Gut Werdenberg - Der Glanz eines neuen Morgens - Annette Weber - E-Book
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Gut Werdenberg - Der Glanz eines neuen Morgens E-Book

Weber Annette

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Beschreibung

Eine Gestütssaga, die Jahrzehnte umspannt und die Schicksale mehrerer Familien für immer miteinander verbindet. 1952: Auf dem Gut Werdenberg im Mindener Land versuchen alle, die schweren Jahre hinter sich zu lassen, aber von der einst so glanzvollen Pferdezucht ist kaum etwas geblieben. Vieh- und Landwirtschaft bestimmt den Alltag … Doch damit wollen sich die jungen Erben des Hofs nicht länger zufriedengeben – allen voran Sigrid, die davon träumt, eine der begehrten Ausbildungsstellen als Bereiter an einem Landesgestüt zu ergattern. Als ihr der berühmte Tunierreiter Frank-Michael Ludwigstein eine Chance gibt, hat sie das Gefühl, ihrem Familienerbe endlich gerecht werden zu können – bis ein Skandal das Gestüt erschüttert und Sigrid begreift, welchen Preis Frauen zahlen müssen, die sich in dieser männerdominierten Welt nicht unterordnen wollen … Der neue Roman über die Generationen der Werdenberg-Familie und die herausfordernde Zeit der Nachkriegsjahre auf dem Land. Das Buch ist unabhängig von den anderen Bänden lesbar und wird Fans von Charlotte Jakobi und Corinna Bomann begeistern.

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Seitenzahl: 503

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Über dieses Buch:

1952: Auf dem Gut Werdenberg im Mindener Land versuchen alle, die schweren Jahre hinter sich zu lassen, aber von der einst so glanzvollen Pferdezucht ist kaum etwas geblieben. Vieh- und Landwirtschaft bestimmt den Alltag … Doch damit wollen sich die jungen Erben des Hofs nicht länger zufriedengeben – allen voran Sigrid, die davon träumt, eine der begehrten Ausbildungsstellen als Bereiter an einem Landesgestüt zu ergattern. Als ihr der berühmte Tunierreiter Frank-Michael Ludwigstein eine Chance gibt, hat sie das Gefühl, ihrem Familienerbe endlich gerecht werden zu können – bis ein Skandal das Gestüt erschüttert und Sigrid begreift, welchen Preis Frauen zahlen müssen, die sich in dieser männerdominierten Welt nicht unterordnen wollen …

Über die Autorin:

Annette Weber, 1956 in Lemgo geboren, schreibt seit über 20 Jahren Jugendbücher und Gegenwartsromane, in die sie stets ihre Begeisterung für Pferde einfließen lässt. Annette Weber ist verheiratet, hat drei Söhne, fünf Enkelkinder und lebt in der Nähe von Paderborn.

Die Autorin im Internet: www.annette-weber.com/ und www.sina-trelde.de

Bei dotbooks veröffentlichte Annette Weber ihre »Gut Werdenberg«-Saga mit den Bänden »Stürme einer neuen Zeit«, »Hoffnung eines neuen Lebens« und »Der Glanz eines neuen Morgens«.

Bei dotbooks erscheint außerdem ihre »Verliebt auf der Isle of Wight«-Reihe mit den Romanen »Das Cottage in Seagrove Bay«, »Die Teestube in Freshwater Bay«, die auch als Hörbücher bei Saga Egmont erhältlich sind, sowie »Der Inselhof in Woodside Bay«.

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Originalausgabe Dezember 2024

Copyright © der Originalausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur, www.textbaby.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Sarah Schroepf

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von Ezio Gutzemberg / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98952-635-8

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Annette Weber

Gut Werdenberg – Der Glanz eines neuen Morgens

Roman

dotbooks.

Ilvese, 30. Juni 1955

Lieber Jochen!

Bald kommst du wieder nach Hause. Ich freue mich schon so auf dich. Auch wenn Braunschweig gar nicht so weit weg liegt, habe ich immer das Gefühl, dass du durch dein Studium in einer ganz anderen Welt lebst. Ich vermisse dich.

Überhaupt ist es immer schwer für mich zu ertragen, wenn jemand fortgeht. Dann denke ich an mein früheres Zuhause am Frischen Haff, an die Störche und die Ostsee – und an Mutti und Papa, und was ich dort alles verloren habe. Manchmal habe ich Angst, ihre Gesichter zu vergessen. In der Erinnerung verschwimmen sie mit den Zügen von Mutz und Paps. »Das ist doch ganz normal«, hat Martin gesagt. »Sie sind doch auch alle beide deine Eltern – die einen im Himmel, die anderen hier auf der Erde.« Und dann hat er gegrinst und hinzugefügt: »Nur ich bin dein einziger Bruder.«

Ja, Martin ist wirklich einzigartig, und Sigrid ist es auch. Und du erst recht. Mutti und Papa im Himmel sind bestimmt glücklich, dass es mich so gut getroffen hat. Der Hof mit den Kühen und Pferden, mit Tante Thekla, Tante Franzi und Onkel Robert, mit der Weserlandschaft, die ein bisschen an die Masuren erinnert. Ich bin dankbar dafür. Nur manchmal überkommt mich die Sehnsucht. So wie heute.

Ich freue mich, dich bald wiederzusehen.

Hanna

Kapitel 1

Als der beige DKW des Fahrlehrers Haller auf den Hof der Werdenbergs fuhr, schauten alle auf. Peter war gerade damit beschäftigt, Tizia, die bildschöne Stute, neu zu beschlagen, Sigrid, seine jüngste Nichte, half ihm dabei, indem sie das Hinterbein der Stute festhielt. Jetzt ließ sie es langsam sinken.

»Was für ein schickes Auto!«

Peter nickte und seufzte leise. Auch auf dem Hof der Werdenbergs leistete man sich Autos, allerdings war Peter über einen Käfer nicht hinausgekommen. Robert und Thekla fuhren seit Neustem einen Ford Taunus, hinter den sie auch den Viehtransporter hängen konnten. Das war schon fast Luxus.

Der Fahrlehrer stieg aus, lehnte sich herausfordernd gegen sein Auto und zündete sich eine Zigarette an.

»Ist die Fahrschülerin bereit?«

Er grinste herablassend und ein bisschen mitleidig. »Frau am Steuer – Ungeheuer« war sein Lebensmotto, und dass Peters Frau in ihrem Alter noch glaubte, das Fahren lernen zu müssen, erschien ihm eine ungeheuerliche Idee, das wusste Peter genau. Aber offenbar witterte er ein gutes Geschäft – denn er ging mit Sicherheit davon aus, dass Bettina Berge an Fahrstunden brauchte und mindestens zweimal durch die Prüfung fiel. Dabei fuhr sie schon seit vielen Jahren ohne Führerschein den Trecker, den Mähdrescher und hin und wieder auf dem Hof auch Peters Auto. Sie war sogar in der Lage, den Pferdeanhänger zu rangieren.

»Eigentlich weiß sie, dass die Fahrstunde ansteht«, gab Peter zurück. »Ich hole sie mal.«

Er ließ Tizia bei Sigrid zurück und schritt über den Hof. Dabei betrachtete er den Fahrlehrer misstrauisch. An der Art, wie der Mann an seinem Auto lehnte, glaubte Peter zu erkennen, dass er wieder betrunken war. Und als er an ihm vorbeiging, bildete er sich sogar ein, die Schnapsfahne riechen zu können. Das machte ihn richtig wütend. Seit zwei Jahren hatte man nun eine Promillegrenze eingeführt, die nicht einmal allzu streng war. Sie ermöglichte den Autofahrern immer noch, ein paar Biere und Schnäpse zu trinken. Aber trotzdem glaubten einige, sich noch nicht mal an diese Promillegrenze halten zu müssen. Und dass sich sogar Fahrlehrer das Recht herausnahmen, betrunken hinter dem Steuer zu sitzen, war eine große Verantwortungslosigkeit.

Peter öffnete die Tür, die den Hof direkt mit der Küche verband. Bettina und Thekla standen über ein Backbuch gebeugt und schienen über einem Kuchenrezept zu grübeln. Bettinas Vater sah seinem 77. Geburtstag entgegen, und es würde eine große Feier auf dem Hof geben. Lorenz von Wallmeyer war zeit seines Lebens Sozialdemokrat gewesen, und darum hatten die englischen Besatzer ihn nach dem Krieg als Dorfvorsteher eingesetzt. Diese Aufgabe erfüllte er mit so viel Würde und Reife, dass er stets wiedergewählt wurde. Er war bei allen im Dorf beliebt, und darum war an diesem Tag mit zahlreichen Gästen aus der Umgebung zu rechnen.

Peter trat neben die beiden Frauen.

»Bettina? Der Fahrlehrer ist da.«

Seine Frau fuhr herum.

»Huch! Hab ich ganz vergessen«, rief sie erschrocken. Sie streifte sich hastig die Schürze ab, zog sich dann ihre Hausschuhe aus, um in ihre schwarzen Schuhe mit dem kleinen Absatz zu steigen.

»Lass dir Zeit. Der muss sowieso noch einen kleinen Strothmann zu sich nehmen«, kicherte Thekla.

Das fand Peter überhaupt nicht lustig.

