Großer Bruder Zorn - Johannes Ehrmann - E-Book

Großer Bruder Zorn E-Book

Johannes Ehrmann

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Beschreibung

Box-Promoter Aris braucht den Befreiungsschlag gegen die drohende Insolvenz und organisiert einen letzten großen Kampfabend. Jessi vom Netto will ein besseres Leben für ihre kleine Tochter und muss sich ihrer Vergangenheit stellen. Und Serdar aus dem Späti denkt an nichts anderes als an einen Knockout am Freitag.

Eine Woche im Weddinger Kiez, jeder hat seine eigenen Pläne und eine andere Herkunft, aber alle haben dieselbe Heimat. Die Wege der Protagonisten irrlichtern jeden Tag schneller umeinander, bis sie bei der großen Fight Night schließlich aufeinanderprallen.

Ein Plot, der in die Sitze presst, Typen wie das echte Leben, ein unverwechselbarer Sound.

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Seitenzahl: 463

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

Teil 1 – Montag

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

Teil 2 – Dienstag

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

Teil 3 – Mittwoch

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

Teil 4 – Donnerstag

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

Teil 5 – Freitag

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

Teil 6 – Samstag

83

84

85

86

JOHANNES EHRMANN

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Dominique Pleimling

Umschlaggestaltung: Massimo Peter

Einband-/Umschlagmotiv: © Dominique Pleimling

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-2362-7

www.eichborn.de

www.bastei-entertainment.de

Für C.

Bevor es losgeht.

Glaub nicht, dass es hier was zu sehen gibt.

Mach dich klein, wenn du schon hier rumhängen musst. Beweg dich langsam. Fang nicht an zu rennen. Kein Fahrrad. Schon mal einen von uns auf dem Fahrrad gesehen? Stell dich am besten hinter den Baum. Tu, als wärst du nicht da. Halt den Mund. Fass nichts an.

Wenn du glaubst, das hier ist ein Zoo, kriegst du eine.

Wenn du glaubst, du bist die Heilsarmee, kriegst du eine.

Wenn du glaubst, du bist Gandhi, gibt’s richtig.

Wir sind, wer wir sind. Normale Leute. Nichts Besonderes. Was soll schon sein.

Is was?

War was?

Was, was?

Glaub nicht, dass es hier was zu holen gibt. Gibt hier nichts. Du brauchst hier nicht viel. Ordentliches Shirt, paar Nike-Treter, Original-Kopie aus Lichtenberg, und die Assis erkennst du an den Victorys.

Wenn du was hast, dann zeig’s nicht, ist besser so. Und den Jungs mit den Camp-David-Hemden in den dicken Karren nimmst du besser nichts weg, eh klar.

Die Dinge sind hier was anderes wert, verstehst du. Döner zweifünfzig, Tee ein Euro, die Pornos gebrannt, die Pall Mall aus Polen, die BVG für umme, wenn du schnell genug bist. Und wer ist nicht schneller als die Scheiß-BVG.

Jeder ist sein eigenes Krickelmännlein. Ein hingewichstes Tag an der nächstbesten Mauer. Schnell weiter. Die Grenzen unsichtbar, aber unübersehbar, und die großen Linien gibt’s nur hinten im Klo. Also lass die Schablonen mal schön im Malkasten. Und das ist der letzte Tipp für heute.

Ist nicht alles gut hier, aber zeig mir ein Viertel, wo alles gut ist und man leben kann, ohne sich tot zu fühlen.

Und wenn du echt nicht anders kannst, wenn du’s wirklich nicht lassen kannst, dann, Meister, chill halt noch kurz.

Aber geh uns nicht auf den Sack. Halt die Füße still. Guck ein bisschen zu. Versuch nicht, uns zu verstehen.

Und dann Abflug.

Sonst, wie gesagt, Maul.

1

Da liegst du morgens im Bett, hast einen Mordskater und weißt nicht woher.

Schöne Scheiße.

Weniger der flaue Magen, der Aris zu schaffen macht. Mehr so das Ziehen über dem Nacken. Die enge Mütze.

Aris rollt sich zur Seite, die Augen halb offen. Langsam rantasten. Schlitzsicht. Halbe Wand. Halber Rollständer mit den Anzügen. Halbe Küchentür mit dem Muhammad-Ali-Poster. Halber Ali mit halbem Slogan. Float like … Sting like … Dann: schwarz.

Feine Kopfschmerzen, das muss man sagen. Wo auch immer sie herkommen. Das Ziehen wird zu Klopfen. Die Augen klopfen mit. Alles wird matt, alles wird klar. Matt. Klar. Matt. Klar. Lustig.

Das Klopfen wird langsam zu Peitschen. Klatsch. Klatsch. Klatsch. Schöne Peitsche. Cowboy im Hirn. Klatsch. Ahhh.

Aris wälzt sich auf den Bauch.

Kann dir wirklich den Morgen vermiesen, wenn du mit einem beeindruckenden Kater aufwachst, obwohl du seit anderthalb Jahren keinen Tropfen Alkohol angerührt hast. Offiziell trocken seit 18. Februar 2013, denkt Aris, heiliges Datum, danach nicht mal ein kleines Pils. Stein und Bein.

Und jetzt das. Kann dich durcheinanderbringen, dir Angst machen, dich aus dem Bett werfen. Wenn du es zulässt.

Aber Aristoteles Andreadakis, Box-Promoter von dreiundvierzigeinhalb Jahren, dreht sich lieber noch mal um.

Musst es nur zu nehmen wissen, denkt sich Aris. Nimm es als das, was es sein könnte, ein schöner Moment irgendwo im Nirgendwo, ein Moment zwischen Nacht und Tag, zwischen den Peitschenschlägen. Unten brüllt ein Säufer, die Sonne scheint schräg durch die Gardinen, es ist zehn, vielleicht elf, ein Morgen, schon wieder ein neuer Tag, welcher eigentlich? Sonntag? Montag? Keine Ahnung, egal, später. Jetzt erst mal die Äuglein wieder zu, das Kissen aufs Ohr und an nichts denken.

Denk an original gar nichts, sagt sich Aris. Kriegst du hin.

Beziehungsweise, na ja.

Geht schlecht, an nichts denken. Und so kommt Aris, Kopf im Kissen, Schweiß im Nacken, dann auch gleich der nächste Gedanke quer. Ein Satzfetzen, tief aus dem Früher. Fast schon vergessen.

Denk nich am Schmerz.

Auja.

Mannes Mantra. Guter alter Manne. Gutes altes Training im Viktoria-Gym. Sprossenwände und Sandsäcke, Liegestütz und Sit-ups. Und wenn du Glück hattest, ging es am Ende noch für ein paar Runden in den Ring. Grundlagen schaffen, so hat es Manne immer ausgedrückt, und wehe, du hast schlappgemacht. Denk nich am Schmerz. Denk nich am Schweiß. So hat er es gebellt, wie nur er es bellen konnte. Die T-Shirts nassgeschwitzt, Ajax und Achsel in der Luft, Dienstag, Donnerstag, Freitag ab sechs. Denk nich am Schmerz! Denk nich am Schweiß! Denk, weeß ick, am Strand, an Frauchen oder ne andere. Heiseres Manne-Bellen. Und nochmal zwanzig, los! Komm, komm, Kinderchens! Zehn, fünf, drei, zwei, eins. Und Zeit.

Denk nich am Schmerz.

Leicht gesagt, alter Manne. Ging früher irgendwie besser.

Aris dreht sich auf die linke Seite. Blick jetzt zum Fenster mit den schiefen Jalousien, davor der Schreibtisch mit den offenen Leitz-Ordnern und den ungeöffneten Briefen, mit der Jeans von letzter Woche und dem vollen Aschenbecher, ganz oben auf dem Misthaufen.

Dann denk halt am Schmerz, sagt sich Aris. Wenn’s eh nicht anders geht. Die Peitsche knallt, und Aris duckt sich weg. Na also, schau an, klappt schon mal ganz okay. Die Peitsche knallt, aber du kannst sie antizipieren, kannst die Deckung hochziehen, dich wegducken, pendeln, ein bisschen Zeit gewinnen. Das Licht kommt in schmalen, grellen Streifen durch die kaputten Lamellen, die Nacht ist vorbei und Aris ist alleine mit dem Kopfcowboy, dem halben Ali an der Tür und den verschwitzten Laken, oben im vierten Stock über dem Bellermannplatz. Unten brüllen die Penner, am Fenster fighten zwei Fliegen, und es wird langsam ein bisschen stickig hier drinnen.

Denk nich am Schmerz. Denk nich am Schmerz. Denk nich.

Und dann ist doch alles wieder da.

