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Perfekt war gestern ...
Mia hat das perfekte Haus in Berlin Dahlem, den perfekten Mann und überhaupt das perfekte Leben. Bis sie eines Tages ihren Göttergatten beim Fremdgehen erwischt. Plötzlich findet sie sich in einer WG mit dem exzentrischen Künstler Fritz und seinen zwei Katzen wieder. Mia verabschiedet sich ein für alle Mal von den allmorgendlichen Smoothies und dem strengen Sportprogramm. Denn sie erkennt: Glücklich sein geht anders ...
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Seitenzahl: 418
Das Buch
Nach zwanzig Jahren Ehe steht Mia vor den Scherben ihres gewohnten Luxuslebens. Ohne das Geld ihres Ex-Mannes ist plötzlich Schluss mit Designerklamotten, Champagner und ihren Bussi-Bussi-Freundinnen. Vom Nobelstadtteil Dahlem katapultiert es sie mit Mitte Vierzig ins hippe Kreuzberg.
Ihr chaotischer Mitbewohner Fritz, seine beiden Katzen Mona und Lisa und die vielen neuen Bekanntschaften entpuppen sich jedoch schon bald als große Chance. Vielleicht braucht es den ganzen Luxus und die ständige Selbstoptimierung gar nicht, um glücklich zu sein, erkennt Mia und folgt endlich ihrer Leidenschaft für selbst genähte Mode. Von Männern hat sie die Nase voll – doch dann bringt der attraktive Tom ihr neues Leben gehörig durcheinander.
Die Autorin
bibo Loebnau ist gelernte Journalistin, verheiratet und lebt abwechselnd in Berlin und in einem kleinen Haus am See in der Mark Brandenburg. Dort, mit Blick in die Natur, entstehen die meisten ihrer Bücher. Vor ihrer schriftstellerischen Karriere arbeitete sie als Journalistin für verschiedene Zeitungen und betreute als PR-Redakteurin zahlreiche TV-Shows. bibo Loebnau engagiert sich in der Autorenvereinigung DELIA. Mehr über die Autorin auf www.bibo-loebnau.de.
bibo Loebnau
Gut in Schuss, mit leichten Macken
Roman
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 10/2019
Copyright © 2019 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany
Redaktion: Steffi Korda, Hamburg
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München
unter Verwendung von Shutterstock/© Kovacs Tamas (Frau und Accessoires); Shutterstock/© miniwide (Katzen); Shutterstock/© Tomas Stehlik (Smoothie Maker)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-23960-2V001
www.heyne.de
Für all die fantastischen FM1-Frauen, die mein Leben tagtäglich bereichern und es bunt, spannend und fröhlich machen!
Wer hätte gedacht, was aus dieser Gruppe alles entstehen würde …?!
It’s all in the RULES:-D
»Verschwinde, du Mistkerl! Ich will dich nie wieder sehen!« Mia brüllte aus Leibeskräften quer durch das große Haus, damit er sie vorn in der Eingangshalle auch garantiert hörte.
Als gleich darauf die Haustür zuknallte, stand sie mit offenem Mund in der Küche. Er hatte nicht mal geantwortet … Mechanisch drückte ihre Hand in kurzen Abständen weiter auf den Smoothie-Maker. Das monotone Brummen der Maschine hatte etwas Beruhigendes. Doch ihre Gedanken rasten. War es das? Endgültig? Aus und vorbei? Zumindest war er weg. Und sie selbst hatte ihn rausgeschmissen. Sie zitterte immer noch am ganzen Körper, so sehr hatte sie sich aufgeregt.
Während sie versuchte, zu verarbeiten, was gerade passiert war, hob sie mit geübtem Griff den Deckel vom Mixer und goss wie ferngesteuert das giftgrüne Gebräu ins Glas.
Erst als sie einen kräftigen Schluck nahm und sich die breiige Mischung aus flüssigem Feldsalat, Grünkohl, Spinat, Petersilie und Apfel auf ihrer Zunge ausbreitete, war sie plötzlich wieder ganz im Hier und Jetzt. »Bäh!«, schnaubte sie angewidert, kippte den Rest des Smoothies in die blank polierte Spüle und öffnete den glänzenden Wasserhahn. Gedankenverloren beobachtete sie, wie das Wasser in kleinen Kreiselbewegungen das Grün im Ausguss verschwinden ließ.
Ohne genau hinzusehen, griff sie nach der Karaffe mit stillem Mineralwasser und schenkte sich ein Glas ein. Während sie den bitteren Geschmack hinunterspülte, betrachtete sie die zartrosa- und lilafarbenen Halbedelsteine, die auf dem Boden der gläsernen Karaffe lagen. »Amethyst, Rosenquarz und Bergkristall«, murmelte sie wie eine Beschwörungsformel vor sich hin, während die beängstigenden Gedanken über die Konsequenzen dessen, was gerade passiert war, weiter durch ihren Kopf wirbelten. Sie versuchte krampfhaft, sich auf die Realität, auf das, was hier, direkt vor ihren Augen war, zu konzentrieren. »Amethyst, Rosenquarz und Bergkristall …«, wiederholte sie ratlos.
Wozu waren die noch mal gut? Irgendwas mit Energie oder Beruhigung, hatte Caroline von Werten ihr erklärt, aber so richtig hatte sie es nicht verstanden. Die esoterische Ader fehlte Mia völlig. Doch solche Steine legten mittlerweile praktisch sämtliche Frauen aus ihrer Nachbarschaft in ihr stilles Mineralwasser. Also hatte Mia es irgendwann ebenfalls getan. Zumindest sah es hübsch aus und sollte auch irgendwie gesund sein.
Genau wie der tägliche Smoothie. Am besten anstelle des Frühstücks. Damit war man bereit für das morgendliche Fitnessprogramm, meinte Saskia Abendrodt, die ihren Freundinnen so lange zugesetzt hatte, bis sich alle einen schicken Smoothie-Maker angeschafft hatten. Auch Mia quälte sich seit ein paar Monaten jeden Morgen tapfer das eklige Gebräu rein.
Aber damit war jetzt Schluss, beschloss sie, und fühlte sich im gleichen Moment sehr mutig. Auch mit der Joggingrunde um zehn, zu der sich die fünf Frauen täglich im Thielpark in Dahlem trafen, sobald Männer und Kinder aus dem Haus waren und ihre Putzperlen die großen, gepflegten Villen auf Hochglanz polierten.
Für wen sollte sie, Mia Severin, schließlich zukünftig ihre superschlanke, durchtrainierte Figur behalten? Der Mann, für den sie sich bisher geschunden hatte, um an seiner Seite in den edlen Designerkleidern eine perfekte Figur zu machen, war weg.
Mia wurde schwindelig. Gerade noch hatte sie das perfekte Leben gehabt. Und nun stand sie hier in ihrer perfekt gestylten Küche in ihrer perfekt gestylten modernen Villa am Bachstelzenweg und war eine betrogene Ehefrau. Wie armselig sich das anfühlte! Sie holte tief Luft. Was sollte sie nun als Erstes tun?
Chris! Sie musste ihren Sohn anrufen und ihm sagen, dass er ab sofort ein traumatisiertes Scheidungskind sein würde. Obwohl ihm das mit seinen neunzehn Jahren vermutlich ziemlich egal war. Er war froh gewesen, vor einem halben Jahr endlich zum Studieren nach Freiburg ziehen zu können. Möglichst weit weg von seinen nervigen Eltern, die nur noch nebeneinanderher ihr jeweils eigenes Leben lebten. Inzwischen beschränkte sich der Kontakt zu ihrem erwachsenen Sohn auf ein paar belanglose Telefonate und Nachrichten per WhatsApp.
Das war nicht viel, überlegte Mia frustriert, und dachte an all die Jahre, in denen die Organisation der Fahrten zu den Verabredungen mit seinen Freunden, zu Nachhilfe, Fußballtraining, Reiterhof und Tennisklub der Hauptinhalt ihres Lebens gewesen war. Doch der Rund-um-die-Uhr-Service war endgültig Geschichte. Das hatte Chris ihr beim Auszug mehr als deutlich gesagt. Er wollte anders leben. »So wie ihr will ich auf keinen Fall mal enden!«, hatte er seinen Eltern zum Abschied entgegengeschleudert.
