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Shiro kümmert sich um die ruhelosen Geister dieser Welt. Sein Job ist kalt, einsam und die Toten reden nicht. Perfekt, denn er braucht nichts und niemanden. Außer die Regeln seiner Rasse, die er blind befolgt: Kein Mitleid. Keine Liebe. Keine Gefühle. Doch als bei einem blutigen Massaker ein ganzes Dorf ausradiert wird und alle Seelen spurlos verschwinden, bekommt Shiros scheinbar heile Welt Risse. Leider ist sein unverschämter Kollege Veit der Einzige, der ihm bei dem Mysterium um die gestohlenen Leben helfen kann. Genervt macht er sich mit dem selbstgefälligen Mistkerl auf den Weg, des Rätsels Lösung zu finden. Dabei ahnt er nicht, dass das Schicksal der ganzen Welt auf dem Spiel steht – und dass Regeln dazu da sind, gebrochen zu werden. Der Auftakt der epischen Fantasyreihe von Mika D. Mon!
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Seitenzahl: 578
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Für Loki.
Egal ob schwarz, weiß, grau oder bunt. Jede Seele ist einzigartig und wunderschön.
Playlist
World so Cold – Three Days Grace
You Get Me High – Skillet
Hero – Skillet
I Want to Live – Skillet
A Reason to Fight – Disturbed
Thrown Away – Stealing Eden
Save Yourself – My Darkest Days
Cold – Crossfade
Get Your Body Beat – Combichrist
Never Surrender – Combichrist
I won’t Run Away – Ashes Remain
Die for You – Otherwise
Lift Me Up (feat. Rob Halford of Judas Priest) – Five Finger Death Punch
A Demon’s Fate – Within Temptation
Auszug aus den gesammelten Kompendien über Todesboten von K. von Arken
„[...] Todesboten sind Seelenfänger. Laut einem Angehörigen dieser Art hören sie den Ruf ruheloser Seelen und werden zu ihnen gelockt, um sie ins Jenseits zu schicken. Allerdings berichtete er auch davon, dass Todesboten schon Tage vorher spüren, wenn ein Unglück, eine Katastrophe oder ein anderes Ereignis naht, das viele Opfer fordern wird. Da sie überall auftauchen, wo der Tod wartet, werden sie in der Bevölkerung ausgestoßen und gefürchtet. Die Todesbotenkräfte schlummern seit der Geburt in ihrer Seele, sie werden im Kindes- oder Jugendalter von einem Engel erweckt, der sie im Anschluss ausbildet. Optisch unterscheiden sich Todesboten kaum von Menschen. Setzen sie ihre Kräfte ein, färbt sich ihr Haar jedoch silbern und ihre Pupillen nehmen eine schmale Form an. [...]“
Wiedersehen
Ich arbeite allein.« Seine Stimme klang kompromisslos und kühl durch die schmale Gasse zwischen den kleinen Fachwerkhäusern. Die Spitze seines Katanas schwebte wenige Zentimeter vor der Kehle seines Gegenübers, dessen Gesicht sich in dem polierten Stahl der Klinge spiegelte.
»Ich habe dich auch vermisst, Shiro. Lange nicht gesehen. Kein Grund, mir gleich um den Hals zu fallen.« Der große, schlanke Mann vor ihm hob unschuldig die Hände, ein fieses, spöttisches Lächeln auf den Lippen. In den grünen Augen war keine Furcht zu lesen. Nicht einmal Respekt. Bloß dieser nervtötende Schalk. Dieses lauernde, amüsierte Funkeln. Als wäre es ein verdammter Scherz, dass Shiro vor ihm stand und ihm mit ausgestrecktem Arm seine Waffe an den Hals hielt. Es kotzte ihn an.
Er verengte die Augen.
»Sag mal, willst du mich zu Eis erstarren lassen?«, fragte sein Gegenüber belustigt.
Wenn es nur so wäre.
»Verschwinde, Veit. Das hier ist mein Job.« Leicht schob er die Schwertspitze gegen die zarte Haut über der Kehle.
Veits Ausdruck wurde eine Spur dunkler, sein Adamsapfel bewegte sich leicht, als er schluckte. »Leider sehe ich kein Reserviert-Schild. Also, tut mir leid, Kumpel, aber wir werden uns diesen Job wohl teilen. Ich bin nämlich nicht den ganzen Weg bis hierhergekommen, um mich von dir fortschicken zu lassen, Kleiner. Wir sind beide dem Ruf gefolgt. Ganz wie früher.«
»Ich werde dir nicht noch einmal vertrauen.«
»Keine Sorge, ich bin diesmal auch ganz brav.« Veit legte einen Finger an die Rückseite des Katanas, wollte es wegdrücken, als wäre es aus Holz und keine tödliche Waffe.
Shiro hielt energisch dagegen, seine Mundwinkel zuckten nach unten. »Vergiss es. Es ist mir egal, von wo du gekommen bist. Selbst wenn du den weiten Weg von Arken bis hierher gewandert wärst. Diesen Job hier werde ich übernehmen. Allein.«
»Ach, komm schon. Was willst du tun? Mich kaltmachen?« Veit sah ihn dermaßen provokant an, dass Shiro all seine Willenskraft aufbringen musste, um ihm das Schwert nicht aus schierer Wut durch den Kehlkopf zu rammen. Gut, vielleicht kam dieser Zorn nicht von irgendwo, sondern hatte viele Jahre Zeit gehabt, um zu reifen. Wie ein Wein, der tief unten im Keller gelagert hatte, vergessen über die Jahre. Aber noch während er damit beschäftigt war, den Klumpen Groll herunterzuwürgen, der seine Kehle hinaufkroch, redete der Mistkerl unbeirrt weiter.
»Wir wissen beide, dass du’s nicht tun wirst. Also können wir dieses kleine Geplänkel hier auch einfach überspringen, oder nicht?«
Shiro presste die Kiefer aufeinander, schraubte die Finger fester um den Griff des Schwertes, bis das alte, raue Leder qualvoll knarzte. Tief atmete er ein.
Veit hob geduldig die Brauen, steckte die Hände in die Taschen seiner Robe, als wartete er auf die nächste Kutsche.
Shiro schloss die Augen, ließ die Luft aus seiner Lunge und die Anspannung aus den Muskeln weichen. Wieso konnte dieser blöde Typ nicht einfach verschwinden und irgendwo anders ihrer Aufgabe nachgehen? Musste es ausgerechnet dieser Ort und diese Seele sein?
»Ich werde jetzt dem Ruf folgen. Mir egal, was du tust.« Mit einem genervten Zucken seines Lids senkte er die Klinge langsam, wirbelte sie herum und steckte sie routiniert zurück in die Scheide an seiner rechten Hüfte. Wem machte er hier eigentlich etwas vor? Er war kein verdammter Mörder. Auch wenn es ihm nicht gefiel, konnte er ihn nicht zwingen, zu verschwinden. Damals war ihre Zusammenarbeit alles andere als gut geendet, aber er würde vor diesem verdammten Teufelskerl nicht den Kürzeren ziehen. Also öffnete er die Augen, sammelte sich und versuchte, seine glühenden Nerven mit einem Seufzen zu beruhigen.
»Dann können wir ja jetzt los«, stellte Veit zufrieden fest, kam auf ihn zu, als wäre nichts gewesen, und legte ihm freundschaftlich einen Arm um die Schulter. Benutzte ihn regelrecht als Lehne, während er losspazierte.
Shiro verkrampfte und schob ihn energisch von sich. Brachte eine Armlänge Abstand zwischen sie und warf ihm einen Fass-mich-noch-mal-an-und-du-bist-tot-Blick zu. Dieser prallte jedoch an einem wölfischen Grinsen ab wie Pfeile an einem Stahlschild.
Shiro ging eiligen Schrittes voran. Bloß schnell den Job erledigen und dann weiter. Egal wohin. Hauptsache weg von Veit. Nach wenigen Metern hielt er an, horchte in sich hinein. Der Ruf war leise, er musste sich konzentrieren, um ihn wahrzunehmen.
»Hm«, kam es nachdenklich von seinem Zwangskollegen, der bei ihm anhielt und den Kopf lauschend schief neigte. Kurz darauf folgte ein: »Ah, ich hab sie! Hier entlang.«
Entschlossen marschierte Veit in Richtung der Hauptstraße.
Ohne zu zögern, setzte Shiro sich in Bewegung und ging neben ihm her.
Sie orientierten sich an einer Kreuzung neu. Er sah sich um. Grobes Kopfsteinpflaster bedeckte den Boden und zu beiden Seiten ragten zweigeschossige Häuser aus Lehm und Holz in die Höhe. Geschäftiges Treiben herrschte. Unzählige Menschen drängten zu Fuß oder mit Eselkarren, die derart beladen waren, dass das Holz nur so ächzte, an ihnen vorbei. Die Nachmittagshitze flimmerte über den spitzen Ziegeldächern und ließ den Dreck auf den Wegen schmoren wie einen stinkenden Braten im Ofen. Eine Frau trug einen Korb mit einem Berg von Wäsche, sodass sie kaum darüber hinwegsehen konnte. Sie wäre beinahe vor eine heranrollende Kutsche gelaufen, die von zwei schwarzen Pferden gezogen wurde. Shiro packte die junge Magd gerade noch rechtzeitig am Arm und hielt sie auf. Der piekfeine Kutscher im grauen Anzug blickte nicht einmal zu ihnen herab. Bloß das lackierte Holz des Gefährts glänzte verächtlich.