Im Peitschentakt kommen sie, die Dinge, mit jedem Knall eins, und jedes beschissener als das davor.

Die Formulare.

Das Amt.

Die Fight Night.

Die Kohle.

Achim.

Simple Ausgangslage, eigentlich.

Achim hat die Kohle, die Aris dringend braucht. Sonst kann er die Fight Night vergessen. Und er will sie ja nicht mal geschenkt. Aber sag ihm das mal, dem feinen Herrn Bruder, dem Immobilien-King von Nord-Berlin. Da fehlt ihm wohl die Provision oder was, bei der ganzen Sache.

Und wenn Achim dann mit seinen Lieblingsthemen anfängt, so wie gestern Abend, Privatinsolvenz hier, beste Lösung da, gute Regelung und so weiter, und dann noch Mamá und Besuchszeiten und wie lange schon nicht mehr, da weißt du, dass es vorbei ist.

Oh Mann, denkt Aris und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Was für ein Terz. Was für ein riesiger Monsterterz.

Klar: Wenn sich zwei Fremde streiten, dauert’s normal, bis die Fetzen fliegen. Zwei Fremde, die ziehen erst nach und nach die Nase in den Himmel. Da dauert’s, bis es richtig steil geht. Aber wenn sich zwei Brüder streiten, da ist von vornherein die Deckung unten, da geht es direkt los wie bei anderen erst in der zehnten oder zwölften Runde. Toe to toe. Blow by blow.

Aber bevor dann noch wirklich die Fäuste geflogen sind, ist Achim lieber abgehauen. War besser so, hat er auch gemerkt.

Hölle. Ein Bruder hilft dem anderen, egal was kommt? Oder wie? Gebt, dann wird auch euch gegeben werden? Wo steht das noch mal?

Ach, weißt du. Fuck you, Bruder.

Wäre ja nur für eine Woche gewesen. Ein paar Tage. Ist das schon zu viel verlangt?

Aris spürt der Wut nach, die er gestern Abend nach Hause mitgebracht hat. Bruderwut, Geldwut, Lebenswut. Und jetzt weiß er auch, wo der Cowboy herkommt mit seiner miesen Peitsche. Er hört es jetzt wieder, das Türknallen von gestern Abend, heftige Nummer, Putz von der Wand, und fast wäre Poster-Ali flattern gegangen.

Aber da, wo gestern die Wut gewesen ist, in den Beinen und den Armen, da ist jetzt nur noch Blei.

Die nächsten Schritte, wiederholt Aris die Bruderworte und atmet ins Kissen.

Privatinsolvenz. Auja. Das klingt ja schon so richtig schön deutsch. Und das hast du dann eben davon. Da ist am Ende alles ordentlich vorgegeben. Jeder Schritt ein Blatt. Anlage 2, Bescheinigung über das Scheitern. Anlage 2A, Gründe für das Scheitern. Anlage 3, Abtretungserklärung nach Paragraph 287.

Aris macht die Augen auf, dreht den Kopf und schaut hoch zur Decke. Ist da im alten Wasserschaden nicht was zu erkennen? Irgendwas in den braunen Rändern, kleines Zeichen, unauffälliger Richtungshinweis, wie’s weitergeht? Ist doch eine alte Sache eigentlich, Vogelflug, Kartenschau, Kaffeesatz, da sind die Griechen doch immer ganz vorne mit dabei gewesen. Da muss doch auch was aus dem Deckenfleck zu holen sein, oder wie.

Aber die große braune Wolke da oben pulst einfach nur im Takt der Peitsche.

Wird ein bisschen größer.

Und dann wieder ein bisschen kleiner.

Aber dann sieht Aris doch noch was.

Eine kleine Erkenntnis, immerhin.

Montag.

Hatte er sich doch gedacht.

2

Serdar steht unten im Späti und fragt sich, was los ist. Schon ein bisschen bescheuert, weil das ja genau die Frage ist, mit der alles losgegangen ist. Der Tag. Die Woche. Das Drama.

Was ist los?, sagt Serdar in den leeren Laden. Was ist eigentlich los? Was?

Die Antwort ist ein höllisch lautes Piepen, draußen vor der Tür. Serdar schaut hoch und sieht, wie Getränke-Tommy seinen Transporter zurücksetzt.

Nachschub für die Durstigen vom Bellermannplatz.

Wobei. Ein Kunde hat sich in der letzten halben Stunde eher nicht blicken lassen. Montag, halb elf, da ist es ruhig im Späti. Die Arbeitstätigen sind schon durch und die Assis kommen erst später. Müssen sich erst mal irgendwo was pumpen. Das Wochenende ist teuer, und am teuersten ist es eh immer für die, die nichts haben.

Serdar geht um die Verkaufstheke, schnappt sich den Holzkeil aus dem Regal und klemmt ihn unter die Eingangstür.

Hey, Tommy.

Tag schön, Schrödi.

Getränke-Tommy, ein Marzahner Riese mit tätowierten Waden, ist allgemein ein okayer Kerl. Hat im Prinzip nur eine ungute Angewohnheit. Er will und muss und wird dir auf den Sack gehen, permanent, von A bis Z. Fängt schon mit der Begrüßung an. Je nach Tageszeit: Morgen schön, Tag schön, Abend schön.

Wer bitte redet so?, denkt Serdar, als ihm Tommy den Lieferschein rübergibt.

Alles dagehabt, Schrödi, sagt Getränke-Tommy und trägt drei gestapelte Beck’s-Kisten in den Laden, als wären es Styropor-Kartons. Alles da, brauchst nicht checken.

Natürlich muss Tommy ihn auch unbedingt mit seinem Nachnamen anreden, Schrödi, Schröder, obwohl er genau weiß, wie sehr er das hasst. Serdar Schröder. Wie das schon klingt. Scheiße klingt das. Und wer in dieser Welt findet schon den Nachnamen von seinem Stiefvater cool? Da muss der gar nicht mal so ein Idiot sein wie Uwe Schröder, Lord Wichtig von Spätkaufs Gnaden, der wahrscheinlich gerade zuhause bei einem Käffchen noch mal die Beine hochlegt. Die faule Sau.

Serdar geht langsam raus zum Wagen. Es ist jetzt klar, und Tommy ist der letzte Beweis. Die neue Woche ist unterwegs.

Und nichts, um sie aufzuhalten.

Kickstart, sagt Serdar in den offenen Transporter.

Kickstart. Fickstart.

Wie?, fragt Getränke-Tommy, der schon wieder zurück ist und mit einem Satz auf die Ladefläche springt. Scheint ihm gar nichts auszumachen, die Schlepperei den ganzen Tag. Tier.

Serdar schnappt sich eine einzelne Sterni-Kiste und wuchtet sie Richtung Eingang. Es ist Montag, okay, aber das ist es nicht. Mit den Frühstartern wird er fertig und mit den paar Abgebrannten, für die hat er ja extra die offenen Camel neben der Kasse liegen, 20 Cent das Stück oder auch mal 20 weniger, danke, Meister, biste heut Abend noch hier?, dann hab ich wieder, dann kriegste, weißt ja, komm doch immer her.

Serdar fängt an, die Sternis in den Kühlschrank zu sortieren. Tommy flitzt schon wieder nach draußen. Auch mit Tommy wirst du fertig, denkt Serdar. Geht schon klar.

Der Kühlschrank brummt, viel zu laut, ist das Ding jetzt auch noch kaputt oder was?, und dann kracht es schon und Serdar sieht die Splitter auf dem Boden und es sprudelt.

Bierbrunnen auf den Fliesen. Keine Ahnung, ob das jetzt Getränke-Tommy gewesen ist, der sich gerade mit den letzten Kisten an ihm vorbeigedrückt hat, oder was auch immer. Tommy glotzt durch die offene Kühlschranktür.

Montag, hm?

Ja, sagt Serdar. Montag.

Ist aber nicht das Problem. Wie gesagt.

Das Problem ist gut zu sehen gewesen, von weitem schon, als es noch auf der anderen Seite vom Platz gewesen ist. Hosenanzug und Pferdeschwanz, bedrohliches Wackeln, und Serdar hat das Problem als solches schon quer über den Platz erkannt, allein am Gang. Der war anders als sonst, die Schritte größer, breiter, fast ein Stampfen, kurz dachte er, ihre Absätze auf dem Pflaster hören zu können, aber das ist natürlich Blödsinn, auf die Entfernung, durch die geschlossene Tür.

Auf dem Weg ins Büro vorbeischauen, das ist neu, das hat sie, wenn überhaupt, schon Jahre nicht mehr gemacht. Das ist normal gar nicht ihr Weg. Da ist also die Kacke schon am Dampfen gewesen, da war sie noch gar nicht durch die Ladentür, Montagmorgen um kurz nach halb neun am motherfucking Bellermannplatz.

