Tote brauchen keinen Zeltplatz - Annette Weber - E-Book

Tote brauchen keinen Zeltplatz E-Book

Weber Annette

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Beschreibung

Dauercamper auf der Lauer: die perfekte Liegestuhllektüre für alle Campingfans. Dauercamperin Rieke Riemann kehrt nach einem Schicksalsschlag auf ihren angestammten Campingplatz zurück, fest entschlossen, in ihrem Leben noch einmal neu durchzustarten. Doch kaum angekommen, findet sie bei einem Spaziergang in einem Moorloch eine Tote. Bald stellt sich heraus, dass die junge Frau, ebenfalls Camperin, ermordet wurde. Rieke gerät in den Strudel der Ermittlungen und beginnt gemeinsam mit ihrem Platznachbarn Michael eigene Nachforschungen anzustellen. Und dann schlägt der Mörder erneut zu.

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Annette Weber wurde 1956 in Lemgo geboren. Nach dem Lehramtsstudium arbeitete sie zunächst zwanzig Jahre als Lehrerin, war aber bereits nebenberuflich als Kinder- und Jugendbuchautorin tätig. 2002 verließ sie die Schule, um nur noch zu schreiben. Sie verfasste nun neben Kinder- und Jugendbüchern auch Romane für Erwachsene für zahlreiche Verlage. Annette Weber ist verheiratet, hat drei Söhne und fünf Enkelkinder. Sie ist außerdem Miteigentümerin und Geschäftsführerin eines Campingplatzes im Spreewald.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotive: shutterstock.com/ju.hrozian,

shutterstock.com/Polarpx

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Dr.Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-172-0

Camping Krimi

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

PROLOG

Er beugte sich über sie und lauschte. Kein Atem war mehr zu hören. Er hielt seine Hand vor ihren Mund. Spürte keinen Hauch.

Ein Schauer kroch über seinen Rücken. Dass ihm das passiert war, konnte er selbst nicht fassen. Er hatte doch nur gegen ihren Hals gedrückt. Nicht wirklich fest. Noch nicht mal mit seiner ganzen Kraft.

War es so einfach, einen Menschen umzubringen?

Sie war in seinen Armen gestorben. Mit einem Lächeln, das sich immer mehr zu einem Erstaunen entwickelte. Dann hatte er die Angst in ihren Augen gesehen. Und die Fassungslosigkeit.

Kurz hatte er sie an sich gedrückt, hatte ihren Körper ein letztes Mal gespürt. Dann hatte er sie losgelassen. Ein leises Platschen im Wasser. Sie hatte ihm ihr schönes Gesicht zugewandt. Der Körper sank tiefer und tiefer. Das schwarze Wasser erreichte ihr Gesicht. In leisen Rinnsalen zog es über ihre Wangen, verfing sich dann in ihren Haaren und zog sie mit sich in die Tiere. Schließlich war nichts mehr zu sehen als die Schwärze des Sees.

Er schnaufte. Versuchte, die Panik zu unterdrücken, die in ihm aufstieg. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Er brauchte Ruhe, um über alles nachzudenken.

Im Grunde war sie selbst schuld. Sie hatte seine Nerven bis zum Äußersten gereizt. Und nun war sie tot.

Er musste zur Polizei gehen.

Der Mond hing bleich über der kargen Landschaft. Spiegelte sich in den moorigen Seen. Der Wind strich sanft durch die Äste der Birken. Die Gräser wiegten sich in stiller Übereinstimmung hin und her. Von Ferne hörte er das klagende Schluchzen einer Nachtigall. Kurz wurde es lauter. Dem wehmütigen »Hui« folgte ein knarzendes »Karr«. Dann war alles wieder still.

Er spürte sein Herz schlagen. Vorsichtig sah er sich um. Er war allein. Keine weiteren Zeugen. Nur der Mond.

EINS

Am Südkreuz hatte Rieke Riemann die Großstadt hinter sich gelassen. Nun ging es die A13 entlang über das flache Land. Der Frühling war schon so lange zu sehen. Dicke weißgelbe Weidenkätzchen hingen an den Ästen der Trauerweiden und spiegelten sich im grünen Wasser der Spree, auf den saftigen Wiesen suchten die Störche nach Mäusen, und die Erntehelfer wurden in den Gurkenfliegern über die Äcker gezogen, um die Sprösslinge für die Gurkenpflanzen zu setzen. Rieke atmete tief durch, betrachtete die Landschaft rund um sich und hatte das Gefühl, das alles noch nie so bewusst wahrgenommen zu haben wie heute.

Ein schweres Jahr lag hinter ihr. Ein tränenreiches. Eine Zeit, in der sich Hoffnung und Hoffnungslosigkeit die Hand reichten, bis die Zuversicht immer kleiner wurde und die Aussichtslosigkeit im Raum stand. Sie hatte die Hand ihres Mannes bis zuletzt gehalten. An einem warmen Sonntag im April war er gestorben. Prostatakrebs. Zu spät erkannt. Viel zu früh gestorben.

Diese schwere Zeit lag nun hinter ihr. Wenn das eingetroffen war, vor dem man sich immer gefürchtet hatte, konnte man wieder nach vorne schauen. Das hatte Wilfried immer gesagt. Ob er auch nach vorne schauen konnte, dort, wo er jetzt war? Das hätte sie gerne gewusst.

Rieke setzte den Blinker und überholte die Reihe an schweren Autos mit Wohnwagen, die sich auf der rechten Spur häuften. Pfingsten stand vor der Tür. Das war das Wochenende für die Camper.

Auch Rieke war auf dem Weg in den Campingurlaub. Auf dem Campingplatz Spreewaldtor in der Märkischen Heide, südlich des Spreewaldes, hatten sie und Wilfried einen Dauerstellplatz mit festem Wohnwagen und Holzanbau. Wilfried hatte es geliebt, seine freie Zeit dort draußen in der Einöde zu verbringen. Früher waren sie fast an jedem Wochenende da gewesen, und auch im Sommer hatte es keinen anderen Urlaub gegeben als die Einsamkeit der Märkischen Heide.