Stattdessen lugte die gerettete Frau mit dankbarem Gesicht über ihre Schulter zu ihm. Dann wanderte ihre Aufmerksamkeit hinab zu seiner Hand. Plötzlich verdunkelte Furcht ihre Erleichterung und er bemerkte einen Schauer über ihren Körper rauschen. Das »Danke« erstickte auf ihren Lippen, als sie hastig davonlief und zwischen all den Leuten verschwand.
Teilnahmslos schaute er ihr nach, ehe er sich wieder auf den Weg machte.
Sein temporärer Begleiter war bereits einige Meter weiter vorn und Shiro hätte ihn wohl in dem Getümmel aus den Augen verloren, wäre Veit nicht einen Kopf größer als der Durchschnitt gewesen. Sein brauner Schopf lugte immer wieder hervor, schwebte gut sichtbar durch die Masse.
Sie erreichten den Marktplatz, welcher sich zwischen niedrigen Häusern und einer großen, opulenten Steinkirche erstreckte. Überall verteilt standen Holzbuden, aus denen Händler riefen und ihre Ware ausstellten. Sie priesen das leckerste Obst, die schönsten Kleider oder den frischesten Fisch an. Dem Gestank nach zu urteilen, war zumindest Letzteres eine Lüge.
Veit fräste sich seinen Weg durch die vielen Menschen wie eine Schermaschine durch dicke Wolle. Dabei war es ihm egal, wenn er jemanden anrempelte, und kurz darauf schienen ihm die Leute wie von selbst Platz zu machen. Währenddessen war Shiro noch damit beschäftigt, niemanden unnötig zu berühren und sich wie ein Aal durch die Körper zu winden, ein »Entschuldigung« nach dem anderen murmelnd.
Nach wenigen Minuten wurde ihm klar, wieso er Städte und große Menschenansammlungen für gewöhnlich mied. Es war heiß, die Leute schwitzten, dünsteten ihren Körpergeruch aus, es roch nach vergorenen Früchten, Pisse, Knoblauch und Schweiß. Ekelhaft. Stressig.
Umso erleichterter war er, als sie den überfüllten Marktplatz wieder verließen und in eine ruhigere Gasse traten. Die Fachwerkhäuser standen hier eng aneinander, bis sie schließlich wohlhabender wurden. Größer. Robuster. Manche sogar aus Stein und mit verzierten Fensterläden.
Inzwischen hörte er den Ruf deutlicher, der sie beide zu sich lockte. Sie kamen ihrem Ziel näher.
»Warst du all die Zeit allein unterwegs?«, fragte Veit ihn. »Etwas Gesellschaft würde dir guttun. Mal im Ernst, du bist so jung und trotzdem so ein Griesgram.«
Shiro sah griesgrämig zu ihm auf. Das er so war, hatte gute Gründe. Außerdem kam er allein besser klar. Ohne Leute, die ihn ständig in ein Gespräch verwickeln wollten. Bei denen er sich immerzu Gedanken um ihre Befindlichkeiten machen musste, oder ob er sich angemessen verhielt. Und die ihn vor allem nicht hintergehen oder sitzenlassen konnten.
»Sieh mich nicht an, als hätte ich dir vorgeschlagen, einen vergammelten Fisch zu essen. Einsamkeit macht einen auf die Dauer verrückt. Wir sind nicht gemacht, um allein zu sein«, behauptete sein Kollege.
»Sind wir doch«, wehrte Shiro kühl ab. »Und ich komme damit gut klar – im Gegensatz zu dir.«
Veits Antwort war ein abfälliges Schnauben.
Eine weitere Kutsche rollte an ihnen vorbei. Feine Ornamente aus Eisen umrahmten den hölzernen Korpus, dessen Fenster mit samtenen Vorhängen verdeckt waren. Das Trappeln der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster wurde erst laut, dann immer leiser.
Eine junge Dame spazierte an ihnen vorüber, einen Schirm aus schwarzer Spitze in der Hand, der ihre blasse Porzellanhaut vor der Sonne schützte. Ihr Blick musterte die beiden Männer von den Schuhen bis zu den Haarspitzen. Abschätzend. Verharrte einen Moment an den Schwertern, die ihre Hüften zierten.
Veit setzte ein schiefes Lächeln auf und warf ihr durch die verwegenen braunen Haarsträhnen einen Schlafzimmerblick zu, welcher der Frau die Röte auf die Wangen trieb. Schnell drehte sie den Kopf weg und stakste an ihnen vorbei, ohne sie noch einmal anzusehen. Sein Begleiter spähte ihr über die Schulter nach, dieses hungrige Leuchten in den Augen; wie ein Fuchs vor dem Kaninchenbau.
Sie hatten hier wichtige Angelegenheiten zu erledigen und der ließ sich von ein paar dichten Wimpern ablenken. Shiro unterdrückte ein Augenrollen. Blöder Aufreißer.
»Wir sind ganz nah«, murmelte Veit nach einigen Momenten.
Shiro nickte. Er spürte es auch. Irgendwo in der Gegend musste es sein. Das ziehende Gefühl, das sie hierher gelotst hatte, war überdeutlich. Seine Sinne schäften sich. Er sah sich um. Nahm jede steinerne Hauswand, jeden kleinsten Schatten, jedes dunkle Fenster genau in Augenschein. Sein ganzer Körper spannte sich an, bereit, was auch immer abzuwehren.
Veit dagegen steckte die Hände in die Taschen der braunen Robe. Diese war eher eine Art Kimono, wie es in seiner Heimat genannt wurde. Der Kerl schlenderte locker weiter, als wäre nichts und niemand ihm gewachsen. Über so viel Arroganz konnte Shiro nur den Kopf schütteln. Wie hatte dieser Kerl mit dieser Einstellung so lange überleben können?
»Hier entlang«, gab sich Veit weiterhin als Kompass und nickte mit dem Kinn zu einem Anwesen. Erker aus Glas und Stahl, die zu spitzen Türmchen zusammenliefen und an deren Enden sich verschnörkelte Metallornamente schlängelten, verzierten die Steinmauern. Bodentiefe Sprossenfenster durchbrachen zahlreich die Fassaden. Wie ein kleines Schloss mitten in der Stadt. Dazu rund gestutzte Büsche und Bäume auf dem Hof, der großflächig und mit glattem Stein gepflastert zu Stallungen auslief.
Veit blieb vor dem mannshohen Tor stehen. Kurz rüttelte er an der schweren Klinke, aber es war abgeschlossen. Also sprang er hoch, griff nach dem oberen Ende des gusseisernen Zaunes und zog sich mit einer fließenden Bewegung hinauf. Der Saum seiner Kleidung flatterte um seine Oberschenkel und im nächsten Moment landete er elegant wie ein junger Kater auf der anderen Seite.
»Was tust du da?«, zischte er durch die Gitterstäbe.
»Einbrechen. Wonach siehts denn aus? Komm schon. Oder soll ich den Job doch lieber allein machen?«
»Du elender …« Ein Knurren unterdrückend, sah er sich um, doch die feine Gesellschaft mied die Nachmittagshitze und niemand schien sie zu beobachten. Wenigstens etwas. Shiro lugte zu dem Ende des Zaunes. Ganz schön hoch, jedenfalls für ihn. Er nahm ein paar Schritte Anlauf, sprang und bekam die oberste Stange zu fassen. Seitlich schwang er sich hinüber und lief in vorwurfsvollem Schweigen an dem dreisten Einbrecher vorbei.
Seine Intuition lockte ihn in Richtung der Stallungen. Es war, als würde er einem Faden nachgehen. Unsichtbar und körperlos, dennoch greifbar. Als er dicht gefolgt von Veit durch das große Holztor in das Innere trat, wurde der Geruch von dreckigem Stroh und Pferd überdeutlich. Doch der beißende, süßliche Gestank von Tod und Verwesung mischte sich hinzu. Unzählige Fliegen summten in der dicken, heißen Luft. Er wedelte sie mit einer Hand weg.
In drei der vier Boxen, für die dieser Stall Platz bot, stand jeweils ein Pferd. Große Köpfe mit langen Ohren glotzten über das brusthohe Holztor hinaus. Er betrachtete einen Rappen mit einer sternförmigen Blesse auf der Stirn. Das Tier riss die Augen auf, das Weiß um das dunkle Braun trat hervor, es bleckte die Zähne und weitete die Nüstern. Unruhig tanzte es auf der Stelle, warf den Kopf hin und her.
Plötzlich bemerkte Shiro etwas Ungewöhnliches. In dem dreckigen Stroh, mit dem die offene Box des Tieres ausgestreut war, und in dem es abartig nach Pisse und Pferdeäpfeln stank, lag etwas Dunkles, Großes.
»Die Leiche.« Er betrachtete den eingerollten, verrenkten, dicklichen Mann auf dem Boden. Seine Augen standen offen, schwarz von Fliegen und anderem Getier. An dem Körper gab es mehrere Stellen, die aussahen, als wäre ein Pferd auf ihm herumgetrampelt und – na ja. So war es wohl auch gewesen. Wenige Zentimeter entfernt lag eine Mistgabel.
»Da ist ja unser Freund.« Veit trat neben ihn und spähte ebenfalls in den Stall hinein. »Hat scheinbar keiner mitbekommen, dass der hier verendet ist. Bestimmt ein Herzstillstand oder so. Kein Wunder bei der Hitze, der schweren Arbeit und seinem fetten Wanst.«
Shiro sah in das Gesicht seines Nebenmanns. In diesem stand kein Vorwurf. Kein Schock. Keine Trauer. Nichts außer emotionsloser Erkenntnis und der Zufriedenheit, ihrem Job ganz nah zu sein.