»Der hat tatsächlich eine kräftige Schnapsfahne«, empörte er sich. »Dass so jemand Fahrlehrer wird. Anzeigen müsste man den.«

»Aber erst, wenn ich meinen Führerschein habe«, gab Bettina zurück und küsste Peter auf die Wange. »Mach dir keine Sorgen, Peter. Ich schubse ihn auf den Beifahrersitz, und spätestens an der nächsten Straßenkreuzung ist er eingeschlafen.«

Peter stieß einen Laut der Empörung aus, aber Thekla lachte laut.

»Und dann fährst du am besten die Portastraße entlang«, schlug sie ihrer Freundin vor. »Da gibt es jetzt eine Ampel. Direkt vor der Brücke.«

Die neue Ampel war eine Sensation für jeden Autofahrer. Sie war die erste Ampel in Minden, und viele Autofahrer machten extra einen kleinen Umweg, um fasziniert auf das rote, gelbe und grüne Licht zu starren.

Peter seufzte leise. Thekla besaß schon seit vielen Jahren einen Führerschein, und sie war es gewesen, die Bettina den Floh ins Ohr gesetzt hatte, auch einen zu machen. Dabei hätte Peter sie doch überall hingefahren. Aber diese Frauen hatten sich ihre persönliche Unabhängigkeit auf die Fahnen geschrieben, und nun meinte auch Bettina mit ihren zweiundfünfzig Jahren, es der Männerwelt noch mal beweisen zu müssen. So ein Auto war noch einmal ein ganz neuer Schritt in die Gleichberechtigung. Peter konnte ihr sowieso keinen Wunsch abschlagen und hatte ihr daher die Erlaubnis dazu erteilt. Und sicherlich war es ein kluger Schritt, denn Bettinas Gehbehinderung hatte sich in den letzten Jahren verschlechtert. So war die Möglichkeit, Auto zu fahren, auch eine Chance für sie, weiterhin beweglich zu bleiben.

Als Bettina ihre Schürze über den Stuhl hängte und sich zur Tür umdrehte, bemerkte Peter zum ersten Mal, dass sie etwas rundlicher geworden war. Zu sehen, dass es ihr gut ging, machte ihn glücklich. Die Kriegsjahre waren für Bettina wie für alle anderen aufreibend gewesen, doch sie hatte außerdem zwei Fehlgeburten erleiden müssen, das hatte an ihr gezehrt.

Bettina lächelte ihn an, hob kurz die Hand zum Abschiedsgruß und verließ die Küche. Dabei zog sie wie immer ihr kürzeres Bein langsam hinter sich her. Seitdem sie in jungen Jahren an Kinderlähmung erkrankt war, hatte sie sich im Leben viel erkämpfen müssen. Aber es hatte sie nie aufgehalten, eine sehr talentierte Springreiterin zu werden – und würde sie auch jetzt nicht davon abhalten, den Führerschein zu bekommen.

Ein ungeduldiges Wiehern zog Peter zurück auf den Hof. Tizias Hufeisen wartete. Danach war die Stute Laika an der Reihe, beschlagen zu werden. Sie hatte im vergangenen Herbst ein Fohlen bekommen – Aenna, ein mausgraues bildschönes Geschöpf. Es hüpfte aufgeregt um sie herum und versuchte, dem Dampf auszuweichen, als das Hufeisen eingebrannt wurde.

»Hee, ruhig«, versuchte Sigrid, das Kleine zu beruhigen. »Guck dir genau an, wie es geht. Nächstes Jahr kriegst du auch ein paar schöne Schuhe.«

Sigrid schnappte sich das Fohlen und streichelte es. Wenn es nach Peter ginge, hätte es längst von seiner Mutter abgesetzt werden müssen, aber da hatte er sich nicht gegen die Frauen durchsetzen können. Peter wusste wohl, dass das immer eine herzergreifende Situation war, wenn man Stute und Fohlen voneinander trennte, aber das Heulen musste man Peters Meinung nach aushalten, und nach drei Tagen war es ja auch in der Regel vorbei. Aber die Frauen sahen das anders.

Besonders Sigrid machte sich dafür stark, dass ein Fohlen schrittweise von der Mutter getrennt wurde. Sie nahm sich auch tatsächlich die Zeit, das Kleine abends von der Wiese zu holen und es zu einem längeren Spaziergang durch das Dorf zu führen. Zuerst hatten Mutter und Fohlen dabei sehnsüchtig hintereinanderher geschrien, aber Sigrid hatte sich davon nicht beeindrucken lassen. Doch allmählich genoss das Fohlen neugierig die Landschaft, und seine Mutter war offenbar froh, mal eine Stunde Ruhe zu haben.

Sigrid, da war sich Peter sicher, war noch pferdeverrückter als Thekla und Bettina zusammen. Seit einem Jahr bemühte sie sich vergeblich, einen Ausbildungsplatz als Bereiterin zu bekommen, aber kein Landgestüt hatte ihr bis jetzt eine Chance gegeben. Dieser Beruf war den Männern vorbehalten. Überhaupt drängten die Männer nach dem Krieg wieder in alle Berufe und Positionen und verscheuchten die Frauen, die in dieser Zeit tapfer die Stellung gehalten hatten. Auch ihre Ziehtochter Hanna, die als Flüchtlingskind in Bettinas und Peters Leben getreten war, bekam das deutlich zu spüren. Vergeblich hatte sie versucht, sich im Lehrerseminar zu bewerben, aber auch da hatte sie eine Ablehnung nach der anderen kassiert.

Das Leben war nicht gerecht, das hatte Peter in seiner schweren Kindheit mehr als einmal erfahren müssen. Aber dass es sich so schön entwickelte, dass er seinen Bruder gefunden hatte, dass er seine große Liebe erleben durfte und dass er letztendlich auf dem Hof der Werdenbergs eine Heimat fand, hatte auch den Krieg erträglich werden lassen.

Als Peter das letzte Hufeisen eingebrannt hatte, wies Peter Sigrid an, mit Tizia auf und ab zu gehen. Kritisch betrachtete er ihren Gang. Sigrid ließ die Stute an der Hand traben, dann auf der linken und der rechten Hand im Schritt gehen. Peter war mit seiner Arbeit zufrieden. Die Hufeisen saßen.

»Was für ein bildschönes Pferd das ist«, seufzte er. »Diese Gänge sind so ausdrucksstark.«

»In Schaumburg findet demnächst ein Turnier statt«, fiel Sigrid ein. »Ich wollte daran teilnehmen. Und vielleicht reiten ja auch Hanna und Jochen mit.«

Peter nickte. Er hatte selbst schon einige Male überlegt, die Kinder zu Turnieren zu überreden. Es stimmte ihn traurig, dass die Pferde auf dem Hof zur Nebensache geworden waren.

»Du solltest dir Reitunterricht von deiner Mutter geben lassen«, schlug er vor.

Sigrid verzog das Gesicht. Sie war eine großartige Reiterin, und Peter ahnte, dass sie sich von ihrer Mutter nichts mehr sagen lassen wollte. Doch hin und wieder war es nicht verkehrt, wenn jemand anderes von außen einen Blick auf die Bewegungen von Reiter und Pferd warf.

»Kommst du jetzt allein zurecht?«, fragte sie ihn nun. »Ich würde gerne noch reiten gehen.«

Peter nickte. Sigrid nahm ihre schwarze Stute am Halfter und führte sie zum Reitplatz. Peter sah ihr nach. Seine Nichte trug einen Rock, einen Pulli, Kniestrümpfe und Schuhe, und da ahnte er, dass sie ohne Sattel und nur mit Halfter reiten wollte. Das machte sie zu gerne. »Reiten wie die Mongolen«, nannte sie es.

Als sie auf dem Reitplatz angekommen war, streifte sie auch Strümpfe und Schuhe ab. Dann nahm sie Anlauf und sprang leichtfüßig auf ihr Pferd.

Peter fuhr mit seiner Arbeit fort. Die Hufeisen konnten noch verwendet werden, und so war die Arbeit schnell getan. Danach ging er zu Sigrid hinüber, um ihr beim Reiten zuzuschauen. Sie trabte bereits über den Platz. Ihr Rock war ein Stück hochgerutscht und gab ihre braunen Beine frei. Ihre hellen Haarlocken wippten auf und ab, ihr Gesicht strahlte. Wenn sie auf dem Pferd saß, war sie der glücklichste Mensch der Welt. Ganz die Mutter eben.

Nun kam ihr Bruder aus dem Stall gelaufen. Martin hatte den Hengst Prinz am Halfter, der aufgeregt wieherte. Wahrscheinlich fand er es ungerecht, dass seine Lieblingsstute Tizia allein auf dem Reitplatz war.

Auch Martin war ein fantastischer Reiter, wie alle Kinder der Werdenbergs, nur war er längst nicht so ehrgeizig wie Sigrid. Für ihn waren Pferde Freunde, mit denen man ein Abenteuer erleben konnte.

Als er sah, wie wild und natürlich Sigrid unterwegs war, streifte er sich ebenfalls seine Schuhe und Strümpfe ab, krempelte sich die Hosenbeine hoch und führte Prinz auf den Reitplatz. Er nahm Anlauf und sprang auf. Dann ritt er neben Tizia her. Sigrid hatte ihr Pferd nun zurückgenommen, und sie ließen die Tiere in gleichmäßigem Schritt auf dem ersten Hufschlag gehen. Peter lehnte sich gegen den Zaun des Reitplatzes und betrachtete die beiden. Dabei dachte er daran, wie er sich ein erstes Mal mit Bettina zu einem Turnier aufgemacht hatte – heimlich und zu Fuß, und wie man versucht hatte, Bettina von dem Wettbewerb auszuschließen, weil sie eine Frau war. Nur mit seiner Hilfe hatte sie sich zum Ärger aller ach so wichtigen Reiter einen Platz auf dem Turnier erstohlen – und dann hatte sie es allen Kerlen gezeigt.

