Todesboten - Machtschwarz (Band 2) - Mika D. Mon - E-Book

Todesboten - Machtschwarz (Band 2) E-Book

Mika D. Mon

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Beschreibung

Shiros Welt liegt in Scherben. Veit hat ihn verlassen und sich dem Feind angeschlossen. Und das alles bloß, weil Shiro nicht einsehen wollte, dass sein blödes Herzklopfen andere Gründe hat als den Wunsch, diesem nervigen Mistkerl den Hals umzudrehen. Jetzt hat er ihn verloren, seine Kräfte sind außer Kontrolle und die Todesboten rüsten für einen Krieg gegen den Himmel, den sie nicht gewinnen können. Shiro muss diesen Wahnsinn irgendwie beenden und seinen Freund wiederfinden, bevor es zu spät ist. Für ihre Rasse. Für Veit. Für sie beide.Veit hat Shiro zum Sterben zurückgelassen und damit einen Fehler begangen, den er nie mehr gutmachen kann. Nun ist er Teil des Inneren Kreises und soll zusammen mit dem Weißen Todesboten und dessen Vertrauten Macht sammeln, um den Krieg zu gewinnen. Dazu muss er seine Hände in das Blut Unschuldiger tauchen und zu einem der Monster werden, die er zuvor gejagt hat. Tja. Was hat er noch zu verlieren?

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ISBN: 978-3-98677-833-0

© 2021 Kampenwand Verlag

Raiffeisenstr. 4 · D-83377 Vachendorf

www.kampenwand-verlag.de

Versand & Vertrieb durch Nova MD GmbH

www.novamd.de · [email protected] · +49 (0) 861 166 17 27

Text: Mika D. Mon

Covergestaltung: Mika D. Mon

Triggerwarnung

In dem Buch können potenziell triggernde Inhalte vorhanden sein. Wenn du sensibel auf eines der folgenden Themen reagierst, bitten wir dich, dieses Buch mit besonderer Vorsicht zu lesen:

– Tod

– Gewalt

– Blut

– Kraftausdrücke

– Misshandlung

– Abhängigkeit und Rauschmittel

Für die Auserwählten. Wahre Freundschaft verbindet unsere Seelen und Herzen mit einem Band, welches niemand trennen kann.Nie.

Erinnerungen

Todesbote Shiro und sein ungeliebter Artgenosse Veit sind dazu gezwungen, zusammenzuarbeiten, als sie die Nachricht eines Massakers in einem nahegelegenen Dorf erreicht. Dort erwartet sie ein grausames Blutbad. Was ihnen jedoch wirklich Sorge bereitet, sind die spurlos verschwundenen Seelen. Die Täter haben alle Lebenslichter entführt und das Dorf magisch abgeriegelt, sodass niemand entkommen konnte.

Verzweifelt und ahnungslos bitten die beiden Todesboten Schwarzmagierin Resa um Hilfe. Doch es ist nicht nur Rat, den diese für sie übrighat, sondern auch eine dunkle Prophezeiung:

»Was eins war, liegt in Scherben.

Zerbrochen. Entzwei.

Was Gutes will, bringt Verderben.

Auferstanden. Frei.

Ein Urteil ist gefällt, die Jagd hat begonnen.

Vernichtung und Tod.

Der verliert, hat gewonnen.«

Erschüttert von diesen düsteren Neuigkeiten suchen die beiden Todesboten etwas Auszeit auf dem Sonnenfest. Zum ersten Mal finden die beiden ungleichen Männer einen zarten Draht zueinander.

Doch plötzlich wird ihre Ruhe zerstört: Eine schwarzmagische Barriere taucht mitten im Waldland auf, was nur eines bedeuten kann: ein weiteres Massaker.

Auf dem Weg dorthin wächst ihre Gruppe und sie finden neue Gefährten. Der verstoßene Engel Amariel und Dämon Violence, die eine intensive Hassliebe verbindet, schließen sich den beiden an.

Als sie bei dem Dorf ankommen, finden sie tatsächlich erneut ein Blutbad vor. Der Täter ist noch vor Ort. Sie beobachten einen Todesboten mit weißem Mantel, silbernem Haar und einer unheilvollen, kalten Aura.

Bevor sie ihn zur Rede stellen können, verschwindet der mysteriöse Weiße Todesbote. Gleich darauf ergreift auch Amariel plötzlich die Flucht. Zariel, ein himmlischer Krieger, taucht auf und eröffnet kompromisslos einen Kampf. Shiros Weltvorstellung zerbricht, dachte er bislang, Engel und Todesboten wären Verbündete.

Gemeinsam schaffen sie es, den Angreifer zu vertreiben, aber der Kampf bleibt nicht ohne bittere Folgen. Veits Verletzung entzündet sich und sein Leben steht auf Messers Schneide. Im Sterben liegend berichtet Veit Shiro von einem Weg, ihn zu retten: Er könnte für ihn eine Seele klauen, um ihn mit deren Energie zu heilen.

Shiro verzweifelt über die Entscheidung. Soll er ein fremdes Leben beenden, um das seines Kameraden zu retten? Doch er will seine Macht als Todesbote nicht missbrauchen und lässt Veit sterben. Erst im letzten Moment taucht Amariel auf und rettet ihn.

Doch Shiros Entscheidung, Veit sterben zu lassen, wiegt mit der Zeit immer schwerer. Nicht nur auf seinem eigenen Gewissen, sondern auch auf ihrem zerbrechlichen Band, welches dadurch gerissen scheint. Gleichzeitig entsteht eine knisternde Spannung, welche Shiro heillos überfordert und vor der er flüchtet.

Als Shiro nachts aus einem Albtraum aufwacht, in welchem er leises Wimmern aus dem abgesperrten Teil des Schlosses hört, in dem er aufwuchs, wird er von seinem eigenen Mentor Jedriel angegriffen. Gemeinsam mit den anderen schafft er es, ihn zu besiegen und zu töten. Es ist nun klar, dass die Engel offensichtlich den Auftrag haben, die Todesboten zu töten.

Schließlich machen sich Shiro und Veit auf den Weg zu einem ominösen Todesbotentreffen. Ihnen gefriert das Blut in den Adern, als sie sehen, wer eine dramatische Rede hält: Der Weiße Todesbote. Dieser ruft ihre Rasse dazu auf, sich gegen die Engel zu erheben und gegen diese für Freiheit und Liebe zu kämpfen. Gemeinsam mit den Dämonen.

Veit ist Feuer und Flamme für diese Idee, sind es genau die Ideale, die er selbst lebt. Shiro dagegen misstraut der bösartigen Aura des Weißen und kann sein Vorgehen, unschuldige Menschen zu töten und ihre Seelen für Macht zu klauen, nicht tolerieren.

Zudem findet Shiro heraus, dass Veit von seinem Engel verlassen wurde. Die Enttäuschung und das Gefühl, ein Stück Himmel verloren zu haben, haben ein großes, schmerzliches Loch in ihm hinterlassen, das er mit Seelen zu füllen versucht. Veit will, dass Shiro diese Leere vertreibt, doch stattdessen ist dieser überfordert und gibt ihm das Gefühl, abgewiesen zu werden.

Verletzt und verzweifelt verlässt Veit gemeinsam mit dem Weißen ohne ein Wort des Abschiedes die Stadt und Shiro folgt ihnen heimlich, um ihn aufzuhalten. Gerade als er sich dazu entschließt, ihm seine Gefühle zu offenbaren, werden sie von Engeln angegriffen.

Veit flieht gemeinsam mit dem Weißen und lässt Shiro zurück, der von den Engeln überwältigt wird.

Brief an die Todesboten

Im Kern sind wir menschlich, denn unsere Kraft schlummert in unseren Seelen, bis ein Engel kommt, um sie zu befreien. Wir werden aus unseren Familien gerissen und jahrelang ausgebildet, um die ruhelosen Seelen ins Jenseits zu schicken oder sie vor Dämonen zu beschützen, welche sie verderben wollen. Jeden Tag blicken wir dem Tod ins Auge. Doch er ist nicht leise und sanft und erlösend. Nein. Er ist so grausam und bitter, dass eine Seele den Weg nicht allein aus der Dunkelheit findet, sich verzweifelt an einen Ort oder einen Menschen klammert. Und wenn wir kommen, um sie zu befreien, werden wir gezwungen, unsere Gefühle auszuschalten, kein Mitleid zu empfinden. Weil wir sonst den Verstand verlieren würden, träfe uns jedes Schicksal ins Herz. Wir spüren große Unglücke und doch dürfen wir sie nicht verhindern. Egal, ob ein Feuer, das eine ganze Familie ausradiert, oder eine Seuche ganze Städte. Wir opfern alles. Dürfen nicht fühlen, nicht lieben. Verschreiben unser Leben der kalten Einsamkeit. Aber die Menschen sehen in uns nicht ihre Retter. Sie sehen in uns Unglücksbringer. Wo ein Todesbote auftaucht, gibt es Leichen. Manchmal nur eine einzige und manchmal trifft es ein ganzes Dorf. Gott straft uns mit einer kalten Aura, die jeden Menschen vertreibt, mit silbernem Haar und katzenhaften Pupillen, damit auch jeder die Todesboten erkennt. Und das Einzige, was er uns mit auf den Weg gibt, ist ein Katana. Jahrhundertelang haben wir damit gegen Dämonen gekämpft und Seelen beschützt. Bis der Himmel unserer überdrüssig wurde. Die Engel versuchen, uns loszuwerden, Ausbilder schlachten Schüler ab, sie vernichten uns systematisch. Warum? Womit haben wir dieses Schicksal verdient? Wir dürfen uns nicht kampflos ergeben. Lasst uns kämpfen, meine Brüder und Schwestern. Für Freiheit. Und das Recht, zu lieben!