Aber nun standen andere Zeiten an. Dauercamping war nie Riekes Ding gewesen. Jetzt konnte sie sich mal an ganz neue Urlaubsformen wagen. Vielleicht an eine Busreise durch Italien. Oder endlich mal an eine Kreuzfahrt durch die Karibik.

Doch wenn Rieke versuchte, daran zu denken, wurde sie wieder traurig. Es würde eine Zeit dauern, bis sie wieder so selbstständig wurde, dass sie allein in den Urlaub fuhr. Das war das Problem einer langen Ehe. Man teilte sich die Arbeit und machte sich auf diese Weise abhängig von dem Partner. Und wenn man dann allein zurückblieb, musste man vieles wieder neu lernen.

Rieke nahm die Abfahrt Halbe/Teupitz. Der alte Blitzer an der Dorfstraße stand immer noch da. Hier war Wilfried mal mit zwanzig Stundenkilometern zu schnell geblitzt worden. Das hatte ihn damals richtig fertiggemacht. Er war ein Mann gewesen, der sich an Gesetze hielt. Dazu zählten auch Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Da kam der Rewe-Markt in Sicht. Dort hatten sie immer noch schnell eingekauft, bevor sie die restlichen Kilometer hinter sich brachten. Brot und Milch, Grillfleisch und Gemüse. In der Märkischen Heide musste man zum Einkaufen immer weit fahren. Da war es besser, den Urlaub mit einem gut gefüllten Kühlschrank zu beginnen.

Die Gegend, durch die Rieke fuhr, war ihr so unglaublich vertraut. Und damit holten sie auch die Erinnerungen wieder ein.

Rieke seufzte leise. Ob dieser Schmerz irgendwann aufhörte? Die Zeit heilt alle Wunden, sagten die Menschen. Aber das stimmte nicht. Die Wunden blieben. Sie vernarbten nur. Einige besser, andere schlechter. Wetterfühlig blieben sie immer.

Endlich, hinter dem großen Schrebergarten begann die drei Kilometer lange Auffahrt, die zum Campingplatz führte. Sie war aufwendig gepflastert worden. Mit EU-Mitteln, die den Tourismus in der Region fördern sollten. Zwölf Millionen, munkelten die Dorfbewohner. Eine wahre Geldverschwendung. Sogar aufwendige Straßenlaternen im Zwei-Meter-Abstand beleuchteten einen Fußweg, der sich parallel zur Straße befand.

Vielleicht hatten die Laternen nach der Wende mal funktioniert. Jetzt brannte nur noch jede fünfte, und auch das war die totale Vergeudung, denn die Laternen bestanden aus echten Birnen, nicht aus LEDs.

Rieke beschleunigte nun das Tempo. Diese Auffahrt war ihre ganz persönliche Rennstrecke – jedenfalls wenn ihr niemand entgegenkam.

Drei Fahnen flatterten im Wind, die Fahne des Spreewaldcamps, die der Märkischen Heide und die Landesfahne von Brandenburg. Rieke begann, sich auf das Wiedersehen mit den anderen Dauercampern zu freuen.

Sie hielt vor der Schranke und drückte ihren Chip gegen den Schrankenscanner. Die Schranke öffnete sich. Langsam fuhr Rieke auf den Campinglatz ein. Hier traf sie auf eine neue Lebendigkeit. Kinder waren auf Rädern, Inlinern oder Skateboards unterwegs, Paare saßen Eis essend in der Sonne, und im Schwimmbad kraulten die Menschen von einer Beckenseite zur anderen.

Der gepflasterte Hauptweg führte auf einen kleinen Kreisverkehr zu, auf dem ein hoher Mast mit einem Storchennest stand. Dieser Mast war ebenfalls teuer mit EU-Mitteln angelegt worden, in der Hoffnung, dass hier eines Tages ein Storch sein Nest bauen würde. Doch die Störche hatten kein Interesse gezeigt, und so hatte der Campchef Dieter Gerke einen Plastikstorch aus Polen besorgt und in das Nest gedübelt. Außerdem war hier als höchster Punkt des Campingplatzes die WLAN-Antenne angebracht. Verglichen mit den anderen Orten Brandenburgs hatte man dadurch auf diesem Platz einen einigermaßen geregelten Internetempfang – jedenfalls wenn man nicht gerade geplant hatte, einen Film zu streamen.

Auf der linken Seite des Hauptweges befand sich der »Marktplatz«. Er wurde von einem reetgedeckten Rezeptionsgebäude, einem kleinen Shop und einem Restaurant eingerahmt. Die Mitte des Platzes bildete eine Bühne, auf der im Sommer zahlreiche Veranstaltungen stattfanden. Auf der rechten Seite lag der Pool mit den Liegestühlen.

Jemand winkte. Rieke erkannte die Schierlings aus dem Rosenweg. Und da war ja Günther, wie so oft mit seinem Chemieklo unterwegs zum Sanitärhäuschen. Er klappte nun die Sonnengläser seiner Brille nach oben, damit er besser sehen konnte, und nickte Rieke lächelnd zu. Sofort ging es Rieke besser. Sie war nicht allein, und das tat ihr gut.

Jetzt kam der kleine Camperweg »Schwalbennest« in Sicht. Rieke verzichtete auf den Blinker und bog schwungvoll in die Straße ein. Schließlich war sie hier zu Hause.

Ihr Dauercamperdomizil sah noch genauso aus, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte. Der Rasen war sogar gemäht, und jemand hatte gelbe und violette Stiefmütterchen gepflanzt. Ausgerechnet Stiefmütterchen. Die führten Riekes No-Go-Liste an. Doch darüber wollte sie gerne heute hinwegsehen. Schließlich wusste sie, dass jemand sie extra gepflanzt hatte, um ihr eine Freude zu machen.

