Gut Werdenberg - Hoffnung eines neuen Lebens - Annette Weber - E-Book
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Gut Werdenberg - Hoffnung eines neuen Lebens E-Book

Weber Annette

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Beschreibung

Ein Gestüt in den Stürmen des Schicksals: Die Familiensaga »Gut Werdenberg – Hoffnung eines neuen Lebens« von Annette Weber als eBook bei dotbooks. Drei Frauen, drei Lebensträume – doch nur gemeinsam können sie dem Gutshof zu neuem Glanz verhelfen … Das Mindener Land, 1922: Schon lange träumt Thekla von Werdenberg davon, das Gestüt ihres Vaters mit der Zucht von Sportpferden in die Zukunft zu führen. Muss sie all das nun aufgeben, um einen vermögenden Mann zu heiraten, sich unterzuordnen, endlich eine Dame zu werden? Auch ihre beste Freundin Bettina, die Tochter des Stallmeisters, eckt mit ihren Ideen und Talenten überall an: Eine respektable junge Frau kann doch unmöglich am Turniersport teilnehmen, entrüsten sich die Männer. Doch schließlich kommt Bettina eine Idee, wie sie allen beweisen kann, was in ihr steckt … Mutig muss auch Theklas Schwester Franzi sein, als sie in Hannover einer alten Liebe wiederbegegnet – und plötzlich begreift, dass das neue Jahrhundert keine zaghaften Damen, sondern starke Frauen braucht! Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Gut Werdenberg – Hoffnung eines neuen Lebens« ist der zweite Band der großen deutschen Nachkriegssaga aus Ostwestfalen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 434

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Über dieses Buch:

Drei Frauen, drei Lebensträume – doch nur gemeinsam können sie dem Gutshof zu neuem Glanz verhelfen… Das Mindener Land, 1922: Schon lange träumt Thekla von Werdenberg davon, das Gestüt ihres Vaters mit der Zucht von Sportpferden in die Zukunft zu führen. Muss sie all das nun aufgeben, um einen vermögenden Mann zu heiraten, sich unterzuordnen, endlich eine Dame zu werden? Auch ihre beste Freundin Bettina, die Tochter des Stallmeisters, eckt mit ihren Ideen und Talenten überall an: Eine respektable junge Frau kann doch unmöglich am Turniersport teilnehmen, entrüsten sich die Männer. Doch schließlich kommt Bettina eine Idee, wie sie allen beweisen kann, was in ihr steckt… Mutig muss auch Theklas Schwester Franzi sein, als sie in Hannover einer alten Liebe wiederbegegnet – und plötzlich begreift, dass das neue Jahrhundert keine zaghaften Damen, sondern starke Frauen braucht!

Über die Autorin:

Annette Weber, 1956 in Lemgo geboren, schreibt seit über 20 Jahren Jugendbücher und Gegenwartsromane, in die sie stets ihre Begeisterung für Pferde einfließen lässt. Annette Weber ist verheiratet, hat drei Söhne, fünf Enkelkinder und lebt in der Nähe von Paderborn.

Die Autorin im Internet: www.annette-weber.com/ und www.sina-trelde.de

Bei dotbooks veröffentlichte Annette Weber ihre »Gut Werdenberg«–Saga mit den Bänden »Stürme einer neuen Zeit« und »Hoffnung eines neuen Lebens«.

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Originalausgabe Juli 2022

Copyright © der Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur, www.textbaby.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Sarah Schroepf

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-091-5

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Annette Weber

Gut Werdenberg – Hoffnung eines neuen Lebens

Roman

dotbooks.

Die Liebe hemmet nichts;

sie kennt nicht Tür noch Riegel

Und dringt durch alles sich;

Sie ist ohn’ Anbeginn,

schlug ewig ihre Flügel

Und schlägt sie ewiglich.

(Matthias Claudius)

Kapitel 1

Thekla von Werdenberg hatte unruhig geschlafen. Es war spät geworden, bis sie endlich einschlafen konnte, und dann hatte sie wild geträumt. An den Traum selbst erinnerte sie sich nicht mehr, aber ihr Vater war darin vorgekommen. Sie hatte ganz klar sein Gesicht vor Augen, als sie erwachte. Verärgert, mit zusammengekniffenem Mund und tiefen Falten auf der Stirn. Er hatte auf sie eingeredet. Was er gesagt hatte, wusste sie nicht mehr, aber sie spürte noch jetzt ihren Widerstand gegen seine Worte. Sogar im Traum war ihr klar, dass sie sich nicht von ihm einwickeln lassen würde. Sie musste endlich ihren eigenen Weg finden.