K.

Aus dem Chorus Seraphim von Erzpriester Theo Gaross

[…] Engel mögen wunderschön und vollkommen erscheinen. So erhaben über alles Irdische. Geschaffen als Diener Gottes gibt es dennoch eine essenzielle Sache, die ihnen fehlt und die uns Menschen zu einem freien Willen befähigt: die Seele. Mir ist zu Ohren gekommen, dass es aufgrund dieses einzigartigen, göttlichen Geschenkes sogar Neid unter den Engeln gegeben haben soll. Um welche Engel es sich genau gehandelt hat, ob es sogar die Erzengel oder die Seraphim betraf, und wie ihre Brüder und Schwestern mit diesem sündigen Gedanken umgegangen sind, ist nicht bekannt. […]

Über Dämonen aus dem Ritualbuch für Dämonenbeschwörung von P. H. Hatecraft

Beschwörung eines Dämons von niederem Rang

Merkmale: Schattenhafte, körperlose Form, meist wenig humanoid und mit unzähligen Tentakeln. Diese Wesen geben meist ein helles, unangenehmes Kreischen von sich. Sie sind wenig intelligent und namenlos.

Schwierigkeitsgrad: Kinderspiel

Empfohlen für: Anfänger

Beschwörung eines Dämons von höherem Rang

Merkmale: Grob menschliche Form, manchmal auch animalisch. Entstellte, groteske Erscheinung. Der fleischgewordene Albtraum. Sie geben tiefe, grollende Geräusche von sich, manche sind fähig zu sprechen. Ergreifen gerne Besitz von Menschen.

Schwierigkeitsgrad: Mittel

Empfohlen für: Fortgeschrittene

Beschwörung eines Höllenfürsten

Merkmale: Besitzt einen menschlichen Körper und kann sich frei in unserer Welt bewegen. Äußerst intelligent und bösartig. Der einzige Weg, einen solchen Dämon mit viel Glück zu kontrollieren, ist, seinen wahren Namen zu kennen. Und einen wirklich erfahrenen Exorzisten an der Hand zu haben.

Schwierigkeitsgrad: Fast unmöglich

Empfohlen für: Lebensmüde

Beschwörung von Luzifer

Merkmale: Unbekannt

Schwierigkeitsgrad: Unmöglich

Empfohlen für: Verdammt nochmal niemanden

Auszug aus den Schwarzen Schriften von S.e.v.e.n

[…]verzagt nicht, ihr Anwender der Dunklen Magie, denn es gibt Mittel und Wege, unseren Tod zu verlangsamen, ja, vielleicht sogar zu verhindern. Wir entschieden uns für die mächtigste der drei Magieschulen, lachen über die Anwender der Elementaren und der Weißen Magie, die unserer Zunft nichts entgegenzusetzen hat. Doch der Preis, den wir für unsere Macht zahlen, ist nichts anderes als unser Leben. Zauber um Zauber nährt sich die Schwarze Magie von unseren Leibern, bis nichts mehr von uns übrigbleibt als eine tote, verrottete Hülle. Jedoch ist es nicht unmöglich, dem Tode zu trotzen. Denkt an den Einen, dessen Legende von Generation zu Generation weitergegeben wird. Von dem einen Schwarzmagier, der dem Zerfall trotzt und keinen Tribut an die Magie zahlt. Äonen soll er überdauern, lebendig und so mächtig, dass ganze Landstriche durch seine Macht verderben. Wenn es einer schafft, die Magie zu bezwingen, dann besteht Hoffnung für uns alle. […]

KAPITEL 1 Blut und Frost

Wieso haben diese kleinen Wichser uns nicht wenigstens Bescheid gesagt?«, schimpfte Vio, während er mit großen Schritten hinter Amariel her stapfte. Die Arme verschränkt, der Blick so dunkel wie sein Mantel, den er nicht einmal trug, weil dieses Fickvieh von Jedriel ihn weggeschmort hatte. Shiros ehemaliger Mentor hatte sie vor drei Nächten mit der Absicht angegriffen, seinen Schüler umzubringen. Weil der Himmel neuerdings Jagd auf die Todesboten machte und diese systematisch umbrachte. Jeder Ausbilder dazu beauftragt, seinen Schützling zu erledigen. Egal ob Erwachsener oder Kind. Das reinste Blutbad, das in der Auslöschung einer ganzen Rasse enden sollte. Wieso? War noch nicht klar. Vielleicht, weil Gott oder irgendein scheißmächtiger Engel keinen Bock mehr auf sie hatte. Vio hätte es egal sein können. Er war ein Dämon und kein Todesbote. Aber Scheiße, er hasste diese Ungerechtigkeit. Vor wenigen Tagen hatten sie einen jungen Todesboten beerdigt, schätzungsweise um die acht Jahre alt. Fuck. Der Kleine hatte nicht mal ansatzweise eine Chance gehabt. Vio ballte seine Fäuste, dass die Knöchel knackten.

Es hatte sogar eine Todesbotenversammlung gegeben, was ziemlich ungewöhnlich war, denn dieses Völkchen an unterkühlten, emotionskargen Seelenwächtern war in der Regel eher einzelgängerisch. Und kein anderer als der Weiße Todesbote hatte diese Party geschmissen. Leider war die Weste dieses Kerls nicht halb so weiß wie sein Mantel, denn sie hatten ihn quasi in flagranti dabei erwischt, wie er ein ganzes Dorf abgeschlachtet hatte, um sich die Energien ihrer Seelen einzustecken. Und zwar nicht auf die zweckorientierte Art und Weise. Sondern auf die grausame, sadistische Wichserweise, die eindeutig von einer psychopathischen Ader zeugte. Vios Meinung nach jedenfalls. Ausgerechnet der Kerl scharte gerade seine Rasse um sich, gab sich als Held und rief seine Kollegen dazu auf, gegen den Himmel in den Krieg zu ziehen. Klar. Er konnte verstehen, dass der Typ Macht brauchte, um eine Chance zu haben, und er hatte Respekt davor, dass er sich nicht zu schade war, sich die Hände selbst so richtig schön schmutzig zu machen. Aber … wieso diese unnötige Grausamkeit hinter seinen Taten?

»Ich weiß es nicht. Hauptsache, wir finden sie. Warte, ich glaube, wir sind bald da. Die Schwingungen dieser Macht werden immer deutlicher«, sagte der Engel vor ihm und riss ihn aus den Gedanken. Sie beschleunigte ihre Schritte plötzlich. Keine Ahnung, wie sie mit den kleinen Beinen überhaupt so schnell sein konnte. Seit Stunden liefen sie durch die Ebenen vor der Hauptstadt Ryleh und folgten einer Spur von Todesbotenenergie, die Amariel aufgegriffen hatte. Was beängstigend war, weil es eigentlich unmöglich sein müsste. Sowohl Shiro als auch Veit trugen Talismane, die ihre Aura komplett verbergen sollten. Doch gerade sandte irgendetwas absolut unnormale Schwingungen aus.

Der Morgen brach an und in seinem Magen rumorte eine ungute Vorahnung. Die beiden Todesboten waren nicht die Typen, die mitten in der Nacht verschwanden, weil sie einfach nur irgendwo in Ruhe fummeln wollten. Gut, Veit vielleicht schon, aber Shiro nicht. Dazu war er viel zu gewissenhaft, zu ehrenhaft und außerdem war er so verklemmt wie ein rostiges Scharnier, das man nur noch mit Gewalt aufbekam. Vio überlegte, ob er in diesem Vergleich so weit gehen konnte, Veit als Brechstange zu betiteln.