Kaum öffnete Rieke die Autotür, standen Helga und Horst Weichert vor ihr, nebeneinander, als ob sie ein Gedicht aufsagen wollten.

»Ich habe mir schon gedacht, dass du heute kommst!«, rief Helga. »Nicht wahr, Horst? Das habe ich doch gesagt.«

»Das hat sie«, bestätigte ihr Mann. »Und darum haben wir schnell noch alles hergerichtet.«

Rieke wurde ganz warm ums Herz.

»Ich habe es gleich gesehen. Alles ist so ordentlich. Der Rasen gemäht, die schönen Stiefmütterchen …«

Die Lüge fiel ihr leicht. Sie sah, wie Helga strahlte. Helga war eine liebe Frau – ein bisschen übergriffig vielleicht, aber sie meinte es gut. Und das war es, was Rieke nun gebrauchen konnte. Ein bisschen mütterliche Fürsorge.

»Ich helf dir mal mit dem Tragen«, war nun Horst zu hören, und dann packte er bei den Koffern mit an und brachte sie in die Küche, die in dem Holzvorbau vor dem Wohnwagen untergebracht war.

Es war ein seltsames Gefühl, nach so langer Zeit den Wohnwagen wieder aufzuschließen. Rieke betrat ihn zögernd. Ihre beiden Nachbarn hielten sich jetzt zurück. Sie spürten offenbar, dass Rieke einen Moment Ruhe brauchte. Rieke zog die Klappkisten und Koffer in den Wohnwagen, stellte die Kisten auf den Wohnzimmertisch und zerrte die Koffer ins Schlafzimmer hinüber. Automatisch griffen ihre Hände zu, zogen den Reißverschluss des Koffers auf und kramten die Kleidung aus der Tasche. Sie öffnete die Schranktüren und verharrte einen kurzen Moment. In den Schrankfächern lag noch Kleidung. Ein paar T-Shirts, eine abgeschnittene Jeans, ein Jogginganzug in Rosa. Alles Dinge, die sie nur im Campingurlaub trug und damals hier zurückgelassen hatte. Da wusste sie noch nicht, dass sie so lange Zeit nicht wiederkommen würde.

Nachdenklich holte sie ihre Kleidungsstücke aus dem Koffer und legte sie dazu. Dann bezog sie das Bett. Eigentlich brauchte sie nur eine Seite mit Bettwäsche zu versehen, fiel ihr dabei ein, doch sie versah auch Wilfrieds Steppdecke und das Kopfkissen mit einem Bezug. Wenn es noch mal kalte Nächte gab, lag sie wenigstens warm. Dann kehrte Rieke in die Küche zurück, um die Klappkiste auszuräumen, in der sich die Lebensmittel befanden.

Plötzlich war auch Helga wieder da. Sie stand in der Tür und schaute Rieke beim Auspacken zu.

»Wie geht es dir?«, wollte sie wissen.

»Es geht«, erwiderte Rieke und schluckte. »Muss ja.«

Helga nickte und schwieg eine Weile. Sie und ihr Mann waren bei Wilfrieds Beerdigung dabei gewesen – extra aus Dresden angereist. Das hatte Rieke ihnen hoch angerechnet. Auch Margot und Dieter, die beiden Campchefs, waren gekommen. Und die Gemeinschaft der Dauercamper hatte einen Kranz gestiftet.

»Unserem Urlaubsfreund Wilfried« hatten sie auf die eine Seite der dunkelgrünen Schleife schreiben lassen, und auf der anderen stand: »Die Dauercamper aus dem Spreewaldcamp«.

Das war schon eine nette Gemeinschaft hier.

»Hast du gesehen, dass du einen neuen Nachbarn bekommen hast?«, raunte Helga ihr nun zu. Rieke konnte ihr ansehen, dass sie sich mit dieser Nachricht kaum zurückhalten konnte.

»Neuer Nachbar? Sind die Waldens nicht mehr da?«, fragte sie überrascht.

»Nee, weißt du das nicht? Die haben sich ein Wohnmobil gekauft. Die wollten in die Welt.«

»Auch nicht schlecht«, gab Rieke zu. Und ihr fiel wieder ein, dass sie über diese Alternative auch mal in Ruhe nachdenken musste.

»Dafür wohnt da jetzt ein Mann. Ein Single!«

Helga spuckte das Wort geradezu aus, und dabei schien ihre Nase noch spitzer zu werden, als sie sowieso schon war.

»Oh, ein Single! Das ist ja aufregend«, witzelte Rieke. »Aber wahrscheinlich achtzig plus und auf der Suche nach einer Pflegekraft, oder?«

»Nö. Der ist noch knackfrisch. Und auf die Suche muss er sich auch nicht machen. Der sieht richtig gut aus.«

»Okay.«

Rieke spürte Helgas großen Wunsch, sie beide miteinander bekannt zu machen. Oder vielleicht hätte sie ihren Horst gerne weitergegeben, um sich selbst diesen angeblich so knackfrischen Single zu angeln. Rieke grinste. Horst war ein lieber Mensch, aber aufregend war er nicht.

»Und was macht er so, dieser taufrische, gut aussehende Typ?«, wollte sie wissen.

Helga wusste alles haargenau. Psychologe war er. Mit eigener Praxis in Berlin. Und er hieß Michael, und mit Nachnamen irgend so einen Doppelnamen. Schelle-Kelle oder so. Oder auch Schnelle-Kolle.

»Beeindruckend«, tat Rieke interessiert.

»Du wirst ihn spätestens heute Abend kennenlernen«, erklärte Helga entschieden. »Heute ist doch Disco. Da gehen wir alle hin.«

Jetzt musste Rieke doch einmal tief durchatmen.

»Disco? Okay, klar«, sagte sie unruhig.

Das war alles doch ein bisschen viel auf einmal. Andererseits, worauf sollte sie warten? Der Tod kam doch sowieso viel zu schnell.

Den Schelle-Kelle lernte sie tatsächlich gleich kennen. Er hieß Michael Schnelle-Kolbert und stand plötzlich vor Rieke, als sie die letzte Klappkiste aus dem Auto holen wollte.