Peter lächelte bei dem Gedanken. Sie hatten danach die erste Nacht im Freien verbracht, weil Bettina mit ihrem kranken Bein den Rückweg nicht schaffte – und später hatte es riesigen Ärger gegeben, aber dieses heimliche Abenteuer hatte den Grundstein für ihre Beziehung gelegt.

Nun hörte Peter hinter sich einen empörten Schrei. Hanna!

»Wieso treibt ihr euch hier auf dem Reitplatz herum!«, rief sie. »Habt ihr nichts zu tun? Es müssen noch Eier eingesammelt werden. Die Kühe müssen noch in den Stall …«

Sigrid lachte und winkte von Tizias Rücken aus zu ihr herüber.

»Die Arbeit hat bis jetzt immer auf uns gewartet«, rief sie zurück.

Für einen Moment betrachtete Peter seine Ziehtochter unsicher. Hatte sie manchmal das Gefühl, mehr zu arbeiten als die anderen? Hanna war fleißig, und vielleicht glaubte sie, sich dankbar zeigen zu müssen, weil sie hier aufgenommen worden war. Dass sie so etwas eventuell dachte, war Peter nicht recht. Er liebte Hanna wie eine eigene Tochter und bewunderte sie dafür, dass sie ihr schweres Schicksal mit so viel Optimismus und Fröhlichkeit trug.

Hannas Eltern hatten in Ostpreußen ein großes Gut besessen, konnten sich aber nicht überwinden, den Hof und die Tiere zurückzulassen, als die Russen in Ostpreußen einmarschierten. Vielleicht hatten sie auch die Hoffnung gehegt, die Russen würden das kleine Dorf auf der Landzunge am Friesischen Haff nicht entdecken. Sie hatten Hanna allein dem Flüchtlingstreck mitgegeben und ihr versprochen, nachzukommen. Aber die Russen waren bis in ihr Dorf vorgedrungen, und so waren ihre Eltern erschossen worden. Die Flüchtlinge, die nach und nach zu dem Treck dazukamen, hatten ihr das schonungslos berichtet.

Als einige der Vertriebenen auf dem Werdenberghof untergebracht wurden, war Hanna dabei gewesen. Damals war sie erst zehn Jahre alt. Sofort hatte sie sich eingebracht. Sie verstand so viel von den Tieren und der Landwirtschaft, dass sie schnell unentbehrlich wurde. Als Robert und Peter dann aus dem Krieg zurückkamen, hatten Thekla und Bettina das Mädchen schon so sehr ins Herz geschlossen, dass sie nicht mehr wegzudenken war.

Peter lächelte ihr zu.

»Mach auch eine Pause, Hanna!«, riet er ihr. »Ich hole gleich die Kühe von der Wiese.«

»Danke, Paps«, sagte sie.

Peter liebte es, wenn sie diesen Ausdruck benutzte. Sie hatten es immer Hanna überlassen, wie sie Bettina und ihn anreden wollte, und zunächst hatte sie Onkel und Tante zu ihnen gesagt. Aber vor einigen Jahren war Paps und Mutz daraus geworden. Die Worte Papa und Mutti hatte sie für ihre verstorbenen Eltern aufgehoben.

Nun stellte sie sich neben Peter und schaute ihren beiden Pflegegeschwistern beim Reiten zu. Peter sah, wie sie dabei unruhig hin und her zappelte. Lange würde sie es nicht mehr aushalten, nur Zuschauerin zu sein. Jetzt sprang sie in die Höhe, kroch dann unter dem Zaun durch, zog ihrerseits Schuhe und Strümpfe aus und rannte neben Tizia her.

»Achtung! Ich komme«, brüllte sie.

»Hanna! Vorsicht!«, rief Peter nun hektisch. Er konnte es kaum aushalten, diese bloßen Füße neben den frischen Hufeisen der Pferdebeine zu sehen. Doch Hanna passte auf. Auch wenn es gefährlich aussah, was sie machte, war sie stets konzentriert. Jetzt sprang sie hoch und landete hinter Sigrid auf dem Rücken der schwarzen Stute.

Peter atmete tief durch. Das war ja noch mal gut gegangen!

»Gebt ihr hier eine Zirkusvorstellung?«, wollte er wissen.

Hanna war eine Teufelsreiterin. Sie kannte überhaupt keine Angst, hatte wohl in Ostpreußen jeden noch so schwierigen Trakehner geritten. Jetzt streckte sie den Rücken durch, brachte ihre nackten Füße unter ihren Körper und kam auf diese Weise in die Hocke. Geschickt hielt sie sich an Sigrids Schulter fest und richtete sich langsam auf. Sigrid nahm ihre Stute zurück und ritt nun vorsichtiger.

»Seid ihr verrückt?«, rief Peter beunruhigt. »Ihr könnt euch Hals und Beine brechen.«

Er legte seine Hand vor die Augen, linste aber durch die Finger hindurch.

Sigrid lachte. »Der weiß gar nicht, was wir sonst machen, oder?«

»Gott sei Dank weiß ich das nicht«, gab Peter zurück. Er dachte daran, dass er oft genug tausend Tode gestorben war, wenn Bettina die größten Hindernisse angegangen war.

»Sollen wir es ihm mal zeigen?«, fragte Martin herausfordernd und ritt nun an Sigrids Seite. Die beiden bemühten sich, in gleichmäßigem Rhythmus nebeneinanderher zu reiten.

»Nein, bitte nicht«, jammerte Peter, denn nun sah er, wie Hanna vorsichtig eines ihrer Beine zu Martins Pferd hinüberstreckte. Sie stand jetzt mit einem Bein auf Tizia, mit dem anderen auf Prinz, suchte einen Moment lang einen festen Stand, und dann streckte sie die Arme aus. Freihändig und stehend ritt sie in gutem Gleichgewicht in der Runde.

Peter kniff die Augen zusammen.

»Ich kann das nicht mit ansehen!«, rief er. »Warum bewerbt ihr euch nicht beim nächsten Zirkus?«

»Wir üben für eine Vorstellung an Opa Lorenz’ Geburtstag«, verriet ihm Hanna. Lachend warf sie die Arme nach hinten und sah dabei so glücklich aus, dass Peter richtig gerührt war. Dieses Mädchen war ein Glücksgriff.

Ein Motorgeräusch erklang, und erneut kam ein Auto die Auffahrt hoch. Im ersten Moment dachte Peter, dass es sich um Bettina und den Fahrlehrer handelte, denn auch dieser Wagen war ein beiger DKW. Doch ein unbekannter Mann saß am Steuer. Er fuhr recht schnell, hielt dann so scharf an, dass die Bremsen quietschten. Nun öffnete er die Fahrertür, stieg aus und schlug sie mit einem Knall wieder zu. Prinz machte einen erschrockenen Satz nach vorne. Hanna schrie. Sie versuchte, sich zu halten, aber die Pferde gerieten weiter und weiter auseinander. Martin trieb Prinz an und bemühte sich, ihn wieder auf eine Höhe mit Tizia zu bringen, aber es war nicht möglich. Hannas Beine spreizten sich weiter und weiter auseinander wie beim Spagat. Wieder schrie sie und wedelte wild mit den Armen. Dann flog sie in den Sand des Reitplatzes.

»Kinder, Kinder, was macht ihr denn!«, rief Peter entsetzt.

Der unbekannte Fahrer trat nun an den Reitplatz heran, und Peter registrierte zu seinem Ärger, dass er Hannas nackte Beine musterte, außerdem war ihr der Rock ziemlich hochgerutscht. Ein interessierter Blick trat in seine Augen. Unbedingt wollte Peter seine Tochter davor schützen. Darum sprang er schnell auf den Reitplatz, stellte sich so vor Hanna, dass er sie mit seinem Körper verdeckte, und half ihr wieder auf die Beine.

»Hast du dir wehgetan?«

Hanna schüttelte den Kopf und klopfte sich den Sand aus der Kleidung. »Du weißt ja, ich bin aus Gummi.«

Sie lachte. Peter strich ihr erleichtert über die halblangen blonden Haare. »Ihr seid wirklich verrückt«, murmelte er. »Erschrickst deinen alten Vater noch zu Tode!«

Kopfschüttelnd drehte sich Hanna zu dem Mann um. »Verrückt sind immer die anderen«, rief sie. »Wie kann man mit so quietschenden Bremsen auf einen Hof fahren!« Jetzt wandte sie sich dem Fahrer zu, der an den Zaun herangetreten war. »Sie haben wohl keine Ahnung von Pferden, oder?«

Ihre Stimme klang nicht vorwurfsvoll, sondern fröhlich wie immer.

Der Mann sah nun ein wenig verlegen aus. »Entschuldigen Sie bitte! Ich verstehe sogar viel von Pferden, aber dass ich mich jetzt so rücksichtslos verhalten habe … ich kann das nur darauf zurückführen, dass ich Ihnen imponieren wollte, weil ich auch von Ihnen so beeindruckt war.« Er lachte nun ebenfalls. Dann reichte er Peter die Hand, der sie zögernd schüttelte. »Frank-Michael Ludwigstein ist mein Name. Ich komme vom Landgestüt in Warendorf.«

Er war etwa Mitte dreißig, hatte einen festen Händedruck und machte einen dynamischen, sportlichen Eindruck.