Sie liefen eine Weile durch einen Wald, ehe sich eine Lichtung vor ihnen auftat. Schon von Weitem roch er das Blut, die aufgewühlte nasse Erde und kurz darauf sank die Temperatur ab. Ein Film aus weißem Raureif überdeckte den Boden, die Äste, Blätter der Bäume und die Wiese, auf der ein einziger Körper reglos lag. Ebenfalls überzogen von der dünnen Schicht Eis, welche im Sonnenlicht funkelte wie Diamant. Die lange schwarze Robe hing zerfetzt um seinen Körper, das Haar verteilte sich silbern um das leichenblasse Gesicht. Rote Spritzer in alle Richtungen zierten den Frost um ihn herum wie abstrakte Kunst auf einer Leinwand. Offensichtlich war von allen Seiten auf den armen Kerl eingemetzelt worden. Sein Katana hielt er noch fest umklammert, als wäre es irgendein beschissener letzter Anker.

»Shiro!«, rief Amariel und rannte plötzlich los.

»Ama, warte, das könnte eine Falle sein! Fuck!« Er war zu spät. Die Irre war bereits einen Schritt zu weit entfernt und seine Faust, die nach ihr schnappte, traf ins Nichts. Er lief ihr hinterher. Sie hatte den leblosen Shiro erreicht und ging bei ihm in die Knie, fasste nach seinen Schultern und drehte ihn auf den Rücken. Dann riss sie an den Stoffen seiner Robe herum, als gäbe es noch irgendetwas zu retten.

Vio sah sich eilig um, spürte überall hin, doch es schien wirklich so, als wäre niemand mehr hier. Keine Spur von irgendwelchen anderen Todesboten oder Engeln. Bloß der Nachhall ihrer Energien. Ganz abgesehen von all den Federn, die hier überall herumlagen, als hätte jemand ein Daunenkissen zum Explodieren gebracht, und den eindeutigen Zeichen eines heftigen Kampfes.

»Ama …« Langsam trat er an den Engel heran, der über den Toten gebeugt dasaß und plötzlich wie versteinert wirkte. Mit mechanischen Bewegungen drehte sie sich zu Vio um, die bernsteinfarbenen Augen kugelrund, die Lippen zu stummer Fassungslosigkeit geöffnet.

»Vio. Hier stimmt etwas ganz und gar nicht«, sagte sie leise.

Er senkte den Blick auf den bewegungslosen Todesboten und traute seinen Augen kaum.

KAPITEL 2 Wie geschmolzener Schnee

Shiros Kopf dröhnte, als hätte jemand mit einem glühenden Eisen darin herumgerührt und versucht, ihm bei lebendigem Leib das Gehirn zu rösten. Gleichzeitig fühlte sich alles schwerelos an. Rein. Neu. Wie der erste Sonnenstrahl am Morgen nach einer stürmischen Nacht. Langsam schlug er die Augen auf, erkannte nur verschwommene Farben und Licht. Er blinzelte, rollte sich vom Bauch auf die Seite, ein tiefes, elendiges Stöhnen quälte sich durch seine Kehle.

Verdammt, was war passiert? Wo war er?

Unter ihm fühlte es sich warm und weich an. Als wäre er auf eine Wolke gebettet.

Langsam schärfte sich sein Blickfeld. Er lag auf einem großen weißen Bett. Vorhänge bauschten sich vor dem geöffneten Fenster, durch welches grelles Tageslicht hereinfiel. Er blinzelte, erkannte opulente Sitzmöbel unter der Öffnung. Offenbar befand er sich im Hotel. Im Azurs. Wo er mit seinen Gefährten untergekommen war.

Neben dem Bett lehnte sein Katana. Es steckte in der Scheide, sie war fleckig und bröckelig von getrocknetem Blut, in dem stellenweise Federn klebten. Das musste dringend gereinigt werden. Beinahe sah es aus, als hätte er sich durch eine Vogelvoliere geschlachtet. Mit nichts als weißen Täublein darin. Er schmälerte die Augen. In seinem Kopf braute sich ein Gewitter aus Eindrücken, Erinnerungen und Empfindungen zusammen. Schmerzhaft zuckten die ersten Gedankenblitze durch seinen Schädel. Der Weiße Todesbote. Am Strand. Gemeinsam mit … Veit! Sie waren miteinander aus der Stadt gegangen, in einen Wald und dann … Blut. Schwerter. Federn. Schmerz. Silbernes Haar. Grüne Augen.

Als wäre er aus eiskaltem Wasser aufgetaucht, setzte er sich auf, schnappte nach Luft und schlug gleichzeitig die Decke zurück.

Veit war weg.

Er war gegangen, hatte sich dem Weißen Todesboten angeschlossen und ihn zurückgelassen. Der Gedanke fühlte sich an wie ein Strick um seine Kehle. Schnürte sich immer enger und zog ihn langsam am Galgen hinauf, bis er zappelnd und keuchend daran verrecken würde. Verdammt. Wieso? Wieso waren sie zerbrochen? Wieso war ihre Verbindung zwischen seinen Fingern zerronnen wie geschmolzener Schnee? Wieso hatte er ihn nicht festhalten können und wieso war es ihm nicht einfach scheißegal?

Er schnappte sich sein Katana und wollte es sich an seinen Gurt stecken, doch er stocherte ins Leere. Als er an sich hinabschaute, entdeckte er nackte Haut und Unterwäsche. Sein Blick schweifte durch das Zimmer, aber alles, was er fand, das ansatzweise nach seiner Robe aussah, war ein schwarzer, klumpiger Haufen voller Dreck und Blut in einer Ecke. Er lief darauf zu, wankte, stützte sich am Bettpfosten ab. Die Welt drehte sich, sein Puls hämmerte ihm in den Ohren und in der Brust. Gleichzeitig fühlte sich alles seltsam wattig an und obwohl sein Herz zu einem kleinen schwarzen Klumpen geschrumpft schien, steckte ein Lachen in seinem Hals. Irgendwie kam er bei dem Stoffknäuel an. Als er sich zu diesem hinabbeugte und seine offenen Haare über seine Augen rutschten, sah er sie silbern schimmern. Was zur Hölle?

Irritiert richtete er sich wieder auf und torkelte zur Kommode mit den Waschschüsseln und den Spiegeln darüber. Er spähte in einen dieser hinein, sah für einen kurzen Moment einen bleichen, zerfledderten Kerl mit Schatten unter den Augen und Blut im Haar, ehe ein stechender Schmerz durch seinen Schädel blitzte, als hätte ihm jemand zwei glühende Dolche durch die Schläfen getrieben. Das Schwert fiel klappernd zu Boden. Stöhnend stützte er sich mit beiden Händen auf das Becken. Klammerte sich um die Keramik und drängte die Galle zurück, die seine Speiseröhre ruckartig hinaufschwappen wollte.

So fühlte sich also Fleisch, wenn es durch den Wolf gedreht wurde.

Plötzlich hörte er ein Rascheln und Klacken an der Tür. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sie geöffnet wurde und eine große, dunkle Gestalt den Raum betrat. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an.

»Du bist wach!« Es war Vios tiefe, rauchige Stimme.

»Leider«, entgegnete Shiro knurrig und drehte den Kopf in seine Richtung. Schön langsam, um sein Gehirn nicht noch mehr durchzuschütteln.

»Verdammt, du siehst echt beschissen aus.« Der Dämon kam vorsichtig heran, als würde er sich einem verletzten Tier nähern. »Wie gehts dir?«

»Mir gehts, wie ich aussehe.« Er musterte Vio kritisch. Der sah selbst nicht ganz frisch aus. Zwar trug er keine Wunden oder Hämatome am Körper, doch unter seinen Augen schimmerten violette Schatten. Dazu dieser Dreitagebart.

»Was ist passiert?«, fragte Shiro.

»Ich dachte, das könntest du mir sagen«, erwiderte der Dämon, verschränkte dabei die Arme vor der Brust. »Wir haben dich auf einer Lichtung im Wald gefunden. Unverletzt, aber deine Kleidung nur noch Fetzen. Überall um dich herum Blut und Frost. Seitdem schalten sich deine Haare auch nicht mehr ab.« Er nickte mit dem Kinn auf seinen silbernen Schopf. »Außerdem fehlt von Veit jede Spur.«

Obwohl Shiro die Augen schloss, die Lider fest zusammengekniffen, glühte der Blick des anderen fragend auf ihm. Als wollte er die Antwort so aus ihm herausdrücken. Leise stieß er die Luft aus und zwang die nächsten Worte durch seine belegte, raue Kehle. Auch wenn es sein Herz endgültig zerbrechen ließ, es auszusprechen. »Er ist mit dem Weißen Todesboten mitgegangen.«

»Was?!« Vios Hand zuckte in seine Richtung, doch schließlich ballte er sie bloß zur Faust. »Was soll das heißen? Wieso?«

»Veit hat schon immer genau die Sachen gesagt, die dieser Kerl auch bei der Versammlung angesprochen hat. Erinnerst du dich noch, wie er auf diesen Juwio aus dem Magieladen reagiert hat, als er uns abfällig behandelt hat, weil wir Todesboten sind? Es war nicht das erste Mal, dass er wegen so etwas ausgeflippt ist. Kein Wunder. Er steht vollkommen hinter den Ansichten des Weißen.« Langsam senkte er den Blick, starrte irgendwo ins Nichts und hoffte, dass die Leere seines Ausdrucks sich endlich auch auf sein Innerstes ausbreitete. Sie tat es. Umgriff ihn kalt und hohl. Aber obwohl seine Todesbotenkräfte immer noch aktiv waren und eigentlich jedes Fünkchen Gefühl ersticken müssten, tat es dennoch so verfickt weh.