»Da treffen wir uns ja gleich«, rief er und strahlte dabei so sympathisch, dass auch Rieke lächeln musste.

Helga hatte nicht zu viel versprochen. Er sah tatsächlich gut aus – jedenfalls für sein Alter. Schneeweiße kurze Haare, die er nach hinten gekämmt hatte und die auf diese Weise seine Geheimratsecken sichtbar werden ließen. Dazu einen weißen gepflegten Vollbart. Besonders auffällig aber waren seine tiefen Lachfalten, die von den Augen bis zu den Ohren reichten. Sportlich sah er aus, mit wachem Blick aus dunkelbraunen Augen.

»Ah, Sie sind der Neue«, gab Rieke zurück und reichte ihm die Hand. »Ich bin Rieke Riemann. Wir sind … Ich bin seit zwölf Jahren hier Dauercamperin.«

An dieses »ich« musste sie sich noch gewöhnen.

»Freut mich«, sagte er. »Ich habe schon gehört, dass Sie lange nicht hier waren.«

Das war vorsichtig ausgedrückt. Rieke war sich ziemlich sicher, dass er genauso viel über sie wusste wie sie über ihn. Wenn nicht sogar noch viel mehr. Helga war schließlich eine gute Informationsquelle.

»Ja, ein Jahr lang nicht«, erklärte sie. »Mein Mann wurde sehr krank, und nun …« Sie schluckte. »Er ist gestorben, wissen Sie?«

Ja, er wusste es. Sie konnte es ihm ansehen. Sein Blick war warm und voller Mitleid.

»Das tut mir sehr leid«, sagte er.

Jetzt hatte er die Chance, auch etwas Persönliches über sich zu erzählen. Er tat es nicht, und auch das war nicht unsympathisch. Rieke mochte Menschen nicht, die zu schnell zu viel über sich preisgaben.

»Richten Sie sich erst mal ein«, sagte er. »Wir sehen uns ja sicherlich jetzt häufiger.«

»Ja, bestimmt«, antwortete Rieke.

Sie platzierte das Foto von Wilfried auf der Anrichte neben dem Fernseher. Liebevoll strichen ihre Finger den schmalen Holzrahmen nach. Es war ein schönes Bild von ihm. Nachdenklich saß er am Fenster des Gartenhauses, den Kopf auf den rechten Arm gestützt, den Blick nach innen gerichtet. Damals wusste er schon von seiner Krankheit. Er wusste nur noch nicht, wie aussichtslos die Lebensprognose war.

»Jetzt bist du wenigstens dabei«, sagte sie zu ihm. »Wäre schön, wenn du mir ein paar Tipps gibst, wie es jetzt weitergehen soll.«

Komm erst mal an, schienen seine Augen zu sagen. Das war ein guter Vorschlag. Rieke ließ sich neben seinem Bild auf den Stuhl fallen, legte ihre Hände in den Schoß und atmete tief durch.

Nach dem Auspacken drehte Rieke eine große Runde über den Campingplatz und meldete ihr Zurückkommen in der Rezeption. Der Campchef strahlte, als er sie sah, und seine Frau kam sogar extra hinter dem Tresen hervor, um sie in den Arm zu nehmen.

»Willkommen zurück«, sagte sie.

Anschließend begrüßte Rieke die anderen Dauercamper, trank sogar ein Likörchen mit Günther und notierte sich den Veranstaltungsplan für das Maiwochenende. Der Campingplatz hatte wieder ein schönes Programm auf die Beine gestellt. Es begann mit dem Tanz in den Mai mit DJ Hagen, ein paar Tage später ein Bingoabend mit Anja. Auch die Wassergymnastik mit Nicole fand wieder statt. Rieke beschloss, sich nichts entgehen zu lassen.

Anschließend kaufte sie sich ein Eis, schlenderte dann zum Waldrand hinüber. Der Campingplatz wurde auf der einen Seite vom Wald eingerahmt. Rieke verließ den Platz durch das kleine Seitentörchen und machte sich auf den Weg durch den Wald zum See. Es tat gut, allein zu sein.

Am Strandbad am See tollten die Kinder im Wasser und in der Sonne, Eltern lagen auf den Handtüchern und redeten miteinander, bräunten und langweilten sich. Rieke beschloss, weiter am See entlangzugehen und sich eine andere Stelle zum Baden zu suchen. Das war nicht so einfach. Der See war bis auf wenige Stellen vom Schilf eingeschlossen. Endlich fand sie einen Platz, an dem das Schilf niedergetreten war. Offenbar benutzten Angler diesen Bereich, um an den See zu kommen und ihre Angelhaken ungestört auszuwerfen. Einen kurzen Moment überlegte Rieke, ob sie es wagen konnte, nackt zu schwimmen. Das hatte sie früher manchmal gemacht, wenn niemand am See gewesen war, in der Nachsaison zum Beispiel, oder auch mal nachts.

Hastig schaute Rieke von dieser Stelle zum Strand hinüber. Wenn sie sich duckte und sich im Schilf auszog, war sie für die Badenden nicht zu sehen. Überhaupt paddelten die meisten Gäste am Strand im kniehohen Wasser herum. Kaum jemand schwamm weiter auf den See hinaus. Das war ihre Chance. Hastig zog Rieke sich aus, legte die Kleidung auf einen Haufen und watete ins Wasser. Sie holte tief Luft und warf sich dann so schnell wie möglich in den See, sodass hoffentlich niemand erkennen konnte, dass sie keine Kleidung anhatte. Dann schwamm sie mit kräftigen Stößen auf die Mitte des Sees zu. Das Wasser war kühl und frisch. Es so direkt auf der Haut zu spüren, war ein erregendes Gefühl.

Als Rieke weit genug vom Ufer fort war, legte sie sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Herrlich, mal wieder etwas ganz Unkonventionelles zu tun: Nackt zu baden, und die anderen in sicherer Entfernung zu wissen, war auf alle Fälle eine mutige Entscheidung.