Sigrid parierte nun ihr Pferd durch. »Landgestüt Warendorf«, wiederholte sie langsam. Das war ihr Stichwort. Sigrid hatte sich vor zwei Wochen beim Landgestüt in Celle in Niedersachsen beworben, in der Hoffnung, dort eine Ausbildungsstelle als Bereiterin zu erhalten, aber sie hatte eine Absage bekommen.

»Genau. Sagt Ihnen das Landgestüt in Warendorf etwas?«, wollte der Mann wissen.

»Natürlich«, versicherte Sigrid eifrig. Das war das Gestüt, bei dem sie sich als Nächstes bewerben wollte.

»Wir sind auf der Suche nach großartigen Pferden, um die Zucht der Hannoveraner zu veredeln«, erklärte der Mann.

Peter seufzte. »Das Thema hatten wir schon einmal«, berichtete er. »Nach dem Ersten Weltkrieg. Die Werdenbergs hatten wundervolle Kaltblüter gezüchtet, die für den Krieg eingesetzt wurden. Danach brauchte man sie nicht mehr, und wir haben uns auf Hannoveraner-Züchtungen umgestellt.«

Er sagte wir, obwohl das nicht ganz richtig war. Eigentlich hatten Thekla, Bettina und Robert diese Züchtung vorangetrieben, er war immer eher Randfigur dabei geblieben. Doch er identifizierte sich ebenfalls mit diesen wundervollen Pferden, auch wenn er längst nicht so ein guter Reiter wie die anderen aus der Familie war.

»Dann kam wieder ein Krieg dazwischen«, fuhr er fort. »Und nun sind wir bei Hühnern und Kühen gelandet.«

»Ja, die Kriege haben immer wieder alles auf null gesetzt«, ergänzte dieser Ludwigstein. »Auch bei mir. Ich war dabei, eine glänzende Karriere als Springreiter zu machen, da kam auch für mich der Krieg dazwischen. 45 habe ich im Ruhrkessel festgesessen. Ein Wunder, dass ich das überlebt habe.«

Peter wandte sich ab. Über den Krieg redete er nicht gerne.

»Meine Frau, meine Schwägerin und mein Schwager kennen sich mit den Pferdezüchtungen besonders gut aus«, lenkte er das Gespräch auf Bettina und die anderen. »Meine Frau ist gerade unterwegs. Aber wenn Sie Robert und Thekla Steinfels kennenlernen wollen …«

Ludwigsteins Augen waren nun hellwach auf ihn gerichtet.

»Das möchte ich zu gerne«, gab Ludwigstein zurück.

Landgestüt Warendorf! Für Sigrid war diese Aussage ein Hinweis darauf, den Mann nicht mehr aus den Fängen zu lassen.

»Magst du Tizia reiten?«, wandte sie sich an Hanna.

Hanna sah sie unsicher an. Immerhin gehörte Sigrid die schwarze Stute, und sie gab sie nur ganz selten in andere Hände. Es war ein großer Vertrauensbeweis, dass sie sie Hanna reiten ließ.

»Du weißt, das ist der Mann meines Lebens«, raunte Sigrid Hanna verschwörerisch zu. »Ich muss ihn überreden, mir einen Ausbildungsplatz zu geben. Koste es, was es wolle.«

»Bring ihm erst mal Manieren bei«, flüsterte Hanna. »Der hat mich total lüstern angestarrt.«

»Egal. Ich muss alles versuchen«, gab Sigrid zurück.

Hanna lachte. Sie streckte eine Hand aus und strich Sigrid eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Dann solltest du etwas zivilisierter aussehen«, riet sie.

Sigrid zwinkerte ihr zu. Sie übergab Tizia an Hanna, schlüpfte dann in ihre Strümpfe und Schuhe und rannte hinter Peter und dem unbekannten Mann her. Die beiden waren bereits am Hauseingang angekommen. Peter schaute in die Küche.

»Thekla, bist du hier?«, hörte Sigrid ihn fragen.

Ihre Mutter antwortete etwas, und Peter betrat mit Ludwigstein den Raum. Schnell folgte Sigrid ihnen. Ludwigstein bemerkte sie nun und musterte sie verwundert von oben bis unten. Dann wandte er sich Thekla zu. Dabei fiel Sigrid auf, wie sich ein spöttischer Zug um seinen Mund gebildet hatte.

»Das ist meine Schwägerin Thekla Steinfels«, stellte Peter vor. »Thekla, das ist Herr Ludwigstein vom Landgestüt in Warendorf.«

Thekla wischte sich ihre nassen Hände an der Schürze ab. Dann reichte sie dem Mann die Hand.

»Ach, das ist ja nett«, meinte sie. »Mit den Landgestüten hatten wir früher oft Kontakt, als die Pferde noch als wertvoll galten.« Sie zeigte auf das Wohnzimmer. »Nehmen Sie doch Platz.«

Die Küche, die vom Hof aus zu erreichen war, hatte früher Theklas Eltern gehört, doch nach ihrem Tod nutzten sie die Küche und das daran grenzende Herrenzimmer als gemeinsame Räume. Außerdem hatte aber jede der Familien ihre eigenen Wohnräume. Die von Sigrids Eltern lagen im Westflügel des Gutes, Peters und Bettinas auf der anderen Seite. Bettinas Vater hatte sich die kleine Wohnung über dem Stall eingerichtet, und wenn Sigrids Tante Franzi mit ihrem Sohn Jochen für ein paar Tage zu Besuch war, was häufig vorkam, bezogen sie die Wohnung im Turmzimmer. Platz gab es auf dem Hof genug, seitdem die Flüchtlinge abgezogen waren, doch wenn es drauf ankam, saßen doch alle zusammen in den Gemeinschaftsräumen.

Jetzt setzte sich der Herr vom Landgestüt in einen der Sessel, Peter nahm auf dem Sofa Platz, Thekla in dem anderen Sessel. Nur Sigrid stand weiterhin in der Tür. Sie wusste selbst, dass es unhöflich aussah, aber das war ihr egal. Sie war nicht bereit, diesen Mann noch mal aus ihren Fängen zu lassen, koste es, was es wolle.

»Wie ich schon gesagt habe, komme ich vom Landgestüt Warendorf«, begann der Mann noch einmal. »Wir sind daran interessiert, mit Züchtern zusammenzuarbeiten, um die Zucht der Hannoveraner ganz neu aufleben zu lassen …«

Sigrid sah, wie ihre Mutter mit Peter einen kurzen Blick tauschte.

»Das Thema hatten wir vor zehn Jahren schon einmal«, sagte sie seufzend.

Sigrid hielt die Luft an. Es war nicht nett von ihrer Mutter, dass sie sich so abweisend verhielt.

»Das stimmt. Der Krieg hat viel kaputt gemacht«, nahm Ludwigstein den Faden wieder auf. »Aber trotzdem sollten wir die Pferdezucht nicht aufgeben. Gerade jetzt, wo die Menschen wieder zu größerem Wohlstand gelangen, bekommt die Freizeitreiterei mehr Bedeutung. Ich selbst bin zum Beispiel Springreiter …«

Springreiter? Springreiter? In Sigrids Kopf begannen die Gedanken durcheinanderzuwirbeln. Wie hieß der Mann noch, über den sie neulich einen längeren Bericht in dem Sportmagazin gelesen hatte? Hieß der nicht Frank-Michael Ludwigstein?

Meist behandelte das Magazin nur Fußball, aber hin und wieder kamen auch andere Sportarten zum Zuge. Wenn das Reiten dabei war, brachte ihr Jochen die Zeitung oft zum Lesen mit.

»Ich kenne Sie!«, rief sie plötzlich. »Waren Sie nicht in der letzten Ausgabe des Sportmagazins?«

Alle Köpfe flogen nun zu Sigrid herum. Die spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Hoffentlich hatte sie sich nicht getäuscht. Aber der Mann sah nun überrascht und gleichzeitig auch geschmeichelt aus.

»Das stimmt, junges Fräulein«, sagte er, und Sigrid hatte das Gefühl, dass er ihr zum ersten Mal Beachtung schenkte. »Ich habe beim großen Turnier in Münster gesiegt.« Er wandte sich nun Thekla und Peter zu. »Das ist ein bedeutendes Turnier in Westfalen. Es wird unter dem Titel Turnier der Sieger auf der Westerholt’schen Wiese ausgetragen.«

»Davon habe ich, glaube ich, schon gehört«, bemerkte Thekla.

Ludwigsteins Blick ruhte nun wieder auf Sigrid. Aufmerksam glitten seine Augen über ihren Körper. »Ich habe gesehen, dass Sie ein sehr schönes Pferd geritten sind, junges Fräulein«, fuhr er fort.

»Ich heiße Sigrid Steinfels«, beeilte sich Sigrid zu sagen.

»Sie sind ohne Sattel und Zaumzeug geritten. Das ist selten«, sprach er weiter und betrachtete ihre Beine.

»Die Kinder sind manchmal völlig verrückt«, übernahm ihre Mutter nun. »Sie tollen mit den Pferden herum und machen die wildesten Zirkuslektionen. In Wirklichkeit aber sind alle hervorragende Reiter.« Sie lächelte Sigrid verschwörerisch zu. »Und Sigrid hat sich unbedingt vorgenommen, einen Ausbildungsplatz in einem Landgestüt zu bekommen.«

Sigrid war ihrer Mutter dankbar dafür, dass sie das Interesse auf sie lenkte.