Mia seufzte. Irgendwie konnte sie Chris ja verstehen. Von Familienleben war schon lange vor seinem Auszug kaum noch etwas zu spüren gewesen. Seit sie sich nicht mehr ständig um ihren Sohn kümmern musste, war seine Mutter permanent mit ihrer Selbstoptimierung und der ihres schicken Eigenheims beschäftigt gewesen. Sein Vater war dank Job und Golf selten zu gemeinsamen Mahlzeiten anwesend, und so ging auch Chris lieber einen Döner in Kreuzberg essen, als sich von Mia bekochen und bemuttern zu lassen.
Okay, dachte sie. Wenn nicht Chris, wem kann ich denn sonst erzählen, was gerade passiert ist?
Automatisch griff sie nach dem Smartphone, ihrer üblichen Verbindung zu der Welt da draußen. Sie öffnete die WhatsApp-Gruppe, in der sie und ihre Frauen-Clique sich ständig austauschten, und tippte wild drauflos: Marcus ist weg. Wir haben uns getrennt. Bin völlig durcheinander und deshalb heute nicht mit im Thielpark. Morgen auch nicht. Mia
Sie las noch mal, was sie geschrieben hatte, und schüttelte den Kopf. Nein, so ging das nicht. Sie sah die schockierten Gesichter von Saskia, Caroline, Cynthia, Babette und Eva-Marie förmlich vor sich. Sie würden sich das Maul zerreißen, wenn sie sich in knapp einer halben Stunde zum Joggen träfen. Also löschte sie den Text und schrieb stattdessen: Sorry, ihr Süßen, kann leider heute nicht dabei sein. Stress, Stress, Stress ;-) Ganz viel Spaß, Mia
Ja, das war besser. Vielleicht würden sie sich kurz fragen, welchen Stress sie meinte, denn mit dem, was andere Menschen so tagtäglich am Hals hatten – Job, Haushalt, Erledigungen –, mussten sich die wohlhabenden Dahlemer Frauen nicht herumschlagen. Vermutlich würden sie denken, dass Mia sich schlicht vor dem morgendlichen Fitnessprogramm drückte. Und mindestens eine von ihnen würde garantiert eine Bemerkung zu den Folgen, die das hätte, machen.
Genau so tickten nämlich ihre Freundinnen. Äußerlichkeiten waren ihnen enorm wichtig. Der schöne Schein musste um jeden Preis gewahrt werden. Nie hätte eine von ihnen offen über echte Probleme gesprochen. Das passte nicht in ihre perfekte Umgebung. Alles, was ihre kleine heile Welt hätte erschüttern können, irgendwelche Sorgen, wurden einfach mit dem Besuch bei der Kosmetikerin, einer frischen Botoxspritze oder einem neuen Gucci-Tuch gelöst. Oder besser: kaschiert. Ein bisschen Fitness, und schon war das gute Gefühl wiederhergestellt. An die Methode hatte auch Mia sich in den letzten Jahren gehalten.
Doch in diesem Moment kam ihr das reichlich absurd vor. Und sie fühlte sich plötzlich sehr allein. Wozu hatte man Freundinnen, wenn man denen nicht mal ehrlich erzählen konnte, wie es einem ging? Nämlich schlecht! Sauschlecht! Mia spürte, wie ihre Augen anfingen zu brennen und ein dicker Kloß ihren Hals verstopfte. Sie starrte auf das Handy in der Hand und seufzte.
Wie erwartet, dauerte es nicht lange, bis es schnell nacheinander ein paarmal »Ping« machte und eine Nachricht nach der anderen aufploppte.
Schade, Süße! Miss you, Cynthia
Mach dich nicht verrückt, Caro
Okay, Babette
Werden dich vermissen, Eva-Marie
Wenn du morgen auf die Waage steigst, wirst du es bereuen ;-) Saskia
Mia verdrehte die Augen. Typisch Saskia! Automatisch tasteten ihre Hände nach den winzigen Speckröllchen, die sich über den engen Jeans an ihren Hüften abzeichneten. Aber überflüssige Kilos waren derzeit ihr geringstes Problem. Demnächst würde ihr ganzes Leben aus der Form geraten. Vielleicht war es gar nicht schlecht, ein paar Fettreserven für magere Zeiten zu haben, dachte sie zynisch. Andererseits würden vermutlich zukünftig Dosen-Ravioli und Tiefkühlpizza statt kalorienarmer Bio-Produkte ihren Ernährungsplan bestimmen, nachdem sie ihren Ernährer gerade achtkantig aus dem Haus geschmissen hatte. War sie zu voreilig gewesen? Mia stöhnte frustriert auf.
Das rhythmische Vibrieren des Smartphones in ihrer Hand riss sie aus ihren trüben Gedanken. Auf dem Display lächelte ihr Betty entgegen. Ihre alte Freundin aus Hamburg, die auch seit einigen Jahren in Berlin lebte und als Redakteurin beim regionalen Fernsehsender rbb arbeitete, hatte sie seit Ewigkeiten nicht gesprochen. Zu unterschiedlich war ihr alltägliches Leben bisher verlaufen. Und ausgerechnet jetzt rief sie an. Es erschien Mia wie ein Zeichen.
»Hi, Betty!«, meldete sie sich erfreut.
»Na, du scheinst ja schon auf meinen Anruf gewartet zu haben«, antwortete ihre Freundin lachend. »Oder ist dein Handy inzwischen mit deiner Hand verwachsen?«
»Nein, nein. Ich hab nur gerade ein paar WhatsApp-Nachrichten gelesen.«
»Scheinbar haben die meisten Leute vergessen, dass man mit einem Smartphone auch telefonieren kann.«
Mia lachte auf. »Erzähl! Was gibt’s?«
»Ich dachte, es wird mal wieder Zeit, dass wir zwei Hübschen um die Häuser ziehen. Was meinst du?«
»Ich weiß nicht …«, antwortete Mia zögernd.
»Was spricht dagegen? Dein Sohn ist endlich aus dem Haus, dein Mann, der alte Langweiler, hat eh immer irgendwelche Abendtermine, und du hockst ständig nur in deiner Luxusbude im Grünen rum. Also los! Raff dich auf! Schöneberg is calling!«
»Na ja … Vielleicht gar keine schlechte Idee … Zumal der alte Langweiler in nächster Zeit sowieso nicht mehr hier auftauchen wird …«
»Längere Geschäftsreise, oder was?«
»Nee … Wir haben uns gerade getrennt …«, murmelte Mia, ohne lange zu überlegen.
»Was?«, rief Betty überrascht aus. »Oh Gott! Was ist passiert?«
Mia atmete tief durch. Sollte sie tatsächlich erzählen, was los war? Sie fühlte sich wie eine Verliererin. Ihr Mann hatte sie betrogen, sich eine andere gesucht. Wie viel Schuld würde man ihr am Scheitern ihrer Ehe geben? Ihre Frauen-Clique würde das sicher genüsslich durchhecheln. Aber Betty war anders. Sie kannten sich seit der Jugend, aus der Zeit vor Marcus. Mit ihr hatte Mia damals alle Hochs und Tiefs ihres jungen Lebens geteilt. Ja, ihr konnte sie davon erzählen.
Sie holte Luft und stieß wütend aus: »Er hat ’ne Neue …«
»Nein! Das darf ja wohl nicht wahr sein!« Betty klang ehrlich schockiert.
»Doch! Ich hab ihn vorhin rausgeschmissen …«
»Bravo! Der Mistkerl!«, stimmte ihre Freundin spontan zu, hielt dann aber kurz inne und fragte besorgt: »Und was machst du jetzt?«
»Keine Ahnung. Ist ja gerade erst passiert. Ich hab mir noch keine Gedanken gemacht, wie es weitergehen soll. Ich bin völlig durcheinander«, seufzte Mia. »Aber ich muss auf jeden Fall hier weg!«
»Okay! Ich komme um sieben aus der Redaktion raus. Wollen wir uns in der Roten Beete treffen?«, schlug Betty vor.
