklärt er mir schwärmend.

Ich nicke verstehend. Vice scheint keine Skrupel zu haben, Unschuldige sterben zu lassen. Das unterscheidet ihn von den meisten anderen.

»Lass uns aus der Gasse verschwinden, bevor doch noch einer hier vorbei kommt. Gehen wir eine Runde spazieren und lernen uns kennen. Ich geb dir nen Glühwein aus, du darfst auch eine Runde auf dem Kinderkarussell mitfahren«, lädt er mich ein und ich schüttele den Kopf. »Glühwein gerne, aber das Kinderkarussell muss ich ablehnen. Das hat mir als Kind schon keinen Spaß gemacht.«

Vice, der schon losgehen wollte, bleibt noch mal stehen und sieht mich mit angehobener Augenbraue an.

»Das mit dem Karussell war zwar nur ein Spaß, aber jetzt ist es irgendwie traurig.« Er legt eine Hand auf meinen Rücken und zieht mich mit sich. »Komm, mein trauriger Grimm, wir gehen uns betrinken«, sagt er, während er mit mir gen Weihnachtsmarkt geht.

Grimm, hat er zu mir gesagt.

Grimm.

Der Name gefällt mir.

Kapitel 5

Lucia

Gemeinsam sitzen wir an dem großen Esstisch von Ace. Alle außer Kiki und die Kinder, welche von all den lebensgefährlichen, brutalen Dingen nichts mitbekommen sollen.

»Es muss doch einen Weg geben, ihn aufzuspüren!«, sage ich frustriert und stehe auf, mit den flachen Händen stemme ich mich auf den Tisch. Alle Männer – ausnahmslos – haben die Arme vor der Brust verschränkt und machen sich gegenseitig Konkurrenz im grimmig Dreinschauen.

»Ich habe bereits alle Hacker und Spione beauftragt, die ich an der Hand habe. Es bleibt uns nun nicht mehr viel anderes übrig, als abzuwarten. Früher oder später wird er einen Fehler machen und dann …« Ace schnipst mit dem Finger. »Schnappen wir ihn.«

»Und wie lange soll das dauern? Jede Minute, die vergeht, ist eine Minute mehr für ihn, sich neu zu formieren und all das Geld meiner Familie für einen neuen Plan auszugeben.«

»Aber auch eine Minute mehr, in der er einen Fehler machen kann«, argumentiert Ace. »Frankfurt ist mein Reich. Er ist hier auf Feindesland. Wir sind im Vorteil. Wenn wir eine Spur haben, dann können wir aktiv werden.«

»Und wenn wir ihm einen Köder legen?«, schlägt Seth vor. »Gibts nichts, was ihn so richtig abfuckt, was ihn unvorsichtig werden lässt?« Die dunklen Augen des ehemaligen Killers wandern interessiert zu mir.

Ich überlege für einen Moment, ob es etwas gäbe, was Dario unbedingt haben wollen würde. Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

»Natürlich! Mich! Er will mich. Wenn ich den Köder spielen würde, dann …«

»Nein«, unterbricht mich Grimm, welcher bisher noch gar nichts gesagt hat. Ich wende meinen Kopf zu ihm und sehe in sein tätowiertes Gesicht. Seine vor der Brust verschränkten Arme bleiben, wo sie sind, doch die Sehnen an ihnen treten leicht hervor, als er sich anspannt. Er sieht mich nicht an, hält den Kopf etwas gesenkt.

»Wie bitte?«, frage ich.

Nun wandern seine grünen Iriden langsam in seinen Augenwinkel, aus dem er mich taxiert.

»Nein.«

»Was nein?«

»Du wirst nicht den Köder spielen.«

»Was? Aber warum nicht? Es ist die beste und auch einzige Möglichkeit, ihn …«

»Nein.«

»Grimm!« Ich kann es nicht fassen. Wieso stellt er sich jetzt so quer? Es ist ja nicht so, dass ich eine normale, junge Frau bin, die sich nicht wehren kann oder die beschützt werden müsste.

»Es ist zu gefährlich. Ende. Nächste Idee.«

Fassungslos starre ich ihn an und Zorn wallt in mir hoch. Wieso hat er überhaupt etwas zu bestimmen? Es ist doch meine eigene Entscheidung oder nicht? Hilfesuchend sehe ich in die Gesichter der anderen. Ben schaut interessiert auf die Tischplatte vor sich, Curcio hat scheinbar gerade was sehr Spannendes an der Zimmerdecke gefunden, Ace kratzt sich verlegen am Hinterkopf und Seth fällt mir in den Rücken.

»Ich würde Kiki das auch niemals erlauben.«

Jedem Einzelnen werfe ich einen missbilligenden Blick zu.

»Ihr seid solche Helden«, zische ich. »Danke für die Hilfe.«

»Es ist wirklich zu gefährlich«, versucht es Ace nun in einem versöhnlichen Tonfall, den er sich meiner Meinung nach jetzt sparen könnte. »Ich verstehe, dass du Rache willst und das so schnell wie möglich. Deine Sorgen und Ängste kann ich voll und ganz nachvollziehen. Aber du musst etwas Vertrauen und Geduld haben. Sobald auch nur der kleinste Hinweis hereinflattert, werde ich dir umgehend Bescheid geben. Bis dahin bleibt ihr hier und verhaltet euch unauffällig.«

Spanische Flüche von mir gebend lasse ich mich zurück auf meinen Stuhl fallen und durchlöchere Grimm mit wütenden Blicken. Ihn scheint das jedoch überhaupt nicht zu interessieren. Im Gegenteil. Er schließt seine Augen und sein Gesicht entspannt sich, als würde er sich gerade von der Sonne den Rücken wärmen lassen.

Ich dreh ihm den Hals um!

Kurz darauf beenden wir unsere Lagebesprechung zu meiner vollen Unzufriedenheit. Die Fäuste ballend gehe ich ein paar Meter vor Grimm her, der mir in unser Zimmer folgt. Da muss ich dabei zusehen, wie mein Schreckens-Ehemann sich vor unser aller Augen befreit und frech in die Kamera lächelt. Und dennoch erwarten alle von mir, dass ich einfach warte?

Klar. Sie waren ja nicht jahrelang mit ihm verheiratet.

Sie sind nicht Nacht für Nacht von ihm missbraucht worden.

Sie sind nicht von ihm grün und blau geschlagen worden.

Sie sind nicht von ihm in den Keller gesperrt worden.

Ihre Freundin ist nicht von seinen Leuten getötet worden.

Ihre Eltern sind nicht …

»MIERDA!«, rufe ich und hole mit der Faust aus. Sie rast auf die Wand zu. Aber bevor sie den harten Beton treffen kann, schließen sich starke, warme Skelettfinger um sie und fangen den Schlag ab.

»Damit brichst du dir nur die Hand«, ertönt Grimms Stimme rau und dunkel direkt an meinem Ohr. Ich spüre die Hitze, die von seinem Körper ausgeht, so deutlich, als würde sie sich durch das Gewebe meiner Kleidung schlängeln, bis sie meine nackte Haut sanft liebkost. Ich verschließe mich davor. Die Rage in meinem Inneren ist zu groß, um sie zu ignorieren.