»Es ist nicht gut, wenn er schon lange tot ist. Du weißt, dass es Dämonen anlockt«, stellte Shiro klar.
»Mach dir mal nicht in die Hose. Es ist nur eine einzige Seele und wir sind zu zweit. Wenn es gefährlich wird, darfst du dich auch hinter mir verstecken.«
Shiro rollte die Augen und drehte sich um. Sein Blick wanderte über die Umgebung. Das Licht des Stallburschen konnte nicht weit sein. Sein Ruf hatte sie hierhergelockt, also musste es irgendwo in der Nähe sein.
Ein Impuls von rechts. Shiro fuhr herum, erfasste das sanfte Leuchten am Ende des Gebäudes, wie es beinahe schüchtern um die hölzernen Wände spähte. Er spürte, dass seine Pupillen sich verengten. Wie die vertraute Macht tief in ihm erwachte. In seiner eigenen Seele. Wie ein kalter Strom aus Nichts rauschte sie durch ihn hindurch. Drängte ihn näher zu der leuchtenden Seele.
Veit stellte sich neben ihn. »Ich kümmere mich um sie.«
»Vergiss es. Das ist meine Seele!« Shiro wollte losgehen, als Erster bei dem Licht ankommen und seine Arbeit erledigen, ehe Veit einen Arm vor ihm ausstreckte und ihn zurückhielt.
»Kümmere du dich lieber um diesen Besucher da.« Mit einem Zwinkern deutete er nach links in die andere Richtung.
Sofort ruckte Shiros Kopf herum und er starrte in die wabernden Schatten, welche die Stallwand hinaufkrochen, als hätten sie Tausende winzige Tentakel, die in alle Richtungen gierten. Körperlos. Nur annähernd humanoide Formen wie Beine oder Arme waren zu erkennen. Eine Ausgeburt tiefster Schwärze mit nichts als dem Wunsch nach Leben. Leben zu nehmen. Zu besitzen. Auszusaugen.
Verdammt, ein Dämon! Ohne weitere Diskussion konzentrierte sich Shiro auf das Wesen. Er ging mit lauernden Schritten auf die Kreatur zu. Sie gab ein schrilles Zischen von sich, das in den Ohren vibrierte wie harte Kreide auf einer Tafel. Im nächsten Moment huschte es die Wand entlang, versuchte, an ihm vorbeizugelangen, zu fliehen. Er zog mit einer fließenden Bewegung sein Katana und rammte es in das Holz. Der Schatten kreischte erneut auf und löste sich von dem Untergrund. Die Wut und der Hass, welche die Kreatur ausstrahlte, legten sich wie ein dicker schwarzer Film aus Öl über Shiros Haut. Die tentakelartigen Ausläufer bodenloser Finsternis stoben auf ihn zu, bündelten sich zu dicken Strängen. Er zerrte die Klinge aus der Wand, packte sie mit beiden Händen. Schlug zu. Schnelle, heftige Hiebe. Rechts, links, rechts. Hackte Schwärze wie dickes Gestrüpp. Elendiges Geheul zerriss die Luft, als die Finsternis sich wie ein getroffenes Tier wand. Sein nächster Streich zielte auf den massigen Korpus des Wesens, doch ein kräftiger Tentakel wehrte seinen Angriff zur Seite ab. Shiro musste sich durch den Schwung einmal um die eigene Achse rotieren. Sein schwarzer, langer Zopf und der leichte Stoff der dunklen, knöchellangen Robe, schwebten hinter ihm her. Er nutzte die Drehung, machte einen Ausfallschritt, seine Klinge zischte durch die Luft – und schlug horizontal in die Kreatur ein. Schnitt durch sie hindurch wie durch Butter. Ein letzter elendiger Schrei war zu hören, während die Finsternis sich zusammenknäulte und verschwand. Dann Stille. Mit einem tiefen Ausatmen richtete er sich auf, fasste mit einer Hand an die Schwertscheide und ließ mit der anderen die Klinge in diese hineingleiten.
Erledigt.
Shiro wandte sich dem anderen Ende der Stallung zu. In den Boxen tobten die Tiere, wieherten, trampelten, schlugen aus. In völliger Panik.
Veits Silhouette zeichnete sich dunkel gegen die tief stehende Sonne ab, die von außen durch das große Tor hineinschien. Sein Körper warf einen langen Schatten auf den Boden.
Shiro kniff die Augen ein wenig zusammen, blinzelte. Sah noch, wie Veits Haarspitzen im Nacken in einem Silberton verliefen, der verblasste, bis nur das ursprüngliche Braun übrig blieb. Toll, nun hatte sich sein Zwangskollege doch die Seele unter den Nagel gerissen und ihn für sich kämpfen lassen. Hinterhältiger Drecksack!
»Du mieser …«, grollte er los, verstummte aber, als Veit sich zu ihm umdrehte.
Seine Pupillen zeichneten sich nur als dünne vertikale Striche ab, die das Grün seiner Iriden hart teilten. Ein Wald im Zwielicht des Abends, kurz davor, von der Dunkelheit verschlungen zu werden. Dazu dieses verdammt zufriedene Lächeln auf den schmalen Lippen. Es erreichte seine Augen nicht.
Unwillkürlich stellten sich Shiros Härchen im Nacken auf, sein Blick wurde misstrauischer. Etwas stimmte nicht.
»Hast du die Seele fortgeschickt, Veit?« Mehr eine Warnung als eine Frage.
Der Angesprochene blieb ihm eine Antwort schuldig, drehte sich um und verließ mit entspanntem Schritt den Stall.
»Veit!« Shiro schnalzte genervt mit der Zunge, ehe er ihm hinterherlief. Es kotzte ihn an. Wenn er eins nicht wollte, dann war es, diesem Idioten hinterherzurennen. Eigentlich wollte er lieber genau in die andere Richtung gehen. Weg. Weit weg von ihm. Aber wenn dieser Mistkerl wirklich das getan hatte, was er vermutete, dann würde es Ärger geben.
Shiro hatte kaum einen Schritt aus dem Stall gemacht, da rannte er gegen den ausgestreckten Arm seines Begleiters, der ihn mit einem kräftigen Ruck zurückdrängte, bis er mit dem Rücken gegen das Holz prallte. Wut kochte in ihm hoch und er wollte sich beschweren, als Veit neben ihm seinen Blick einfing. Mit einem Finger auf den Lippen bedeutete er ihm, leise zu sein. Shiro schluckte die Flüche hinunter, die ihm auf der Zunge lagen.
Jetzt hörte er es auch: Schritte auf dem Hof, der um die Ecke lag. Den klackernden Schuhen nach zu urteilen, kamen gerade zwei Damen nach Hause, die miteinander tuschelten. Shiro entspannte sich. Die Wahrscheinlichkeit, dass die feine Gesellschaft hier zu den Ställen kam, war eher gering. Sicher würden sie sich ihre schicken Stiefelchen nicht dreckig machen.
»Wie schrecklich! Das kann nicht stimmen, Fräulein Falkenberg!«
»Doch, Marika! Ich sage es dir! Das ganze Dorf!« Die Frauenstimme klang entsetzt und gleichzeitig seltsam erregt. Als wäre ihre Erzählung eine Sensation. »Keiner hat überlebt. Na ja – außer jene, die zu dem Zeitpunkt nicht dort waren. Es muss ein Massaker gewesen sein. Ein Blutbad. Wie im Krieg, sagen die Männer!«
Marika keuchte auf und ihre Stimme wurde dumpfer, als hielte sie sich nun die Hand vor den Mund.
»Unfassbar. Wie grausam. Wer richtet so etwas an? Und dann auch noch in diesem kleinen, unschuldigen Örtchen. Was ist, wenn diejenigen als Nächstes hier her nach Tivolstadt kommen? Sind wir denn überhaupt noch sicher? Felsen ist immerhin nicht weit von hier entfernt! Das muss ja eine ganze Bande gewesen sein …« Die Stimmen der beiden Frauen wurden leiser, als sie sich entfernten.
Shiro runzelte verwirrt die Stirn. Ein Unglück in der Nähe – ohne dass sie es gespürt hatten? Unmöglich. Da ging etwas nicht mit rechten Dingen zu. Immerhin lag es in der Natur ihrer Rasse, Katastrophen schon Tage vorher wahrzunehmen. Wenn sie jedoch nichts davon mitbekommen hatten, stimmte etwas nicht.
Sein Blick huschte zu seinem Kollegen hinüber, der diesen stumm erwiderte.
Schweigendes Einvernehmen.
Sie mussten dorthin und mit eigenen Augen sehen, was passiert war.
Nichts als Verderben und Zerstörung
Sie erreichten das kleine Dörfchen Felsen mit ursprünglich höchstens sechshundert Einwohnern am frühen Abend. Schon von Weitem sahen sie den riesigen, anthrazitfarbenen Gesteinsbrocken, nach dem der Ort benannt worden war. Er steckte tief und schmal im Boden, wurde dann breit und lief nach oben hin spitz zu. Ein naturgeformtes, augenscheinlich der Physik spottendes Kunstwerk. Es war beeindruckend, als hätte ein Riese einen seiner Spielklötze einfach zur Erde fallen lassen, wo er sich in den Grund gegraben hatte und stecken geblieben war. Das Material ließ sich nicht zerstören. Weder mit Eisen noch mit Diamant hatte man auch nur einen Splitter davon schlagen können und so glaubten die Einwohner, dass dieser unzerstörbare Felsen ein Zeichen Gottes war. Ein Zeichen dafür, sich um ihn niederzulassen und darauf zu vertrauen, dass man unter dem Schutz des Herrn stand. Das hatte ihm zumindest ein reisender Händler erzählt, mit dem sie ein Stück des Weges hergekommen waren.