»Ausbildungsplatz – na ja, das ist so eine Sache«, versuchte Ludwigstein abzuwinken. »In dem Beruf sind ja nur Männer. Schauen Sie …«

Er wandte sich nun Sigrid zu. Ihr fiel erst jetzt auf, wie durchdringend und schön seine Augen waren. Sie waren hellblau und leuchteten wie ein Sommerhimmel.

»… Pferde sind große und kraftvolle Tiere. Die brauchen eine starke Hand. Das ist nichts für so ein junges Mädchen wie Sie.«

Nun lachten Peter, Thekla und Sigrid gleichzeitig.

»Solche Dinge dürfen Sie hier am Hof nicht sagen«, mischte sich Peter ein. »Jedenfalls nicht, bevor Sie sich die Frauen und ihre Pferde einmal angeschaut haben.«

Ludwigstein wandte sich ihm überrascht zu. Er sah aus, als wenn er so etwas noch nie gehört hatte.

»Bei uns sind es die Frauen, die mit den Pferden umzugehen verstehen, als wären sie magische Wesen«, fuhr Peter fort. »Die Pferde bilden mit ihnen zusammen eine Einheit.«

Ludwigstein sah nun so ungläubig aus, als wenn ihm Peter erzählt hätte, es gäbe doch einen Weihnachtsmann.

»Aber nicht der Hengst«, unterbrach Ludwigstein verwundert.

Thekla lachte laut. »Gerade der Hengst«, meinte sie dann. »Hengste lassen sich ja nicht gerne erziehen. Man muss sie bitten. Und das können Frauen einfach besser als Männer.«

Nun trat eine tiefe Falte auf Ludwigsteins Stirn.

»Ich würde mir gerne die Pferde einmal anschauen, ja?«, bat er dann.

Peter nickte. »Selbstverständlich.« Er schien Sigrids Chance zu wittern. »Zieh dich um, Sigrid«, riet er ihr. »Dann kannst du Tizia und Prinz vorstellen. Magst du?«

»Natürlich!«, rief Sigrid hastig. Und dann stürzte sie schon aus dem Wohnzimmer.

Kapitel 2

Franzi spürte den missbilligenden Blick ihrer Schwiegermutter auf sich. Mit einer gewissen Häme wanderte er von Franzis schwarzem Hut über das beige Kostüm bis hin zu den Perlonstrümpfen und blieb zuletzt an den schwarzen Schuhen mit dem kleinen Absatz hängen. »Du gibst wohl nie auf, oder?«, fragte sie mit einem gehässigen Unterton.

Franzi streckte das Kinn vor. »Nein!«, sagte sie. »Und ich weiß genau, dass er diesmal dabei sein wird.«

Dorothee von Ellerbruch seufzte resigniert. »Das sagst du nun seit fast zehn Jahren. Und dann immer wieder diese Enttäuschung. Die Tränen. Die Hoffnung, dass er bei dem nächsten Zug dabei ist …«

Franzi schluckte. Auch jetzt saßen ihr die Tränen dicht hinter den Augen. Sie hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter gehabt. Im Krieg, als Hagen, sein Vater und zuletzt sogar noch der kleine Bruder Rudi eingezogen wurden, hatten die Frauen der Ellerbruchs eng zusammengearbeitet und den Hof so gut wie möglich bewirtschaftet. Harte Zeiten waren das gewesen, ganz ohne Maschinen, die Feldarbeit mit den Pferden, die Stallarbeit, das Ernten, das Einmachen … sie hatten sich vor Arbeit nicht retten können. Auf so ein Leben hatte man Franzi nicht vorbereitet, als sie auf dem Gutshof der Werdenbergs aufgewachsen war, und doch hatte sie nicht geklagt, nur nachts heimlich in ihr Kissen geweint. Schlimmer wurde es, als die Nachricht vom Tod des Schwiegervaters eintraf. »Er fand den Tod auf dem Felde der Ehre«, hieß es. Aber ein Trost war das nicht, es blieb nur die Verzweiflung, auch in Zukunft ohne ihn zurechtkommen zu müssen. Ein Jahr später flatterte dann die Vermisstenmeldung von Hagen ins Haus und löste erneut große Trauer und Panik aus. Wieder weinten Franzi, Dorothee und Hagens Schwester Gerda gemeinsam, beschlossen, dass sie die Hoffnung niemals aufgeben würden, Hagen wiederzusehen. Inzwischen waren zehn Jahre vergangen. Hagens jüngerer Bruder Rudi war auf den Hof zurückgekehrt. Der Krieg hatte einen starken jungen Mann aus ihm gemacht, und er hatte sogleich das Kommando übernommen, dem sich Dorothee sofort unterordnete. Franzi und ihr kleiner Sohn Jochen wurden aufs Nebengleis geschoben. Neben dem großen Wunsch, Hagen zurückzubekommen, sehnte Franzi sich insgeheim auch danach, dass die alte Ordnung auf dem Hof wiederhergestellt würde. Doch Rudi heiratete, bekam zwei Kinder und machte sich auf dem Hof breit. Gerda zog fort. Franzi fühlte sich immer weiter zur Seite gedrängt. Verzweifelt versuchte sie, über den Suchdienst des Roten Kreuzes etwas über das Schicksal ihres Mannes in Erfahrung zu bringen. Sie stand sogar oft mit Jochen zusammen vor den Toren des Auffanglagers in Friedland und hielt ein Foto von Hagen in die Höhe. Immer noch kamen Spätheimkehrer aus der russischen Gefangenschaft zurück. Immer nährten sie die Hoffnung, dass es doch noch ein Wiedersehen gab. Die Luft auf dem Hof der Ellerbruchs wurde dünn für Franzi und Jochen. Ihr Sohn hatte längst begriffen, dass er hier keine Zukunft zu erwarten hatte. Der Hof würde Rudi überschrieben werden, der ihn dann an seinen Sohn weitervererbte. Darum hatte sich Jochen seit einem Jahr an der Technischen Hochschule in Braunschweig im Studiengang für Maschinenwesen immatrikuliert. Franziska dagegen konnte sich mit Hagens Tod nicht abfinden. Sie fand das einen ersten Schritt zur Kapitulation. Sie würde nicht so kampflos aufgeben. Doch genau durch diese Hartnäckigkeit hatte sie am Hof ein noch schwereres Leben.

»Stell dich endlich der Wahrheit«, beschwor ihre Schwiegermutter sie weiter. »Er ist tot. Wir wissen es alle. Lass ihn für tot erklären, damit Rudi den Hof übernehmen kann. Er ist der rechtmäßige Erbe.«

Franzi wandte den Kopf ab, damit ihre Schwiegermutter nicht sehen konnte, dass ihr die Tränen in den Augen standen. Sie wusste genau, wenn sie Hagen für tot erklärte, wäre das ihr Untergang. Damit degradierte sich Franzi zur Hausangestellten – einem Familienmitglied, das durchgefüttert werden musste. Sie wurde dann die arme Tante, die geduldet wurde. Eine Zukunft hatte sie nur durch Hagen.

Jochen trat nun neben sie. Er sah Hagen so ähnlich, dass selbst ihre Schwiegermutter schlucken musste, wenn er unvermittelt ins Wohnzimmer kam. Er hatte die blaugrünen Augen und die dunklen, leicht gewellten Haare seines Vaters geerbt. Mit seinen vollen Lippen und den schön geschwungenen Augenbrauen sah er wie ein Filmstar aus. Wie Horst Buchholz, sagte Thekla immer.

»Wir müssen uns beeilen«, mischte er sich in seiner ruhigen Art ein. »Der Bus fährt in zehn Minuten.«

Jetzt wurden Dorothee von Ellerbruchs Augen weich. »Jochen«, sagte sie nun sanft. »Bitte denkt nicht böse über mich. Ich habe Hagen auch über alles geliebt. Er ist doch mein Sohn, und das wird er immer bleiben. Aber das Leben geht nun mal weiter, und wir müssen ja auch in die Zukunft schauen.«

»Ich weiß doch«, entgegnete Jochen. »Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.«

Damit hakte er sich bei seiner Mutter unter und verließ mit ihr zusammen den Hof. Franzi war dankbar dafür, dass er zu ihr hielt. Er hatte gerade Semesterferien und verbrachte die Zeit auf dem Hof, um zu helfen, und auch, um ihr beizustehen. Dass er sie nun wieder einmal nach Friedland begleitete, rührte sie sehr.

Der Weg war weit bis nach Friedland. Sie nahmen zunächst den Bus bis Petershagen, stiegen dann in die Kleinbahn nach Minden um. In Minden mussten sie erneut umsteigen. Sie standen auf dem Bahnhof herum und warteten auf den Zug Richtung Hannover. Franzi spürte plötzlich eine große Müdigkeit. Zehn Jahre lang machte sie nun diese lange Reise, morgens früh nach Friedland, abends mit dem letzten Zug zurück. In der ganzen Zeit hatte es einige Male jemanden gegeben, der Hagen gekannt hatte und der mit ihm zusammen in der 2. Panzerarmee gekämpft hatte, doch bei einer Kesselschlacht südlich von Moskau verlor sich seine Spur. Viele Soldaten gerieten hier in russische Gefangenschaft, doch ob auch Hagen dieses Schicksal ereilte, bestätigte sich nie. Keiner der Heimkehrer hatte ihn in einem der Sammellager gesehen, sodass sich die Vermutung verdichtete, dass er die Kesselschlacht nicht überlebt hatte.