»Aber dass er ohne ein Wort des Abschieds verschwindet?« Vio schüttelte ungläubig den Kopf. »Wir haben doch noch zusammen gefeiert und …«

»Ich denke nicht, dass er es geplant hat. Der Weiße hat ihn nachts am Strand abgefangen. Ich bin aufgewacht und ihm heimlich gefolgt. Veit sah nicht so aus, als hätte er ihn dort erwartet. Keine Ahnung, welches Gift diese Schlange in sein Ohr geträufelt hat. Aber seitdem Siriel aufgetaucht ist …«

»Du glaubst, es hat etwas mit seinem Engel zu tun?«

Shiro seufzte. »Seitdem war Veit nicht mehr derselbe. Er hat sich mit Seelen berauscht. Stand total neben sich und …« Er sprach nicht weiter, kniff erneut die Augen zusammen und spürte dem Schmerz nach, der sich wie ein hungriger Parasit durch die Leere seiner Eingeweide grub.

»Und was?«, drängte Vio. »Du musst mir alles erzählen. Jedes noch so kleine Detail.«

Prüfend sah Shiro den Dämon an, doch dessen ernster Gesichtsdruck entwaffnete ihn. Sein Kamerad hatte recht. Er sollte sich ihm anvertrauen, auch wenn ihm jetzt schon das Blut in den Kopf schoss. Seine Ohren und Wangen glühten warm, also wandte er schnell das Gesicht ab. »Ich glaube, er hat sich von mir Trost versprochen. Aber ich konnte ihm nicht geben, was er sich gewünscht hat.« Langsam drückte er sich von der Waschschüssel ab und senkte den Blick. »Siriel hat eine große Kerbe in sein Herz geschlagen. Ich glaube, Veit füllt dieses Loch mit den Seelen, die er konsumiert, um ein Stück von Siriels Himmel zurückzuerlangen. Aber ich kann ihn nicht ersetzen. Auch wenn ich einfach kein Trostpflaster sein will, hätte ich es nicht einmal gekonnt, weil ich kein verdammter Engel bin. Weil ich nicht Siriel bin!«

»Aber du bist du.« Vio kam noch einen Schritt näher, fasste ihn an den Schultern und fing seinen Blick ein.

Shiro verzog die Brauen irritiert, wollte sich am liebsten aus dem Griff winden und flüchten. Aber er blieb stehen und erwiderte den Blick verbissen. »Das ist ja das Problem.«

»Idiot.« Sein Gegenüber rollte die Augen, als hätte er eine einfache Matheaufgabe nicht verstanden. Dann ließ er ihn los. »Was hast du jetzt vor, willst du ihn bei diesem Bastard lassen?«

Shiro starrte für einen Moment hinab auf seine Hände. Betrachtete die raue Haut an den schwieligen Stellen, die für gewöhnlich sein Katana hielten. Gute Frage. Veit war ein freier Mann, der selbst entscheiden konnte, wem er sich anschloss. Da war es egal, dass er ihn lieber an seiner Seite wollte, weil er sich ohne ihn fühlte wie ein Schiff ohne Segel. Irgendwie ziellos umhertreibend und unvollständig. Andererseits … Er musste mit ihm reden. Ihm diese Worte sagen, die er ihm nicht mehr hatte sagen können. Es wenigstens versuchen.

»Ich muss ihn finden.« Er ballte seine Finger zur Faust.

Vio atmete erleichtert aus. »Ich dachte schon für einen Moment, du würdest aufgeben.«

»Nein.« Mit diesem Wort wandte Shiro sich ab und hob sein heruntergefallenes Schwert vom Boden auf.

»Obwohl er dich zum Sterben zurückgelassen hat?«

Shiro sah über die Schulter zu Vio und hob einen Mundwinkel lieblos an. »Ich habe ihn ebenfalls sterben lassen, jetzt sind wir quitt. Du sagst, ich war unverletzt?«

»Ja.«

Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, schaute er an sich hinab. Seine Brust war tatsächlich unversehrt und auch über seiner Schulter spannte sich nichts als blasse glatte Haut. Nicht einmal ein Kratzer. Dafür neue Narben. Dabei zuckte ein Bild durch seinen Kopf, wie ein Speer in ihn eindrang. Und das nicht nur einmal. Auch sein Rücken brannte vom Nacken bis zum Steiß bei der Erinnerung an einen Hieb, der ihn dort erwischt hatte. Aber was kam danach? Er sah sich selbst, wie er auf die Knie sank. Wie er in den Wald starrte, vor dem Veits Silhouette verschwunden war. Er spürte Schmerz und wie er von allen Seiten von unzähligen Klingen durchstoßen wurde. Schmeckte Metall, hörte das Schrappen von Stahl auf Knochen, das Schmatzen von Fleisch und Blut. Was zur Hölle war passiert, dass er dennoch hier stand, quicklebendig, obwohl er als verstümmelter Haufen auf dem Waldboden verrotten sollte? »Frost war um mich herum?«, vergewisserte er sich.

»Jep.«

Shiro runzelte die Stirn, dachte scharf nach und versuchte, sich durch das wattige Gefühl in seinem Kopf zu wühlen. Er kannte nur eine Person, welche die Macht besaß, so viele Engel zu besiegen. Die den Frost mit sich brachte. Die in der Lage gewesen wäre, ihn zu retten und verflucht, der Gedanke gefiel ihm nicht.

Seine Beine fühlten sich nach wie vor an wie Pudding, als er auf den Schrank zuwankte und ihn aufzog. Darin hing nicht nur der Satz Wechselhemden und –Hosen für ihn selbst, sondern auch von Veit. Ruppig riss er an dem Bügel seiner eigenen Klamotten, zog sie hinaus und schlug die Tür schnell wieder zu.

Während er in die Hose stieg und anschließend den Knopf zufummelte, sah er Vio an. Der lehnte inzwischen mit verschränkten Armen an der Wand und beobachtete ihn.

»Du glaubst, der Weiße hat dich gerettet, oder?«, las der Dämon seine Gedanken.

Shiro steckte erst einen Arm durch den Hemdärmel, dann den anderen, knöpfte es zu und biss sich auf die Innenseite seiner Lippe, anstatt zu antworten. Sein düsterer Blick sprach für sich.

Vio nickte. »Wäre jedenfalls logisch. Immerhin bist du ein Todesbote. Es lag sicher nicht in seinem Interesse, dich sterben zu lassen.«

»Wo ist Amariel?«, wechselte Shiro das Thema und steckte sich das Katana an den Gürtel.

»Sie schläft. Wir haben uns die letzten Tage damit abgewechselt, dich zu bewachen. Du lagst zwei Tage im Bett wie eine schlafende Prinzessin. Wir dachten schon, du bist doch irgendwie verreckt.« Vio winkte ab. »Aber keine Sorge, ich hätte versucht, dich wachzuküssen.«

Shiro starrte ihn reglos an. Es dauerte einen Moment, bis die Information in seinem Gehirn angekommen war, das träge durch seinen Schädel zu wabern schien. Vio drückte ihm dieselben dummen Sprüche wie Veit und der Gedanke stach ihn ins Herz, weil er sofort das Gesicht des Fieslings vor sich sah. Mit diesem blöden Schmunzeln und den grünen Augen, in denen unter dem Schalk so viel Schmerz und Dunkelheit schlummerte.

Der Dämon ging an ihm vorbei, lehnte sich mit einem Ellbogen auf den Sims vor dem offenen Fenster und zog eine Kippe aus seiner Arschtasche. Er zündete sie mit einem Streichholz an, wedelte es aus und schnipste es nach draußen. Kurz darauf stieß er eine Rauchschwade aus.

Shiro stellte sich neben ihn, der kühle Wind vom Meer schmeichelte über seine Haut, er schloss die Augen. Hinter der dicken Wolkendecke brannte die Sonne und obwohl ihre Strahlen nicht bis auf die Erde fanden, spürte er ihre wärmende Kraft auf sich. Wie ein Feuer hinter einem Kachelofen. Nicht sichtbar, dennoch vorhanden und kraftvoll.