Doch heute hatte Gott offenbar weggesehen, denn Felsen war erfüllt von Trauer, Verzweiflung und Angst. Dass nun auch ausgerechnet zwei Wesen wie sie durch die schmalen Straßen liefen, wühlte die Menschen, die dem Gerücht eines Massakers hier her gefolgt waren, noch zusätzlich auf.
»Sieh mal. Das sind Todesboten, oder?«
»… Todesboten! Sie sind sicher wegen der Verstorbenen hier!«
Gesprächsfetzen drangen zu ihnen. Menschen standen am Wegesrand, steckten tuschelnd ihre Köpfe zusammen.
»Nichts«, hauchte Shiro, während sie gemeinsam Richtung Dorfmitte gingen. »Ich spüre nichts, nicht eine Seele.« Mit irritiert zusammengezogenen Brauen sah er seitlich zu Veit auf, der neben ihm lief. Dieser hatte die Stirn in Falten gelegt und schaute sich fassungslos um.
»Oder kannst du etwas spüren?«, hakte Shiro nach, als der andere schwieg. Vielleicht weil er hoffte, dass er sich irrte und sich die Lichter der Menschen bloß irgendwo verkrochen hatten.
Veit schüttelte den Kopf und blieb stehen. Konzentriert sah er sich um.
Es war gespenstisch still. Bis auf ein paar verzweifelte Menschen, die ihre toten Verwandten beweinten oder die beiden fremden Männer ängstlich betrachteten. Irgendwo quietschte das Scharnier eines Fensterladens im Wind. Gefolgt von dem leisen Rascheln herrenlos herumfliegenden Strohs. Über einem Holzkarren voller Äpfel hing eine Leiche, Blut tropfte von dem baumelnden Arm hinab in die Pfütze, die sich darunter gebildet hatte. Überall lagen Tote. Auf dem Boden, in den zersplitterten, kleinen Fenstern oder lehnten an den bröckeligen Wänden der alten Fachwerkhäuser. Manchen fehlte der Kopf oder andere Gliedmaßen, einigen war die Kehle aufgeschlitzt worden. Wieder andere wirkten, als wären sie aus vollem Lauf gestürzt, lagen mit ausgestreckten Armen und dem Gesicht voran auf dem Grund, der trotz der Sommerhitze schlammig wirkte. Auf Anhieb konnte Shiro aber weder Pfeile noch Bolzen entdecken. Hatte sich jemand wirklich die Mühe gemacht, jeden einzelnen wieder einzusammeln? Überall summten Fliegen, angelockt von dem süßlichen Geruch, der sich zwischen den Häusern anstaute wie eine Walze aus Eisen und Tod.
»Komm, wir sollten uns einen der Toten genauer ansehen«, sagte Veit, ging auf eine Leiche zu, spähte zu einer verzweifelten Frau, die wenige Meter entfernt weinend über dem aufgeschlitzten Körper eines Kindes vor und zurück wippte. Einen Moment zögerte er. Sah zwischen Mutter und Leiche hin und her, wandte sich um und verließ die Straße, steuerte ein schlichtes Wohnhaus an. Die hölzerne Tür war zersplittert und regelrecht aus den Angeln gerissen. So wie jede. Als hätte sich jemand systematisch von Haus zu Haus gemetzelt. Nichts als Verderben und Zerstörung hinterlassend.
Shiro folgte ihm, stieß beim Eintreten gegen Veits Rücken, da dieser wie ein Pfosten im Weg stand. Er schob ihn energisch zur Seite und sah an ihm vorbei in den Raum. Nun spürte er es ebenfalls – die Luft hier drin war schwer wie Dunst und flimmerte beinahe von dem Nachhall einer Macht, die ihm einen Schauer die Wirbelsäule hinabrieseln ließ. Kalt und dunkel.
Ohne ein Wort zu verlieren, setzte sich Veit neben ihm in Bewegung und lief weiter in den Wohnraum hinein.
Shiro ging ebenfalls tiefer in das Gebäude, das aus nicht viel mehr als zwei Räumen bestehen konnte, ließ seinen Blick über die Leichen wandern. Veit stand mit verschränkten Armen mitten in dem Schreckensbild, gemalt aus blutbespritzten oder umgeworfenen Möbeln und einer toten Familie. Stühle lagen kreuz und quer herum, die Beine teilweise abgebrochen. Auf dem Tisch verweste die Leiche einer Frau, in der Ecke stand eine Truhe und an der Wand ein gusseiserner Ofen, in dem kein Feuer mehr brannte.
»Der Vater war wahrscheinlich das erste Opfer«, begann Shiro, der zuerst auf die Leiche des Mannes zuging, der auf den Holzdielen lag. Er sah auf diesen hinab. Der Mann befand sich dicht bei der Haustür, umklammerte eine kleine Handaxt, mit der er wohl versucht hatte, sein Heim und seine Familie zu verteidigen. Shiro beugte sich tiefer, nahm die Stichwunden am Rücken in Augenschein. »Ihm wurde ein Schwert durch den Bauch gerammt, die Klinge dann gedreht. Als er auf dem Boden lag, hat man noch einige Male auf den Körper eingestochen. Er starb also nicht sofort. Jemand ließ ihn länger leiden, als es nötig gewesen wäre.«
Veit nickte zustimmend und fuhr seinerseits fort. »Die Mutter …« Er ging auf die Leiche der hübschen, brünetten Frau zu, welche auf dem Tisch in einer Blutlache lag. Die Augen weit aufgerissen, ihr Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Ihr schlichtes, cremefarbenes Kleid hing zerfetzt und rot getränkt an ihrem Körper, violette Male verunstalteten ihre gespreizten Oberschenkel und ein Schnitt klaffte an ihrem Hals, an dem das Blut langsam hinablief und stetig auf die Tischplatte tropfte. »Sie wurde vergewaltigt.« Veit legte den Kopf schief, betrachtete die Überreste aufmerksam.
Shiro schritt an ihn heran, zog die Fetzen des Kleides über die entblößte Scham der Frau und schob ihre Beine zusammen. Keine Ahnung, wieso er das tat. Als ob es die Verstorbene jetzt noch interessierte, wie entwürdigt sie hier lag. Es gab keine Ehre, die er noch retten konnte.
»Am Ende hat es das Kind getroffen. Ein Mädchen. Vielleicht sechs Jahre. Sie war in der Truhe versteckt und wurde herausgezerrt«, rekonstruierte Shiro anhand des geöffneten Deckels der großen Holzkiste, der dort herausgerissenen Decken und Kissen, die sich bis zu der Leiche des Kindes verteilten. Diese lag am Ende des Zimmers auf dem Boden, die blauen, großen Augen offen und leer zur Decke starrend. Wenige Zentimeter neben ihr entdeckte er eine zerfledderte Puppe aus Stoff und Wolle. »Entweder sie war nicht gut genug versteckt oder der Täter hat sie gespürt«, hauchte er und betrachtete den dünnen Körper des kleinen, braunhaarigen Mädchens. Forschend. Suchend. »Ich erkenne keine offensichtlichen Verletzungen, die zu ihrem Tod geführt haben. Im Gegensatz zu den Eltern ist hier kein Blut. Verkrampfte Finger, geöffneter Mund, geweitete Augen. Ihre Augen …« Gerade als er sich etwas näher zu ihr neigen wollte, bemerkte er Veit an sich herantreten und ihm eine Hand auf die Schulter legen.
»… sind leer«, stellte dieser flüsternd fest, lehnte sich tiefer, streckte seine Finger aus, um ihre blasse und kindlich runde Wange zu berühren. Sofort zuckte er zurück, als hätte er sich verbrannt.
»Du spürst es auch«, sagte Shiro und suchte in dem Gesicht seines Kollegen die Gewissheit. Dessen schmale Pupillen zuckten unruhig, als glaubte er nicht, was er gespürt hatte. Aber er blieb ihm eine Antwort schuldig. Stattdessen richtete er sich wieder auf. Angestrengt fuhr Veit sich mit beiden Händen über das Gesicht und griff sich in sein wildes Haar.
»Etwas ist anders an ihr«, flüsterte Shiro.
»Ja. Ihre Seele ist nicht nach ihrem Tod geraubt worden.« Veits Gesicht erstarrte.
Shiro nickte mit trockener Kehle und wollte es nicht glauben. Doch es war eindeutig. Er fühlte die Spuren auf einer anderen Ebene so deutlich, wie er das Blut und die Leichen in der Realität sah. Es war, als wäre etwas aufgebrochen worden, das noch fest hätte verschlossen sein müssen. »Sondern vor ihrem Tod. Unmöglich«, hauchte er. »Aber eine Lebensenergie muss erst erlöschen, bevor man eine Seele nehmen kann. Das ist …«
»Es ist möglich«, unterbrach Veit ihn. »Aber es ist ungewöhnlich. Wenn du die Kleine berührst, spürst du den Nachklang der Energie, der Macht, die dafür aufgebracht wurde. Es ist nicht nur kompliziert und kraftraubend, sondern es ist auch verboten. Immerhin sind wir nicht dazu gemacht, zu töten, sondern nur, die Seelen der Verstorbenen zu leiten. Aber man sagt sich, es ist wohl die reinste und intensivste Art, eine Seele aufzunehmen.« Das Funkeln in Veits Augen gefiel ihm nicht. Er sollte nicht so fasziniert aussehen. So bewundernd und mit einem Hauch von Neid in der Stimme. »Das Gefährliche daran ist, dass die Lebensenergie noch im Körper verweilt und die Toten als Ghule wieder aufstehen könnten.«
»Verdammt! Was für ein Wesen ist mächtig genug, um so etwas zu tun?«, fragte Shiro, obwohl er die Antwort längst erahnte. Mit Seelen umzugehen, war ihr Element. Auch wenn solche Grausamkeiten kein Teil ihrer Ausbildung waren.