»Achtung, Achtung, der Interzonenzug nach Hannover hat dreißig Minuten Verspätung«, knisterte eine Stimme durch den Lautsprecher.

Müde ließ sich Franziska auf eine Bank fallen. Eine halbe Stunde Verspätung bedeutete, dass sie ihren Anschlusszug nach Göttingen nicht bekommen würden. Dann würde dieser Tag noch problematischer sein, als er jetzt schon war.

Jochen schaute mit unglücklichem Gesicht zu ihr hinunter.

»Eine halbe Stunde? Das ist lange.« Er seufzte. »Wollen wir nicht zur Weserpromenade gehen und uns die Beine vertreten?«, schlug er vor. »Immer noch besser, als hier herumzusitzen.«

Jochen hatte recht. An der Weserpromenade gab es viel zu sehen. Jochen liebte die Schiffe, die mit ihren Gütern die Weser hinauf- oder herunterfuhren. Sie sahen immer so gemütlich aus. Oft hing Wäsche auf der Leine und wehte im Wind, Kinder und Hunde saßen auf dem Deck, und der Kapitän steuerte sein Schiff mit großer Konzentration.

»Also gut«, stimmte sie zu. Und dann hakte sie sich bei ihrem großen Sohn unter und ging mit ihm zur Weserbrücke hinüber.

Plötzlich hielt ein Auto neben ihr – ein beiger DKW –, und zu ihrer großen Überraschung registrierte Franzi, dass Bettina am Steuer saß. Jetzt riss sie die Fahrertür auf und sprang aus dem Auto. Ein Auto hinter ihr hupte und überholte in großem Bogen.

»Bettina?«, rief Franzi verwirrt. »Was machst du denn hier? Hast du schon den Führerschein?«

Bettina lachte. »Ich habe Fahrstunde«, kicherte sie. »Aber mein Fahrlehrer ist eingeschlafen. Wollt ihr mitfahren? Ich fahre nach Ilvese zurück.«

Franzi atmete tief durch. Plötzlich spürte sie eine große Sehnsucht nach dem Hof und dem kleinen Dorf, in dem sie aufgewachsen war. Unsicher schaute sie Jochen an. Der nickte. Auch er sah erleichtert aus. »Einverstanden«, sagte sie dann.

Bettina lachte und schob die Rückenlehne des Fahrersitzes nach vorne, sodass Franzi und Jochen auf den Rücksitz klettern konnten. Dann setzte sie sich erneut hinter das Lenkrad und startete. Wieder hupte ein Auto hinter ihr.

»Jaa«, knurrte Bettina verärgert. »Ich fahre ja schon.«

Jetzt riss der Fahrlehrer die Augen auf. »Wo sind wir?«, fragte er verwundert.

»Schlafen Sie ruhig weiter, Herr Haller«, gab Bettina vergnügt zurück. »Wir müssen noch ein ganzes Stück zurücklegen.«

Dann gab sie Gas. Franzi kuschelte sich in den Rücksitz und schloss für einen Moment die Augen. Sie freute sich auf das unerwartete Wiedersehen mit ihrer Familie.

*

Ludwigstein sagte nicht viel, als er am Reitplatz stand und Sigrid auf dem Pferd zusah, und doch konnte Sigrid spüren, wie beeindruckt er war. Hanna und Martin bemerkten offensichtlich, dass es für ihre Cousine um alles oder nichts ging, und sie beeilten sich, Tizia und Prinz zu satteln, um ihr die Bühne zu überlassen. Sigrid war ihnen dankbar dafür. Alle in der großen Familie wussten, wie wichtig es ihr war, Ludwigstein zu gefallen. Durch ihn hatte sie die Chance auf einen Ausbildungsplatz, und alle arbeiteten daran mit, dass ihr Traum in Erfüllung gehen konnte. So einen unglaublichen Rückhalt in der Familie zu haben, war ein wunderbares Gefühl.

Als Sigrid nun an Ludwigstein vorbeiritt, räusperte er sich.

»Ein großartiges Pferd«, bemerkte Ludwigstein. »Diese Gänge. So raumgreifend. Es ist bestimmt ein fantastisches Springpferd.«

Die anderen stiegen sofort in das Gespräch ein und rückten Sigrid in ein gutes Licht.

»Ein Pferd ist nichts ohne seine Reiterin«, bemerkte Martin.

»Sie hat die Stute ausgebildet«, fügte Hanna hinzu.

Sigrid spürte, wie eine warme Welle ihren Körper flutete. Sie konnte geradezu fühlen, wie Ludwigsteins Achtung vor ihr stieg. Jetzt ließ sie Tizia in einer Diagonale über den Platz traben. Sie konzentrierte sich zwar dabei, ließ Ludwigstein aber nicht aus den Augen. Auch er schenkte ihr nun neue Aufmerksamkeit.

»Wem gehört das Pferd?«, wollte er wissen.

»Unserer Tochter Sigrid«, antwortete Thekla. »Tizia ist eine eigene Züchtung aus zweien unserer besten Pferde.«

»Sie ist wirklich großartig«, musste Ludwigstein zugeben. »Ist sie käuflich zu erwerben?«

»Natürlich ist sie nicht zu verkaufen«, machte Sigrid deutlich, dass man sich in dieser Frage an sie zu wenden hatte.

»Ich kann mir das denken«, sagte er hastig. »Wenn ich so ein großartiges Pferd besäße, würde ich es auch nicht hergeben. Andererseits ist es schade, wenn die Welt nicht erfahren könnte, welche wunderbaren Pferde dieses Gestüt hervorbringt.«

Da hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Sigrid dachte nach. Ludwigstein schien ihre Unsicherheit zu spüren und setzte nach.

»So ein Pferd hat es verdient, auf Turnieren vorgestellt und zum Sieg geführt zu werden«, fuhr er fort. Dabei ließ er Sigrid nicht aus den Augen. Die hatte das unangenehme Gefühl, dass er sie durchschaute. Er schien genau zu wissen, welche Knöpfe er zu drücken hatte, um ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.

»Ich wollte Tizia am kommenden Wochenende auf einem Turnier in der Nähe reiten«, beeilte sich Sigrid zu sagen.

Ludwigstein lachte nun, und wieder war der spöttische Zug in sein Gesicht getreten. »Was ist ein Wald-und-Wiesen-Turnier gegen das Turnier der Sieger in Münster«, entgegnete er. »Diese wunderbare Stute sollte für große Turniere trainiert und zum Sieg geführt werden. Das würde die Pferdezucht auf diesem Gut voranbringen, glauben Sie mir.«

Sigrid musste zugeben, dass er damit einen Nerv bei ihr getroffen hatte. Tizia blieb unter ihren Möglichkeiten zurück, und das lag nicht nur an Sigrid, sondern auch an ihren Eltern. Ihre Familie hatte nicht die Zeit, sie zu den großen Turnieren des Landes zu fahren, sie hatten auch nicht so viel Geld, die Startgebühren aufzubringen, und letztendlich fehlte ihr auch die Kraft, sich immer wieder gegen die Männer durchzusetzen. Sie parierte ihr Pferd durch und stieg ab. Jetzt ging sie mit der Stute zu Ludwigstein hinüber. Es kostete sie ein bisschen Überwindung, aber sie reichte Ludwigstein die Zügel. »Möchten Sie sie mal reiten?«

Die anderen starrten Sigrid überrascht an. Mit diesem Angebot hatte niemand gerechnet. Sigrid ließ nur auserwählte Reiter auf ihr Pferd, und sogar wenn ihre Mutter die Stute ritt, behielt Sigrid sie dabei immer im Auge.

Ludwigstein war mit einer Cargohose, hellen Lederschuhen, Hemd und Weste bekleidet. Die ideale Reitkleidung war das nicht. Trotzdem ließ er sich das Angebot nicht nehmen. Er verbeugte sich höflich in Sigrids Richtung. »Das ist mir eine große Ehre. Ich werde Ihr Vertrauen nicht enttäuschen, Sigrid«, sagte er nun, und sie registrierte mit Genugtuung, dass er sich ihren Namen gemerkt hatte. Sie lächelte ihn an, er lächelte zurück. Seine Augen hatten wirklich ein unglaubliches Blau. Behutsam stieg er auf. Die Art, wie er sich in den Sattel zog, gefiel ihr. Es gab Männer, die sich mit einem Plumps auf den Rücken des Pferdes fallen ließen. Er dagegen zeigte sich auch Pferden gegenüber als Gentleman. Tizia richtete sofort ihre Ohren nach vorne und blickte Sigrid an. Sie spürte, dass jemand anderes auf ihr saß. Sigrid strich ihr über die Nase. »Da staunst du, mein Schatz«, sagte sie zärtlich. »Jetzt wirst du mal von jemand anderem geritten.«

Wieder tauschte sie einen längeren Blick mit Ludwigstein. Er lächelte, konzentrierte sich dann auf Tizia, trieb sie an, und sie schritt los.