»Wieso habt ihr mich bewacht?«

»Auf der Lichtung, wo der Kampf stattgefunden hat, ist eine riesige Menge Todesbotenenergie freigesetzt worden. Wir konnten nicht sicher sein, ob uns jemand hierher gefolgt war. Außerdem war es ziemlich auffällig, dich halb totes Häufchen Elend ungesehen zurückzuschleppen. Weggetreten und völlig hilflos. Wenn dich ein Engel gefunden hätte, wärst du so was von Futter für die Vögel gewesen.« Vio zog an der Zigarette, nahm sie mit Daumen und Zeigefinger aus seinem Mund und sah mit zusammengezogenen Brauen auf die Glut, als könnte er darin geheime Antworten finden.

»Danke. Dass ihr …«, begann Shiro und beobachtete, wie der Dämon Qualm aus seinem Mund wabern ließ. »Für alles einfach.« Nun war es an ihm, eine Hand auf die Schulter des anderen zu legen.

Vio schaute ihn verblüfft an, schielte kurz zu der Berührung und dann zurück in sein Gesicht. Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen. »Na klar.«

Shiro sah ihm noch kurz dabei zu, wie er einen letzten Zug an der Zigarette nahm, sie ausdrückte und wegschnipste, dann wandte er sich um. Seine Beine fühlten sich so langsam ein wenig stabiler an, nicht mehr, als würde er gleich gegen die nächste Wand taumeln. Er ging zu den Überresten seiner Robe und kniete sich hin. Suchend wühlte er den Stoff auseinander, fand die Innentasche, in der er die Kette von Resa verstaut hatte. Als er hineingriff, zog er das silberne Schmuckstück heraus, doch der blaue Anhänger daran, der ihm half, seine Kräfte zu kanalisieren und zu bündeln, war kaputt. Nur noch ein kleiner Rest hing in der Fassung. Alles Weitere verteilte sich als Splitter in der Tasche, als wäre das Ding explodiert. Sicher war es zu Bruch gegangen, als die Engelsklingen ihn durchbohrt hatten. Von der beruhigenden Wärme, die es sonst auf ihn hatte übergehen lassen, war jetzt jedenfalls nichts mehr übrig. Seufzend ließ er die Überreste fallen und klopfte seine Hände aus.

Also musste er einen anderen Weg finden, seine eskalierten Todesbotenkräfte wieder zu zähmen. Wenigstens schien der Ring noch intakt zu sein. Er sah auf den filigran gearbeiteten, magischen Gegenstand am Ringfinger. Der blauviolette Stein funkelte sanft. Durch ihn würde seine Aura verborgen bleiben.

Shiro stand auf und drehte sich um.

Er begegnete dem Blick von Vio, welcher sich nun ebenfalls vom Fenster abgewandt hatte. »Du solltest dich noch etwas ausruhen. Morgen überlegen wir dann, wie es weitergeht. Wie wir den Weißen Todesboten aufspüren können, um Veit zurückzuholen.«

Shiro schnaubte. Er legte seine Hand auf dem Katanagriff ab. »Mir geht es gut. Es ist nicht nötig, noch länger zu warten. Lass mich mein Schwert säubern, dann können wir sofort aufbrechen.«

Vio schmunzelte träge, kam auf ihn zu und schubste ihn mit einem leichten Stups um. Gerade so konnte Shiro sich an der Wand abfangen, um nicht wie ein Sack Kartoffeln auf den Boden zu kugeln. Wütend fuhr er herum und warf dem Dämon einen strafenden Blick zu.

Der hob jedoch bloß unbeeindruckt die Augenbrauen. »Von wegen. Wir sind nur noch zu dritt. Selbst zu viert hatten wir Probleme, gegen einen Engelskommandanten wie Jedriel. Ich brauche dich gesünder und stärker als je zuvor. Sei also ein artiges Todesbötlein und leg dich hin, komm zu Kräften. Sonst bist du mir nur im Weg.« Mit dem Kinn nickte Vio auffordernd in Richtung des Bettes.

Alles in Shiro sträubte sich dagegen, tatenlos herumzuliegen. Doch sein Gefährte hatte recht. Sie mussten vorsichtiger sein als jemals zuvor. Denn beim nächsten Mal wäre kein verfluchter Weißer Todesbote da, um ihm den Arsch zu retten.

Seufzend gab er sich geschlagen, nickte und legte sein Katana wieder ab. Er stellte es neben das Bett, dann ließ er sich murrend auf dieses fallen.

Eine Weile starrte er gelähmt ins Nichts. Veit war wegen ihm gegangen. Weil er ihn zum wiederholten Male enttäuscht hatte. Aber egal, wie sehr er sich wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen und alles anders machen, der Sekundenzeiger bewegte sich stetig vorwärts.

KAPITEL 3 Aufgeben ist keine Option

Wir müssen Veit zurückholen und den Krieg stoppen«, eröffnete Amariel ihren Gruppen-Treff am nächsten Morgen in ihrem gemeinsamen Hotelzimmer mit Violence. Der saß auf dem Bett, vorgelehnt, die Arme auf die Knie gestützt. Er hatte sich rasiert und die Schatten unter seinen Augen waren blasser geworden, eine tiefe Sorgenfalte zwischen den Brauen war geblieben.

Amariel stand am geöffneten Fenster. Der Luftzug spielte in ihren kinnlangen, goldblonden Strähnen. Ihr sonst strahlendes Gesicht wirkte ermattet. Shiro sah genau, wie sie ihre Traurigkeit mit einem Lächeln zu überspielen versuchte. Aber es erschien wie zu dünne Schminke. Es konnte nicht verdecken, dass Veits Verschwinden sie traf. Vor Kurzem hatte sie noch gesagt, wie sehr sie sich bei ihrem kleinen Grüppchen zu Hause fühlte. Endlich verstanden und aufgehoben. Nun war ein Teil aus ihrer Gemeinschaft herausgebrochen und zeigte ihr, dass dieses Gefühl nicht im selben Maße erwidert wurde.

Shiro lehnte an der Wand, die Arme verschränkt. Die nach wie vor silbernen Strähnen irritierten ihn im Augenwinkel. Seine Kräfte wollten einfach nicht abflauen. Allerdings hatte er auch noch keine Zeit gehabt, zu meditieren oder etwas anderes gegen dieses Phänomen zu unternehmen. Auch seine Pupillen präsentierten sich schmal und das wattige Gefühl in Kopf und Körper blieb hartnäckig. Als steckte er auf einem verdammten Seelentrip fest, ohne jemals eines der Lichter aufgenommen zu haben. Leider brachten die ständig aktiven Todesbotenkräfte nicht die innerliche Kälte mit sich, wie sie es sonst taten. Stattdessen beließen sie sein Innerstes roh und blutig.

Er blickte Amariel an und nickte schweigend.

Der Engel machte ein nachdenkliches Gesicht und setzte sich in Bewegung. Sie lief grübelnd im Raum umher. »Wir wissen, dass er sich bei dem Weißen Todesboten aufhält. Der wiederum schart eure Rasse um sich und scheint sie irgendwie zu rekrutieren.«

»Ich denke, er wird mehrere solcher Treffen abhalten wie das, bei dem ich mit Veit war. Vermutlich will er jeden einzelnen von uns erreichen. Also muss er herumreisen und jedem diese dramatische Rede auftischen«, ergänzte Shiro.

Amariel blieb stehen und nickte zustimmend. »Das heißt, wir müssen Augen und Ohren offenhalten. Nach Todesboten Ausschau halten und sie befragen, ob sie von einem solchen Treffen wissen. Schätzungsweise wird er diese Versammlungen in der Nähe größerer Städte abhalten. Nicht nur in Feres, sondern auch in allen anderen Reichen des Kontinents. Wenn nicht gar auf ganz Sekai.«

Shiro seufzte frustriert. Er wollte an der Wand hinabrutschen, die Knie umschlingen und dort hocken bleiben, bis der Schmerz in seiner Brust von allein wieder aufhörte. Schnell schüttelte er den Gedanken ab. Er würde sich nicht wie ein verwundetes Tier zurückziehen, sondern nach Veit suchen. Und wenn er dafür jeden verdammten Stein auf der Welt umdrehen musste. Er würde es tun. Immerhin hatte er Zeit. Eine Ewigkeit als Wesen, das niemals alterte. Jedenfalls, wenn er nicht vorher von irgendeinem Engel gemeuchelt wurde.