Getränke-Tommy ist fertig. Er schmeißt die Transportertür zu und haut zum Abschied noch ein paar Mal auf die Hupe.

Ist gut, Tommy. Ist ja gut.

Serdar zieht den Keil aus der Tür und lässt sich auf den Bürostuhl hinter der Theke fallen.

Mach mal schön ruhig jetzt. Ist das einzig Richtige.

Aber ruhig ist anders.

Serdar denkt an Ella.

An ihre Worte.

Ihre letzten drei Worte.

3

Jessi sitzt an der Drei und will keine Pause.

Seit vier Stunden haben sie offen, ein Morgen auf Autopilot. Tschüss, schönen Tag noch. Hallo. Die Kunden fließen ineinander. Geht alles wie von selbst: die linke Hand vor zum Band, Artikel greifen, Artikel drehen, Artikel mit dem Code nach unten über den Scanner ziehen, pibb, Artikel mit der Rechten rüberschieben, während die andere Hand schon nach dem nächsten greift. Pibb, pibb, pibb. Dreizehn einundfünfzig, bitte. Fünfzig, danke. Und sechsunddreißig neunundvierzig zurück. Tschüss, schönen Tag noch. Hallo.

Die Bewegung ist immer die gleiche, der Text ist immer der gleiche und das Blickfeld an der Drei auch.

90 Grad, so in etwa.

Links die Kunden mit ihren Einkaufswagen, das Warenband, die Last-Minute-Auslagen: CD-Rohlinge, 700 MB, Brillenputztücher, Fünferpack, Lesehilfe, 1 bis 3,5 Dioptrien, Zigarettenfilter, Power 200 Kingsize. Das Fach mit den Hausfrauen-Postillen: Meine Familie und ICH. Lust auf GENUSS.

Ich. Genuss. Haha.

Das Ich ist der Kunde, und Jessi sieht aus wie alle Kollegen. Sie schaut an sich herunter und zieht die Ärmel ihres Polo-Shirts ein Stückchen hoch. Langarm in Netto-Rot, Einheitskluft. Jessis Netto ist ein roter Netto, kein gelber Netto. Der gelbe Netto ist der mit dem Scottie. Wie oft die Kunden einen da wohl nach Hundefutter fragen, aber gut.

Das Namensschild trägt Jessi oben links über der Brust, und die zwei Kragenknöpfe, die hat sie immer zu, so wie sie die Haare immer oben trägt, wie sieht das sonst aus, klar, ein bisschen ordentlich präsentieren musst du dich schon. Sind ja eigentlich auch okay die Shirts, könnte alles schlimmer sein, überleg mal, die hellblauen Aldi-Kittel, mein Gott.

So sitzt sie da, rotes Shirt, blonder Dutt, und in Sitzrichtung kommt die Zwei, an der normal die Müllersche sitzt, und dahinter kommt die Eins, logisch, aber die ist jetzt noch unbesetzt. Dann die Recycling-Boxen und dahinter der Eingangsbereich, ein durchsichtiger Glaskorridor. Rechts ist nur die Wand.

Wo bleibt der?

Jessi hat ein Auge auf den nächsten Kunden und ein Auge auf den Eingang. Der Rest geht von alleine, erst mal.

Die Ersten sind wie immer schon um Viertel vor sieben da gewesen, haben schon gewartet, die Nase an der Schiebetür, die Rentner und die Rastlosen. Das sind eher noch die Normalen. Kurz danach sind die anderen gekommen, die Hängemäuler, so nennt Jessi die, die den Hass haben und den Hass mitbringen, Dauerhass, und wer weiß schon warum, Frau weg oder Job, Kater oder Charakter. Oder alles auf einmal.

Du erkennst sie an den Mundwinkeln. Die hängen auf halb acht. Und so kommen sie dann an, jeden Tag, irgendwann kommen sie und treten in Aktion. Heute hat einer drei Tüten voll in den Leergutautomaten gestopft, gab Stau, klar, rotes Lämpchen. Und dann wie immer das Gezeter, hallo, he, könnse ma, na Sie ham ja die Ruhe weg, watn Drecksladen. Dann knallt es hinten an der Aktions-Insel, ein Penner mit Hose in den Kniekehlen zupft sich zitternd am Bart, Frau Müller kommt mit dem Kehrblech, es riecht bis vor zur Drei. Royal Prima Sprit, 69,5 Prozent, 9,99 Euro. Der absolute Renner, seit sich das rumgesprochen hat, draußen am Platz.

Günstiger wird’s nicht, klar. Aber genug Power, um die Pulle aus dem Regal zu nehmen, brauchst du schon noch.

Tschüss, schönen Tag noch. Hallo. Jessi denkt an Line und ans Wochenende, das eigentlich nur ein Tag gewesen ist, mal wieder, ein mickriger Tag. Nur der Sonntag, um genau zu sein. Willkommen bei Netto, Ihrem Marken-Discount am Bellermannplatz, immer zu Ihren Diensten, Montag bis Samstag von 7 bis 22 Uhr.

Morgens haben sie das neue Malbuch ausprobiert, dazu ein paar alte Folgen Benjamin Blümchen gehört. Kassette, was ist das, Mama? Dann eine Runde auf dem Spielplatz gedreht, hinterher zwei Kugeln bei Janny’s, Erbeer-Vanille mit Schokostreuseln. Abends dann Fischstäbchen mit Ketchup, Lines Lieblingsessen, und dann ist Mama direkt auf der Couch eingeschlafen.

Und jetzt ist der Montag auch schon wieder vier Stunden alt, und die Müllern hat sich eben ziemlich gewundert, dass Jessi sie diesmal zuerst in die Pause geschickt hat, kannst gehen, Frau Müller, ich mach nachher nur kurz, nee, wirklich, geh mal ruhig.

Lange kann es ja nicht mehr dauern.

Wo steckt der bloß?

He! Hallo!

Ein Kunde wedelt mit einem Papierfetzen vor Jessis Gesicht herum. Hagerer Typ, rotes Gesicht.

Halten Sie mal still, bitte, sagt Jessi.

Der ist gar nicht von hier.

Ja, genau, nur das, nuschelt der Typ. Hab nur das hier.

Wedeln.

Ja, also nein, sagt Jessi. Der ist von Aldi.

Aldi, sagt der Typ, genau.

Ja. Aber wir sind Netto. Jessi versucht, ruhig zu bleiben.

Äh?

Wir sind ein Netto. Kein Aldi.

Jessi zieht jede einzelne Silbe in die Länge. Der Typ glotzt.

Genau, Aldi, sagt er.

Nein, nein. Jessi guckt rüber zum Eingang.

75 Cent, sagt der Typ mit dem Aldi-Pfandbon. 75 Cent Pfand.

Ja, sorry, sagt Jessi. Kann ich nicht annehmen. Müssen Sie zu Aldi.

Aldi, sagt der Typ und es klingt grade nicht so, als ob er wüsste, was das Wort bedeutet.

Jessi fängt an, den nächsten Kunden zu bedienen. Was willst du machen.

Und einmal Pall Mall, die Roten, sagt der Kunde, während er den Aldi-Typen sachte wegschiebt, sorry, hallo, darf ich mal.

Jessi steht auf und greift nach den Kippenpäckchen in ihrer ovalen Box. Über jeder Kasse hängt eine davon, graue Klappe, Traubenstöcke aus Hartplastik.

Jessi schaut dem Pfandbontypen nach, wie er langsam rüber zur Glastür schlurft.

Nichts zu sehen.

Er ist echt spät dran.

4

Kasse ist Kasse. Von daher gibt es auch im Späti nicht viel mehr, was du machen kannst, wenn das Bier weggewischt ist, als auf den nächsten Kunden zu warten.

Bis dahin kannst du vielleicht ein bisschen auf Facebook rumlungern oder bei Youtube, aber irgendwann hast du alle Ali-Kämpfe gesehen und die von De la Hoya und Chavez und Sugar Ray auch.

Meistens macht Serdar also nicht sehr viel. Denkt an dies und das. Ans nächste Training. Geht im Kopf vielleicht ein paar Kombinationen durch. Links-links-Cross. Links-rechts-Körperhaken. Daddelt ansonsten ein bisschen rum. Versitzt die Zeit.

Aber wenn du so einen Start gehabt hast wie Serdar heute, dann ist nichts mit dies und das. Dann ist die Denkrichtung für den Tag schon so ziemlich vorgegeben.

Kickstart, wie gesagt.

Mit der Begrüßung hat Ella sich gar nicht groß aufgehalten.

Und?, hat sie nur gefragt.

Was hätte er da groß antworten sollen außer: Was, und?

