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Die Brüder Grimm erhalten im Jahr 1838 einen ehrenvollen Auftrag: Ein Wörterbuch der deutschen Sprache sollen sie erstellen. Voller Eifer machen sie sich ans Werk. Aberwitz, Angesicht, Atemkraft – fleißig sammeln sie Wörter und Zitate, in wenigen Jahren sollte es zu schaffen sein. Barfuß, Bettelbrief, Biermörder – sie erforschen Herkommen und Verwendung, sie verzetteln sich gründlich. Capriolen, Comödie, Creatur – am Ende ihres Lebens haben Jacob und Wilhelm Grimm nur wenige Buchstaben bewältigt. Günter Grass erzählt das Leben der Brüder Grimm auf einzigartige Weise als Liebeserklärung an die deutsche Sprache und die Wörter, aus denen sie gefügt ist. Er schreibt über die Lebensstationen der Märchen-Brüder, über ihre uferlose Aufgabe und die Zeitgenossen an ihrer Seite: Familie und Verleger, Freunde, Verehrer und Verächter. Spielerisch-virtuos spürt Grimms Wörter dem Reichtum der deutschen Sprache nach und durchstreift die deutsche Geschichte seit der Fürstenherrschaft und den ersten Gehversuchen der Demokratie. Von der Vergangenheit mit ihren politischen Kämpfen und ganz alltäglichen Sorgen schlägt Günter Grass manche Brücke in seine eigene Zeit.
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Seitenzahl: 395
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Von A wie Anfang bis Z wie Zettelkram. Wörter von altersher, die abgetan sind oder abseits im Angstrad laufen, und andere, die vorlaut noch immer bei Atem sind: ausgewiesen, abgeschoben nach anderswo hin. Ach, alter Adam!
Es waren einmal zwei Brüder, die Jacob und Wilhelm hießen, für unzertrennlich und landesweit als berühmt galten, weshalb sie ihres Nachnamens wegen die Brüder Grimm, Grimmbrüder, auch Gebrüder Grimm, von manchen die Grimms genannt wurden. Selbst nach heutigem Sprachgebrauch, der sich gern mit Anleihen brüstet, sind sie als Grimm Brothers Redensart, und sei’s nur vom Hörensagen als Märchenonkel, die uns von Allerleirauh und Aschenbrödel erzählen.
Geboren in jenem Teil Hessens, der mit der Obergrafschaft Hanau im deutschen Flickenteppich der Kleinstaaterei als einer von über dreihundert Flecken galt, blieb ihnen der dort übliche Zungenschlag bis ins Alter anhänglich, wenngleich gemildert durch Ortswechsel.
Jacob kam 1785 zur Welt, Wilhelm ein Jahr später, zeitlich nur eine kurze Spanne vor der Französischen Revolution, deren Folgen das europäische Machtgefüge bis in ferngelegene Kolonien, doch in Hessen kaum etwas änderten. Jedenfalls tat sich in ihrer Geburtsstadt Hanau, wo der Vater Philipp Wilhelm Grimm als Hofgerichtsadvokat, dann Stadtsekretär seines Amtes waltete, so gut wie nichts, desgleichen im nahen Frankfurt, abgesehen von einer Kaiserkrönung, an die sich die Brüder später aus dem trübenden Abstand der Jahre erinnern werden: Das Schauspiel der landgräflichen Truppenparade bot bunte Bilder, die das Gedächtnis schönte. Kanonendonner und des Krieges Schrecken blieben fern, aber dunkel stand ihnen der Wald nahe, in dem sich Kinder und Wünsche verliefen und in vielerlei Gestalt die Angst wurzelte.
Danach lebten die Grimms in Steinau, einem an der Handelsstraße zwischen den Messestädten Frankfurt und Leipzig gelegenen Städtchen, in dem Jacob und Wilhelm von Hauslehrern unterrichtet wurden, bis sie nach dem Tod des Vaters nach Kassel zogen, wo sie bei karger Lebensführung aufs Lyzeum gingen, unterstützt von Tante Zimmer, die als Hofdame Ansehen genoß und über ein kleines Vermögen verfügte.
Von drei weiteren Brüdern, der Schwester, die nach dem Tod der Mutter von Jacob und Wilhelm versorgt werden mußten, wurde der Nachwelt nur Ludwig Emil Grimm bekannt. Er, von allen Geschwistern Louis gerufen, hat die namhaften Brüder, um die es zu allererst und fortan gehen soll, mit weichem Blei gezeichnet, mit schneller Feder karikiert und mit harter Radiernadel auf Kupferplatten verewigt: Jacob vor Wilhelm aus seitlicher Sicht gestellt, so daß sich ihre Profile gestochen scharf eingeprägt haben. Beide in edler Haltung, der ältere mit geschlossener Halsbinde, des jüngeren Kragenspitzen stehen ab. Ihr Geradeausblick auf etwas fixiert, das fernab zu finden sein mag. Des einen Haar fällt gelockt, des anderen leicht gewellt glatt. Ihr jeweils ausdrücklicher Ernst.
Die Gebrüder. Das bürgerlich gekleidete Brüderpaar. Auf Titelblättern, dem Tausendmarkschein gedruckt, als Briefmarken gestempelt. Deutsche Wertzeichen, für Denkmäler, Straßennamen, Festspiele tauglich und fürs Anwerben wanderfreudiger Touristen geeignet: Eine Märchenstraße folgt ihrer Lebensbahn. So augenfällig anheimelnd und angepaßt dem allgemeinen Geschmack wurden sie uns überliefert und zur Harmlosigkeit verurteilt.
Ich aber sehe sie als Doppelgespann lebenslänglich vor den stets überladenen Bücherkarren gespannt. Wie sie in Schweinsleder gebundene Schwarten wälzen, Folianten stapeln, Mythen, Sagen, Legenden, verschollenen Manuskripten auf der Spur sind, schon in Marburg als Studenten und später anderenorts, wo immer sich Vergessenes abgelagert haben mochte. Romantiker, unterwegs ins Biedermeier, die wortvernarrt Wörter klauben, Silben zählen, die Sprache nach ihrem Herkommen befragen, Lautverschiebungen nachschmecken, verdeckten Doppelsinn entblößen, Entschlafenes wachküssen, von altehrwürdigen Sprachdenkmälern den Staub wegwedeln und später als Wortschnüffler um jeden Buchstaben und besonders pingelig um anlautende Vokale besorgt sein werden. Ihre heillose Sucht und selbstverordnete Fron; Spötter meinten, man könne sich Jacob zwischen Buchdeckel gesperrt, in kostbares Leder gebunden vorstellen.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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