»Es gibt eine weitere Möglichkeit«, warf Vio ein. Er wartete, bis beide ihn fragend ansahen, dann fuhr er fort. »Die Massaker. Dort treffen wir vielleicht nicht Veit, aber zumindest den Weißen. Jedenfalls, wenn unsere Befürchtung stimmt.«

»Sie stimmt. Ich bin mir sicher.« Shiro schloss die Augen. Eine Gänsehaut kroch über seinen Rücken hinauf in den Nacken. Es musste eine Erklärung für die bösartige Macht geben, die er um diesen Todesboten wahrnahm, und diese brutalen Gemetzel waren die einzig logische. All das Grauen hatte mit Sicherheit auf seine Seele und seine Kraft abgefärbt, bis sie zu diesem furchterregenden Etwas geworden waren.

»Das heißt, wir brauchen entweder eine Versammlung oder ein Dorf, das dem Untergang geweiht ist. Und das am besten, ohne unsere eigenen Kräfte einzusetzen«, fasste Amariel zusammen. Sie ließ die Schultern hängen. »Das ist wie eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wir haben keine Ahnung, wo er vielleicht schon war oder wo er als Nächstes hingeht. Ich könnte versuchen, mit meinen Engelskräften andere Todesboten zu erspüren. Aber ich würde dadurch eben meine liebreizenden Artgenossen anlocken.«

»Wir können nicht wahllos umherreisen und hoffen, dass wir Glück haben. Damit sind wir alle nämlich nicht gerade gesegnet.« Vio verschränkte die Arme und zog die Mundwinkel hinab. »Es muss irgendeine Lösung geben, gezielter zu suchen.«

»Was ist mit deinem Bruder, Vio? Können wir nicht ihn um Hilfe bitten? Du hast nicht viel über ihn erzählt, aber es scheint, dass mehr in ihm steckt, als das bloße Auge sieht. Er ist doch magisch begabt!«, schlug Amariel vor.

»Vergiss es.« Über das Gesicht des Dämons huschte ein Schatten. »Mit Sicherheit könnte er uns helfen, aber sein Preis ist viel zu hoch. Ich lasse nicht zu, dass du noch einmal etwas opferst.«

»Ich werde ihn bezahlen. Egal was er von mir verlangt, kein Preis ist mir –«, warf Shiro ein, doch Vio schnitt ihm energisch das Wort ab.

»Wir sollten meinen Bruder nur fragen, wenn uns wirklich keine andere Lösung einfällt. Ihr kennt ihn nicht. Er ist … Wir wollen ihm nichts schuldig sein, glaubt mir einfach.«

Beide musterten den Dämon lange eindringlich, doch seine Sorge schien so ehrlich, dass sie schließlich langsam nickten.

Schweigen legte sich über sie, in dem sie ihre rasenden Gedanken beinahe Rauschen hören konnten.

»Resa«, platzte es plötzlich aus Shiro hervor. Die beiden Gefährten sahen ihn irritiert an.

Dann wechselte Vios Ausdruck von hä? zu ahh. »Ach, die Schwarzmagierin, die euch damals die Prophezeiung genannt hat?«

»Richtig. Sie könnte ihre Magie einsetzen, ohne dass sie damit gleich die Feinde anlockt. Da sie eine Freundin von Veit ist, wird sie uns mit Sicherheit helfen. Ich habe keine Ahnung von den genauen Möglichkeiten ihrer Künste, aber vielleicht gibt es ja irgendeinen Zauber.« Hoffnung strömte wie ein sanfter Aufwind durch Shiros Körper.

»Wenn du denkst, dass wir ihr vertrauen können, dann ist sie wohl unsere beste Option. Irgendwo müssen wir mit der Suche anfangen und alles ist besser als mein Bruder«, stimmte Vio zu. Als wäre es beschlossene Sache, stand er auf und klopfte sich in die Hände. »Prima. Nun brauchen wir nur noch eine Lösung, wie wir unser Schneeweißchen unauffällig transportieren.« Mit diesen Worten sah er zu Shiro.

Dieser hob die Schultern leicht. »Na, ich brauche einen Umhang mit Kapuze. Dann klappt das schon. Und wenn es möglich ist, eine neue Robe. Dieses Hemd und die Hose machen mich wahnsinnig, sie sind so eng.«

»Gut, ich besorg dir etwas. Ich brauche ohnehin einen neuen Mantel. Ihr packt schon mal alles zusammen. Dann reisen wir so schnell wie möglich los. Bis nach Anderswacht dauert es einige Zeit und ich befürchte, je länger wir trödeln, desto weiter entfernen sich der Weiße und seine Gefolgschaft von uns.« Vio sah sie nacheinander an, tätschelte im Vorbeigehen Ama den Kopf und Shiro die Schulter, dann verschwand er aus der Tür.

Engel und Todesbote spähten ihm beide hinterher, ehe sich ihre Blicke stumm und schwer wieder kreuzten. Amariel musterte ihn aufmerksam, dann zog sie ihre Augenbrauen zusammen und betrachtete ihn wie einen getretenen Welpen.

»Wie geht es dir?«, fragte sie sanft und kam langsam zu ihm heran.

Shiro schluckte den trockenen Kloß in seiner Kehle hinab. Eigentlich wollte er gar nicht darüber nachdenken, wie es ihm ging. Lieber würde er sich auf ihre Mission fokussieren. Irgendetwas tun, um sich nicht mit sich selbst auseinandersetzen zu müssen. Mit seinem Versagen und dem Verlust von etwas, dessen wahre Bedeutung ihm erst klar geworden war, als er es schon verloren hatte.

»Tut mir leid. Das war eine dumme Frage.« Amariel stand nun dicht vor ihm und sah zu ihm auf. »Ich wollte nur sagen, wenn du jemanden zum Reden brauchst, bin ich da. Ich weiß, wie viel er dir bedeutet hat.«

Toll, dass das jeder gewusst hatte, nur er nicht. Oder vielleicht schon und er hatte es nicht wahrhaben wollen. Weil es hier verflucht noch mal um Veit ging. Den Seelenjunkie. Den Schürzenjäger. Den Mistkerl, der ihn vor vielen Jahren erst verarscht und ein anderes Mal hatte sitzen lassen. Und leider auch derjenige, der seine dämlichen Knie weich werden und sein hinterlistiges Herz schneller schlagen ließ. Der Erste seit … immer.

Shiro verzog die Lippen und fasste sich seufzend an die Stirn, strich mit den kühlen Fingerspitzen darüber. Mann, was dachte er hier eigentlich für einen Unsinn? Dann spürte er die sanfte Berührung ihrer Hand an seinem Unterarm. Sie drückte diesen beistehend. Verständnisvoll.

»Es ist nicht zu spät«, flüsterte sie leise.

Shiro blickte sie stumm an, dann nickte er. Sie erwiderte es mit einem knappen Lächeln, bei dem sie beide Lippen aufeinanderpresste und irgendwie hilflos wirkte. Anschließend ließ sie ihn los und machte sich daran, ihre Sachen zusammenzusuchen. Viel hatten sie ohnehin nicht.

Er ging zurück in sein eigenes Zimmer und hockte sich vor die Überreste seiner Robe. Suchend tastete er die Taschen ab und fand einen kleinen runden Gegenstand darin. Es war der unscheinbare Stein mit der Rune darauf, den Veit damals von Resa bekommen hatte. Irgendwie hatte es sich mit der Zeit so ergeben, dass er derjenige war, der diesen magischen Gegenstand bei sich trug und sich an den nützlichen Dingen darin erfreute. Kurz sah er auf den grauen Kiesel in seiner Handfläche, ehe er ihn auf den Boden warf. Mit einem Poff stoben weiße Rauchschwaden in die Luft und als diese sich verzogen hatten, lag vor ihm der zugeschnürte Jutesack. Er zog die Kordeln und die Öffnung auseinander.

Anschließend fasste er noch einmal nach seiner alten Robe und nahm zwei weitere Dinge daraus an sich. Eine Haarnadel aus Holz mit einer kleinen blauen Blume und den Fernseher, ein ausziehbares Metallröhrchen mit Glaslinse, durch welches Objekte in der Ferne viel näher erschienen. Kurz hielt er beides in den Händen und betrachtete die Gegenstände, die Veit ihm vor einiger Zeit geschenkt hatte. Damals, auf dem Sonnenfest, wo sie gemeinsam dem Lichterregen zugesehen hatten. Wo sie die schwarzmagische Barriere in der Ferne entdeckt hatten und Hals über Kopf losgerannt waren. Irgendwie war das der Anfang vom Ende gewesen.

Er war so ein Blödmann, hier zu hocken und diese Gegenstände anzuglotzen, als könnten sie Veit zurückbringen, wenn er sie nur lange genug beschwor. Über sich selbst seufzend schüttelte er den Kopf, steckte die Sachen in den Jutesack, öffnete den Schrank und nahm die verbliebene Kleidung heraus. Seine eigene und Veits. Auch diese packte er ein. Ebenso wie ihre Hygienegegenstände, die bei den Waschschüsseln auf der Kommode lagen.