»Todesboten können das. Theorietisch«, bestätigte Veit seine Befürchtung. »Aber die meisten finden es nie heraus und Seelenraub zeigen die Engel uns nicht.« Veit zuckte die Schultern. »Wir kriegen nur einen Bruchteil unserer eigentlichen Macht beigebracht. Wir sind nichts anderes als Kampfhunde, die nicht wissen, wie scharf ihre Reißzähne in Wirklichkeit sind.«
Shiro starrte ihn an, spürte den Schock in seinen Innereien rumoren. Natürlich war ihm klar, dass sie eine Fülle an Fähigkeiten besaßen und wahrscheinlich auch viele, die sie in ihrer Ausbildung nicht lernten. Aber bei Veit klang das nicht gerade nach ein paar kleinen weggelassenen Details, sondern nach einer Verschwörung.
»Lass uns rausgehen und herausfinden, wieso sie das Dorf nicht verlassen konnten und womit die Fliehenden getötet wurden. Ich habe keine Bolzen gesehen«, bestimmte er, schluckte, wandte sich von der toten Familie ab und lief zur Tür.
Veit folgte ihm und gemeinsam verließen sie das kleine Bauernhaus.
Draußen orientierte er sich kurz. Die Sonne war beinahe untergegangen. Viel Zeit blieb nicht, um alles noch bei Tageslicht zu sehen. Er lief auf den Ortsrand zu. Es gab einen Punkt, bis zu dem die Toten reichten. Darüber hinaus war in der Flucht niemand gekommen. Als hätte es eine Barriere gegeben, die sie zum Umkehren gezwungen hatte, denn viele der Menschen lagen so, als wären sie zurück in das Dorf gerannt. Eingriffe in die Natur waren nicht zu entdecken. Keine Schneisen, keine abgeschnittenen Bäume. Nicht einmal zertrampelte Felder. Schließlich steuerten sie auf die Leiche eines jungen Mannes zu, welcher augenscheinlich von einem Geschoss im Rücken getroffen worden war. Seine Glieder waren verdreht, mit dem Gesicht voran lag er im Matsch. Bei dem Toten gingen sie in die Hocke. Beide betrachteten den Rücken, fanden einige Löcher.
»Merkwürdig«, murmelte Shiro, der den zerfetzten Stoff des Hemdes etwas auseinanderklappte. »Da ist nichts. Kein Pfeil. Kein Bolzen. Keine anderen Fremdkörper, die auf ein Geschoss hinweisen«, stellte er fest.
»Die Wunde nässt«, sagte Veit und tatsächlich stand die Öffnung im Rücken bis oben hin mit Feuchtigkeit voll, auch der Stoff darum war vollgesogen mit Blut und Flüssigkeit. Fast wie Wasser.
Fragend sah Shiro zu Veit auf. In dem Moment flog eine Salve Dreck auf sie zu und brannte ihnen in den Augen. Sofort richteten sie sich auf. Wenige Meter entfernt stand ein junger, schmaler Kerl mit kurzen, dunklen Haaren, der ihnen einen Klumpen trockener Erde entgegengetreten hatte. Mutig. Und dumm.
»Verschwindet! Ihr miesen Schweine! Reicht es nicht, was ihr angerichtet habt? Was wollt ihr noch hier?! Alle sind bereits tot!«
Shiro zog die Luft tief in seine Lunge, wischte sich mit dem Handrücken über die Lider und blinzelte mit wässrigem Blick zu dem Jungen. »Wir sind hier, um dem Unglück auf den Grund zu gehen. Lass uns einfach unsere Arbeit machen und dann sind wir bald wieder weg«, erklärte er ruhig und bemerkte im Augenwinkel, wie Veit an seine Waffe langte.
»Lügner!«, rief der Fremde. Sein Gesicht war dreckig, rot und verweint und die Kleidung abgetragen. »Verschwindet hier! Wir wollen euch nicht hier haben, ihr Seelendiebe!«
Shiro wollte weiter auf den Hinterbliebenen einreden, da schnellte Veit an ihm vorbei. Er packte den Kerl mit einer Hand am Kragen seines fleckigen Hemdes, zog in derselben Bewegung sein Katana und hielt es ihm an die Kehle.
»Hör zu, du kleiner Scheißer. Wenn du uns nicht in Ruhe unsere Arbeit erledigen lässt, fällt es sicher niemandem auf, dass es gleich eine Leiche mehr gibt als vorher. Verstanden?«
Shiro machte einen Schritt vor, seine Finger zuckten um den Griff seines Schwertes, bereit, dazwischenzugehen. Er ließ die Waffe jedoch stecken, ging näher an die zwei heran, die die sich gegenseitig in die Augen starrten.
Veits schmale Pupillen zuckten unruhig, seine Haarspitzen verloren an Farbe, als würde sie von einem Schwamm aufgesaugt werden.
Gänsehaut überzog Shiros Rücken.
Er würde doch nicht …
»Lass ihn runter.« Seine Stimme war ruhig, ebenso wie die Hand, die er auf den Arm seines Kollegen legte. Kälte drang durch den Stoff der braunen Robe zu ihm durch, kitzelte seine Handfläche.
Der Junge zitterte am ganzen Körper, klammerte sich an das Handgelenk der Faust, die ihn am Kragen gepackt hielt.
Veits Augen schmälerten sich. Erdolchten ihn mit einem letzten Blick, ehe er den Angehörigen von sich stieß und mit einer fließenden Bewegung sein Schwert wegsteckte. »Ich denke, wir haben alles gesehen, was wir sehen mussten. Oder, Shiro? Also ich für meinen Teil könnte jetzt etwas Alkohol vertragen.« Veits Stimmung schwenkte um. Von Orkan zu Sommerwind. Er schenkte dem jungen Mann keine Beachtung mehr, der sich eilig von ihnen entfernte und bloß Flüche zischend davonstapfte.
»Dann lass uns eine Taverne suchen, etwas essen und das weitere Vorgehen planen«, stimmte Shiro zu. Die Nacht stand kurz bevor. Er musste über das ganze Geschehen nachdenken. Brauchte einen Platz zum Schlafen.
Veit nickte, ließ die Hände in die Taschen seiner Robe gleiten und lief voran, so als würde er sich hier auskennen wie in seiner Westentasche und als wüsste er genau, wohin es ginge.
Ehrensache
Die Taverne war voll und dennoch lag eine bedrückende Ruhe über dem kleinen Schankraum. Der Schatten des Unglücks ein paar Orte weiter reichte bis hierher. Ließ die Menschen leiser sprechen, als könnten zu laute Worte oder ein Lachen den Tod auch an diesen Ort locken oder die Verstorbenen beleidigen. Die Anwesenheit zweier Todesboten machte es wahrscheinlich auch nicht besser. Ihre Auren mischten sich mit der unheilvollen Atmosphäre zu einem Gänsehaut auslösenden Knistern. Dabei saßen sie nur friedlich an einem der wenigen schmucklosen Holztische.
Veit räkelte sich auf seinem Stuhl wie ein Kater in der Sonne, streckte die langen Beine von sich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ihm ging alles am Arsch vorbei und das ließ er jeden hier deutlich spüren.
Shiro stellte sein Katana neben sich am Tisch ab und warf seinem Kollegen einen Benimm-dich-gefälligst-Blick zu, den dieser jedoch ignorierte.
Er konnte nicht fassen, dass er tatsächlich mit diesem listigen, respektlosen und treulosen Mistkerl hier saß. Dabei hatte er sich geschworen, nie wieder etwas mit diesem Bastard zu tun zu haben, nachdem er ihn damals …
Viele Jahre zuvor
Shiro öffnete die mit einem roten X markierte große Tür des reich verzierten Herrenhauses und trat ein. »Betreten verboten! Seuchengefahr!«, bedeutete dieses Zeichen, doch er ignorierte die Warnung und schloss den Eingang leise hinter sich. Jedriel, sein Lehrmeister, hatte ihm erst vor wenigen Tagen erklärt, dass er als Todesbote immun gegen Krankheiten war. Also war es ihm möglich, in das Anwesen einzutreten, ohne befürchten zu müssen, es mit platzenden, eiternden Beulen am Körper wieder zu verlassen. Trotzdem bescherte es ihm ein Bauchgrummeln. Er spürte und hörte nicht nur den Tod in diesem Haus, sondern roch ihn auch. Hochprozentigen Alkohol zum Desinfizieren, verfaultes Fleisch, weil sich seit Wochen niemand hereinwagte. Er konnte den Ruf von drei Lichtern hören, alle in den oberen Etagen.
Langsam und bedächtig lief er durch den großen Eingangsbereich, ruhig, mit Respekt vor den Toten und gleichzeitig so aufgeregt. Über ihm schwang der Metallkronleuchter in leisem Quietschen und seine Schritte hallten auf den polierten Fliesen.
Es war das erste Mal, dass er ohne Jedriel einem Seelenruf folgte und er würde seinen Engel nicht enttäuschen. Hier gab es gleich drei arme Geister, die sich an ihr Leben klammerten und nicht gehen wollten. Die vielleicht nicht einmal wussten, dass sie schon tot waren. Womöglich gingen sie immer wieder mit ihrem letzten vorhandenen Bewusstsein, ihre tägliche Routine durch. Waren vielleicht gefangen in dieser Spirale aus Krankheit, Leid und Sterben, und er war hier, um sie daraus zu befreien. Um ihrem Elend ein Ende zu bereiten. Er war gekommen, um ihre Seelen behutsam zu nehmen und gen Himmel, gen Hölle oder zu einer reinigenden Wiedergeburt zu führen. Er atmete tief durch und hielt auf die Treppe zu, als hinter ihm mit einem lauten Krachen die Haustür aufgedonnert wurde.