Sie streckte sich, stand dann auf und ging zum Fenster. Im Stall des Gutshofs schien schon jemand zu arbeiten. Thekla sah hin und wieder einen Schatten am Fenster vorbeistreifen. Robert! Thekla erkannte sein Profil. Sie musste lächeln, und ihr Herz begann zu klopfen. Schnell lief sie zum Waschtisch, wusch sich und zog sich an.

Als sie die Treppe hinuntereilte, kam ihr das Hausmädchen Luise entgegen. Sie knickste ehrerbietig, sah aber verwundert aus. Offensichtlich hatte sie nicht erwartet, dass schon jemand von den Herrschaften wach war.

»Ich wünsche dir einen schönen guten Morgen«, rief Thekla vergnügt. Luise antwortete nicht. Es hatte ihr offensichtlich die Sprache verschlagen.

Als Thekla den Stall betrat, reckten die Pferde ihre Köpfe über die Türen der Boxen. Besonders Athena, sie wollte gestreichelt werden.

Thekla blieb stehen und klopfte der weißen Stute liebevoll auf den Hals.

»Na, gut geschlafen?«, fragte sie.

Athena pustete ihren Atem gegen Theklas Handfläche, und sie streichelte ihre aufgeblähten Nüstern.

»Ist ja gut. Du bist ja mein Traumpferd«, flüsterte sie.

Gleichzeitig lauschte sie in die Stallgasse hinein, in der sich offensichtlich Robert befand. Er schien damit beschäftigt, die Pferde zu füttern, denn er schob die Karre von Box zu Box. Dabei pfiff er leise vor sich hin. »Wenn das Herz dir auch bricht, zeig ein lachendes Gesicht.«

Das Lied hatten sie damals in dem Wirtshaus gespielt, als sie gemeinsam zur Hengstkörung gefahren waren. Sie hatten zu dieser Musik ausgelassen auf der Straße getanzt – und sich dann geküsst …

»Was machst du hier?«, hörte sie nun Roberts Stimme hinter sich.

Thekla fuhr ertappt herum. Er sah erschrocken aus, trug ein Leinenhemd, dem man kaum noch ansehen konnte, dass es einmal weiß gewesen war, dazu eine braune Leinenhose und Holzschuhe. Sie hatte das Gefühl, dass es ihm peinlich war, dass sie ihn so sah.

»Ich warte auf dich«, sagte sie und lächelte ihn an.

Das war ihm offensichtlich noch unangenehmer. Er wischte sich die Hände an seiner Hose ab.

»Ich bin heute der Stallbursche«, erklärte er verlegen. »Du weißt ja, Personal ist knapp.«

Das wusste Thekla nur zu gut. Im letzten Jahr war ein Großteil ihrer Dienstboten und Stallburschen in die größeren Städte abgewandert. Umso schöner fand sie es, dass sich Robert nicht zu schade war, diese Aufgabe zu übernehmen.

»Aber wenn ich gewusst hätte, dass ich hier heute das gnädige Fräulein antreffe …«

Das klang ironisch. Er machte eine Verbeugung in ihre Richtung, und sein Gesicht verschloss sich dabei.

Thekla trat auf ihn zu. »Rede nicht so«, tadelte sie ihn leise. »Das verletzt mich. Ich habe dir gesagt, wie ich zu dir stehe.«

Robert stand nun ganz still, aber seine Miene war weicher geworden. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, nahm sein Gesicht in ihre Hände und gab ihm einen Kuss.

»Vorsicht«, raunte er ihr ins Ohr. »Ich rieche nicht besonders gut.«

Thekla kicherte. »Du duftest wundervoll nach Pferd. Du weißt, wie sehr ich das liebe.«

Wieder küsste sie ihn. Da lachte er plötzlich, schlang seine Arme ganz fest um sie und küsste sie so heftig, dass es ihr den Atem verschlug.

Dann ließ er seine Lippen an ihrem Hals entlanggleiten.

»Du bist völlig verrückt«, flüsterte er. »Kannst einen Freiherrn haben und verliebst dich in einen Stallburschen.«

»In einen Bereiter«, verbesserte Thekla. »In einen Bereiter, der so wundervoll nach Pferden duftet.«

Sie lachte wieder. Dann bog sie ihren Körper nach hinten, damit er ihren Hals besser küssen konnte. Gleichzeitig schmiegte sie sich ganz eng an ihn. Robert atmete schwer.

»Pass auf, was du tust«, knurrte er liebevoll. »Auf diese Weise sind schon so einige Kinder im Stall entstanden.«

Thekla fuhr ihm durch die Haare und streichelte dann sein Gesicht.