Richtig weitergebracht hat das die Unterhaltung nicht, und sie hat dann ein paar Sekunden an ihm vorbeigeguckt, schräg hinter die Theke, rüber zur roten Langnese-Eistruhe.

Genug geschlafen?, hat sie dann gefragt.

Hm?

Am Wochenende. Genug geschlafen am Wochenende?

Ja, ich weiß, hat er gemurmelt. Ist ein bisschen später geworden. Weißt ja, wie das ist beim Pokern.

Ja, nein, whatever, hat sie gesagt. Das mein ich gar nicht.

Er hat erst mal gar nichts verstanden und sie angeguckt. Sie hat diese Lauerstellung draufgehabt, den Kopf ein bisschen nach unten, die Augen ein bisschen verengt, und wie sie so lauernd-drohend da gestanden hat in ihrem dunklen Blazer und der Büro-Frisur, die Haare straff nach hinten, da hat Serdar sie schon ziemlich heiß gefunden, kein Scheiß. Hat er dann aber erst mal für sich behalten.

Sind sie das?, hat sie ihn gefragt und auf den Stapel Papiere auf der Eistruhe gezeigt. Aber natürlich hat sie genauso gut gewusst wie er, dass die Scheiß-Bewerbungen zuhause auf dem Küchentisch liegen.

Ja, hat er trotzdem gesagt, weil es jetzt auch egal gewesen ist. Ja, das sind sie. Mach ich heut Abend fertig. Vorher schaff ich’s nicht.

Aha. Zu viel los hier, wie?, hat sie gesagt und mit dem Zeigefinger einen Kreis in den leeren Laden gemalt. Und da hat schon ziemlich viel Wut drin gesteckt, in dem Kreis und in der Frage, eigentlich schon in dem einen Wort. Aha. Erstaunlich, wie viel Wut und Spott und was nicht alles in so ein kleines Wort reinpassen.

Die Stille danach ist dann eher so eine unangenehme Stille gewesen. Aber was willst du machen. Raus kommst du aus so einer Nummer nicht so schnell. Sie hat da gestanden, zwischen Theke und Tür, Hände in den Hüften, Kopf schief, und erst mal nichts gesagt.

Diese Stille.

Ziemlich lang.

Was ist los mit dir?, hat sie dann endlich gefragt. Und damit ist, wie gesagt, alles erst so richtig losgegangen.

Was soll los sein?, hat er geantwortet. Wichtig und richtig natürlich: Verteidigungshaltung. Lernst du ja gleich am Anfang, Rechte ans Kinn, Linke bisschen vor.

Hab ich doch gesagt, heute Abend.

Darauf hat sie nichts gesagt, erst mal.

Was willst du?, hat er nachgeschoben, und das ist vielleicht ein bisschen viel gewesen. Den Satz hätte er sich sparen können, das ist ihm jetzt klar, als er noch mal drüber nachdenkt. Aber gut, hätte das irgendwas geändert?

Heute Abend, hat sie gesagt, heute Abend, morgen Abend, nächstes Jahr Abend. Bullshit. Ist doch echter Bullshit.

Nächste Warnung. Solche Wörter gibt’s bei ihr sonst nicht. Bullshit und so. Ist nicht ihre Sache eigentlich, so ein Geschimpfe. Aber Warnung hin oder her, es war schon on, und wenn es on ist, tja, was willst du dann anderes machen als mitmachen.

Ey, hat er gesagt, denkst du, ich lüg dich an?

Er hat versucht, das enttäuscht klingen zu lassen, aber es ist dann eher so ein bisschen aggressiv rübergekommen.

Und sie hat wieder nichts gesagt, und das ist es dann gewesen, diese Stille, die sich breit gemacht hat, das war wieder so eine Stille, die alles abgesenkt hat auf ein paar Grad unter null, eine echte Langnese-Stille, die hat alles eingefroren, die allgemeine Lebensfreude, den ganzen zwischenmenschlichen Shit, sogar die Temperatur im Laden, so hat es sich zumindest angefühlt. Da sind direkt die blauen Orbit vor ihr im Thekenregal eingefroren und die Snickers und die Mr. Tom’s, alles nur von Ellas Eisesstille.

Ella, hör mal, hat er es dann noch mal versucht, diesmal auf die süße Tour. Ella, hat er gesagt, ich mach das. Wirklich. Okay?

Aber sie hat weggeschaut, links rüber zu den Pringles und raus zu den klapprigen Holzbänken und den besprühten Stromkästen. Quer über den Platz ist Ellas Blick gegangen, bis hinten zum Netto, der rotgelb ins Montagsgrau geleuchtet hat. Und vielleicht noch ein bisschen weiter.

Denkst du, hat er gesagt, als er ihrem Blick mit seinem gefolgt ist, denkst du, Schatz, ich will hier alt werden?

Und da hat sie den Kopf wieder zu ihm hingedreht, aber ihr Blick ist durch ihn durch gegangen, durch ihn und die West Bigpacks und die gelben und roten und grünen American Spirit im Kippenregal hinter ihm. Und wieder diese Stille.

Sag was, hat Serdar gedacht. Egal was. Bitte.

Ich weiß nicht, hat sie dann endlich gesagt und ihn angeschaut. Und das ist schon nicht mehr ihr Wutblick gewesen, sondern ein ganz anderer, auch neu, hatte er noch nie gesehen bei ihr. Ein Blick, als würde sie gar nicht mehr ihn angucken, sondern irgendwen anders.

Ich weiß nicht, hat sie noch mal gesagt. Manchmal …

Manchmal was?, hat er sie unterbrochen, ein bisschen aggro und ein bisschen traurig, es hat jetzt nichts mehr geholfen, es ist jetzt nicht mehr gegangen, nichts ist mehr gegangen, an diesem Montagmorgen, der eigentlich kein schlechter gewesen war, bis Ella reingeplatzt kam und die Eiszeit ausgerufen hat.

Manchmal, hat sie also noch mal gesagt, und die Genervtheit ist wieder komplett da gewesen, manchmal glaub ich …

Glaubst du was, hm? Was?

Er hat es nicht lassen können. Er ist jetzt in Fahrt gewesen. Nach vorne. Rauf. Attack. Links-links-Cross.

Sie hat eine kurze Pause gelassen, schön dosiert, bis er am liebsten schon auf die Kasse eingekloppt hätte, einfach um irgendwas zu machen, aber dann hat sie doch noch was gesagt.

Dass es dir am Ende hier doch am liebsten ist.

Und das ist natürlich schon der erste richtige Hammer gewesen, wenn er jetzt so drüber nachdenkt. Ein Wirkungstreffer. Aber gut, was machst du, wenn du getroffen bist, erste, einfachste Regel? Schauspielern. Ali gegen Frazier I, elfte Runde.

Ja genau, hat Serdar deshalb gleich über die Theke geknallt, ja genau, Ella, ich steh hier in zehn Jahren einfach immer noch hinter der Scheißkasse und verticke den Pennern ihre Sternis und den Assis aus der Klause ihren Krauser. Genau so machen wir das.

Muss aber sitzen, die Performance.

Deswegen hat Serdar eine kurze Pause eingelegt und Luft geholt. Und dann hat er gesagt, schon ziemlich laut:

Meinst du das eigentlich ernst? Merkst du nicht, wie HOHL das klingt?

Aber sie ist jetzt auch in Stimmung gewesen. Ich WEISS, wie hohl das klingt, hat sie direkt zurückgefeuert, MIR brauchst du das nicht zu sagen.

Da war sie schon kurz vor dem Explodieren, das hat er gewusst, das hat er jetzt wieder gekannt an ihr. Hat man schon an den BETONUNGEN gemerkt, mit denen ihre Wörter rechts von ihm in die Gizeh-Filter und die OCBs reingehämmert sind.

Ist ja richtig, hat er gesagt. Meinst du nicht, ich hab auch was Besseres vor? Was Besseres als den Dreck hier?

Und jetzt hat er, Stichwort: Betonung, mit der flachen Hand den Plastikbecher mit den Kronkorken von der Theke gefegt, volle Power, das Ding ist haarscharf an ihr vorbei und in den Zeitungsständer neben dem Eingang geflogen.

Viel Eindruck hat das allerdings nicht gemacht.

Alles klar, hat Ella nur gesagt, und das klar ist ihr schon so halb nach unten weggekippt, während sie sich zum Ausgang gedreht hat. Alles klar, ich muss los, hat sie gesagt, aber nicht Richtung Serdar, sondern Richtung Tür. Bin eh schon zu spät.