Shiro fuhr herum, eine Hand zuckte in der Nähe seines Katanas, bereit zu kämpfen. In dem Eingang entdeckte er einen schlanken, großen Kerl mit braunem, wildem Haar, deren längste Spitzen seine Schulter berührten. Er stand einfach da, die Hände in die Hüften gestemmt und guckte sich in dem Gebäude um, als wäre er der Herr dieses Hauses.
Shiros Blick glitt hinab zu der Waffe, die an dem Gürtel des Mannes befestigt war. Ein langer Griff, mit Leder umwickelt, keine Parierstange, nur ein Stichblatt. Ein Katana. Ungewöhnlich. Die meisten Stadtwachen oder Söldner trugen Kurz- oder Langschwerter. Katanas und der Umgang mit ihnen waren etwas Außergewöhnliches. Etwas, das zumeist einen Todesboten auszeichnete.
»Was tust du hier?«
»Was tust du hier?«
Sie sprachen synchron wie in einem schlechten Theaterstück.
Der Typ vor ihm ging ganz in das Gebäude hinein und schloss die Tür hinter sich mit dem Fuß.
Shiro hob den Kopf etwas an. »Mein Name ist Shiro. Ich bin ein Todesbote und ich bin hier, um die Seelen der Verstorbenen zu holen und an ihren vorbestimmten Platz zu bringen«, erklärte er dem Mann vor sich, welcher sich entgegen seinem rüpelhaften Auftreten geschmeidig wie ein Raubtier auf ihn zubewegte. Grüne, schelmisch funkelnde Augen musterten Shiros Körper, ließen ihn nicht aus dem Blick und ab und an zupfte ein Lächeln an dem Mundwinkel dieses Fremden, der so verteufelt gut aussah, dass es nervte.
Shiro fühlte sich durchleuchtet, beinahe nackt. Wie die Beute eines Jägers, der die Schwachstellen seines Opfers abschätzte.
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Und du bist?«, fragte er den unhöflichen Kerl, der sich ihm immer noch nicht vorgestellt hatte.
Dieser blieb stehen, neigte den Kopf verspielt zur Seite und versenkte seine Hände in den Taschen des edlen Mantels. Er stand so locker und gemütlich da, als wären sie an einer gottverdammten Bar und nicht in einem Seuchenhaus, wo die von der Krankheit dahingerafften Leichen irgendwo verteilt lagen.
»Freut mich, Shiro, ich bin Veit«, stellte er sich endlich vor, zog eine Hand hervor und hielt sie ihm entgegen.
Na toll. Dabei hatte er sich so viel Mühe gegeben, kalt, abweisend, düster und, na ja, sich eben wie ein Todesbote zu verhalten. Aber egal. Wenn der Mann ihn jetzt berührte, würde er sicher schnell das Weite suchen. Shiro löste eine Hand aus der Verschränkung und griff nach der ihm angebotenen.
Er zuckte zusammen, als ihre Haut aufeinandertraf, doch er konnte die Finger nicht zurückziehen, Veit hielt ihn fest. Kälte durchzog seinen Arm, hoch bis zu seinem Herzen, legte sich um dieses wie eine Schicht aus Eis. Ein diabolisches Lächeln erschien auf den Lippen seines Gegenübers. Shiros Blick wanderte hoch in seine leicht geschmälerten Augen, mit den ebenso zu schmalen Schlitzen verengten Pupillen.
»Todesbote«, flüsterte Shiro in die Stille des Herrenhauses und erhielt ein Nicken als Antwort.
»Richtig. Du bist noch jung, oder?« Veit ließ seine Hand wieder los.
»Ja, und du?«
»Ich bin alt. Du kannst also was von mir lernen.« Der andere Todesbote lief zur breiten Treppe und tätschelte ihm im Vorbeigehen den Kopf. Einfach so. Ohne Scham. Ohne Vorwarnung.
Shiro war so überrumpelt von der plötzlichen Berührung, dass er nichts dagegen unternahm. Verflucht! Er hätte diesem arroganten Kerl für diese erniedrigende Geste seine blöde Hand abhacken sollen! Doch er atmete einmal tief durch und behielt die äußerliche Ruhe. Der Fiesling musste ja nicht wissen, wie wütend er ihn gemacht hatte. Denn er war ein Todesbote und er hatte seine Emotionen vollkommen unter Kontrolle. Immer … öfter.
Auf dem Weg nach oben nahm Veit mit seinen langen Beinen immer zwei der Marmorstufen auf einmal und Shiro hechtete hinter ihm her. Zwei Todesboten, drei Seelen. Einer von ihnen durfte sich also um zwei Lichter kümmern. Wie würden sie entscheiden, wer es tat? Musste er verzichten, weil er der Jüngere war? Würde Veit ihn alle drei Seelen fortschicken lassen, damit er üben konnte?
»Stopp! Still!«
Er wäre beinahe gegen Veit gerannt, der in der ersten Etage wie angewurzelt stehen geblieben war.
»Was?«, hauchte Shiro neugierig, alarmiert.
»Spürst du sie nicht?«
Was für eine Frage, natürlich spürte er die Seelen. Oder meinte er etwas anderes?
»Was?«
Veit drehte sich schwungvoll zu ihm um. »Was kann passieren, wenn ruhelose Seelen zu lange unbeaufsichtigt in dieser Welt bleiben?«
Shiro unterdrückte ein Augenrollen und fühlte sich wie in einer der theoretischen Unterrichtsstunden mit Jedriel. »Es kann Dämonen anlocken.«
Veit nickte und deutete mit dem Kinn in einen dunklen Gang mit jeweils drei Türen auf jeder Seite. »Dort …« Seine Stimme war ein unheilvolles Hauchen, wohingegen seine Hände wieder völlig gelassen in die Taschen des Mantels wanderten.
Shiro war sofort in Alarmbereitschaft. Bisher hatte er nur Jedriel einmal zugesehen, wie dieser gegen einen dämonischen Schatten gefochten hatte. Würde heute sein erster echter Kampf stattfinden? Er spürte ein leichtes Kribbeln in seinem Magen und den Fingerspitzen.
»Komm mit. Diese Ausgeburt der Hölle gehört allein dir«, versprach Veit, zog eine Hand hervor und legte sie ihm zwischen die Schulterblätter, schob ihn vor sich her. Gemeinsam liefen sie in den dunklen Gang hinein. Sie blieben vor der zweiten Tür rechts stehen, die ungewöhnlich schmal und schlicht erschien.
»Hier hinter. Shiro, das ist dein Kampf! Ich gebe dir Rückendeckung, falls etwas passiert.«
Der Angesprochene tastete mit seinen Todesbotenkräften in den Raum hinein. Nichts. Da war nichts. Aber Veit war älter und somit erfahrener und sicher auch feinfühliger. Dieser stand direkt hinter ihm, seine Brust berührte Shiros Rücken und sein Atem streifte ihn heiß im Nacken. So dicht. Ein Hauch von Holz und süßen Gewürzen kitzelte seine Nase. War das Zimt? Shiro blinzelte, schüttelte den Kopf, um die unsinnigen Gedanken loszuwerden. Er war verdammt noch mal eingeklemmt zwischen Körper und Tür. Der Rückweg versperrt!
Der Fremde fasste mit beiden Armen um ihn herum, links hielt er die Zarge fest, rechts platzierte er die Hand auf den Türknauf.
Das beklemmende Gefühl schwoll an. Aber er war kein Feigling, der weglaufen würde.
»Bereit?«, flüsterte Veit.
Shiro legte die Hände an sein Schwert. Gewappnet, es zu ziehen, sobald der Platz dafür ausreichte. »Ja.«
Veit öffnete die Tür, stieß sie auf und ihn mit seinem Körper in den dunklen Raum hinein.
Er stolperte nach vorn, direkt in einen Haufen aufgehängter Jacken und Mäntel. Ein Wandschrank? Irritiert warf er die Stirn in Falten und drehte sich zu dem anderen um. Dieser klebte ihm im nächsten Augenblick einen weißen Zettel mit schwarzen Runen darauf gegen die Brust und flüsterte »Prohibe.«
Mit einem Mal fuhr eine Welle durch Shiros Körper, die ihn an Ort und Stelle gefrieren ließ. Er schaffte es nicht einmal, seine leicht geöffneten Lippen zu bewegen, weil er Veit fragen wollte, was zur Hölle hier vor sich ging.
Der zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, mein junger Freund, aber die drei Seelchen gehören mir. Keine Sorge, das ist nur ein kurzweiliger Bannzauber. Hält grad mal ein bis drei Tage. Hat mich gefreut, Shiro! Man sieht sich!«, verabschiedete er sich mit einem gemeinen Grinsen auf den Lippen, ehe er die Tür zu dem Wandschrank zuschlug und ihn im Dunkeln zurückließ.
Shiro konnte es nicht fassen. War das ernsthaft passiert?
Arschloch. Wichser. Mieser, hinterlistiger Mistkerl! Das würde er bezahlen. Er hatte ihm vertraut, weil er der Ältere war und weil sie Artgenossen waren. Blind war er gewesen und unfassbar dumm! So ein Fehler würde ihm nie wieder unterlaufen. Nie wieder!