Nachdem er alles eingepackt hatte, was ihnen gehörte, zog er die Kordeln des Beutels wieder zu, woraufhin dieser sich mit einem weiteren Poff in die Rune zurückverwandelte. Er bückte sich, hob sie auf und steckte sie ein.

Einige Zeit später klopfte es an der Tür. Als er sie öffnete, drückte Vio ihm ein riesiges Stoffbündel in die Arme. Perplex nahm Shiros es entgegen und pflückte es auseinander. Es entpuppte sich als eine schlichte, schwarze Robe und einen gleichfarbigen Umhang mit Kapuze.

»Danke«, sagte er und schlüpfte sogleich mit den Armen durch die weiten Ärmel des luftigen Gewandes, das in seiner Heimat Arken als Kimono bekannt war. Er wickelte den Stoff um seinen Körper und schnürte ihn mit geübten Griffen zu. Anschließend band er sich den Stoffgürtel um, steckte sein Katana an die Hüfte und warf sich den Umhang über.

»Wird bestimmt ungemütlich, bei der Hitze draußen unter all dem Stoff begraben zu sein«, meinte Vio und trat in den Raum.

Shiro blickte auf und versuchte, ohne hinzusehen, die Schnürung des Umhangs vor seinem Hals zu schließen. »Ich kann meine Körpertemperatur regulieren. Und momentan ist es in mir meist ohnehin eher kalt.« Er band eine Schleife, hob eine Hand und fasste mit zwei Fingern ein paar Haarsträhnen seines silbernen Haares, ein freudloses Lächeln auf den Lippen.

Ihn musternd hob Vio eine Augenbraue in die Höhe. »Keine Sorge, du warst auch vorher schon ein Eisklotz. Bist du fertig?«

Shiro nickte, machte einen Schritt auf seinen Gefährten zu. Dieser drehte sich um und ging voran. Im Türrahmen blieb der Todesbote kurz stehen, sah noch einmal über die Schulter zurück. Dann schlug er die Kapuze über seinen auffälligen Schopf, ging hinaus, schloss die Tür und ließ das Hotelzimmer endgültig hinter sich.

KAPITEL 4 Außer Kontrolle

Amariel linste immer wieder verstohlen zu ihm herüber. Sie saßen auf dem Holzkarren, die beiden großen Räder drehten sich langsam knarrend neben ihnen wie Mühlen. Vorne auf dem Kutschbock thronte Vio und lenkte ihr weniger hoheitliches Gefährt, während ihr Pony Strubbel fleißig vorneweg schlurfte.

Shiro hatte sich die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht gezogen, sein Schwert klapperte unter einer Decke neben ihm herum. Er fühlte sich wie ein Verbrecher, dabei verbarg er bloß seine Rasse und keine Schandtat. Früher hatte er oftmals versucht, seine Art vor den Menschen zu verheimlichen. Nicht ganz leicht mit einem Katana – der Waffe der Todesboten – am Gürtel und der kalten Aura, die ständig aus ihm herausgesprudelt war wie aus einem rissigen Staudamm. Nun reihte sich ein weiteres Volk in die Liste seiner Feinde, vor denen er sich verstecken musste. Eines, das um ein Vielfaches gefährlicher und mächtiger war als die Menschen. Die Engel. Wenigstens interessierte es niemanden, wieso ein vermummter Kerl auf dem Karren hockte. Keiner fragte nach, niemand hielt sie an.

Ohne Hindernisse hatten sie die Hauptstadt Rhyle verlassen können und befanden sich nun auf dem Weg zurück nach Anderswacht, wo er die Schwarzmagierin Resa zum ersten Mal getroffen hatte. Sie holperten über die breiten Handelswege, die entweder mit Schotter, festgetretener Erde oder streckenweise sogar groben Pflastersteinen ausgebaut worden waren. In der Ferne erkannte er die grünlichen Umrisse des Jadewandgebirges, an dem ihr Ziel lag. Bis dorthin hatten sie jedoch noch gut zwei Tagesreisen vor sich. Während er gegen die knallende Sonne blinzelte, kitzelte es in seiner Nase, sodass er nieste. Passierte ihm öfter, wenn er in helles Licht sah. Seine Theorie war ja, dass es an seiner Herkunft aus Arken lag. Das Reich erstreckte sich im kühlen Norden und da hielt sich die Sonne eher dezent im Hintergrund. Kurze Sommer und kalte Winter prägten die Landschaft und die Bewohner seiner Heimat, die oftmals kleiner im Wuchs waren, mit mandelförmigen Augen und pechschwarzen Haaren. Zumeist türmten sich dicke Wolken am Himmel, es regnete und schneite häufig.

Während er an seinen Ursprung zurückdachte, breitete sich ein seltsames Ziehen in seinem Bauch aus. Doch noch bevor er sich weiter Gedanken darüber machen konnte, woher es kam, traf ihn erneut Amariels verstohlener Blick.

Irritiert zog er die Brauen kraus und schaute sie an. »Was ist?«

Der Engel biss sich auf die Lippe und sah für einen kurzen Moment zur Seite weg. Irgendwie ertappt. »Nichts.«

Ja, klar. Shiro schnaubte. »So sieht nichts aber nicht aus.«

Sie rümpfte ihre Nase, was auch ihre Oberlippe kräuselte. Vorsichtig lugte sie aus dem Augenwinkel wieder zu ihm. »Es ist nur – mit den silbernen Haaren, Augenbrauen und Wimpern siehst du so anders aus.«

»Mache ich dir Angst?« Er spähte auf ihre nackten Unterarme, auf der Suche nach einer Gänsehaut. Tatsächlich fand er ihre Härchen aufgestellt, doch er entdeckte ebenfalls ein mildes Lächeln auf Amariels Gesicht.

»Nein, keine Sorge. Vor jemandem mit solch warmen Augen kann ich keine Angst haben.«

»Warm?« Schockiert starrte er sie an. Nannten sie ihn nicht immer Eisklotz? Übte er sich nicht häufig genug an seinem frostigen Blick?

Der Engel hob eine Hand vor seinen Mund und kicherte leise. »Nur ihr Blau ist warm und tief. Fast ein bisschen violett. Keine Sorge, dein Ausdruck ist hart und eisig.« Sie zwinkerte ihm zu, was ihre letzten Worte nicht sonderlich glaubhaft wirken ließ. Shiro grummelte in seinen Kragen und schürzte die Lippen. War ganz schön schwierig, sich so ein Image aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Wobei es ja nie so wirklich funktioniert hatte. Vielleicht wirkte er auf andere gar nicht so kalt und abweisend, wie er es gerne hätte. Amariels Ausdruck verdunkelte sich, während sie weitersprach. »Ich muss bloß an den Weißen Todesboten denken, von dem ihr uns erzählt habt. Seine Haare sind doch auch immer so. Glaubst du, dass er am selben Phänomen leidet wie du im Moment?«

»Ich weiß nicht, vielleicht will er seine Kräfte einfach nicht verbergen. Vielleicht kann er nicht.« Shiro hob die Schultern. »Möglicherweise ist er inzwischen zu mächtig durch all die gesammelten Seelen, um diese Energie noch in sich wegschließen zu können.«

»Kannst du es denn noch?« Sie hob ihre goldenen Augenbrauen.

Shiro warf seine Stirn irritiert in Falten. »Wieso sollte ich nicht? Ich meine, ja klar, momentan scheint es wirklich außer Kontrolle geraten zu sein, aber …« Er beendete den Satz nicht, sondern starrte bloß geradeaus in die bernsteinfarbenen Iriden seiner Gefährtin.

Sie presste ihre Lippen aufeinander und musterte ihn sanft. »Etwas an dir hat sich verändert, Shiro.«

Natürlich hatte er sich verändert. Er hatte gesehen, wie die eine Person, die ihm alles bedeutete, gegangen war. Weil er zu lange gezögert hatte, zu blind gewesen war und zu feige. Weil er Fehler gemacht hatte, die er nicht wiedergutmachen konnte. Wie sollte er jetzt noch derselbe sein? Shiro schluckte den Schmerz herunter, der trotz seiner aktiven Todesbotenkräfte in ihm heraufkroch, um ihn zu ersticken.

»Ich werde die Fahrtzeit nutzen, um etwas zu meditieren. Um ehrlich zu sein, fühle ich mich auch seltsam. Als wäre ich betrunken gewesen und der Alkohol noch nicht vollständig aus meinem Körper verschwunden«, erklärte er und setzte sich aufrechter hin.