Das Seewasser war seicht. Es wehte kaum Wind, und so bildeten sich keine Wellen. Es war das perfekte Wetter, um bis auf die andere Seite zu schwimmen. Rieke drehte sich wieder auf den Bauch und kraulte langsam weiter. Sie war eine gute Schwimmerin.

In der Mitte des Sees kam plötzlich diese Erinnerung wieder. Damals in dem Feriencamp an der Talsperre im Sauerland, wo sie als Zehntklässlerin ihren Urlaub verbracht hatte. Sie war mit ihrer Freundin Silke schwimmen gewesen. Ganz weit raus waren sie gekrault. Und dann hatte etwas ihren Körper gestreift. Wie ein Blatt. Oder ein Fisch. Und dann hatten sie diese Wasserleiche gesehen. Grüne Haut. Lange Haare. Ein schreckliches Erlebnis. Die Ertrunkene war schon lange vermisst worden. Nun war sie gefunden.

Nicht daran denken, dachte Rieke. Doch das war leichter gedacht als getan. Sie erinnerte sich an diesen furchtbaren Schrei, den Silke ausgestoßen hatte. Dann hatte auch sie gebrüllt, wie eine Verrückte. Die beiden hatten sich auf den Bauch geworfen und waren wie die Irren ans Ufer gekrault, immer in Gedanken an die Tote, die sich nur wenige Meter hinter ihnen befand.

Rieke schluckte. Was für eine schreckliche Erinnerung, ausgerechnet jetzt, wo sie Entspannung suchte!

Sie drehte sich wieder auf den Bauch und zog mit kräftigen Zügen durch das Wasser.

Auf der anderen Seeseite befand sich das Schloss, links daneben ein altes Gut. Das Wasserschloss duckte sich im Sommer mit seinem wuchtigen Wohnturm und dem runden Treppenturm hinter die dicken Eichen und Erlen, nur die grüne Turmspitze war zu erkennen. Auch das Gut wurde erst im Herbst wieder sichtbar. Jetzt verschmolz es mit seinen Efeuranken und dem wilden Wein ebenfalls mit dem Grün des Parks. Rieke wusste aber, dass die beiden Gebäude ehrwürdig und gleichzeitig auch sehr romantisch aussahen. Beide Bauwerke grenzten mit ihren Parkanlagen direkt an den See. An dieser Stelle gab es besonders viele Seerosen, die sich zu einem grünen Teppich zusammengeschlossen hatten. Schon von Weitem konnte Rieke ihre rosa, orangen und roten Blüten erkennen. Das war eine Pracht, für die es sich lohnte, auf die andere Seeseite geschwommen zu sein. Beeindruckt tastete sie sich näher an die Blüten heran.

Plötzlich spürte Rieke etwas unter sich. Etwas, das nicht zu ihr gehörte, streifte ihr Bein. Für einen Moment hielt Rieke die Luft an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sofort hatte sie das Gesicht dieser Wasserleiche wieder vor sich, dieses aufgequollene grünliche Gesicht und die dunklen Flecken, die langen wirren Haare. Ihre Muskeln spannten sich an. Sie spürte, wie sich ein Krampf in der Wade ankündigte. Bloß das nicht! Sie musste jetzt ganz ruhig bleiben! Sie musste!

Rieke atmete tief ein und aus und versuchte, zur alten Ruhe zurückzufinden. Es ist nur ein Fisch, sagte sie sich immer wieder. Hier im See gab es Karpfen, Aale und große Welse. Auch einen Hecht hatten sie schon aus dem Wasser gezogen.

Und trotzdem – die Panik blieb.

Rieke wagte nicht, unter sich zu fassen, erst recht traute sie sich nicht, danach zu tauchen. Hastig bewegte sie sich weiter in die Richtung des Ufers und geriet dabei tiefer in den Seerosenteppich hinein. Da! Etwas Kaltes legte sich plötzlich auf ihre Schulter. Wie eine Hand fühlte es sich an. Finger gruben sich in ihre Haut. Rieke schrie auf, vergaß vor Schreck zu schwimmen. Sie versank wie ein Stein und geriet dabei zu tief unter die Wasseroberfläche. Sie schluckte algiges Seewasser.

Erschrocken paddelte sie mit Armen und Beinen, tauchte wieder auf und schnappte nach Luft. Das Ufer war nur wenige Meter entfernt. Wenn bloß die Seerosen nicht so dicht wüchsen! Es war unmöglich, durch sie hindurchzuschwimmen. Dieses unbekannte Etwas hatte sich jetzt von ihrer Schulter gelöst und war nach ihrem Tauchgang im Wasser zurückgeblieben.

Aber die Panik hatte Rieke nun gepackt. Keine Minute wollte sie hier im Wasser verbringen. Jetzt spürte sie Boden unter den Füßen, stellte sich auf den weichen modrigen Ufergrund und versuchte, sich einen Weg durch die Seerosen zu bahnen.

»Ich glaub es nicht!«, hörte sie plötzlich eine Stimme.

Hinter der immergrünen Thujahecke, die die Terrasse des alten Gutshauses zum See hin abschirmte, kam ein Mann hervor. Die schwarze Brille gab ihm ein strenges, die grau-grüne hornbeknopfte Lodenjacke ein adeliges Aussehen. Besonders beeindruckend aber wirkte der schwergewichtige braun-schwarze Rottweiler, der hinter ihm auftauchte.

Rieke wurde schlagartig bewusst, dass sie ziemlich nackt war. Schutzlos fühlte sie sich. Und ausgeliefert. So schnell wie möglich tauchte sie wieder zwischen die Seerosen. Dabei konnte sie spüren, wie ihr Körper von einer Gänsehaut überzogen wurde. Hoffentlich grabschte die Leiche kein weiteres Mal zu.

»Was machen Sie hier?«, fuhr der Mann sie an.