Heute
Shiro knirschte mit den Zähnen und schüttelte den Kopf, um die ungeliebten Erinnerungen loszuwerden. Währenddessen winkte Veit die Schankmaid herbei und begutachtete sie von oben bis unten, als würde er ihr Aussehen in seinen Gedanken bewerten. Zu welchem Schluss er über die rothaarige Frau mit unzähligen Sommersprossen kam, konnte Shiro in seinem Gesicht nicht ablesen.
»Bring uns eine Flasche Schnaps und zwei Gläser«, bestellte Veit. Die Frau nickte und sah sie beide abwartend an. Nervöser Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. Ihre Brust vibrierte unter der weißen Schürze von ihrem schnellen Herzschlag.
»Und zwei Bier sowie die Tagesempfehlung bitte«, beeilte Shiro sich zu sagen, und zog seine Mundwinkel hinauf, um ihr zu zeigen, dass sie nicht hier waren, um ihre Seele oder die eines Gastes einzusammeln. Die Schankmaid jedoch drehte sich nur schnell um und eilte davon. Sie huschte hinter den Tresen und verschwand durch eine zweiflüglige Schwingtür in die Küche dahinter.
Veit stöhnte. »Mann, Shiro. Wenn du versuchst zu lächeln, ist das echt gruselig. Lass das lieber. Du hast dem Mädchen Angst gemacht.«
»Was? Schwachsinn. Wohl eher du, weil du aussiehst wie ein Raubtier vor der Beute«, knirschte Shiro hervor und taxierte seine Augen. Deren Pupillen waren trotz des schummrigen Lichtes noch immer unnatürlich schmal und dünn - wie die einer Katze. Sie hätten sich längst wieder in eine normale, menschliche Form wandeln müssen. Der Bastard war noch immer auf einem Seelenrausch!
Veit lehnte sich auf dem Stuhl vor, stützte den Kopf auf eine Handfläche und Dunkelheit flimmerte durch sein Lächeln. »Macht es dich nervös?«
Shiro überlegte, welchen Teil seines Gesichts er entgleisen lassen sollte, um seinem Gegenüber zu zeigen, wie lachhaft diese Provokation war. Letztendlich ließ er seine Miene völlig starr und unbewegt. Das war wohl die beste Reaktion auf solche Sticheleien. »Unsere Aufgabe ist es, die Seelen an ihren vorherbestimmten Ort zu schicken, und nicht, sie für uns selbst zu nutzen. Es ist uns verboten.«
»Verbotenes kann so verführerisch sein«, flüsterte Veit eine Oktave tiefer als sonst.
»Lass die Spielchen!« Shiro biss die Kiefer aufeinander. Er kämpfte gegen den Drang an, über den Tisch nach dem Kragen dieses Mistkerls zu packen und ihn zu schütteln, bis ihm die Ernsthaftigkeit der Lage endlich klar wurde. Eben waren sie noch durch ein völlig ausradiertes Dorf gelaufen, Hunderte Seelen waren wie vom Erdboden verschluckt und Veit juckte das offenbar überhaupt nicht! Wie er diesen ehrlosen, respektlosen Bastard hasste!
»Du hast die Seele des Stallburschen absorbiert. Sie war rein und unschuldig! Ihm hätte ein Platz im Paradies zugestanden! Es war deine verdammte Pflicht, sie dorthin zu schicken«, fuhr er ihn durch zusammengepresste Zähne an und hielt seine Stimme gesenkt, damit die anderen Gäste es nicht hörten.
Veit rollte die Augen, als wäre er ein unartiger Sohn, der sich von seinem Vater eine Moralpredigt anhören musste. »Das ist dein Problem? Da verschwinden unzählige Lichter auf mysteriöse Weise und du willst jetzt ernsthaft mit mir darüber streiten, dass ich ein einziges für mich behalten habe!?« Er lachte auf, als hätte Shiro einen Scherz gemacht. »Wie ist das so, wenn man den ganzen Tag mit einem Stock im Arsch rumläuft. Tut das nicht irgendwann weh oder törnt dich das irgendwie an?«
Shiros Muskulatur verkrampfte sich. Er würde ihn umbringen. Er würde ihn so was von umbringen.
In dem Moment stellte die Schankmaid das Tablett vor ihnen auf dem Tisch ab und verteilte mit einem distanzierten Lächeln Gläser, Teller mit Hühnersuppe sowie Besteck und ein paar Stücke Brot. Zu guter Letzt fand auch eine Flasche Schnaps den Weg auf die hölzerne Oberfläche, welche die beiden Todesboten trennte und davon abhielt, dass der eine dem anderen an die Gurgel sprang.
»Vielen Dank.« Shiro versuchte es noch einmal mit einem Lächeln, doch er spürte selbst, wie unterkühlt es wirken musste. Die Rothaarige blieb keine Sekunde länger, als sie musste, wünschte einen guten Appetit und war schon wieder verschwunden. Seufzend nahm er einen der Holzlöffel und tunkte ihn in die heiße Brühe vor sich. Der Geruch von Alkohol mischte sich mit dem würzigen Aroma der Suppe. Trotz der späten Uhrzeit war es noch unheimlich warm. Die Hitze staute sich in dem Schankraum. Nicht nur durch die Sonneneinstrahlung am Tag, sondern auch durch die Körper der Gäste, die Kerzen auf den Tischen und die Öllampen, die an den Wänden flackerten und warmrotes Licht spendeten. Nicht gerade die beste Jahreszeit für eine Hühnersuppe – aber er war dankbar und hungrig. Also aß er und trank dazu das kellerkühle Bier.
Veit tat es ihm gleich. Bedankte sich nicht einmal dafür, dass Shiro Essen und etwas Vernünftiges zu trinken für ihn mitbestellt hatte. Der Kerl hätte sich wahrscheinlich bloß mit Schnaps abgeschossen.
»Also. Fassen wir die Situation noch mal zusammen«, murmelte besagter Kerl, während er etwas von der Innenseite einer Scheibe Brot abzupfte, es in die Suppe tunkte und sich dann in die Wange stopfte. Mit vollem Mund sprach er weiter. »Jeder anwesende Bewohner in Felsen wurde bestialisch abgeschlachtet und alle Seelen sind verschwunden. Es gibt niemanden, der fliehen konnte. Keine Augenzeugen. Jemand ist ziemlich gründlich vorgegangen. Beinahe beneidenswert.«
Shiro warf ihm über seinen Löffel hinweg einen finsteren Blick zu. Es war vieles. Beeindruckend. Beängstigend. Bedauerlich. Aber ganz sicher nicht beneidenswert. »Es scheint fast so, als wäre das Dorf abgeriegelt gewesen. Die Menschen saßen in der Falle«, ergänzte er.
Veit nickte nachdenklich, nahm sein Bier zur Hand und spülte den letzten Bissen nach.
»Glaubst du, es waren Todesboten?«, fragte Shiro nach kurzem Schweigen und hatte jäh den Drang, sich eins der kleinen Gläser wieder und wieder mit dem Schnaps vollzukippen. Der Gedanke, dass seine eigene Art so etwas anrichtete, gefiel ihm nicht. Sie sollten Wesen der Gerechtigkeit, der Neutralität sein. So wie der Tod selbst, als dessen Boten sie durch die Lande zogen. Auch wenn ihnen die Gesellschaft mit Angst und Ablehnung entgegentrat, spürte er dennoch einen gewissen Stolz, ein Todesbote zu sein. Gott hatte sie ausgewählt. Einige wenige. Für diese Aufgabe musste jeder von ihnen etwas opfern. Und er hatte so verdammt viel opfern müssen, dass er gar nicht anders konnte, als dafür zu leben. Als sein Schicksal zu erfüllen. Zudem waren sie gar nicht mächtig genug, um ein solches Massaker anzurichten. Es hätte Dutzender Todesboten bedurft.
Veit drehte das Bierglas gedankenverloren in seiner Hand. Selbst um seine Mundwinkel war das Lächeln verschwunden. »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Jedenfalls nicht nur.«
»Die Seelen sind nicht fortgeschickt worden, denn es gab keinen Nachhall von Himmel oder Hölle. Die Tore ins Jenseits sind definitiv nicht geöffnet worden. Was auch immer es war, es hat sie behalten. Entweder sie wurden entführt oder absorbiert«, sagte Shiro nachdenklich.
»Und wenn das so ist, dann hat derjenige den Trip seines Lebens.« Veit hob die Brauen, als würde er auf einen zu vollen Teller sehen, den niemals jemand verschlingen könnte.
»Kein Körper könnte so eine Masse an Energie aufnehmen.« Shiro schüttelte den Kopf. »Außerdem, warum sollte ein Todesbote so etwas tun?«
Veits Augen bekamen einen seltsamen Glanz, als er ihn musterte. Leicht neigte er den Kopf zur Seite, sodass die Strähnen über seine Stirn rutschten. Seine Lippen kräuselten sich zu diesem Lächeln, das Eltern an den Tag legten, wenn ihre Kinder etwas richtig Niedliches taten. »Wir wissen nicht, wer oder was das da draußen war. Aber wir können nicht ausschließen, dass es sich um einen von uns handelt. Nicht jeder Todesbote ist gerecht und zufrieden mit seinem Job. Nicht alle kommen damit klar, von der Gesellschaft ausgestoßen zu sein. Immer einsam zu sein. Nicht alle halten sich an die Regeln oder kennen Ehre. Glaub mir.«
Zähneknirschend blickte Shiro auf die abgenutzte, dreckige Tischplatte vor sich, suchte dann in dem Schaum seines Bieres nach Antworten. Fand sie aber nicht. Hatte er wirklich eine falsche Vorstellung ihrer Rasse? Sie alle bekamen die Regeln und Aufgaben der Todesboten von ihrem Mentor beigebracht. Klar, er selbst war immer ein Einzelgänger gewesen, kannte nicht viele ihrer Art. Vielleicht musste er in dem Fall auf Veits Erfahrungswerte vertrauen.