Nee, zu früh bist du, deutlich zu früh, hat Serdar gedacht und er hatte schon halb ausgeatmet, aber dann hat sie sich in der Tür noch einmal umgedreht, auf den Absätzen ihrer dunklen Büroschuhe, und hat noch was in den Verkaufsraum gesagt. Einen letzten Satz noch, ganz ruhig diesmal. Da war klar, den hat sie sich aufgehoben, den hat sie mitgebracht, ein Satz wie eine Kombination Todesschläge, drei Worte nur, zwei zur Vorbereitung, zum Antitschen, und dann die rechte Gerade, butz, mittenrein.

Und weil er vieles hat kommen sehen, aber nicht das, nicht diese Kombi, nicht diesen Satz, die drei Worte, versucht er seitdem, seit diesem Moment, als die Tür hinter Ella zugeschlagen ist, über die Zeit zu kommen, mehr nicht, er versucht nur wieder klarzusehen, die Beine festzukriegen, aber die Runde hört nicht auf, sie läuft einfach weiter, immer weiter, und gerade hat Serdar dem Dönermann von nebenan schon fünf Euro zu viel auf seine Marlboro rausgegeben.

Und jetzt sieht er Ivo und den dicken Lexi über den Platz laufen, von der S-Bahn kommen sie, ziemlich schnell. Der dicke Lexi hängt ein bisschen zurück, und die beiden Deppen schleppen irgendwas vor sich her.

Wahrscheinlich den nächsten Ärger.

5

Montag also.

Immerhin.

Da weiß er jetzt doch, was ihm helfen kann.

Im Bad bindet sich Aris seine paar Haare zusammen und schippt sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Im Spiegel ein alter Boxer mit Halbglatze, großer Nase und hinten einem Pferdeschwanz. Sieht im gesprungenen Glas fast nach Kunst aus. Picasso-Style. Old boxer in bathroom. Oder so.

Wasser, Sprühdeo, von beidem nicht zu viel. Handtuch. Aris schnüffelt an seinen Achseln. Kann erst mal so durchgehen.

Was folgt, wird sich zeigen, sagt Aris feierlich in den Spiegel. Tha doume, file mou. Jetzt erst mal Hemd drüber, Runde über den Platz, Leergut abgeben und dann … Na, wie gesagt.

Aris schnappt sich die Tüte mit den leeren Flaschen und macht auf dem Weg nach unten das Handy an. Verpasster Anruf, Achim.

Leck mich, Bruder. Handy auf lautlos.

Vor der Haustür steckt sich Aris eine an und guckt sich um. Außer ihm sind auch sonst schon ein paar wach.

Links buckelt Serdar eine volle Bierkiste in den Späti. Dahinter stellt Hassan vom Anayurt die Plastikstühle raus. Die Klause hat die Läden unten. Vor dem Internet-Café lungern die Rumänen. Am Brunnen hockt eine Mutter mit Kleinkind und atmet Rauch. Ein paar Meter weiter pisst ein Penner gegen den Baum. Im Hintergrund knallt die S-Bahn vorbei.

Schön hier.

Hey, Aris!

Kevin, Junge. Was läuft?

Kevin, der da hinter Aris im Türrahmen aufgetaucht ist, wohnt im Zweiten. Schlaues Kerlchen in Röhrenjeans. Macht grad das Abi nach. Will mal Designer werden. Bis dahin hilft er Aris mit den Plakaten. Ehrenamtlich, versteht sich. Von wegen Referenzen.

Hab die Entwürfe fertig. Willste sehen?

Logo. Zeig her den Scheiß.

Kevin wischt auf seinem iPhone herum.

Ist das das Fünfer?, fragt Aris beiläufig.

Nee, das 4S. Gebraucht über Ebay. Hier, da sind sie. Guck mal.

Kevin zieht mit zwei Fingern die Ansicht größer.

Wild Wild Wedding?

Klingt doch geil, oder nicht?

Kevin guckt groß.

Klingt eher wie ein Scheiß-Will-Smith-Film.

Hm, macht Kevin. Kann ich nochmal ändern.

Mach mal, bitte. Fight Night. Einfach Fight Night. Fight Night Wedding. Sonst denken die Leute noch, wir machen Oben-Ohne-Rodeo oder was.

Okay. Kein Ding. Ist easy.

Aber Kevin klingt jetzt ein bisschen down.

Sonst sieht’s echt geil aus, sagt Aris schnell.

Ja?

Ja, sagt Aris und zieht an seiner Kippe.

Kann ich dann heute Nachmittag drucken lassen. 100 Stück?

Mach mal gleich 150, bitte. In A1. Wird groß diesmal.

Kevin zögert.

150 Mal A1? Du weißt, was das kostet?

Logo. Wird groß, wie gesagt.

Aris, Mann …

Was denn?

Ich kann das nicht alles auslegen.

Hm?

Das Geld für die Druckerei, ich hab nicht so viel.

Ist doch nur bis Freitag. Dann kriegst du’s wieder.

Kevin sieht nicht happy aus.

Ach, komm, sagt Aris. Kannst du nicht deine Eltern fragen? Ich hab schon die ganzen Boxergagen an der Hacke, was meinst du, was die alle kosten?

Na ja, ich könnte …

Siehste. Wird ne gute Sache!

Aris haut Kevin auf den schmalen Rücken. Klatscht ordentlich.

Glaub mir, das wird groß. Und vergiss nicht, alle einzuladen, ja? Deine ganzen Hipster-Kumpels. Sind geile Kämpfe diesmal. Also, reingehauen!

Aris hält die flache Hand hin, Kevin haut rein und schon steuert Aris dem Netto entgegen, Lucky im Mundwinkel, 1,75 Euro Plastikpfand am Handgelenk und die Hoffnung im Bauch, dass er sie gleich sehen wird.

6

Der Flaschenfascho ist auch schon fit.

Hat sein Wägelchen die Schulstraße runtergeschoben, einmal quer über den Leopoldplatz, hat den Lausepark abgegrast, die Büsche rings ums Arbeitsamt und dann noch die Bahnhofshalle. Zwanzig Glaspullen und ein paar Plastik. Nicht schlecht für einen Montagmorgen, und an der Panke ist er noch gar nicht gewesen.

Jetzt erst mal Päuschen. Geht am besten auf dem kleinen Betonpodest, den Bahndamm im Rücken. Da gehen dir die Büsche nur bis zur Brust, wenn du grade sitzt, und der Flaschenfascho sitzt immer grade.

Offenes Gelände ist ungünstig für die Tarnung und möglichst auszusparen. Wichtig ist der freie Blick, geradeaus über den Platz und linker Hand zum S-Bahn-Ausgang. Da schwärmen sie aus, die Eilfertigen, die Zivilisten-Parade, den ganzen Morgen. Pah.

Der Flaschenfascho setzt sein Berliner an und trinkt – vorsichtig, damit kein Bier auf den Kragen seiner M44 tropft, für die er sich heute entschieden hat, Feldbluse in Erbsentarn, fünffarbig, zwei praktische Taschen an der Vorderseite, offener Kragen. Es soll warm werden.

Voraussetzung für einen guten äußeren Eindruck ist immer ein ordentlicher Anzug.

Du brauchst Prinzipien im Leben, und der Flaschenfascho hat, beruflich gesehen, vor allem eins: Er achtet die Weddinger Außengrenzen. Plötzensee, Englisches Viertel, Wollank, Bösebrücke, Bernauer, Nordbahnhof, Fennbrücke. Bis dahin wird gesammelt und keinen Meter weiter.

Ist immer noch ein ziemlich großes Gebiet, wenn du zu Fuß unterwegs bist mit einem klapprigen Netto-Einkaufswagen mit der einen oder anderen bunten Tüte dran. Wenn du das mal probierst, wirst du merken, dass es ein paar Gegenden in der Stadt gibt, die da doch ein bisschen dankbarer sind. Tiergarten, Warschauer, Ostkreuz, oder auch am Stadion, wenn da grad mal was ist, klar.

Wenn du es stattdessen hier probierst, Prinzenallee, Pankstraße, Sprengelkiez und so weiter, wirst du schnell eins merken. Dass nämlich der Weddinger und sein Frauchen, die Weddingerin, sich selbst dann noch für arme Schlucker halten, wenn sie’s längst zu einem 40-Zoll-Plasma und einer Surround-Anlage von Real gebracht haben. Und das heißt, dass sie ihr Leergut immer selbst zurück zum Späti tragen, Flasche für Flasche. Und vorher schön austrinken.

Aussichtslos ist es trotzdem nicht, im Gegenteil. Bin ja nicht wenig dämlich, wie der Flaschenfascho gerne sagt. Kannst schon was finden, musst nur wissen, wo. Musst eben einen Plan haben.

Und der Flaschenfascho, alter Hase der Kunst, hat einen guten Plan.