»Das ist die Kneipe bei dir um die Ecke, oder? Um acht?«
»Perfekt! Und: Kopf hoch! Das wird schon!«
»Hoffentlich …«
»Der Typ ist so ein Mistkerl!«, stieß Betty wütend aus, zündete sich beiläufig eine Zigarette an und blies den Rauch mit einem heftigen Stoß in die Luft. Sie saß mit Mia in der schummrigen, gemütlichen Kneipe in Schöneberg, auf alten, bequemen Sesseln aus den Sechzigerjahren, vor einem niedrigen Holztisch, und nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Bierflasche. »Und da dachte ich immer, du hast alles richtig gemacht: den perfekten Mann geheiratet, ein Kind großgezogen, und du führst ein sorgenfreies Leben in Luxus. Im Gegensatz zu mir: immer noch kein Kerl in Sicht, eine abgerockte Drei-Zimmer-Altbauwohnung und ein schlecht bezahlter, unsicherer Job beim Fernsehen …« Betty schüttelte resigniert den Kopf. »Kann man sich denn auf gar nichts mehr verlassen?«
»Tja, der schöne Schein trügt oft …« Mia zuckte mit den Schultern. »Hauptsache, die Fassade ist makellos. Ist in meinen Kreisen so üblich.«
»Deine Kreise?«, hakte Betty skeptisch nach.
»Na, unsere Dahlemer Clique. Lauter Pärchen. Alle perfekt – zumindest nach außen. Die werden es nicht fassen können, wenn sie erfahren, was bei Marcus und mir passiert ist. Eine betrogene Ehefrau ist so ziemlich das Letzte, was eine von uns sein will.« Mia hörte selbst, wie frustriert sie klang. »Ich muss auf jeden Fall da raus …«, murmelte sie.
»Aus der Villa?«
»Aus dieser ganzen falschen Blase und dem viel zu großen Haus. Selbst wenn er zu mir zurückkommt, können wir doch nicht einfach weitermachen, als wenn nichts passiert wäre. Er hat mich schließlich betrogen, dieses A…, äh, also dieser Mistkerl!« Beschämt über ihren heftigen Ausbruch sah Mia zu Boden.
»Nenn es ruhig beim Namen!«, forderte Betty sie auf. »Dein Mann ist ein Arschloch!«
»Na, ja … Das klingt so – drastisch …« Mia lächelte ihre Freundin entschuldigend an.
»Ist ja auch ziemlich drastisch, was dir passiert ist«, meinte Betty. »Wie lange geht das denn schon mit der anderen?«
»Mindestens ein paar Monate. Die Hotelrechnung aus Hamburg, die ich gestern Abend zufällig in seinen Steuerunterlagen gefunden habe, ist von Anfang Februar. Und jetzt haben wir Ende Mai«, stieß sie aus und trank einen Schluck Bier.
Betty sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Und du bist sicher, dass das keine Geschäftsreise war?«
»Offiziell natürlich, aber er hat eine Suite für Marcus und Svenja Severin im teuren Louis C. Jacob an der Elbe gemietet! Und wie du weißt, heiße ich nicht Svenja. Und in dem Hotel war ich im Februar auch nicht.« Mia schnaubte.
»Oha! Und die Rechnung will er von der Steuer absetzen? Der hat ja Nerven! Wie hat er denn reagiert, als du ihn damit konfrontiert hast?«
»Er meinte, dass es ihm leidtue, dass ich es so erfahren würde, aber ja, er hätte sich verliebt. Eben in diese Svenja – die übrigens wesentlich jünger ist als ich.« Mia ballte wütend die Fäuste.
Betty zog ein letztes Mal an ihrer Kippe und drückte sie rigoros im Aschenbecher aus. »Echt nicht zu fassen!«
»Tja, nachdem wir uns die halbe Nacht gestritten haben, hab ich ihn heute Morgen angebrüllt, dass er verschwinden soll. Und er ist gegangen. Einfach so …« Mias Stimme zitterte bei der Erinnerung daran.
Ihre Freundin schüttelte ungläubig den Kopf, lehnte sich mit ihrem Bier zurück und schwieg nachdenklich. Auch Mia grübelte vor sich hin, was eine endgültige Trennung von Marcus für sie bedeuten würde. Vermutlich bliebe ihr nur das, was sie damals in die Ehe eingebracht hatte, und das war nicht besonders viel gewesen. Allerdings immer noch mehr als er. Schließlich war er bei ihrem Kennenlernen noch Student gewesen, den sie dank ihres Jobs als Journalistin in Hamburg mit durchgeschleppt hatte. Dann hatte er seine Beraterfirma gegründet, die schnell gewachsen war. Als sie deswegen vor knapp zwanzig Jahren nach Berlin gezogen waren, hatte sie ihren Job aufgegeben. Er hatte schon bald ein Vermögen verdient und sie genug damit zu tun, sich um das große Haus in Dahlem und um Chris zu kümmern, ihren gemeinsamen Sohn.
Betty unterbrach Mias trübe Gedanken. »Willst du dich wirklich endgültig von ihm trennen?«
»Er hat mich betrogen. Das war für mich schon immer ein absolutes No-Go!«
»Kann ich gut verstehen, aber wie geht’s jetzt weiter? Wie lange kannst du da wohnen bleiben?«
»Keine Ahnung«, sagte Mia leise. »Das Haus gehört ja ihm – oder seiner Firma. So genau weiß ich das nicht. Wir haben einen Ehevertrag mit Gütertrennung. Außer meiner Kleidung und ein paar Möbeln gehört mir da praktisch nichts, weil alles er bezahlt hat.«
»Vielleicht findet ihr ja doch noch eine einvernehmliche Lösung?«, fragte Betty vorsichtig.
»Schwer vorstellbar …« Mia starrte mutlos vor sich hin.
»Aber was willst du denn dann machen?«
»Na, arbeiten. Auf eigenen Beinen stehen und mich unabhängig von Marcus machen.« Es klang holprig, als sie es aussprach.
Obwohl ihr Kopf sagte, dass es der einzige Weg sein würde, machten ihr die Konsequenzen Angst.
Ihre Freundin verstand, was in ihr vorging. »Klingt gut«, meinte sie aufmunternd. »Du warst schließlich mal eine höchst erfolgreiche Journalistin.«
»Tja, vor zwanzig Jahren …« Mia zuckte resigniert mit den Schultern. »Inzwischen hat sich die Welt weitergedreht. Da kriege ich keinen Fuß mehr in die Tür. Der Zug ist abgefahren.«
»Nun mal doch nicht alles so schwarz, Mia. Da wird sich schon was finden. Immer mit der Ruhe. Heutzutage verlaufen die wenigsten Lebenswege gradlinig.« Betty lächelte sie an. »Du musst ja nichts überstürzen. Heute Nacht schläfst du erst mal bei mir. Und morgen überlegen wir gemeinsam, wie es weitergeht. Uns fällt schon was ein.«
Betty war seit jeher eine eingefleischte Optimistin, die sich von nichts und niemandem unterkriegen ließ. Für sie war das Glas grundsätzlich halb voll. Ihre positive Lebenseinstellung tat Mia gut. Und jetzt gerade ganz besonders – vielleicht war ja doch nicht alles so katastrophal, wie sie im ersten Moment gedacht hatte?
»Oh, bitte nicht«, stöhnte Mia kläglich, als sie am nächsten Vormittag erwachte. Sie zog sich die Wolldecke über den Kopf. Das gleißende Sonnenlicht, das gnadenlos ins Wohnzimmer im fünften Stock schien, schmerzte selbst durch die geschlossenen Augenlider im Halbdunkel unter der Decke. Ihr Schädel dröhnte fürchterlich. Verdammt, warum hatte sie diesen letzten Gin-Cocktail in der Bar, in der sie schließlich gelandet waren, bloß unbedingt noch trinken müssen?
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Vorsichtig öffnete sie ein Auge, dann das andere und blinzelte in die Helligkeit. Nur langsam wurde ihr bewusst, wo sie sich befand.