Inzwischen fand sich auch ihr Vater ein, um dem Schauspiel beizuwohnen. Wahrscheinlich wunderte er sich, warum die Arbeit auf dem Hof zum Stillstand gekommen war. Er stellte sich neben Sigrid, betrachtete den unbekannten Reiter und ließ sich leise von ihr in Kenntnis setzen, was vorgefallen war. Ludwigstein ritt gut. Er gab vorsichtige und zurückhaltende Hilfen, er zerrte nicht an den Zügeln, und er überließ der Stute das Kommando. Sigrid konnte ihrem Vater ansehen, dass er verstanden hatte, wie wichtig Ludwigstein für Sigrid werden konnte. Er mischte sich nun ein.

»Wir können auch einen Oxer aufbauen, wenn Sie mal springen möchten.«

»Das wäre sehr nett!«, rief er begeistert.

Robert und Peter schnappten sich nun ein paar Stangen, die an der Seite lagen, und bauten einen Oxer auf. Ludwigstein galoppierte Tizia an und ließ sie zwei Runden laufen. Als die Galoppade gleichmäßig verlief, lenkte er die Stute auf die Mitte der Bahn und peilte das Hindernis an. Tizia überflog es in einem gewaltigen Sprung.

»Da ist noch Luft nach oben«, kommentierte Robert.

Ludwigstein strahlte. Die Begeisterung war ihm aus allen Knopflöchern anzusehen. »Ein großartiges Pferd!«, rief er und klopfte der Stute liebevoll gegen den schwarzen Hals. Dann stieg er ab und ging mit Tizia auf Sigrid zu. »Nennen Sie einen Preis, den Sie für das Pferd haben möchten«, beschwor er sie. »Ich zahle alles, was Sie verlangen.«

Sigrid aber hatte sich inzwischen eigene Pläne zurechtgelegt. Sie witterte die Chance ihres Lebens. »Ich könnte Ihnen meine Stute leihweise bis Weihnachten zur Verfügung stellen«, gab sie vorsichtig zurück. »Sie können sie zu sich an das Landgestüt nehmen, sie trainieren und sie auf Turnieren reiten. Und dann haben Sie auch die Möglichkeit, mit ihr beim Weihnachtsspringen in Warendorf zu starten.«

»Das würden Sie tun?« Ludwigstein sah sie ungläubig an.

Jetzt hatte Sigrid ihn an der Angel.

»Allerdings nur unter einer Bedingung«, erklärte sie forsch.

»Und die wäre?«

Jetzt kam sie, die Chance ihres Lebens. »Sie sorgen dafür, dass ich dort einen Ausbildungsplatz bekomme, damit ich bei ihr sein kann«, ließ sie die Katze aus dem Sack.

Nun schnappte Ludwigstein nach Luft. »Als Frau?« Er war völlig entgeistert.

Sigrid lachte. »Sieht so aus, oder?«, gab sie zurück und schaute Ludwigstein so herausfordernd an, dass er den Kopf senkte.

»Also … das … das ist schwierig.«

Er sah Sigrid nun erneut an. Seine blauen Augen versenkten sich einen Moment in ihren, dann schaute er wieder auf die Stute.

»Ich kann das nicht allein entscheiden«, sagte er nachdenklich, aber an der Art, wie er Tizia auf den Hals klopfte, konnte man bereits sehen, wie schwer es ihm fiel, die Stute wieder abzugeben.

»Vielleicht fährst du erst mal nach Warendorf und schaust dir alles an«, versuchte Robert, Ruhe in die Situation zu bringen. »Solche wichtigen Entscheidungen sollte man nicht auf dem Reitplatz treffen, schon gar nicht, ohne vorher eine Nacht darüber geschlafen zu haben.«

Sigrid war ihrem Vater dankbar dafür. Sie spürte jetzt, dass sie viel zu spontan gehandelt hatte. Auch wenn sie sicher war, dass Tizia es gut am Landgestüt haben würde, merkte sie, dass sie es nur schwer aushalten würde, ihr Pferd an einen anderen Reiter zu verlieren. Ob es das wert war? Vielleicht war der Preis um einen Ausbildungsplatz doch zu hoch gepokert. Aber mit ihrer Mutter oder ihrem Vater zum Landgestüt zu fahren und sich vor Ort ein Bild zu machen, war eine gute Idee.

Ludwigstein nickte ihr nun zu, und sie suchte dabei wieder diesen tiefen Blick aus seinen blauen Augen. »So machen wir das, Sigrid«, sagte er nun. »Sie kommen vorbei und schauen sich alles an, und ich versuche, am Landgestüt eine Lanze für einen Ausbildungsplatz für Frauen zu brechen.«

Die Art, wie er ihren Namen aussprach, hörte sich weich an. Sigrid hatte das Gefühl, dass sie ihm imponiert hatte. »Das wäre zu nett«, gab sie nun zurück.

Sigrid bemerkte Respekt in seinem Blick, aber er schien auch zu wissen, welche Ausstrahlung er auf sie hatte. Sigrid jedenfalls spürte Schmetterlinge im Bauch. Wagte er tatsächlich im Beisein ihrer Eltern so offensichtlich mit ihr zu flirten? Kurz blickte sie zu ihrem Vater und sah, dass Robert missbilligend sein Gesicht verzog. Er schien dem jungen Mann nicht zu trauen. Doch noch während sie und Ludwigstein um einen gemeinsamen Termin verhandelten, fuhr erneut ein beiger DKW auf den Hof. Tante Betty war von ihrer Fahrstunde zurück. Sie hatte Tante Franzi und Jochen dabei. Das war eine große Überraschung. Alle freuten sich und umarmten einander. Etwas unwillig erwachte dann auch der Fahrlehrer aus seinem Schlummer und stellte voller Ärger fest, dass er nun wieder selbst zurückfahren musste.

*

Bettina war froh, Franzi und ihren Sohn aufgegabelt und an den Hof der Werdenbergs mitgenommen zu haben. Sie wusste, dass Franzi von ihrer Schwiegermutter unter Druck gesetzt wurde, den Hof für den Jüngsten der Ellerbruchs freizumachen, aber sie ahnte auch, dass Franzi diesen Kampf nicht gewinnen würde. Franziska sah schon jetzt oft aus wie eine alte unglückliche Frau. Dabei war sie einige Jahre jünger als sie und Thekla. Auch Thekla schien bemerkt zu haben, dass ihre Schwester traurig war. »Bleibst du zum Abendessen?«, fragte sie und schloss Franzi innig in die Arme.

»Da sag ich nicht Nein«, erwiderte Jochen schnell. Er war so gerne bei den Werdenbergs, schien sich hier viel eher zu Hause zu fühlen als bei seiner eigentlichen Familie. Bettina hatte das Gefühl, dass das auch mit Hanna zu tun haben könnte. Die beiden waren gerne zusammen. Hanna strahlte eine unglaubliche Fröhlichkeit aus, und doch konnte man mit ihr tiefe und nachdenkliche Gespräche führen. Jochen schien es gutzutun, mit ihr zu reden und in ihrer Nähe zu sein. Bettina musste dabei oft an Peter denken, der ihr auch mit so viel Kraft und Mut zur Seite gestanden hatte, obwohl er eigentlich derjenige war, der viele traurige Kindheitserlebnisse verarbeiten musste.

Bettina ging nun zu ihrem Wohntrakt hinüber, um sich umzuziehen. Vor dem Abendessen mussten die Kühe gemolken werden, und das wollte sie nicht mit ihrem Hemdblusenkleid und der Seidenstrumpfhose tun. Gerade als sie das Kleid über den Kopf gezogen hatte, betrat Peter das Schlafzimmer. Er nahm ihr das Kleid ab und hängte es auf den Bügel. In der Zwischenzeit nestelte sie an ihren Strumpfbändern herum und rollte die Strümpfe an ihren Beinen herunter bis zu den Füßen. Vorsichtig zog sie sie aus und legte sie auf ihren Nachttisch. Plötzlich war Peter bei ihr und umschlang sie von hinten mit seinen Armen. Bettina, nur mit BH und Mieder bekleidet, drehte sich zu ihm herum und küsste ihn. Dann strich sie mit dem Zeigefinger liebevoll seine Gesichtszüge nach. Peter sah immer noch wahnsinnig gut aus – vielleicht sogar noch besser als vor dem Krieg. Er war bei der Marine gewesen, hatte dann bei einem Landgang in Norwegen seine Truppe verlassen und war desertiert. Lange Zeit hatte sie nichts von ihm gehört und war fast verrückt geworden aus Sorge. Später hatte sie erfahren, dass er sich in das neutrale Schweden abgesetzt und von dort aus als Fluchthelfer agiert hatte. Das war so typisch für ihn. Peter war schon als Kind in der Lage gewesen, sich lautlos durch die Natur zu bewegen. Seine markanten Gesichtszüge erinnerten Bettina immer an die Westernfilme, die es seit Neustem im Kino gab. »Zwölf Uhr mittags«, den Film hatte sie mit Thekla zusammen im Regina-Kino in Minden gesehen, und bei Gary Cooper hatte sie immer an Peter denken müssen. Auch Peter hatte diese harten männlichen Gesichtszüge, obwohl er so ein liebevoller und zärtlicher Mann war.

»Keine Zeit fürs Schmusen«, flüsterte sie ihm dann leise ins Ohr. »Wir müssen noch melken. Außerdem haben wir Besuch.«

Zu ihrer Überraschung streichelte Peter nun die leichte Wölbung ihres Bauches. »Ist dir schon aufgefallen …«, begann er vorsichtig.