Wonach sieht es denn aus?, lag Rieke auf der Zunge, aber sie unterdrückte den Kommentar.

Der Gutsherr und sein Wachhund traten nun näher ans Ufer. Das verstärkte Riekes Panik.

»Wie kommen Sie überhaupt hierher? Das hier ist Privatgelände.«

»Ich habe Ihr Gelände nicht betreten«, gab Rieke nun zurück. »Ich bin doch im Wasser.«

Und das gehört Ihnen nicht, dachte sie, sagte es aber nicht.

»Wie kommen Sie dann hierher?«

»Von der anderen Seeseite«, versuchte sie so höflich wie möglich zu erklären. Ihr Körper schlotterte. Das Wasser erschien ihr plötzlich eiskalt.

»Wagen Sie es bloß nicht, meinen Garten zu betreten«, fauchte er weiter. »Sonst hetze ich meinen Hund auf Sie.«

Rieke warf einen Blick auf den Rottweiler, der sie seinerseits mit den Augen verfolgte. Unter diesen Umständen musste man nicht lange überlegen. Wenn man vor die Alternative gestellt wurde, sich von einem Hund zerfleischen oder sich von einer Leiche berühren zu lassen, war die Leiche wahrscheinlich das kleinere Übel.

»Keine Angst«, rief sie. »Solche Menschen wie Sie möchte ich gar nicht kennenlernen.«

Das schien er genauso zu sehen.

»Schönen Tag noch«, zischte er.

»Sie mich auch!«, gab Rieke zurück.

Dann stieß sie sich vom Grund ab, tauchte durch die Seerosen hindurch, ohne dabei die Augen zu öffnen, und kam erst wieder an die Wasseroberfläche, als sie die Pflanzen hinter sich gelassen hatte. Dabei zitterte sie am ganzen Körper. Der Strand auf der anderen Seeseite sah so klein aus. Die Strecke zurück erschien ihr unglaublich lang. Immer wieder fühlte sie unter sich. Doch die Leiche schien sie nicht zu verfolgen.

Rieke war so aufgeregt, dass sie beinahe die Stelle nicht wiedergefunden hätte, an der sie ihre Kleidung abgelegt hatte. Hastig kletterte sie an Land, ging dann barfuß über den piksenden Schilfboden. Im See zu schwimmen war ein spontaner Entschluss gewesen, darum hatte sie kein Handtuch mitgenommen.

Das rächte sich jetzt. Sie wusste nämlich nicht, womit sie sich abtrocknen sollte. Schließlich nahm sie einen Strumpf, wischte sich damit die Tropfen ab. Ihre Haut war noch nass, als sie in Unterwäsche, T-Shirt und Jeans schlüpfte. Die Kleidung klebte an ihrem Körper. Eklig fühlte sich das an. Rieke beeilte sich, zum Campingplatz zurückzukehren.

Die Sonne versank bereits blutrot hinter dem Wald, als Rieke das Metalltor aufdrückte, das sie auf den Campingplatz zurückführte. Eine Rauchwolke lag über dem Platz. Es roch nach Bratwurst und Steak. Rieke beeilte sich, zu ihrer behüteten Dauercampersiedlung zu kommen.

Als sie den Weg entlang Richtung Schwalbennest hastete, fiel ihr ein altes Wohnmobil auf. Es stand auf dem Zeltplatz Rehwiese direkt am Zaun. Das Wohnmobil war ein alter VW-T3-Kastenwagen, wie sie und Wilfried ihn früher gefahren waren, als sie zu einer Fahrt zum Nordkap aufgebrochen waren. Der untere Teil des Fahrzeugs war in einem scheußlichen Braun-Gelb gehalten, der obere Teil des Bullis war weiß. Stilecht wie aus den Siebzigern. Wilfried hatte damals die Sitze ausgebaut und durch eine kleine Küche und ein Bett ersetzt. Sie hatten in dem Wagen nicht stehen können, aber das war nicht so wichtig gewesen. Sie hatten sowieso den halben Urlaub im Bett verbracht. Rieke bildete sich ein, sich sogar an den Geruch des Wagens zu erinnern – eine Kombination aus Öl und Patschuliduft, das sie damals ständig auf ihre Handgelenke geträufelt hatte.

Schlagartig war Riekes Panik verschwunden. Die Vergangenheit hatte sie eingeholt. Lächelnd trat sie ein bisschen näher an den Wagen heran und versuchte, einen Blick durch das Fenster zu erhaschen. Plötzlich sprang jemand auf den Fahrersitz und knurrte leise. Ein Hund mit hellem Fell und dicken Locken schaute aus dem Fenster. Er tauschte einen langen Blick mit ihr. Dann bellte er.

»Entschuldigung«, beeilte sich Rieke zu sagen. »Keine Angst. Ich tue dir nichts. Ich gucke nur.«

Doch der Hund fand das offenbar nicht so lustig. Er schien genauso schlecht gelaunt zu sein wie der Rottweiler. Heute hatte Rieke kein Glück bei Hunden.

»Ich bin schon weg«, murmelte sie und machte, dass sie zu ihrem Platz zurückkam.

ZWEI

Der Abend wurde dann aber doch zu Riekes Überraschung noch richtig schön. Viele Dauercamper trafen sich an ihrem großen Stammtisch in Siggis Restaurant auf dem Campingplatz, ließen sich »Pommes Schnitzel rot-weiß« servieren und tranken Spreewälder Pils – alternativ Rotkäppchen-Sekt. Günther gab eine Runde Spreewaldbitter aus. Rieke merkte, wie sie sich allmählich besser fühlte.

Jetzt gelang es ihr sogar, ihre Schwimmgeschichte zum Besten zu geben. Dass sie nackt im See herumgekrault war, weckte das Interesse aller. Da konnte die Disco-Musik noch so laut sein. Spätestens bei dem Wort »nackt« hatte sie die Aufmerksamkeit der anderen Dauercamper auf sich gezogen.