Auf dem niedrigen Couchtisch vor ihr standen zwei geöffnete Bierflaschen. Ihr wurde schlecht, als ihr einfiel, dass sie die gestern Abend noch als Absacker getrunken hatten, nachdem sie die unzähligen Altbautreppen zu Bettys Wohnung erklommen hatten.
Mia überlegte, wie spät es gewesen sein mochte, als sie endlich eingeschlafen war. Bestimmt zwei Uhr morgens. Nur mit Mühe erkannte sie die winzigen Ziffern auf ihrer Cartier-Armbanduhr – fast elf … Ihr wurde klar, dass sie sonst um diese Zeit bereits unter der Dusche stand, und zwar nach der morgendlichen Joggingrunde. Doch allein der Gedanke an eine schnellere Art der Fortbewegung als das langsame Aufsetzen auf Bettys bequemem Sofa ließ ihren Schädel erneut dröhnen.
Sie rieb sich die Schläfen und stöhnte. Wann hab ich eigentlich zum letzten Mal einen derartigen Kater gehabt?, fragte sie sich. Das war schon ewig her. Andererseits hatte es Spaß gemacht, mit Betty über alte, unbeschwertere Zeiten in Hamburg zu quatschen.
Mia schleppte sich ins Bad und starrte ungläubig in den Spiegel. Ihre dunkelbraunen, ewig widerspenstigen Locken standen wirr vom Kopf ab. Die Wimperntusche hing als düsterer Schatten unter ihren braunen Augen und hatte sich in die deutlich sichtbaren Fältchen gegraben. Zusammen mit den bröckelnden Resten ihres Lippenstifts sah sie aus wie ein trauriger Clown. Schnell drehte sie den Wasserhahn auf und spritzte sich zwei Hände voll eiskalten Wassers ins Gesicht. Dann suchte sie nach Abschminklotion und machte sich daran, ihren altbekannten Anblick hinter der verschmierten Maskerade freizulegen.
Während Mia duschte, hörte sie ihre Freundin in der Küche werkeln. Irgendetwas fiel mit lautem Knall auf den Holzfußboden, gleich darauf fluchte Betty ungehalten. Als sie sich abtrocknete und anzog, erschnupperte Mia den tröstlichen Duft frisch gebrühten Kaffees, der bis ins Bad zog.
»Moin!«, rief sie betont locker und schützte ihre schmerzenden Augen mit der flachen Hand vor der Helligkeit, die im Esszimmer, das gleichzeitig Bettys Arbeitszimmer war, herrschte. Auf dem langen Holztisch aus roh zusammengezimmerten, lackierten Gerüstbohlen lagen auf der einen Seite Stapel mit achtlos zusammengeschobenen Papieren, während sich am anderen Ende Marmeladen, Käse, Butter, ein Brotkorb mit Knäckebrot und frisch geröstetem Toast sowie eine Schale voll Obst türmten.
Dahinter hockte Betty. Ihren Kopf hatte sie in den Händen aufgestützt. »Schrei doch bitte nicht so«, grummelte sie, sah Mia flehend an und stöhnte: »Mein Schädel droht zu platzen.«
»Das beruhigt mich«, seufzte Mia erleichtert.
Ihre Freundin sah sie fassungslos an. »Ein bisschen mehr Mitgefühl, bitte!«
»Sorry, ich meinte nur, dass ich anscheinend nicht die Einzige bin, der der gestrige Abend noch in den Knochen steckt.«
»Das kannst du laut sagen!« Betty hielt inne und korrigierte: »Aber bitte nur ganz leise …« Sie grinste Mia schief an. »Meine Güte, so fertig war ich echt schon lange nicht mehr. Ich brauche jetzt dringend eine ordentliche Dröhnung Koffein.« Sie schenkte ein.
Mia setzte sich ihr gegenüber, nahm sich etwas von der aufgeschäumten Milch und genoss mit geschlossenen Augen den ersten Schluck Kaffee. »Oh, das tut gut …«
Die beiden Frauen schwiegen eine Weile, nippten an ihren dampfenden Bechern und hingen ihren Gedanken nach. Schließlich sagte Mia: »Das meiste von gestern Abend liegt völlig im Nebel. Aber ich bin mir sicher, dass wir irgendeinen todsicheren Plan detailliert ausgearbeitet hatten, wie ich mein weiteres Leben jetzt gestalten soll. Ich weiß bloß nicht mehr, welchen …« Sie zuckte resigniert mit den Schultern und sah Betty fragend an.
Die hob ihren aufgestützten Schädel mit schmerzverzerrtem Gesicht vorsichtig an und reckte sich. »Hm … Keine Ahnung …« Dann gähnte sie ausgiebig und meinte: »Du musst auf jeden Fall raus aus diesem Haus.«
»Ja, allerdings.« Mia ließ entmutigt den Kopf hängen. »Aber wie soll ich bei der angespannten Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt was finden? Mich nimmt doch keiner ohne Job.« Sie starrte in ihren Milchkaffee.
»Nun mal bitte nicht schon wieder alles schwarz. Marcus wird dich ja wohl nicht von jetzt auf gleich aus der Villa schmeißen«, widersprach Betty. »Schließlich hat der Mistkerl dich betrogen. Und ist dabei erwischt worden! Der wird hoffentlich ein richtig schlechtes Gewissen haben und sich erst mal nicht rühren.«
»Wahrscheinlich liegt er in den Armen seiner Neuen und lacht sich über mich kaputt«, jammerte Mia.
»Mia! Reiß dich zusammen! Das Leben geht weiter! Du musst nur mal aus deiner bequemen Desperate-Housewives-Blase rauskommen. Schließlich hast du früher schon allein gelebt. Hast also bewiesen, dass du es kannst. Und das kriegst du auch jetzt wieder hin. Vertrau mir! Ich kenne dich gut genug und weiß, dass du das schaffst.«
»Möglich … Es ist nur alles noch so frisch und tut weh.«
»Das verstehe ich ja, aber du darfst dich nicht in diesem Schmerz suhlen. Ablenkung ist das beste Mittel gegen Trübsinn. Komm, wir gucken mal, ob wir nicht eine Wohnung für dich finden.« Betty stand auf und holte den Laptop von ihrem Schreibtisch. Nach ein paar Klicks hatte sie gefunden, was sie suchte. »Komm mal her.« Sie rückte den Stuhl neben sich zurecht und schob die Marmeladen beiseite. Mia quälte sich hoch und hockte sich zu ihr.
»Guck mal, hier zum Beispiel: 2-Zimmer-Wohnung in Charlottenburg, Holzdielen, Einbauküche und Duschbad. Sieht doch gar nicht schlecht aus.« Betty zeigte auf die Fotos.
»Stimmt. Gar nicht übel«, musste Mia zugeben. Dann las sie laut: »39 Quadratmeter, 1 200 Euro kalt … Die spinnen ja wohl. Zwei Zimmer auf 39 Quadratmetern – da ist ja mein Schrankzimmer größer.«
»Tja, von einem begehbaren Kleiderschrank musst du dich auf jeden Fall verabschieden, aber 1 200 Euro für so eine winzige Wohnung sind echt ’ne Frechheit«, gab ihre Freundin ihr recht. Sie klickte sich weiter durch die Angebote. »Wie wär’s hiermit: 2 Zimmer, 50 Quadratmeter, 5. Stock, renovierungsbedürftig, Stuck an den Decken.«
»Klingt gut«, murmelte Mia und betrachtete die Bilder. »Fahrstuhl?«
»Bestimmt nicht. Die kostet dafür aber auch nur 850 Euro kalt.«
»Und wo?«
»Wedding.«
Mia verzog das Gesicht. »Nee, echt nicht!«
»Aber der Wedding ist im Kommen«, behauptete Betty. »Das sagen alle!«
»Ja, seit zehn Jahren … Aber da kommt nix mehr. Das ist was anderes als dieser inzwischen angesagte Mix aus Kreuzberg und nördlichem Neukölln, das sogenannte Kreuzkölln. Wobei ich auf keinen Fall nach Neukölln will.«
»Ich fürchte, du musst deine Ansprüche runterschrauben. In deinem schicken Dahlem wirst du kaum was Bezahlbares finden …«
»Da will ich ja auch gar nicht bleiben. Ich muss, glaube ich, endlich wieder mitten in der Stadt wohnen. Schöneberg wäre toll. Oder Wilmersdorf, Charlottenburg …«
»Da, wo alle hinwollen«, meinte Betty augenzwinkernd und klappte den Laptop entschlossen zu. »Das müssen wir ja auch nicht jetzt gleich klären. Erhol dich erst mal von dem Schock, und überleg dir in Ruhe deine nächsten Schritte. Noch hast du ja ein sehr ansehnliches Dach über dem Kopf.«
Es war still, als Mia die Haustür öffnete. Zu still. Nichts rührte sich in der großzügigen, hohen Eingangshalle. Ihr Schlüsselbund klirrte überlaut, als sie hinter sich abschloss. Sie zog ihre hochhackigen Schuhe aus, rieb sich die schmerzenden Füße und hängte die Lederjacke an die Garderobe. Dabei blieb ihr Blick an dem Bügel mit dem Burberry-Trenchcoat hängen.