Bettina kniff die Augen zusammen und schaute schuldbewusst an ihrem Bauch hinunter. »Ich weiß, ich bin ein bisschen dicker geworden«, gab sie zu. »Wir kochen einfach zu gut. Und vielleicht auch zu süß.«

Sie musste ziemlich zerknirscht ausgesehen haben, denn Peter begann zu lachen. Wieder strich er über den Bauch.

»Mir ist es erst heute aufgefallen«, sagte er leise. »Und auf einmal kam mir zwischendrin der Gedanke … vielleicht bist du schwanger?«

Bettina schnappte nach Luft. Das war das Komischste, was sie seit Langem gehört hatte. »Peter«, sagte sie dann. »Du weißt genau wie ich, dass wir Schwierigkeiten hatten …«

»Wir lieben uns noch sehr oft, Betty«, erinnerte er sie nun und sah dabei ganz verlegen aus. »Darum könnte es doch sein, oder?«

Bettina spürte eine große Verwirrung. Mit so einem Gespräch hatte sie nicht gerechnet.

»Wann hattest du zuletzt deine Tage?«, fragte er leise.

Das war definitiv kein Gespräch, wie sie es sonst führten. Bettina konnte sich sogar überhaupt nicht daran erinnern, wann er mal so eine Frage gestellt hatte. Sie war nun völlig durcheinander. Dann dachte sie nach. »Im Frühjahr, glaube ich. Als wir am See in Lahde schwimmen gehen wollten, konnte ich nicht mitschwimmen. Erinnerst du dich?«

Peter nickte. »Das ist drei Monate her«, überlegte er. »Dann könnte es doch sein, oder?«

Bettina schüttelte entsetzt den Kopf. »Peter«, entgegnete sie dann bestimmt. »Ich bin eine alte Frau. Ich bin in den Wechseljahren. Darum kriege ich meine Tage nicht mehr.«

Peter legte nun seine großen Hände um ihr Mieder und schob sie vor den Spiegel. »Guck doch selbst«, sagte er liebevoll. »Das sieht nach einem Baby aus, oder? Und wenn du im vierten Monat bist, haben wir die kritische Zeit schon überstanden.«

Bettina starrte in den Spiegel. Peter hatte recht. Der Bauch sah seltsam aus. Ihre Figur erinnerte nicht an jemanden, der zugenommen hatte. Es war nur der Bauch, der leicht nach vorne gewölbt war. Hart und beschützend fühlte er sich an. Und nun fiel ihr auch auf, dass ihre Brust größer geworden war. Das war unglaublich. Das konnte und durfte nicht wahr sein. Fassungslos ließ sich Bettina auf das Bett fallen und schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Das glaub ich einfach nicht«, jammerte sie. »Das wäre doch viel zu gefährlich.« Sie ließ ihre Hände sinken und sah Peter an. »Ich bin zweiundfünfzig Jahre«, sagte sie ernst. »Das ist viel zu spät. Das wird eine Risikoschwangerschaft. Und vielleicht wird das Kind behindert, wie ich.«

Peter setzte sich zu ihr und schlang erneut seine Arme um sie.

»Und vielleicht wird es so ein wundervoller Mensch wie du«, entgegnete er.

Kapitel 3

»Sigrid?« Martin klopfte gegen ihre Zimmertür. »Bist du da?«

»Klar. Komm rein«, hörte er ihre Stimme. Vorsichtig öffnete er die Tür und betrat das Zimmer. Sigrid lag auf ihrem Bett, den Kopf seitlich auf den Arm gestützt und blätterte in einem Modemagazin herum. Jetzt richtete sie sich auf.

»Setz dich.« Sie deutete mit dem Kopf auf ihren Stuhl, und er ließ sich darauf fallen. Hier stand ihre Schreibmaschine, und drum herum lagen zahlreiche Papiere und Durchschläge, Bewerbungsschreiben, Zeugnisse und eine Abschrift ihrer Geburtsurkunde. Das war ihm alles sehr vertraut.

»Ich wollte dich fragen, ob du mir bei einer Bewerbung helfen kannst«, begann er nun unsicher.

»Bewerbung? Wolltest du nicht mehr beim Mindener Tageblatt bleiben?«, meinte Sigrid überrascht.

Martin schüttelte den Kopf. Nach seinem Volontariat hatte man ihm eine Stelle angeboten, aber er hatte abgelehnt. Er hatte genug von den Provinzblättern. Diese kleine Welt langweilte ihn schon lange. »Ich will was anderes machen, auch was anderes sehen von der Welt. Ich will echten Journalismus erleben, verstehst du?«

Er konnte Sigrid ansehen, dass sie damit nicht gerechnet hatte. Auch Sigrid war kein Mädchen vom Lande, für das die Welt hinter dem Gartenzaun endete, aber in die große weite Welt wollte sie nicht. Noch nicht mal auf dem Rücken eines Pferdes. Sie erweiterte sich ihren Horizont langsam und vorsichtig. Warendorf wäre für sie schon ein großer Schritt.

Jetzt schob er ihr eine Anzeige zu, die er in einer überregionalen Zeitung entdeckt hatte. Die Constanze, ein Modemagazin in Hamburg, suchte einen jungen Modejournalisten.

Verwirrt starrte Sigrid auf die Anzeige. Dann brach sie in lautes Gelächter aus. »Modemagazin? Du?«

Mit der Reaktion hatte Martin gerechnet. »Lach nur. 41,8 % der Leser von Frauenzeitschriften sind Männer«, erklärte er. »Und außerdem berichte ich ja über Frauenmode. Ich muss sie doch nicht selber tragen. Aber ich kann sicherlich zu den Modemessen fahren, ich lerne vielleicht Yves Saint Laurent kennen, oder Christian Dior. Ich fahre nach Paris, begegne all den hübschen Mannequins …«

Jetzt hatte er Sigrids volle Aufmerksamkeit. Verblüfft starrte sie ihn an. Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Bewunderung war in ihre Augen getreten. Sie betrachtete ihn, als wenn sie ihn zum ersten Mal sah.

»Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir das sogar richtig gut vorstellen«, gab sie dann zu. Jetzt sah sie fast ein bisschen traurig aus. »Und sie wären dumm, wenn sie dich nicht nehmen«, fügte sie hinzu. »Du siehst gut aus, du bist klug, gebildet und freundlich. Und du bist warmherzig und lustig.«

Martin spürte, wie ihm warm wurde. Sigrid war immer seine Lieblingscousine gewesen. Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen, hatten sogar oft in einem Bett geschlafen wie Geschwister. Auch die ganze Krise der Jugendzeit hatten sie miteinander geteilt. Als Kinder hatten sie gemeinsam im Heu auf die Geburt eines Kälbchens gewartet, sie waren zusammen im See schwimmen, hatten Zirkusstücke auf den Pferden eingeübt. Die vielen Erinnerungen an den Hof waren immer auch mit Sigrid verbunden. Es machte ihm viel aus, sich von ihr zu trennen. Aber es musste sein. Wenn er sich weiterentwickeln wollte, musste er dieses vertraute Nest verlassen. Das sah auch Sigrid ein.

»Natürlich helfe ich dir bei der Bewerbung«, versprach sie ihm. »Aber wenn du aus Ilvese wegziehst, heule ich Rotz und Wasser.«

»Noch bin ich ja da«, versuchte er, sie und vor allem sich selbst zu trösten. »Und ich helfe dir auch, wenn es bei dir um deine Stelle geht. Ich weiß ganz gut, wie man so arrogante Schnösel behandelt, die sich einbilden, besser zu reiten als du.«

Jetzt lachten sie beide. »Ich komme auf dein Angebot zurück«, versicherte Sigrid.

»Du musst mir nicht nur bei der Bewerbung helfen«, fiel Martin ein. »Du musst mich auf die Frauenthemen vorbereiten.«

»Erst mal gebe ich dir ein paar Frauenmagazine als Fortbildungslektüre.« Sie kramte in einem Stapel alter Magazine.

Er unterdrückte ein Seufzen. Im Grunde vermisste er Sigrid schon jetzt.

*

Wie in alten Zeiten saßen sie an der langen Tafel in der Küche und aßen gemeinsam. Peter saß neben Bettina, dann kamen Sigrid, Hanna und Franzi, Lorenz nahm den Kopf des Tisches ein, Thekla saß ihm gegenüber, und auf der rechten Seite des Tisches versammelte sich die geballte Männereinheit mit Robert, Jochen und Martin. Thekla betrachtete ihre große Familie voller Zärtlichkeit. Es war so ein gutes Gefühl, dass sie einander alle nach der langen Entbehrungszeit des Krieges wiederhatten. Nur Hagen fehlte. Thekla war sich ganz sicher, dass er nicht mehr heimkommen würde. Zu lange schon warteten sie auf Nachrichten. Ihr Blick wanderte zu Robert hinüber. An ihm war der Krieg einigermaßen spurlos vorübergegangen. Er war Pionier bei der Wehrmacht gewesen, hatte Brücken und Eisenbahnschienen gebaut und Schützengräben ausgehoben und war bei einem Nahkampf in englische Gefangenschaft geraten. Dort hatte er es einigermaßen gut gehabt, jedenfalls verglichen mit den Gefangenen in Russland. Sie hatten sich oft geschrieben, und so hatte Thekla immer das Gefühl gehabt, nah bei ihm zu sein. Schon kurz nach Kriegsende war er wieder in Ilvese gewesen und hatte seine Stellung auf dem Hof wieder eingenommen.