»Ihr glaubt nicht, was für einen Schrecken ich gekriegt habe, als plötzlich etwas an meiner Schulter klebte. Ich habe echt gedacht, das ist eine Leiche.«

»Wäre nicht die erste Wasserleiche, die da herumschwimmt«, meinte Helga. »Wisst ihr noch, da gab es doch mal einen Arzt aus Berlin. Der hat seine Frau im See entsorgt.«

»War der nicht sogar Chirurg und hatte ihre Arme und Beine abgetrennt?«

»Und auch den Kopf, oder?«

»Nee, jetzt übertreibst du aber.«

»So hat es in der Zeitung gestanden.«

»Aber nur in der Bild-Zeitung, oder?«

Rieke erschauderte. Die nächsten Schwimmzüge würde sie im Schwimmbad auf dem Campingplatz machen. Das schwor sie sich.

»Wer ist eigentlich der Typ, der da in dem Gutshaus neben dem Schloss wohnt?«, wollte sie wissen. »Der ist ja nicht so besonders charmant.«

»Das ist so ’ne Wessi-Schrappe«, wusste Horst zu erzählen. »Gregor Enker heißt der. Hat das Gutshaus für einen Euro gekriegt und macht jetzt einen auf adelig und dicke Hose.«

»Typisch! Und hat wahrscheinlich nur Schulden auf der hohen Kante.«

Rieke vermied zu sagen, dass sie auch Wessi war. Das kam in dieser Runde nicht so gut an.

»Sympathisch sieht jedenfalls anders aus«, stellte sie fest. »Der und sein Rottweiler nehmen sich nichts.«

Sie spürte, dass dieser Psychologe – dieser Schnelle-Helle – sie nachdenklich betrachtete.

»Und dann schwimmst du ganz alleine nackt durch den See?«, wollte er wissen.

Helga und Horst prusteten vor Lachen.

»Was meinste, was die Rieke alles so macht? Die macht sogar beim Strip-Poker mit. Einmal haben wir sie bis auf den Schlüpfer ausgezogen«, tönte Friedrich.

Rieke wäre am liebsten im Boden versunken. Dieser Abend beim Pokern gehörte nicht zu ihren Lieblingserinnerungen. Verlegen schielte sie zu dem Psychologen hinüber. Seine Augen warfen ein strahlendes Lächeln zurück.

»Alt wie ein Baum möchte ich werden«, spielte DJ Hagen. Hagen stand auf Ostrock.

»Tanzt du mal?«, fragte Michael.

Sie waren also schon beim Du.

»Ich weiß nicht«, gab Rieke irritiert zurück.

»Also dann! Darf ich bitten?«

Er stand auf und streckte ihr seine Arme entgegen. Unsicher folgte ihm Rieke zur Mitte des gepflasterten Marktplatzes. Michael nahm nun ihre Hand, sie legte die andere auf seine Schulter.

Wilfried hatte nie getanzt. Darum hatte sie wenig Übung darin. Doch entweder merkte Michael das nicht, oder es störte ihn nicht. Er war auf alle Fälle tanzsicher, wusste offenbar, um welchen Rhythmus es sich handelte, setzte im rechten Moment ein und führte sie durch Schritte und Drehungen. Rieke war überrascht, wie viel Spaß ihr das machte.

Der Abend verging wie im Flug. Als der Wirt nach dem dritten Spreewaldbitter das Ende der Veranstaltung einläutete und DJ Hagen ein letztes Mal »Über sieben Brücken musst du gehn« spielte, war Rieke bewusst, dass sie sich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt hatte. Arm in Arm wankten alle zurück zu ihren Wohnwagen. »Atemlos durch die Nacht«, sangen sie dabei.

»Kommst du noch auf einen Absacker rüber?«, wollte Helga wissen.

Doch da wusste Rieke, dass das schnell unglücklich enden konnte, und winkte ab. Sie war die Erste der Gruppe, die im Bett verschwand.

Am nächsten Morgen war sie froh, dem Alkohol am Abend vorher rechtzeitig entkommen zu sein. Sie hatte tief und ruhig geschlafen. Eine Weile lag sie bewegungslos im Bett auf dem Rücken, beide Hände fest an die Brust gedrückt, und dachte nach. Ein langer Sommer lag vor ihr – ein erster Spreewaldurlaub ohne Wilfried. Und doch hatte sie nicht mehr das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Ihre Freunde waren hier und würden auf sie achtgeben. Es tat ihr auch gut, so viel unberührte Natur um sich zu haben. Noch war die Zeit für Kreuzfahrten durch die Karibik nicht gekommen, aber ein Sommer in der Märkischen Heide konnte auch erste Wunden heilen. Sie streckte sich, entschied sich dann, eine Runde durch den Wald zu walken. Die frische Luft würde ihr guttun, dachte sie. Aber wenn sie ehrlich war, ließ sie auch diese Wasserleiche nicht los. Egal, ob es sie gegeben hatte oder nicht.

Rieke schnappte ihre Badeschlappen, hüllte sich in ihren großen roten Morgenmantel und ging zum Sanitärhäuschen hinüber. Offenbar war sie die Erste. Sie setzte ihre Duschhaube auf, damit die Haare trocken blieben, dann duschte sie lange und heiß. Anschließend frühstückte sie, ebenfalls im roten Morgenmantel, zog sich danach ihren Trainingsanzug und die Sportschuhe an, schnappte sich ihre Walkingstöcke und marschierte los. Rechts, links, die Walkingstöcke versetzt, wie sie es im Volkshochschulkurs gelernt hatte. An dem weiß-gelben T3 hielt sie kurz an. Von innen war ein leises Fiepen zu hören. Dem Hund, dem sie gestern begegnet war, schien es nicht besonders gut zu gehen. Ob er die ganze Nacht über allein im Wagen geblieben war? Der Wagen sah unverändert aus. Die Jalousien über dem Seitenfenster waren immer noch heruntergezogen.

Unsicher ging Rieke auf den Wagen zu.