Das Himmelswesen ihm gegenüber hob erst skeptisch eine Braue, dann glätteten sich ihre Gesichtszüge und sie nickte. »Entspann dich ruhig etwas. Vio und ich kümmern uns darum, dass wir sicher ankommen. Du bist beinahe gestorben und kannst die Erholung gut gebrauchen.«

Shiro sah sie dankbar an, nickte und schloss die Augen, ließ die Luft aus seiner Lunge mit einem tiefen Atemzug entweichen. Er fühlte in sich hinein, nach der Todesbotenenergie, die so wild und ungehalten in ihm tobte. Vielleicht schaffte er es, sie zu beruhigen, wenn er sich das warme Gefühl vorstellte, das Resas Amulett in ihm hervorgerufen hatte. Irgendwie würde er es schon schaffen. Schließlich war er nicht erst seit gestern ein Bote und seine Ausbildung hatte ihn Disziplin und Selbstkontrolle gelehrt.

Als sie Stunden später anhielten und ihre erste Rast machten, hatten sich nicht einmal seine Haarspitzen verdunkelt. Sie strahlten noch genauso hell und silbern wie zuvor. Nicht der kleinste Fortschritt. Verfluchter Mist.

Amariel guckte ihn bemitleidend an. Fast als wäre er ein Kind, das verzweifelt versuchte, das viereckige Holzklötzchen in das runde Loch zu quetschen. Sie hatten ein Lagerfeuer entzündet, aßen ihren Proviant in Form von Brot, Räucherwurst, Käse und Äpfeln. Vor allem an Letzterem hatte Strubbel großes Interesse. Das graue kräftige Pony, das seinen Namen seiner wilden schwarzen Mähne zu verdanken hatte, nestelte mit den Lippen an Shiros Schulter herum, seitdem er eine der runden Früchte in der Hand hielt. Als das nicht reichte, wühlte er mit der Schnauze in seinem Haar wie sonst in der Wiese und schnaubte ihm den heißen Atem in den Nacken. Der Todesbote murrte und schob das Tier mit einer Hand weg. Nicht sehr erfolgreich, denn es rückte vehement dichter an ihn. Bald würde es auf seinem Schoß landen, weil es glaubte, es wäre ein Hund oder so was. Shiro unterdrückte mit Mühe das Lächeln, das in seinen Mundwinkeln kribbelte, als er dem Störenfried resigniert den heißersehnten Apfel anbot.

Schmatzend gab sich Strubbel zufrieden und verzehrte genüsslich den Leckerbissen.

»Das Meditieren war wohl nicht sehr erfolgreich«, sagte Amariel und entkorkte quietschend ihren Trinkschlauch. Über ihnen rauschte der laue Wind in den Blättern. Sie hatten sich ein kleines Wäldchen gesucht – mehr eine Ansammlung einiger Bäume und Sträucher, um halbwegs verborgen zu bleiben, während sie rasteten. Natürlich waren der Schein und der Rauch ihres Lagerfeuers dennoch zu erkennen. Trotzdem fühlten sie sich hier etwas sicherer und nicht so wie auf dem Präsentierteller der weiten Ebenen an Feldern um sie herum.

»Ich fühle mich ruhig und ausgeglichen.« Shiro seufzte und beobachtete das Pony frustriert beim Kauen. »Keine Ahnung, warum es sich einfach nicht mehr ändert. Es ist ja nicht so, als könnte ich meine Kräfte nicht kontrollieren. Sonst könnte ich euch nicht mal in die Augen sehen. Was ist denn mit meinen Pupillen? Sind sie auch immer noch so schmal?«

Shiro stieß den Dämon von sich, stöhnte gequält und fasste sich an die Stirn. Sein Gegenüber tat es ihm gleich.

»Was ist passiert?!« Amariel war alarmiert aufgesprungen und kniete sich neben sie, legte eine Hand auf Shiros Schulter, eine auf die ihres geliebten Erzfeindes.

»Ich befürchte, ich sollte euch nicht zu intensiv in die Augen sehen. Offenbar sind meine Kräfte doch mehr außer Kontrolle, als ich es geahnt habe.« Er schob sich etwas zurück und raffte sich auf die Beine hoch, wandte sich ab, um ein paar Schritte zu gehen. Bei einem Baum blieb er stehen und stützte sich mit einer Hand dagegen. Das Pochen in seinem Kopf flaute langsam wieder ab.

»Hast du seinen Tod gesehen?« Die Stimme des Engels klang zittrig hinter ihm.

»Nein. Nichts genaues.« Shiro senkte sein Haupt, starrte hinab auf seine Fußspitzen. »Nur unklare Bilder. Wir haben den Blickkontakt frühzeitig unterbrochen.«

»Da gibts auch nichts zu sehen.« Vio klang angestrengt. Shiro hörte das Rascheln von Erde und Laub. Vermutlich richtete sich der Dämon gerade auf. Dennoch war das Grinsen deutlich aus seiner rauchig rauen Stimme herauszuhören. »Ich bin unbezwingbar. So bald sterbe ich nicht.«

»Du bist unbezwingbar dämlich«, zischte Amariel gereizt.

Als der Todesbote sich wieder zu den beiden umdrehte, sah er noch, wie der Engel den Dämon in den Bauch boxte. Der krümmte sich nach vorne und stöhnte erneut auf. Offenbar war der Schlag seiner Herzensdame nicht gerade zimperlich gewesen. Dennoch lag schon wieder ein Grinsen auf seinen Lippen.

»Du willst es wohl heute hart, was?«

»Ich gebe es dir gleich hart in deine Fresse. Siehst du nicht, dass die Situation für Shiro belastend ist?!«

Dieser schüttelte den Kopf. »Schon gut. Ich bin mir sicher, dass sich das alles bald wieder klären wird. Das ist nur ein vorübergehendes Phänomen und wir sollten einfach etwas vorsichtig sein, das ist alles.« Er ging zurück zu den beiden und hob seine Hände vor sich an. »Bin ich kalt?«

»Ich würde eher sagen – angenehm frisch. In der prallen Sonne würde ich dich glatt kuscheln wollen. Also gar nicht so viel anders als sonst, Schneeweißchen«, antwortete Vio und rieb dabei seine Finger aneinander, als spürte er einem Gefühl auf ihnen nach. »Gibts noch mehr Kräfte, von denen wir wissen sollten? Ich meine ja nur, nicht dass ich an deinem kleinen Finger ziehe und du reißt mir dafür die Seele raus oder so was.«

Shiro schnaubte leise, beinahe belustigt. »Keine Sorge, mein kleiner Finger ist ungefährlich. Um dir die Seele gewaltsam zu rauben, müsste ich dich küssen.«

»Uh, ich mag das Kribbeln des Todes auf meinen Lippen.« Der Dämon sah ihn herausfordernd an und bekam dafür prompt einen himmlischen Ellbogen in die Seite gerammt. Mit einem zuckersüßen Killerlächeln wandte Amariel sich an Shiro, blinzelte unschuldig und neugierig. »Keine Knutscherei, ich denke, das kriegen wir alle hin. Noch etwas?«

»Nein, alles weitere sollte nur auf meinen Wunsch hin passieren. Allerdings weiß ich nicht, welche wichtigen Details mein Mentor mir vielleicht verschwiegen hat. Das mit dem Kuss hatte er nämlich auch ausgelassen.« Er hob seine Mundwinkel zu einem bitteren Lächeln ohne Freude.

»Gut, dann scheint es ja nicht allzu dramatisch zu sein. Wir achten einfach darauf, dass wir uns kein Blickduell liefern und du bist jetzt offiziell für das Frischhalten unserer Lebensmittel zuständig.« Vio zuckte unbekümmert mit den Schultern und setzte sich wieder an das Lagerfeuer. Er machte es sich gemütlich, in dem er sich mit einem Arm nach hinten abstützte und den anderen auf sein Knie legte. Seine beruhigende Lässigkeit filterte etwas Anspannung aus der Luft und Shiro spürte, wie seine Muskeln langsam ein wenig lockerer wurden. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er all die Zeit verkrampft gewesen war. Zusammen mit dem Engel ließ auch er sich am Feuer nieder und folgte den Funken mit seinem Blick. Sie stoben hinauf in den dunklen Nachthimmel, an dem unzählige Sterne funkelten.

Irgendwo unter demselben Himmel stand auch Veit. Irgendwo bei anderen Todesboten. Vielleicht saß er in genau diesem Moment ebenfalls an einem Lagerfeuer und beobachtete die leuchtenden Himmelskörper. Er spürte seinen Partner jetzt noch neben sich. Die sanfte Wärme seines Körpers, die für einen Menschen schon fast eher kühl wirkte. Seinen Duft von Holz und Zimt und Geborgenheit.

Aber wenn er neben sich blickte, war der Platz leer.