»Wenn es so ist, dann müssen wir denjenigen finden und zur Rechenschaft ziehen.«
»Wir?« Veit ließ sich dieses Wort auf der Zunge zergehen wie einen Sieg.
»Versteh mich nicht falsch. Ich habe keine Lust auf dich und du nervst. Aber du bist ein Todesbote, ebenso wie ich, und es ist unsere Pflicht herauszufinden, ob es einer von uns war.«
»Ach ja? Wer verpflichtet uns denn?« Amüsiert schob Veit seinen Teller von sich, nahm die beiden Schnapsgläser und füllte sie. Sofort breitete sich der starke Geruch von hochprozentigem Alkohol aus.
»Unsere Ehre.«
Veit lachte kühl auf, schob ihm einen Kurzen über den Tisch zu und hob seinen an. »So was hab ich nicht.« Er kippte sich den Schnaps in den Mund, knallte anschließend das Glas auf den Tisch. »Außerdem – hast du dir mal angesehen, was dort passiert ist? Ein ganzes Dorf ist abgeschlachtet worden. Bist du dir sicher, dass du dich mit denjenigen anlegen willst, die das angerichtet haben? Ich weiß nicht, ob du es vergessen hast. Aber auch Todesboten können sterben.«
Shiro stand auf, schob den Stuhl dabei geräuschvoll nach hinten. Seine plötzliche Bewegung ließ auch das letzte Murmeln in der Taverne verstummen und er fühlte unzählige Blicke auf sich brennen. Voller Furcht – aber auch Ablehnung. Er sah nüchtern von oben auf seinen Kollegen hinab. »Du bist wohl nur so alt geworden, weil du ein Feigling bist, der andere für sich kämpfen lässt und seinen Schwanz einzieht, sobald es ernst wird.« Mit diesen Worten nahm er sein Schnapsglas, leerte es mit einem Zug, stellte es ab. Veits verblüfftes Gesicht ignorierend, griff er sich sein Katana von der Tischkante, ging durch den Schankraum zur Theke.
Grabesstille herrschte, als er ein paar Münzen aus seinem Geldbeutel fischte und sie auf den Tresen legte. Der Wirt dahinter nahm sie vorsichtig entgegen, als erwartete er, dass sie ihn bissen, ein leises »Vielen Dank, Herr« murmelnd.
»Ein Zimmer für die Nacht«, verlangte Shiro.
»Ja. G-Gerne. Ähm … Moment.« Der Mann wischte sich die Hände an der speckigen Schürze ab und beugte sich unter die Bar. Wühlte. Als er sich wieder aufrichtete, legte er klimpernd einen massiven Eisenschlüssel auf der Oberfläche ab. »Bitte sehr. Die … Die Treppe hinauf und dann das erste Zimmer rechts.«
»Danke.« Shiro schnappte den Schlüssel mit der freien Hand und ging die knarzende, schmale Treppe hinauf. Mit Schweigen im Rücken. Erst als er aus dem Blickfeld der Gäste verschwunden war, setzte wieder leises Gemurmel ein.
Verlockendes Flüstern
Als Shiro am nächsten Morgen die Treppe hinab kam, waren nur wenige Gäste vor Ort, die meisten Bewohner des Dorfes gingen zu dieser Zeit ihrer täglichen Arbeit nach. Der Wirt fegte die Holzdielen seiner Stube und wischte zwischendrin die schmutzigen Tische ab. Zwei Männer saßen an einem davon und aßen ihr Frühstück. Von dem anderen Todesboten fehlte jede Spur. Er hatte sich aus dem Staub gemacht. Feigling.
»Morgen«, grüßte Shiro und setzte sich an einen der Plätze, die bereits sauber geputzt worden waren. Wenige Augenblicke später stand der Wirt bei ihm.
»Kann ich etwas zum Frühstück bringen?«
»Ja. Was auch immer gerade vorhanden ist. Dazu einen Tee.«
Der Mann nickte und huschte durch die Tür in die Küche, augenscheinlich froh, dem gruseligen Todesboten vorerst aus dem Weg gehen zu können. Dabei wollte Shiro eigentlich noch nach einem Badezuber und einer Möglichkeit, seine Kleidung zu reinigen, fragen. Dann eben später.
Er legte sein Schwert quer über seinen Schoß, dachte nach. Den Verursacher dieses Massakers konnte er nicht zur Strecke bringen. Egal, wie ausgezeichnet seine Kampfkünste waren. Wer imstande war, ein solches Blutbad anzurichten, war mächtiger, als es ein einzelner Todesbote je sein würde. Aber er wollte wenigstens herausfinden, wer dafür verantwortlich war. Vielleicht konnte er mit einem Engel Kontakt aufnehmen, auf das Geschehen aufmerksam machen. Als Todesbote war es ihre Aufgabe, Seelen an den Ort ihrer Bestimmung zu bringen. Und wenn Hunderte spurlos verschwanden, dann hatten sie versagt. Dann hatte er versagt. Er hob das Katana an, zog es einige Zentimeter weit aus der Scheide, als könnte er in der spiegelnden Oberfläche Zustimmung finden – einen Rat. Ihm war dieses Schwert gegeben worden, damit er die Seelen verteidigte. Wer war er, wenn er solche Grausamkeit tatenlos duldete? Doch in der silbrigen Oberfläche fand er keine Antworten. Nur seine eigenen Augen, die in tiefem Blau und ausdruckslos zwischen den langen schwarzen Strähnen hervorblitzten. Und ein zweites Augenpaar direkt neben seinem. Grün. Gerissen. Veit.
Shiro zuckte leicht vor Überraschung zusammen und ließ die Klinge mit einem Ruck zurück in der Hülle verschwinden.
»Hab ich dich erschreckt?«, freute sich der Fiesling und entgegnete Shiros vernichtendem Blick vergnüglich. Dabei umrundete er den Tisch, packte den Stuhl ihm gegenüber mit einer Hand, zog ihn zurück und ließ sich darauf sinken. Veits Haare glänzten feucht, die sonst wilden Strähnen hingen ihm dunkel auf die Schultern und ins Gesicht. Ein Tropfen löste sich und fiel hinab. Offenbar hatte er bereits den Badezuber gefunden. Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, seine Robe gänzlich zu schließen, sie stand an seiner Brust offen und der braune Stoff mit den grünen Verzierungen wies an manchen Stellen nasse Flecken auf.
»Sieht danach aus«, antwortete Shiro. Er pflegte seine Morgen ruhig und meditativ zu beginnen. Hoffnungslos mit diesem angeberischen Idioten. Dabei war nicht mal eine Frau hier, die er beeindrucken konnte. Bloß er, den er nervte, und die beiden Gäste, die so taten, als existierten sie gar nicht.
»Warum bist du noch hier?«, wollte Shiro frostig wissen.
»Weil du recht hast. Wir müssen herausfinden, wer das war. Ich gebe es nicht gerne zu, aber mein Gefühl sagt mir, dass dunkle Zeiten auf uns zukommen werden. Wer auch immer dieses Dorf ausgelöscht und die Seelen gefressen oder entführt hat – ich glaube, das ist nur der Beginn von etwas ganz Üblem.«
Veits Aufrichtigkeit entwaffnete Shiro, sodass sein Zorn mit einem Mal verrauchte. Gleichzeitig war es ungewöhnlich, dass sein Kollege ein solch besorgtes Gesicht aufsetzte, und es warf noch mehr Zündholz in das lodernde Feuer seiner eigenen Befürchtungen. Dörfer wurden nicht einfach ausradiert. So etwas passierte nicht. Nicht ohne triftigen Grund. Menschen starben, ja, das war der Lauf des Lebens und sein Job. Aber das hier schrie nach etwas, das über ihren Verstand hinaus ging.
»Wir müssen Nachforschungen anstellen und dann mit unserem Wissen vor die Engel treten, falls sie nicht längst darüber Bescheid wissen«, sagte Shiro.
»Ich weiß nicht …« Veit sah nachdenklich zur Seite aus dem Fenster, strich sich ein paar Haare aus dem Gesicht, biss auf seine Unterlippe.
»Was ist?«
»Nichts. Ist bloß nicht so leicht, Engel zu kontaktieren. Oder hast du seit deiner Ausbildung einen gesehen?«
Veit hatte recht. Seit vielen Jahren war ihm keines der geflügelten Lichtwesen mehr begegnet und er hatte auch keine Ahnung, wie man sie erreichen konnte. Beten vielleicht? Bisher war es nie nötig gewesen. Er wusste bloß, dass sie existierten und dass sie verdammt stark waren. Übernatürliche Krieger mit übernatürlicher Macht und übernatürlicher Schönheit.
Der Wirt kam mit einem Tablett zurück, stellte Brot und den Tee ab, dann verschwand er schnell wieder.
»Also … Spuren von den vermeintlichen Tätern haben wir keine gefunden. Alles, was wir wissen, ist also, dass sie die Macht haben, Seelen zu absorbieren oder zu transportieren. Sehr viele. In sehr wenig Zeit. Und das sogar vor dem Tod«, zählte Veit auf.
Shiro nickte, zog die Tontasse mit dem Tee zu sich. »Wir müssen herausfinden, welche Wesen es geben könnte, die infrage kommen. Alte Legenden durchwühlen.«