»Hee, wer weint denn so?«, fragte sie mitleidig.

Der Reißverschluss des Nachbarzeltes wurde hochgezogen, und eine junge Frau schaute verschlafen heraus.

»Da sind Sie ja endlich«, zickte die junge Frau sie an. »Ihr Hund hat die ganze Nacht gejault. Wir haben kein Auge zugemacht.«

»Das ist gar nicht mein Hund«, verteidigte Rieke sich. »Ich wundere mich nur, dass er immer noch jammert. Ich habe ihn nämlich auch gestern Abend gehört.«

Nun kam die junge Frau vollständig aus dem Zelt. Ihr Blick wurde freundlicher.

»Entschuldigung. Das wusste ich nicht.« Sie fuhr sich durch das verschlafene Gesicht. »Ich weiß eigentlich gar nicht, wer zu dem Hund gehört. Ich habe hier noch gar keinen gesehen. Nur den Hund habe ich gehört.«

»Und wie lange sind Sie schon da?«, fragte Rieke beunruhigt.

»Seit gestern Nachmittag.«

»Ist der Hund schon so lange alleine?«

Die junge Frau zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«

Rieke zögerte einen Moment, dann machte sie einen unsicheren Schritt auf die Tür zu und klopfte daran.

»Hallo?«

Der Hund bellte laut. Eine menschliche Antwort kam nicht.

Rieke drehte sich zu der Nachbarin um. Die sah nachdenklich aus.

»Keiner da, was?«, meinte sie.

Das war Rieke nun auch klar. Mit einem Blick erkannte sie, dass der Wagen nicht verriegelt war. Aber sie wagte nicht, die Tür zu öffnen.

»Ich melde das mal bei Dieter«, beschloss Rieke und stapfte mit ihren Walkingstöcken zur Rezeption hinüber.

Doch ihr wurde sofort bewusst, dass das eine schlechte Idee war. Eine Menschenschlange stand an, um Brötchen zu holen. Rieke warf einen kurzen Blick durch die Scheibe der Rezeption und sah, dass Dieter und Margot voll im Stress waren. Für einen winselnden Hund war jetzt keine Zeit.

Nachdenklich kehrte Rieke zum Bulli zurück und verharrte einen Augenblick an der Tür. Noch einmal klopfte sie, aber als sich niemand meldete, zog sie am Türgriff. Dann trat sie einen Schritt zurück. Ein bellender Hund erwartete sie. Sie starrten einander ängstlich an.

Es war ein hübscher Hund, kniehoch vielleicht, mit weiß-braunem Fell, schwarzen Schlappohren und wachen braunen Augen. Seine Nase war gesprenkelt, als wenn er Sommersprossen hätte. Es war wohl ein Mischlingshund, irgendwas zwischen Terrier und Berner Sennenhund, jedenfalls einer mit einem freundlichen Charakter, denn sonst hätte er geknurrt oder sie gebissen.

Jetzt dagegen sprang der Hund ins Freie und jagte davon.

Mitleidig sah ihm Rieke nach, wie er an einer Pfütze stehen blieb und wie ein Verdurstender schlürfte. Dann rannte er weiter zu einem Baum, hockte sich hin und pinkelte lange.

»Hallo«, sagte Rieke nun unsicher und blickte in den Innenraum.

Der Bulli sah anders aus, als sie erwartet hatte. Es gab nur ein schmales Bett am rückwärtigen Fenster, auf dem eine Steppdecke und ein Kopfkissen lagen, die mit bunter Bettwäsche bezogen waren. Die Steppdecke war zurückgeschlagen, jemand schien das Bett gerade erst verlassen zu haben. Daneben auf der kleinen Eckbank lag eine Leggins mit kurzen Beinen, daneben ein rosa T-Shirt mit weißen Adidas-Streifen. Frauenkleidung. Vielleicht hatte sich jemand kurz vor dem Weggehen noch umgezogen. Am seitlichen Fenster befand sich eine kleine Küchenzeile mit Herd, Spüle und Kühlschrank. Eine Pfanne lag auf dem Boden. Offensichtlich hatte jemand noch Essen zubereitet, bevor er gegangen war. Es roch nach Bratkartoffeln. Wenn es Reste gegeben hatte, hatte der Hund sie gefressen und die Pfanne anschließend ausgeschleckt.

Rieke zögerte einen Moment, betrat dann den Campingbulli. Dabei hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie befand sich immerhin in einem Bereich, der jemand anderem gehörte, und es war nicht ihre Art, herumzuschnüffeln. Aber aus irgendeinem Grund beunruhigte sie die Situation. Es sah aus, als wenn jemand nicht beabsichtigt hätte, so lange fortzubleiben. Eventuell war dieser Jemand verunglückt. Beim Schwimmen vielleicht ertrunken.

Wieder musste Rieke an die Hand auf ihrer Schulter denken, und die Panik packte sie erneut.

»Haben Sie was gefunden?«, fragte eine Stimme hinter ihr.

Rieke zuckte zusammen und fuhr herum. Es war die junge Frau aus dem Zelt. Rieke atmete tief durch. Sie war in letzter Zeit so schreckhaft.

»Nein, hier ist keiner«, sagte sie. »Man hat den Eindruck, dass jemand nur kurz weggegangen ist. Ich glaube, in der Pfanne waren noch Essenreste.«

»Und gebrauchtes Geschirr steht auch noch da«, fiel der Frau auf.

Gemeinsam blickten sie sich um.

»Hoffentlich ist dem Besitzer nichts passiert«, murmelte Rieke beunruhigt.

»Auf alle Fälle sollten wir den Hund versorgen«, überlegte die Frau. »Er scheint ja eine längere Zeit schon nichts mehr zu fressen bekommen zu haben.«

»Seltsam, oder?«

»Ein bisschen unheimlich sogar.«

Rieke spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Sie musste hier raus, wollte ja sowieso für den Hund sorgen. Ein kleiner Spaziergang würde ihr guttun, und dem Hund auch.