Mia hatte seinen beigefarbenen Mantel mit dem karierten Innenfutter immer hässlich gefunden, doch Marcus hatte ihn geliebt. Es war schon sein dritter mit exakt demselben Schnitt. Männer waren so einfallslos! Wenn sie erst mal die für sie perfekte Schuh-, Hemd-, Hosen- oder eben Mantelmarke entdeckt hatten, blieben sie gewöhnlich dabei. Weder Farbe noch Schnitt durften variieren. Alles sollte immer genauso bleiben, wie sie es gewohnt waren. Fast alles …
Mia betrachtete ihre schwarzen Stiefeletten, die sie achtlos neben dem Schuhschrank abgestreift hatte. Dass ihre Siebenhundert-Euro-Schuhe von Prada waren, erkannten nur Eingeweihte. Allerdings gab es davon in ihrem Bekanntenkreis genügend. Ihre Freundinnen wären niemals in H&M oder Zara vor die Tür gegangen. Es herrschte allgemein die Überzeugung, dass Qualität sich immer auszahlte. Und obwohl die schicken Designer längst nicht alles aus Edelstoffen schneiderten, fühlten die Frauen sich in Gucci, Prada und Chanel wohl.
Mia musste zugeben, dass sie sich im Laufe der Jahre diesem Credo angepasst hatte. Sie hatte nicht die Außenseiterin sein, sondern akzeptiert werden wollen. Und dazu gehörte nun mal das passende Outfit. Das galt für Männer und Frauen in ihrem Bekanntenkreis gleichermaßen.
Marcus trug im Job ausschließlich handgenähte Budapester-Schuhe und maßgeschneiderte Anzüge. Dazu seinen geliebten Burberry-Trench, selbst im Sommer, wenigstens über dem Arm. Und nun hing dieser Mantel hier an der Garderobe, obwohl ihr Mann weg war. Hatte er ihn bloß vergessen, oder war das ein Stück seines alten Lebens, von dem er sich getrennt hatte – genau wie von ihr?
Zögernd ließ Mia ihre Hände über die Schulterklappen und den glatten Stoff streichen. Sie schnupperte am Kragen, wo sie eine schwache Spur seines Aftershaves wahrnahm. Ob er das weiterhin benutzte? Oder trug er für die neue Frau in seinem Leben auch einen neuen Duft?
Mia fragte sich, ob sie es ertragen könnte, wenn ein anderer Mann, dem sie vielleicht irgendwann näher käme, genauso riechen würde wie Marcus. Wahrscheinlich nicht. Erinnerungen waren eng mit Gerüchen verknüpft. Das konnte man nur schwer trennen. Und sobald sie dieses Aftershave roch, überkamen sie jede Menge Erinnerungen. Doch das konnte sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen! Sie riss sich los und trug ihre Einkaufstaschen in die Küche. Auf dem Rückweg von Betty hatte sie noch an dem Bio-Supermarkt in der Nähe der U-Bahn haltgemacht und sich etwas fürs Abendessen besorgt. Hähnchenfilets, Basmatireis und Kokosmilch. Sie würde eine ordentliche Prise Curry in die Soße geben. Marcus hasste Curry. Mia verspürte ein kleines Triumphgefühl, als sie ihre Einkäufe in den riesigen amerikanischen Kühlschrank räumte. Jetzt kann ich kochen und essen, was ich mag! Keine Rücksichtnahme mehr auf einen Mann, dem immer alles zu scharf gewürzt ist. Morgen kaufe ich frische Chilis, beschloss sie tatendurstig. Und mit den laschen grünen Smoothies war auch Schluss! Sie zerrte die Reste von traurig verschrumpeltem Blattspinat, Petersilie und Feldsalat aus dem Gemüsefach und entsorgte alles im Biomüll. Es war ein befriedigendes Gefühl, als sie den Deckel zuknallen ließ. Das metallische Geräusch hallte durch die Küche.
Danach herrschte wieder völlige Ruhe. Es war einfach viel zu still hier. Entschlossen zog Mia ihr Smartphone aus der Tasche, tippte auf die Sonos-App, mit der sie sämtliche Lautsprecher im Haus aktivierte, und suchte bei Spotify nach einem passenden Song für ihre gemischten Gefühle. Vielleicht was Langsames, Trauriges? Hurt von Johnny Cash würde gut passen …
Aber nein, das zog sie nur noch tiefer in die Melancholie. Sie brauchte etwas, das sie ablenkte, aufmunterte und an bessere Zeiten erinnerte. Disco! Ja, genau! Das war es, was sie jetzt hören wollte! Nach ein paar Klicks ertönte Stayin’ Alive von den Bee Gees durchs ganze Haus. Mia drehte die Lautstärke auf und sang lauthals den uralten Hit aus Saturday Night Fever mit: »Ah, ha, ha, ha, stayin’ alive, stayin’ alive! Ah, ha, ha, ha, stayin’ alive …«
Wie John Travolta in seinen besten Zeiten fegte Mia durch die Räume im Erdgeschoss. Außer Puste von ihrem wilden Tanz ließ sie sich schließlich im Wohnzimmer auf ihre alte Le-Corbusier-Chaiselongue aus schwarzem Leder fallen, die sie schon seit Hamburg hatte. Sie schloss die Augen, bis sie wieder zu Atem gekommen war. Verdammt, trotz regelmäßigem Jogging und Pilates war es um ihre Kondition nicht sonderlich gut bestellt, musste sie zugeben.
Vermutlich hatte sie einfach schon viel zu lange nicht mehr richtig getanzt. Auf den gesellschaftlichen Events, zu denen sie Marcus begleitet hatte, ging es eher gesittet zu. Außerdem konnte man sich in den opulenten Abendkleidern, die man da trug, nicht besonders gut bewegen. Aber vielleicht ist es auch schlicht das Alter, ging es Mia, die erst Mitte vierzig war, plötzlich durch den Kopf. Diesen unangenehmen Gedanken verscheuchte sie jedoch sofort wieder. Vierzig ist das neue dreißig, betete sie sich vor. Das behauptete zumindest Saskia gebetsmühlenartig, wenn ihre Mitläuferinnen im Thielpark nach einer Viertelstunde Jogging schlappmachten. Aber Saskia war schließlich auch erst Anfang dreißig. Die hatte leicht reden!
Mia öffnete die Augen. Sie sah sich in dem perfekt gestylten, blitzblanken Wohnzimmer um. Ihre Putzfrau hatte wie immer ganze Arbeit geleistet, während Mia den Tag mit einem mächtigen Kater bei Betty verbracht hatte. Schon bald würde sie wieder selber putzen müssen. Keine schöne Vorstellung bei mehr als dreihundert Quadratmetern Wohnfläche …
Mia hielt inne. Zukünftig würde es ja nicht mehr dieses viel zu große Haus sein, das auf Vordermann gebracht werden musste. Eine kleine Wohnung sollte zu schaffen sein, überlegte sie. Dort würde sowieso nur ein Bruchteil ihrer alten Möbel, die von ihr abzustauben wären, reinpassen. So hat eben auch alles sein Gutes, versuchte sie sich zu motivieren. Außerdem musste sie ab sofort nur ihren eigenen Dreck wegmachen. Und niemand würde es mitbekommen, wenn sie es nicht tat. Denn Besuch würde sie vermutlich nicht mehr so häufig bekommen.
Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ihre Dahlemer Freundinnen zu ihr nach Moabit, Neukölln, Friedrichshain oder wo es sie sonst hin verschlagen mochte kommen würden, um bei Latte macchiato oder Tea Time die neuesten Modetrends und Promi-Gerüchte durchzuhecheln. Wahrscheinlich kämen sie zumindest einmal – um mit diskret verborgenem Schaudern den gesellschaftlichen Abstieg einer Frau aus ihrer Mitte hautnah zu inspizieren.
Der Gedanke schlug Mia auf den Magen. Ob wenigstens Cynthia den Kontakt zu ihr halten würde? Die gebürtige Amerikanerin war etwas cooler als die anderen. Aber als Frau eines Botschaftsangehörigen war sie häufig mit Empfängen und ihren diversen Charity-Verpflichtungen beschäftigt.
Vielleicht bin ich zukünftig eins ihrer Hilfsprojekte, überlegte Mia mit müdem Lächeln. Dann blieb ihr Blick an dem gut bestückten Bartisch gegenüber hängen. Sie horchte in sich hinein, konnte jedoch außer einer gewissen Mattigkeit keine Auswirkungen des Katers von heute Morgen mehr entdecken. Möglicherweise könnte man schon wieder … Sie sah auf die Uhr – fast fünf. Zeit für einen Sundowner, beschloss sie und verdrängte ihre Skrupel gegen Alkohol vor Sonnenuntergang. Ein Gin Tonic konnte nicht schaden.
Entschlossen stand sie auf, nahm sich in der Küche ein Longdrinkglas aus dem Schrank, schnitt eine Gurkenscheibe ab, ließ ein paar Eiswürfel aus dem praktischen Icemaker in der Kühlschranktür ins Glas klirren und öffnete ein Fläschchen Tonic. Dann zog sie die Flasche Gin, die Betty ihr mit den Worten »Den destilliert ’ne Freundin von mir in Köln, das Richtige für einsame Stunden« zum Abschied mitgegeben hatte, aus ihrer voluminösen Handtasche.
Im Wohnzimmer mixte sie sich ihren Drink und betrachtete das ungewöhnliche Flaschendesign: Ginsanity hieß die ihr unbekannte Marke. Von dem originellen Etikett blickte ihr eine selbstbewusste, sexy Lady mit langen, grünen Haaren und einem jokerartigen Grinsen auffordernd entgegen. Sah gefährlich aus, schmeckte aber himmlisch. Sie musste Betty unbedingt nach der Bezugsquelle für diesen köstlichen Seelentröster fragen.
Mia lehnte sich zurück, nahm noch einen großen Schluck und versuchte, sich zu entspannen. Doch das wollte bei der treibenden Disco-Musik nicht recht klappen. Seufzend gab sie sich geschlagen. Sie tippte aufs Smartphone-Display, und im selben Moment umhüllte sie die traurige, altersweise Stimme von Johnny Cash – Hurt.
Die nächsten Tage schlich Mia frustriert durch ihr pompöses Haus, telefonierte mehrfach mit Betty, tauschte belanglose WhatsApp-Nachrichten mit Saskia, Cynthia und Babette aus und studierte am Computer die aktuellen Wohnungsangebote. Die Makler und Vermieter, die sie kontaktierte, machten ihr wenig Hoffnung, wenn sie hörten, dass sie derzeit keine Festanstellung hatte. Die Konkurrenz solventer Mieter war einfach zu groß.
Umso so erleichterter war sie über die Zusage für einen kurzfristigen Besichtigungstermin am nächsten Tag. Mia schmiss sich in Schale und machte sich auf zu ihrer ersten Wohnungsbesichtigung seit über zwanzig Jahren.
Sie war eine Viertelstunde zu früh und dennoch scheinbar viel zu spät: Die Schlange vor ihr stand bis raus auf die kleine Seitenstraße in der Nähe des Stuttgarter Platzes in Charlottenburg. Da die Wohnung im dritten Stock des Seitenflügels lag, konnte sie sich ungefähr ausrechnen, wie viele Leute vor ihr dran waren, bis sie auch nur einen Fuß in die angepriesenen »2 Zimmer, Küche, Bad, 45 Quadratmeter, 620 Euro kalt« würde setzen können.
Während sie wartete, studierte sie ihre Mitbewerber. Da waren ein paar offensichtlich frisch verliebte Pärchen, ein Hipster mit getrimmtem Vollbart, eng geschnittenem Anzug und lässigem Lederrucksack über der Schulter und zwei junge Frauen in kurzen Röcken, die sich auf ihren hohen Absätzen die langen Beine in den Bauch standen. Mia in ihrem adretten Kleid kam sich plötzlich sehr alt und bieder vor. Aber vielleicht war das ja auch ein Vorteil, überlegte sie. Der Besitzer, der die Wohnung annonciert hatte, würde doch sicher lieber eine seriöse Frau in den besten Jahren … Mein Gott, wie sich das anhörte! Mia musste schlucken. War sie das wirklich schon? Eine Frau in den besten Jahren? Mit Mitte vierzig? Sie sah an sich herunter. Es hatte ewig gedauert, bis sie sich für das passende Outfit entschieden hatte. Es sollte Eleganz, Seriosität und Klasse ausstrahlen.
Sie hatte sich für ein leuchtend rotes Kleid mit langen Ärmeln und einem schmalen weißen Kragen entschieden. Es war eng geschnitten, betonte dezent ihr Dekolleté und ging ihr knapp bis zum Knie – die perfekte Mischung aus sexy und seriös. Genau wie die passenden roten Ballerinas mit dem kleinen Absatz stammte es aus der aktuellen Prada-Kollektion. Und das sah man auch – zumindest, wenn man sich mit so was auskannte.
Ihre sperrige kastanienbraune Lockenmähne hatte Mia so gut wie möglich unter einem großen Strohhut mit breiter Krempe gebändigt. Das coole I-Tüpfelchen war die große, kreisrunde Sonnenbrille, die sie im letzten Herbst in Mailand gekauft hatte. Die verspiegelten Gläser verbargen ihren nervösen Gesichtsausdruck.
Obwohl es sommerlich warm war, trug sie elegante Nylonstrümpfe. Nackte Beine wirkten ordinär zum teuren Designer-Outfit, hatte Caroline ihren Dahlemer Freundinnen eingeimpft. Das fand Mia zwar übertrieben, doch für diesen Termin wollte sie auf Nummer sicher gehen. Sie hoffte, dass der Wohnungseigentümer einen Blick für Stilsicherheit und erlesene Mode hatte und sich von ihrer Aufmachung blenden ließ. Dass auf ihrem Konto zukünftig eher Ebbe herrschen würde und sie sich so schnell kein Paar Schuhe, das teurer als die Monatsmiete für diese Wohnung war, würde leisten können, merkte er hoffentlich nicht so bald.
Nach einer knappen Stunde, in der sich die Schlange durch den Hinterhof zum Eingang des Seitenflügels und von dort Stufe für Stufe bis in den dritten Stock vorgeschoben hatte, betrat Mia endlich die angepriesene Wohnung. Das rotbraune Linoleum im schmalen Flur quietschte unter ihren Ledersohlen. Sie folgte dem Strom der Menschen nach links in die winzige, fast quadratische Küche, wo über dem recht mitgenommenen Emaille-Waschbecken zwei Hängeschränkchen in blassen Pastellfarben wohl seit den Fünfzigerjahren hingen. Der Retrolook gefiel Mia, doch hier würde weder ein Tisch mit Stühlen noch eine Waschmaschine Platz finden. Aber vielleicht passte die ja ins Bad. Sie bemühte sich, positiv zu denken, und schob sich an den anderen Interessenten vorbei zurück in den Flur und eine Tür weiter ins Badezimmer.