Und der basiert dann wieder auf anderen Prinzipien. Ortskenntnis. Disziplin. Hygiene. Das sind schon mal ein paar. Reinigen des gesamten Körpers mindestens einmal täglich. Tägliches Wechseln von Unterwäsche und Strümpfen. Ausbürsten und Ausklopfen der Oberbekleidung nach Benutzung.

Gib den anderen keinen Anlass, wofür auch immer.

Grüß die Penner und trag eine Wehrmachts-Uniform.

Die richtige Mischung aus Freundlichkeit und Terror, das hat er lange begriffen, die ist der Schlüssel zu diesem Stadtteil. Und ein Alles marsch, zu den Waffen!, in der richtigen Lautstärke, hat noch so manchen Konflikt rund um den Bellermannplatz im Keim erstickt.

Der Flaschenfascho setzt das leere Berliner ab und guckt über den Platz. Spähtrupp zu Fuß. Mögliche Aufgaben: Stärke, Gliederung, Ausrüstung und Verhalten des Feindes in einem bestimmten Raum feststellen; Objekte überwachen; Gelände erkunden; Fühlung halten. Spähen in Längsrichtung.

Der Flaschenfascho starrt in die Baumkronen, ob zwischen den Zweigen da irgendwas zu sehen ist, denn, weißt du’s, ist alles schon da gewesen.

Die Kastanien schwanken leicht im Wind. Oberer Bereich, alles klar. Muss nichts heißen. Weiter unten, in den dicken Ästen, da ist was, da hängt was, was ist das, ein alter Schuh? Feindmaterial. Muss er nachher mal unauffällig begutachten, im Vorbeigehen.

Spähtrupps sollen viel sehen und hören, ihre Beobachtungen schnell melden und vom Feinde unerkannt bleiben.

Auf der Bank drüben hockt Eberhard, der alte Suffki. Ansonsten streunen nur ein paar Zigeuner herum. Sonst alles ruhig. Muss nichts heißen. Der Flaschenfascho schmeißt sich ein Fisherman’s ein und kneift das Auge unter der Augenklappe zusammen.

Jeder Soldat muss zu jeder Zeit, in jeder Lage und überall mit Beobachtung und Aufklärung durch den Feind rechnen.

Müsst ihr schon früher aufstehen, ihr Lappen, sagt der Flaschenfascho laut zu sich selbst. Er steht auf und wirft sich in die Brust. Onkel Walter ist schon seit sieben auf dem Posten. Montagspatrouille. Routine. Und beim Gehen immer schön das Köpfchen hoch. Beobachten. Pirschhaltung.

Da entgeht dir nichts.

Nicht auf meiner Wacht, grummelt der Flaschenfascho, streicht seine Feldjacke glatt, stellt das leere Berliner zu den anderen Pullen in den Wagen und marschiert los, den Spätkauf Schröder im Visier.

Erst mal Kasse machen.

7

Unten in seiner Werkstatt wartet Heinz Hönow auf die Zeit.

Er hat die zweite Kanne Kaffee in Arbeit, der Filter der Maschine broddelt vor sich hin. Draußen über den Lichtschächten ist es hell geworden, aber hier unten an der Werkbank ist es wie immer angenehm dämmrig.

Heinz Hönow spürt mit der Handfläche der Struktur der Werkbank nach, Kiefernholz, massiv, 1969 angeschafft, im März. Weiß er alles noch. Was er bestellt hat und wann und wo, das meiste bei Schula in Lübeck: den Furniturenschrank, Nadelholz, 19 nummerierte Laden, außen brauner Samt, innen weiße Kunstseide, die Karatwaage, Sauter 414, mechanisch, 0,5 bis 1000 Karat, immer pünktlich geeicht, alle zwei Jahre. Aber wie lange ist das letzte Mal her? Heinz Hönow weiß es nicht.

Die Tage sind lang, seit er nicht mehr schläft. Länger als früher. Heinz Hönow hört dem Kaffeefilter zu und betrachtet sein Leben. An der Tür hängt die Arbeitsschürze, Rindsleder, daneben die alte Schutzbrille mit den runden Gläsern. Die Türen der Panzerschränke sind nur angelehnt.

Heinz Hönow wischt mit der Hand über die Lötstation, Lötstar 141, Gasgenerator, Flüsterkühlkreis, niedrige Betriebskosten. Eine Staubschicht bleibt an seinem Finger hängen. Heinz Hönow pustet den Staub rüber zur Wand, wo die Feilen und die Hämmerchen hängen, schön nach Größe sortiert, unter der Sparkassen-Uhr mit dem zittrigen Sekundenzeiger.

Manchmal, wenn er lange genug hinschaut, glaubt Heinz Hönow, dass der Zeiger rückwärts geht. Aber wenn er dann die Augen zugemacht hat und wieder auf, merkt er, dass das nicht stimmt.

Durch die Lichtschächte kommt leises Kindergeschrei, wie durch einen langen, weiten Tunnel.

Heinz Hönow ist heute noch nicht draußen gewesen. Wird er auch vermeiden, wie gestern schon und vorgestern auch. Essen hat er noch für zwei Wochen da, mindestens. Verschiedene Konserven, Ravioli, Hühnersuppe, Heringsfilets, ein paar Packungen eingefrorenes Bauernbrot, vorgeschnitten, dazu jede Menge Kaffeepulver plus Filter, und das Wasser kommt eh aus der Leitung.

Wozu raus?, denkt Heinz Hönow. Was sollte das noch?

Und außerdem, da draußen ist es nicht gut. Da draußen sind die anderen. Und die will er nicht sehen, noch nicht. Er weiß noch nicht wie, und so lange bleibt er schön hier drinnen, hier unten, im angenehmen Halbdunkel seines Lebens. Hier unten ist es ruhig und gut und friedlich und jetzt, da der Kaffee durchgelaufen ist, ist es auch wieder ganz still.

Heinz Hönow holt die Kanne, schenkt sich Kaffee nach und blättert in einer alten B. Z., die Augen geschlossen. Er mag das Rascheln des Papiers, es beruhigt ihn, stellt er sich vor.

Er ist schon auf den letzten Seiten angekommen, da, wo die Anzeigen stehen, Berlin diskret, Agentur Liberty, Heiße Nixen in kühlen Suiten, Karl und Andrea feiern 50. Hochzeitstag, als das Telefon klingelt.

Heinz Hönow reißt die Augen auf.

Er hat es immer schon gehasst, das schrille Geräusch. Früher hat er es in Kauf genommen, Klingeln hieß Kundschaft und Kundschaft war gut, so gesehen, aber jetzt spielt das alles keine Rolle mehr und er hasst es nur noch. Warum er die Strippe noch nicht aus der Wand gerissen hat, weiß er selbst nicht.

Das Telefon klingelt weiter.

Nach dem achten Klingeln nimmt er ab.

Hönow.

Ja, hallo. Bin ich da richtig beim Juwelier?

Korrekt, sagt Hönow mit tiefer Stimme. Am Apparat.

Prima, sagt der Anrufer. Ich müsste einen Ring verkleinern lassen. Machen Sie so was?

Mach ich, sagt Hönow nach einer kurzen Pause.

Ah fein …

Beziehungsweise, fällt Heinz Hönow dem Anrufer jetzt ins Wort, beziehungsweise, würd ich gern.

Es wird kurz still in der Leitung.

Würden Sie gern? Ich verstehe nicht ganz …

Heinz Hönow lässt sich Zeit. Er hört das leise Rauschen in der alten Leitung. Er mag das Rauschen.

Sehen Sie, sagt Heinz Hönow schließlich. Es gibt da ein Problem.

Der Anrufer sagt eine Weile nichts. Heinz Hönow glaubt, ihn atmen zu hören. Er scheint ein bisschen schneller zu atmen.

Ah, ja?, sagt der Anrufer.

Ja, sagt Heinz Hönow ruhig.

Er hört den Mann atmen.

Welches Problem denn?, fragt der Anrufer.

Ich bin tot.

8

Die Trümmerklause hat also noch zu.

Die kleine Kneipe schläft ihren Rausch aus.

Aber sie ist natürlich trotzdem da. Sie ist ja immer da. Die Klause gehört zum Bellermannplatz und der Bellermannplatz gehört zur Klause. Ist so. Ist immer so gewesen. Da kommst du nicht drumherum.

Beziehungsweise, nur unter Mühen.

Denn wenn du vom Bellermannplatz runterwillst, also zum Beispiel rüber in die Reinickendorfer, zur Post oder zum Lottoladen, da steht dir die Klause im Weg. Weil sie genau da steht, wo der Platz spitz zuläuft, da, wo eigentlich ein Durchgang sein müsste, ein kleiner Weg, ein Pfad wenigstens.

Aber da ist stattdessen nur die Klause.

Musst du also ganz außenrum, hilft nichts, am Gartenzäunchen vorbei und am Fahrradständer mit den rostigen Gestellen, bis hinten zur Ecke. Wenn die Trümmerklause eine Hintertür hätte, dann wäre das optimal, da könntest du direkt quer durch, da wäre für einige der Heimweg nicht halb so beschwerlich, für Harry von der Aral zum Beispiel oder für Renten-Reiner, der schon seit 53 einen auf lau macht, Moped-Unfall, offiziell. Aber eine Hintertür hat die Trümmerklause nicht. Wird sie auch so schnell nicht kriegen, von wegen Brandschutz.

Außerdem, was da los wäre. Wenn der schnellste Weg in die Reinickendorfer plötzlich mitten durch die Klause führt. So eine Laufkundschaft will ja dann auch keiner haben. Bleibt also alles so, wie es ist, und das muss ja nicht immer die schlechteste Lösung sein. Bisschen Bewegung schadet ja nicht, auch nicht nach acht Bierchen und fünf Korn.

Natürlich steht aber nicht nur die Klause im Weg und das Zäunchen mit den rostigen Kleppern davor, am einen Ende vom Bellermannplatz. Da sind schon noch fünf Stockwerke grauer Altbau drüber.

Und im ersten wohnt Ilona.

Ilona schmeißt den Laden. Musst du wissen. Musst du respektieren. Du kannst dir viel erlauben unterm Pernod-Schirm, im gelben Schein der Deckenlampen, kannst auf deine Nachbarn schimpfen und die Frauen oder die Männer, je nachdem, auf Obama und Putin, den Islamischen Staat oder die Illuminaten. Nur auf Ilona darfst du nicht schimpfen. Weil Ilona weiß, was hier für alle das Beste ist.

Und keine Widerrede.

Dafür kriegst du bei ihr in der Klause das, was du brauchst. Eine warme Stube im Winter, Schatten im Nacken im Sommer und ein kaltes Schultheiss das ganze Jahr. Das und die Gewissheit, dass über dem kalten Mauerwerk noch eine Schicht Fichtenpaneel liegt und dein Nebenmann am Tresen den gleichen Mist am Hacken hat wie du und wie alle anderen, das reicht meist schon, um dich sicher in den nächsten Tag zu bringen. Der oft genug entweder gleich hier in der Klause anfängt oder zumindest wieder hier endet. Wenn noch Geld da ist. Und wenn nicht und Ilona gut drauf ist, lässt du deinen Deckel erst mal da. Es hat am Ende noch jeder sein Bier gekriegt. In der Kugel oder im Henkel, das ist die einzige Frage, der du nicht ausweichen kannst.

Das Henkel ist schwerer, dafür hat es einen Griff, an dem du dich festhalten kannst.

So ist das hier, wo sich die Männer von ihren Frauen erholen und die Deutschen von den Türken, so wie die sich von den Deutschen erholen, drüben im Anayurt Café, bei Chai und den gleichen Gedanken, nur in einer anderen Sprache. Und die Griechen oder die sich für Griechen halten, erholen sich am Freitagabend im Ypsilon, unten am Kleistpark, wo die Bouzouki den großen hellenischen Blues herbeispielt und der vierte Whiskey nach Thymian schmeckt. Und am Montagmorgen steigen sie wieder alle zusammen in den Ring, nächste Station Westhafen.

Die Trümmerklause ist also kein sauberes, gut beleuchtetes Café wie bei Hemingway, eher ein mittelsauberes, ordentlich verdüstertes Sauflokal. Aber wenn du Kellner willst, die auf Spanisch über die Einsamkeit philosophieren, dann hock dich eben in die U8 und fahr runter nach Neukölln.

9

Was soll das, ihr Spinner?

Halt mal die Tür auf, Serd!

Ivo. Der hat noch mal seine ganz eigene Variante für Serdars Namen drauf. Kürzer. Mit knalligem Ende. Klingt ein bisschen wie: Serdsch. Hrvatska-Style.

Ivo drückt sich an Serdar vorbei in den Späti, drei große Pakete in Plastikhülle vor die Brust gepresst. Sieht aus wie verpackte Autoreifen.

Was ist das? Was soll das? Hier ist kein Platz dafür. Ey, Ivo!

Ivo ist schon bis ins Lager durchmarschiert.

Ivo. Eher so der sehnige Typ. Guter Fußballer, wie die meisten Jugos, klassische Prosinecki-DNA. Hat ihn bis in die A-Jugend bei den Füchsen gebracht, ein vielversprechender Außen, haben sie damals gesagt, aber die Biere haben ihm eben auch schon ziemlich früh ziemlich gut geschmeckt, und da war das mit dem Gras noch gar nicht richtig losgegangen. Und doch trägt Ivo noch den Leistungsgedanken von damals in sich, irgendwo, auch wenn du’s nicht immer gleich siehst. Ivos Tagesablauf, einigermaßen geregelt, Halbtagsstelle oben in Tegel, Security, und ansonsten schaut er mal.

Läuft ja meist irgendwas über den Weg.

Serdar kriegt von hinten einen Stoß. Er dreht sich um. Der dicke Lexi, Schweißbäche, Krebsgesicht, auch er ein Paket vor dem Bauch. Serdar geht zur Seite, und Lexi wankt in den Laden. Die Hose ist ihm beim Schleppen runtergerutscht, man sieht seine Arschritze.

Schön ist anders.

Aber was ist schon schön an diesem Montag? Serdar muss wieder an Ellas Worte denken, seit heute morgen kommen sie ihm immer wieder quer, ploppen über ihm auf oder neben ihm, wie eine hartnäckige Comic-Sprechblase. Aber jetzt ist hier noch was ganz anderes am Start.

Ivo und der dicke Lexi, denkt Serdar und geht ihnen kopfschüttelnd nach. Dreamteam.

Der dicke Lexi: eher nicht so der Leistungstyp. Die Hauptschule hat er vermasselt, aber nicht, weil er irgendwie doof wäre oder so, er ist einfach nur der faulste Mensch vom ganzen Bellermannplatz. Wobei, faul. Sagen wir: bequem. Sagen wir: Der dicke Lexi tut keinen Schritt, wenn du ihn nicht dazu zwingst. Wenn Ivo ihm nicht hin und wieder eine Schelle androht. Weshalb man den dicken Lexi selten alleine sieht und oft mit Ivo.

Ivo ist es auch gewesen, der ihn damals mit nach Tegel geschleppt hat. Werd mal erwachsen, hat Ivo zum dicken Lexi gesagt, auch schon wieder zwei, drei Jahre her jetzt. Ich hab was für dich geklärt, Gepäckband, Terminal B, sicheres Ding, 8,50 die Stunde, hat Ivo damals gesagt und gleich noch die flache Hand gehoben, weil Lexi schon wieder nur so halb begeistert geguckt hatte.

Und so ist es dann tatsächlich dazu gekommen, dass der dicke Lexi anderthalb Tage Rollkoffer und Rucksäcke und Reisetaschen vom Hänger aufs Laufband gewuchtet hat, beziehungsweise, na ja, mehr oder weniger, also eher weniger als mehr, Stichwort Raucherpause. Dabei raucht der dicke Lexi normalerweise gar nicht, jedenfalls keine Zigaretten, aber gut. Am zweiten Tag hat er sich dann ja eh krankschreiben lassen, akute Rückenschmerzen. Hat er bei allen groß als Morbus Scheuermann verkauft, fortgeschrittenes Stadium. Bei Google macht dem dicken Lexi nämlich keiner was vor. Hat selbst den Arzt beeindruckt damals, Lexis Rundrücken, und ein paar Atteste später hat dann auch Ivo nicht mehr nachgefragt. Und der dicke Lexi hat irgendwann auch wieder aufgehört, wie der Glöckner von Notre Dame rumzukrauchen.

Jetzt steht er schnaufend im Späti, und Serdar kann es immer noch nicht fassen. Mächtig Krach im Lagerraum. Klingt, als ob Ivo da hinten massenweise Getränkekisten umstapelt. Serdar sprintet durch den Laden.

Alter, WAS machst du hier?

Hm?, macht Ivo, so als würde er einfach nur ein bisschen Leergut einsortieren.

Was machst du mit den Kisten?, sagt Serdar lauter.

Platz schaffen. Müssen die Dinger hier zwischenlagern.

Zwischenlagern? Wir sind kein Autoteile-Versand. Schaff die Reifen hier raus.

Sind keine Reifen. Sind nur Felgen.

Scheißegal. Raus damit!

Ist ja nicht für lang, sagt Ivo und wischt sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Ansonsten ist er die Ruhe selbst.