Die Fliesen in einem scheußlichen fleischfarbenen Rosa bedeckten alle vier Wände fast bis unter die Decke. Mia fühlte sich, als hätte ein überdimensionales Tier sie verschluckt. Die Badewanne nahm den meisten Platz ein, dahinter klemmte das Klo und gegenüber war ein winziges Waschbecken, über dem ein Spiegelschränkchen aus Plastik hing.
Die Idee mit der Waschmaschine konnte sie knicken. Aber vielleicht gab es ja einen Waschkeller in diesem Haus. Und Fliesen konnte man schließlich überstreichen – in einem gebrochenen Weiß oder eleganten Grau.
Nach einem kurzen Blick in das kleine Schlafzimmer schlängelte sie sich durch bis zum Wohnzimmer. Immerhin war dieser Raum recht groß und hell. Die Scheiben der breiten Fensterfront benötigten zwar dringend eine Reinigung, doch trotzdem ließ die in den Hinterhof scheinende Sonne das Zimmer ansprechend wirken. Die großzügige Sofalandschaft aus der Villa würde hier allerdings nicht reinpassen, erkannte Mia auf einen Blick. Aber so viel Platz zum Sitzen würde sie als Single ja in Zukunft auch nicht mehr brauchen.
Sie steuerte auf einen verschwitzten Mann in zerknittertem Hemd mit knallroter Krawatte zu, der konzentriert auf ein Klemmbrett starrte. Das musste der Vermieter sein.
»Entschuldigung?«, sprach sie ihn höflich an.
Er sah auf, musterte sie von oben bis unten und fragte gelangweilt: »Ja?«
Mia bemühte sich um ein strahlendes Lächeln. »Mein Name ist Mia Severin. Sind Sie Herr Wolters?«
»Ja.«
»Freut mich.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Doch statt sie zu ergreifen, drückte er ihr nur ein Blatt Papier in die Hand und murmelte: »Ausfüllen.«
Verdutzt erwiderte Mia: »Bitte?«
»Na, den Bewerbungsbojen.« Sein breites Berlinerisch und der anzügliche Blick, den er genüsslich über ihren Busen gleiten ließ, jagten ihr einen unangenehmen Schauder über den Rücken. »Na, Sie ham ja einijet zu bieten …« Er lachte meckernd. Als sie ihn nur stumm anstarrte, weil sie so viel Dreistigkeit einfach nicht fassen konnte, fuhr er fort: »Sie seh’n ja selbst, wat hier los is. Alle woll’n diese Wohnung hab’n. Da erwarte ick schon een speziellet Jejenanjebot. Sie versteh’n …?«
»Ach ja?«, erwiderte Mia kühl.
»Mir jehört die Bude, Fräuleinchen«, erklärte er großspurig. »Ick wohne oben drüber …« Er deutete mit dem Kopf an die Decke und zwinkerte ihr zu. »Dachjeschoss.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Mia und zog gereizt die Augenbrauen zusammen. »Sie pflegen einen sehr engen Kontakt zu Ihren Mieterinnen.«
»Wenn die so ausseh’n wie Sie … Wat jloobste denn, Mädel, warum die Miete so niedrig is?«, antwortete er mit einem feisten Grinsen.
Sprachlos starrte Mia ihn an, machte ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrt und drängelte sich an den Wartenden vorbei zurück auf die Straße, wo sie stehen blieb und entrüstet durchschnaufte. Ihr stiegen Tränen der Wut in die Augen. Wut auf Marcus, der sie einfach gegen eine andere ausgetauscht hatte, aber auch Wut auf sich selbst, dass sie völlig unvorbereitet aus ihrem bisherigen Leben hinauskatapultiert worden war. Noch vor einer Woche hätte sie sich nicht vorstellen können, in eine derartige Situation zu geraten wie gerade eben. Das würde ihr auf keinen Fall wieder passieren, das schwor sie sich. Es musste einen anderen Weg geben. Sie kramte aufgebracht nach ihrem Telefon.
»Du glaubst nicht, was ich gerade erlebt habe!«, schnaubte sie genervt ins Handy, sobald sie Bettys Stimme hörte. Doch bevor sie nachlegen konnte, stellte sie fest, dass es nur die Mobilbox ihrer Freundin war, die ihr zuhörte. Frustriert beendete sie den Anruf, riss die Tür zu ihrem schwarzen SUV auf, schleuderte ärgerlich die Handtasche auf den Beifahrersitz und schwang sich in den Wagen.
Augenblicklich heulte der Motor des PS-starken Range Rover auf, als sie mit Schwung aus der Parklücke schoss. Das laute Reifenquietschen schräg hinter ihr ließ Mia zusammenschrecken und sofort auf die Bremse treten. Im Rückspiegel sah sie einen alten Ford Fiesta, in dem ein junger Mann mit Sonnenbrille drohend die Faust hochriss. Mias Herz schlug bis zum Hals, als sie die Wagentür öffnete und mit zittrigen Knien ausstieg.
Sie erkannte, dass das andere Auto nur Zentimeter neben ihrem hinteren Kotflügel zum Stehen gekommen war. Das war knapp gewesen! Bedauernd hob sie die Hände und blickte den aufgebrachten Fahrer mit den schulterlangen blonden Haaren entschuldigend an.
Der Typ konnte höchstens zwanzig sein. Er schob seine Sonnenbrille auf den Kopf, seine Augen blitzten zornig, doch schließlich schien seine Wut zu verrauchen. Er stieg ebenfalls aus.
»Tut mir echt leid«, kam Mia ihm zuvor, bevor er etwas sagen konnte. »Ich war in Gedanken gerade ganz woanders. Ich hoffe, Ihnen ist nichts passiert?«
Er musterte sie kritisch, bis ein leichtes Lächeln um seine Lippen zuckte. »Warst du nicht auch gerade bei der Wohnungsbesichtigung?«
»Äh, ja …«, antwortete sie perplex.
»Ich hab mitgekriegt, wie dieses Arschloch dich angegraben hat. Ätzender Typ«, spuckte er aus.
»Ja, widerlich«, bestätigte sie.
»Ich bin dann auch gleich abgehauen, bevor der mir ein ähnliches Angebot machen konnte.« Der junge Mann sah sie ernst an, und Mia musste grinsen.
»Eher unwahrscheinlich, aber mit so einem Ekelpaket möchte man trotzdem nicht unter einem Dach leben, was?«
»Nee, da bleib ich lieber noch ’ne Weile bei meinen Eltern wohnen.« Er räusperte sich, musterte sie kurz von oben bis unten und meinte skeptisch: »Kommt für dich aber wahrscheinlich nicht mehr infrage, was?«
»Eher nicht«, erwiderte sie schmunzelnd. »Ich muss weitersuchen. Hoffentlich hab ich beim nächsten Mal mehr Glück.«
Er blickte sie interessiert an. »Du siehst irgendwie nicht wie ’ne Zwei-Zimmer-Frau aus«, stellte er sachlich fest. »Eher nach Penthouse – in dem classy Outfit und mit der fetten Karre.« Er deutete auf den SUV.
Mia lachte auf. »So, meinst du?«
»Klar! Ganz oben! Da gehört so ’ne Klassefrau wie du hin!« Er betrachtete sie mit einem leicht bewundernden Ausdruck in seinen strahlend blauen Augen.
»Danke, aber der Schein trügt manchmal.« Mia sah zweifelnd an sich herunter. »Das Outfit stammt aus meinem früheren Leben. Ab jetzt bin ich eine Zwei-Zimmer-Frau.« Zum ersten Mal gestand sie sich wirklich ein, dass ihre Zukunft ganz und gar nicht rosig aussah. Daran konnte auch das unglaubwürdige Kompliment dieses Bürschchens nichts ändern. Sie zuckte mutlos mit den Schultern und murmelte: »Eine Zwei-Zimmer-Frau, die im Übrigen deine Mutter sein könnte …«
Er grinste amüsiert und zwinkerte ihr zu. »Du kennst meine Mutter nicht.« Sie zog die Stirn in Falten, und er fügte eilig hinzu: »Sollen wir hier noch länger die Straße blockieren, oder gehst du ’ne Latte mit mir trinken?« Er deutete ein paar Meter hinter sich. »Meine Parklücke ist noch frei, und da drüben ist ein nettes Café.« Erwartungsvoll sah er sie an.