Ab der Kreuzung hab ich drei geschleppt, sagt Ivo und lacht. Weil Schwabbel nicht mehr konnte.

Serdar dreht sich um. Der dicke Lexi steht mit nassem T-Shirt vor dem offenen Kühlschrank und hat sich eine Flasche Sprite aufgemacht. Immerhin hat er sich die Hose ein bisschen hochgezogen.

Was für Felgen sind das überhaupt?, fragt Serdar ihn. Von euch hat doch keiner eine Karre.

Der dicke Lexi hebt die Schultern und rülpst.

Sind nicht unsere, sagt Ivo von hinter den Bierkisten. Also, jetzt schon. Aber halt nur kurz.

Ivo, mach mal Sinn, bitte, sagt Serdar, der jetzt am liebsten irgendjemanden würgen würde. Wo sind die Dinger her?

Devils, schnauft Ivo.

Die sind von den DEVILS?

Serdars Stimme überschlägt sich.

Ja, na ja, sagt Ivo. Aus dem Hof von denen.

Serdar macht einen Schritt und zieht Ivo an der Schulter.

Okay, Moment, Stopp. Kurze Pause. Ihr habt die DEVILS beklaut?

Ivo guckt den schreienden Serdar an. Klauen ist nur, sagt er im Lehrerton, wenn es einem anderen schadet. Dann fängt er an, die verpackten Felgen in die Nische zu stapeln, die er zwischen den Bierkisten freigeräumt hat.

Bist du jetzt der Robin Hood vom Wedding, oder was?

Ivo stapelt weiter.

Serd, meinst du etwa, die Devils haben die Teile bezahlt?

Ihr habt die Devils beklaut, sagt Serdar, mehr zu sich selbst als zu irgendwem sonst. Ihr habt echt die Rolling Devils beklaut. Seid ihr noch ganz DICHT?

Haben die gar nicht mitgekriegt. Haben noch gepennt. Der Rocker an sich pennt gern lang, weißt du. Hat echt keiner mitgekriegt.

Hat keiner MITGEKRIEGT? Ihr schleppt am helllichten Tag vier riesige Fantasiefelgen quer durchs Viertel, und das soll keiner mitgekriegt haben?

Serdar ist voll auf Touren jetzt, was du schon daran merkst, dass er beim MIT von MITGEKRIEGT die flache Hand auf die Seite einer Mate-Kiste haut.

Beruhig dich. Ist doch kaum was los gewesen draußen. Und die paar Penner werden uns schon nicht verpfeifen. Jetzt einen Tag hier Zwischenlager, vielleicht zwei Tage, maximal. Bis wir einen Abnehmer haben.

Ivo klingt wie der Hehlerkönig von Berlin.

Serdar guckt ihn an. Verdammter Ivo. Hat schon wieder das Glänzen in den Augen, das von früher, das er immer hatte, bevor er beim zwei gegen zwei im Käfig an dir vorbeigezogen ist. Und keine Chance, ihn zu stoppen.

Ich dachte immer, versucht es Serdar noch ein letztes Mal, ich dachte immer, Rocker fahren Motorrad.

Ja, klar, sagt Ivo und drückt die vier Felgenpakete mit dem Bein und dem angelegten Arm bis dicht hinten an die Wand. Aber die brauchen natürlich auch ein paar Limos, mit Kofferraum und so. Wie sollen die sonst ihre Wummen transportieren?

Ach so, ja, klar.

Serdar guckt an die Decke. Keine weiteren Fragen. Ist jetzt eh zu spät. Alles zu spät. Oder sollen sie die Teile noch ein zweites Mal durch den halben Wedding schleppen, sie den Rockern drüben vor ihr Hauptquartier stapeln, vielleicht noch ein Post-it dran, sorry, war nicht so gemeint, bleiben wir Freunde, ja?

Nein. Serdar muss jetzt hoffen, dass die Dinge wieder gut werden, irgendwie. Serdars Hoffnung ist die gleiche Hoffnung wie immer: Ivo wird einen Plan haben. Ivo hat immer einen Plan, zumindest gibt er dir das Gefühl, auch wenn er eigentlich gar nichts hat außer seiner Frechheit. Das war schon als Fußballer sein Trick. Als Gegner hast du immer geglaubt, dass er weiß, was er macht, du hast geglaubt, jetzt muss der vierfache Übersteiger kommen, irgendwas Irres, nie Dagewesenes, und dann zieht der Typ einfach nach rechts, zack, Ball durch die Beine und ab die Post. Schneller war sowieso keiner.

Serdar zuckt mit den Schultern, lässt Ivo weiter Kisten stapeln und geht vor in den Verkaufsraum. Der dicke Lexi hockt hinter der Theke am Rechner und hat sein Facebook offen.

Serdar geht neben ihm in die Hocke und hält sich mit beiden Händen an der Theke fest.

Wer bitte hat euch auf diesen Irrsinn gebracht?

Der dicke Lexi deutet mit dem Daumen nach hinten.

Ivo hat anscheinend einen Abnehmer.

Und du musstest unbedingt mitmachen.

Hatte gerade nichts Besseres zu tun, ehrlich gesagt. Und bisschen Extrakohle ist immer okay.

Der dicke Lexi ist nicht aus der Ruhe zu bringen. Ist eine Lebenshaltung bei dem.

Was denn, sagt Serdar mit bösem Unterton, ist der Schwarzmarkt eingebrochen?

Der dicke Lexi glotzt unbeirrt auf den Bildschirm. Als hätte er gar nicht hingehört. Seit seinem Gastspiel am Flughafen hartzt er wieder, Kohle für umme, ein Deal wie geschaffen für ihn, geht ja alles automatisch ein, die Miete für seine Einzimmer-Buchte, 252 Euro warm, plus 391 Euro für alles andere. Das ist das, wovon der dicke Lexi lebt.

Beziehungsweise, na ja.

Aber das mit den Schwangeren-Pornos müssen die vom Amt ja nicht unbedingt wissen.

10

Tschüss, schönen Tag noch. Hallo.

Die gleichen Worte, aber der Sound ist ein anderer. Ein bisschen lauter, vor allem das Tschüss und der Tag, ein bisschen zu viel Betonung drin, wie wenn der DJ plötzlich den Regler hochreißt. Klingt vielleicht ein bisschen komisch, gut, aber lieber so, als dass dir mitten im Satz die Stimme wegbricht.

Jessi hofft, dass er es nicht merkt.

Den ersten Blick hat er wie immer schon durch die Glastür rübergeworfen, ein schneller Blick über die linke Schulter, schön unauffällig, und Jessi hat wie immer zurückgeguckt, weil sie ihn natürlich schon hat kommen sehen und seinem Gang gefolgt ist, halb durch die Wimpern, und dann hat er schnell wieder weggeguckt und so getan, als ob gar nichts wäre. Und sie hat den Zwanziger genommen, den der Kunde ihr schon ein paar Sekunden hingehalten hatte, und bitte, acht dreizehn zurück, danke, Ihnen auch.

Ein Ritual, kann man es so nennen?

Musst du den anderen nicht gut kennen, damit sich sowas entwickeln kann? Musst du nicht wenigstens mal drüber gesprochen haben? Keine Ahnung.

Jessi sitzt an der Drei, wartet, dass der nächste Kunde seinen PIN-Code eingibt, und fährt sich mit der Hand hinters linke Ohr, unwillkürlich, obwohl die Haare natürlich noch gut sitzen, drei Klammern auf jeder Seite, da passiert nichts.

Gleich ist er dran.

Sie guckt rüber zum Ende des Laufbands, wo das Bitte-nicht-mehr-anstellen-Schild hinter seinen Sachen herfährt, immer ein kleines Stückchen weiter, mit jedem Kunden ein paar Zentimeter in ihre Richtung.

Klar, normalerweise hätte sie die Kasse nicht unbedingt zumachen müssen, aber die Müllern ist eh aus der Pause zurück, es ist gerade einigermaßen ruhig, und manchmal, findet Jessi, musst du dem Schicksal eben ein bisschen auf die Sprünge helfen.

Noch zwei vor ihm. Als Jessi eine Küchenrolle über den Scanner zieht, guckt sie schnell mal rüber. Er guckt auch, hat er wohl schon eine Weile, und jetzt kommt ein bisschen Panik in seine Augen, das sieht Jessi, und er guckt blitzschnell runter auf seine Schuhe, zieht sein Handy aus der Hosentasche und fängt an, wild darauf herumzudrücken.

Jessi muss lachen, sie lacht leise, aber sie lacht, und der nächste Kunde, der denkt, dass sie sich irgendwie über seine Anwesenheit freut, lacht auch.