»Äh, wie …?« Mia schüttelte perplex den Kopf, in dem die Gedanken durcheinanderwirbelten. Was wollte dieser junge Mann von ihr? Er war vermutlich so alt wie Chris! Allerdings sah er in seinem verwaschenen T-Shirt und den lässigen Baggypants wesentlich attraktiver aus als ihr Sohn, stellte sie fasziniert fest. Athletischer Körperbau, bestimmt eins neunzig und die coole Ray-Ban-Sonnenbrille zu seinem langen Haar gab ihm etwas Verwegenes. Charmant war er obendrein. Vielleicht sollte sie … Doch dann stieß sie automatisch aus: »Also das ist echt nett von dir, dass du dich nach dem Schock um mich kümmern willst, aber …«
»Kümmern?«, unterbrach er sie entrüstet. »Ich wollte dich eigentlich auf einen Kaffee einladen.« Betont lässig schob er hinterher: »Meine Freunde nennen mich Jay.«
Mia wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Wollte er sie aufziehen? Das konnte er doch nicht ernst meinen.
Als sie nicht gleich antwortete, knetete er nervös seine Finger und gestand: »Na gut, ich heiße Jakob.« Er grinste sie breit an.
Ein äußerst gut aussehender Zwanzigjähriger, mit dem sie vor ein paar Minuten fast einen Unfall gebaut hätte, baggerte sie hier offensichtlich gerade an, realisierte Mia ungläubig. Konnte das sein? Es erschien ihr völlig verrückt und abwegig. Aber Jakob fixierte sie weiterhin erwartungsvoll. Sie zögerte noch einen Moment lang, entschied sich dann jedoch, diese erfrischende Begegnung nicht auszureizen. Was auch immer er von ihr wollte, sie durfte keine falschen Hoffnungen wecken. Wobei sie sich eingestehen musste, dass es dabei auch um ihre falschen Hoffnungen ging.
»Du bist echt ein netter Typ, Jakob«, sagte sie daher und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Aber ich muss jetzt leider los. Noch ein paar Zwei-Zimmer-versus-Penthouse-Dinge klären.« Sie zwinkerte ihm zu und machte Anstalten, in ihren Wagen zu steigen.
»Nicht mal ein schneller Espresso?«, ließ er nicht locker.
Sie drehte sich wieder um und konnte es nicht fassen: In seinem Gesicht war tatsächlich so etwas wie echte Enttäuschung abzulesen. »Nein, auch kein Espresso. Aber du hast meinen Tag gerettet, Jakob«, sagte sie lächelnd, machte einen Schritt auf ihn zu und gab ihm ein schnelles Küsschen auf die Wange. »Ich bin übrigens Mia.«
Er strahlte sie an. »Mia! Cooler Name! Vielleicht sehen wir uns mal wieder? Ich lege im House of Weekend auf – über den Dächern Berlins, am Alex. Sag einfach, Jay schickt dich, dann lassen sie dich rein.« Er zwinkerte ihr zu. »Is’ ’ne harte Tür da.«
»Mal sehen.« Sie winkte Jakob lächelnd zu, setzte sich in den Range Rover und brauste mit einem angenehm warmen Gefühl im Bauch davon.
Nachdem Mia die Haustür hinter sich abgeschlossen hatte, holte sie sich ein Glas Wasser, schaltete die Musikanlage ein, setzte sich raus auf die Terrasse und hockte etwas verloren in der Ecke der breiten Loungecouch mit dem fantastischen Ausblick über den gepflegten Garten und den riesigen blauen Pool mit Schwimmbadausmaßen.
Sie hatte keinen Blick für die großblättrige Kiwi, die, an einer Pergola hochgerankt, einen natürlichen Sonnenschutz bildete, für die Büsche, die über und über mit zarten weißen und roséfarbenen Blüten bedeckt waren, die duftenden englischen Rosen und die vielen bunten Blumenstauden, die der Gärtner so gepflanzt hatte, dass sie einen einzigen, überwältigenden Farbenrausch ergaben. In Gedanken war sie immer noch bei der Begegnung mit Jakob. Hatte dieser attraktive Typ, der höchstens halb so alt war wie sie, sie tatsächlich angemacht? Je länger Mia darüber nachdachte, desto alberner erschien ihr die Vorstellung. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal erlebt hatte, dass ein Mann sie auf der Straße angesprochen und ihr Komplimente gemacht hatte. Als verheiratete Frau schien sie für andere Männer unsichtbar geworden zu sein. Oder hatte sie selbst die Fähigkeit verloren, auf Blicke und Flirts zu reagieren? Diese überhaupt wahrzunehmen? Sie erkannte, dass sie in ihrem gewohnten Umfeld, meist mit Marcus an ihrer Seite, eine Art Schutzschild entwickelt hatte. Sie war vergeben, und das strahlte sie auch aus. Wozu hätte sie sich nach anderen Kerlen umsehen sollen? Sie war schließlich seit Ewigkeiten nicht mehr auf dem Singlemarkt.
Mia schreckte auf, als eine Schwalbe im Tiefflug über den Pool schoss und dabei einen Schluck Wasser nippte. Sie sah dem Vogel sehnsüchtig nach, bewunderte seinen akrobatischen Flug zwischen den hohen Bäumen und beneidete ihn um die Leichtigkeit, mit der er sich bewegte. So ein unbeschwertes Gefühl wollte sie zu gerne auch mal wieder erleben. Sich frei fühlen, ohne den engen Käfig aus Konventionen, in dem sie gefangen war. Mia hatte genug davon, aller Welt vorzumachen, dass alles in Ordnung sei. Sie hatte die Nase voll von dem ständigen Versteckspiel. Die albernen Ausreden, mit denen sie sich in den letzten Tagen vor dem morgendlichen Joggen, dem wöchentlichen Pilates und den Shoppingtouren zum Ku’damm gedrückt hatte.
Es wurde Zeit, dass ihre Freunde die Wahrheit erfuhren. Aber wie konnte sie das am elegantesten bewerkstelligen? Grübelnd betrachtete sie die kleinen Wellen, die die Schwalbe auf dem blauen Wasser gezeichnet hatte. Aus den im Boden eingelassenen Boxen rund um den Pool erklang gerade ein sehr alter Song, den Mia leise mitsummte und den Refrain schließlich laut sang: »It’s my party and I’ll cry if I want to …«
Party?! Sie zuckte zusammen, als ihr plötzlich siedend heiß einfiel, dass sie und Marcus vor einer Weile alle ihre Dahlemer Freunde für kommenden Samstag zu sich eingeladen hatten. Zur Pool-Party mit Champagner und Häppchen. So wie es im Sommer alle paar Wochen reihum üblich war. Das war übermorgen! Verdammt, wie hatte sie das vergessen können? Und wie konnte sie nun die Feier absagen, ohne dass alle merkten, was los war?!
Während sie angestrengt grübelte, schoss ihr plötzlich ein anderer Gedanke durch den Kopf. Die Party war doch der perfekte Rahmen, um endlich allen reinen Wein einzuschenken! Sie würde ihre Freundinnen und deren Männer mit Champagner abfüllen und dann verkünden, dass Marcus sie verlassen hatte. Schocktherapie! Mia lachte leise, als sie sich die entgeisterten Gesichter vorstellte. Den Spaß sollte sie sich gönnen. Ein klarer Schnitt!
Im selben Moment wurde ihr mulmig, als sie erkannte, dass sie ganz allein einer Gruppe von Paaren gegenüberstehen würde. Sehr deprimierend. Besser, wenn sie Betty zur Verstärkung einlud. Vielleicht konnte die noch ein paar ihrer Freunde mitbringen. Dann wäre das Ganze nicht so steif wie die üblichen Hauspartys in den Dahlemer Villen. Und sie hätte eine Verbündete. Ja, so würde sie es machen.