Das kann ich gut verstehen, wollte sie gerade sagen, doch in diesem Moment hörten sie Schritte auf die Tür zukommen. Hastig ließ Robert sie los, konnte gerade noch einen Schritt zur Seite machen, dann stand Friedrich von Werdenberg auch schon im Stall. Misstrauisch schaute er von Robert zu seiner Tochter. Es war genau das Gesicht, das Thekla im Traum gesehen hatte.

»Oh, mein Fräulein Tochter ist schon wach«, dröhnte er, und seine Stimme hatte einen warnenden Klang. »Hilfst du etwa dem Stallburschen beim Füttern der Pferde?«

Es war unverschämt von ihrem Vater, das zu sagen. Er wusste genau, dass Robert eine andere Stellung hatte. Schließlich hatte er ihn selbst zum Bereiter ernannt, als klar geworden war, dass der alte Kirschner mit seiner harten Pferdeerziehung, die noch aus dem letzten Jahrhundert stammte, die Zucht der Werdenbergs nicht zum gewünschten Erfolg bringen konnte. Ein Erfolg, der bitter nötig war, so schlecht, wie es um das Gestüt und seine Finanzen stand. Eigentlich musste er Robert danken, dass er diese Arbeit übernommen hatte. Sonst wäre es um die Versorgung der Pferde schlecht bestellt.

Thekla reckte das Kinn. »Warum sagst du das?«, gab sie verärgert zurück. »Sei froh, dass er es macht. Sonst müsstest du es selbst tun.«

Friedrich warf Robert einen finsteren Blick zu. Er ahnte sicherlich, dass sie hier war, um in seiner Nähe zu sein.

»Hast du nicht etwas anderes zu tun?«, fauchte er sie an. »Ich dachte, du wolltest dich mit Bettina um die Kutsche kümmern und sie für das Erntedankfest schmücken.«

»Natürlich mache ich das«, stimmte Thekla zu. »Aber erst in ein paar Stunden. Bettina schläft doch sicherlich noch.«

Doch ihr Vater ließ sich nicht einwickeln.

»Mach dich für das Frühstück fertig«, herrschte er sie an. »Robert schafft die Arbeit auch ohne dich.«

Darauf folgte eine verärgerte Kopfbewegung zu Robert. »Also dann!«, ordnete er an.

Thekla bemerkte Roberts kurzen Blick, den sie erwiderte.

»Wir sehen uns«, sagte sie leise. Da lächelte er.

***

Zwei Stunden später standen Thekla und Bettina neben der Kutsche im Hof und versuchten, einen Kranz um den Wagen zu binden. Das war nicht so einfach. Immer wieder gab es Stellen, an denen er auseinanderbrach.

»Bettina? Hast du noch Weidenzweige? Der Kranz hält nicht mehr«, rief Thekla ihrer Freundin zu. Sie hob den Erntekranz in die Höhe und hielt die beiden Enden, an denen das Gebilde auseinanderklaffte, mit beiden Händen fest. Bettina schnappte sich einen langen Weidenzweig und eilte ihr zu Hilfe, so schnell es ihr möglich war. Mit ihrem Bein, das sie seit ihrer Polioerkrankung hinter sich herzog, war sie nicht so schnell, und so brach der Kranz vollends auseinander.

»Oh nein!«, rief Bettina unglücklich. »Die ganze Arbeit umsonst. An dieser Stelle habe ich schon so lange gearbeitet. Aber der Kranz ist einfach zu lang. Die Weide hält ihn nicht mehr zusammen.«

Die beiden waren nun schon länger damit beschäftigt, den Rohling für eine Girlande herzustellen, die für das Erntefest rund um die Kutsche der Werdenbergs gebunden werden sollte. Aber die Kutsche war groß. Die Girlande musste viele Meter lang werden.

»Ich gehe mal zu Peter und frage ihn, ob er Draht für uns hat«, überlegte Bettina.

Zuerst wollte Thekla einwenden, dass sie auch selbst zu dem jungen Schmied hinübergehen konnte, um ihn um Hilfe zu bitten. Wusste sie doch, wie viel Schwierigkeiten das Gehen Bettina nach einem langen Tag bereitete. Sie beherrschte sich aber gerade noch rechtzeitig, weil ihr einfiel, dass es Bettina vielleicht nicht nur um den Draht ging.

»Ja, geh nur«, sagte sie. »Ich flechte inzwischen an der anderen Seite weiter.«

Bettina lächelte, und ein Strahlen war in ihre Augen getreten. Langsam überquerte sie den Hof. Thekla sah ihr nach, dann machte sie sich wieder an die Arbeit. Eigentlich ging ihr das Kränzewinden leicht von der Hand, doch heute war sie zu unkonzentriert und hatte schon einige Fehler gemacht. Das lag einzig und allein an Robert. Sein zärtlicher Kuss heute Morgen hatte sie durcheinandergebracht.

Seitdem er und sein Bruder Peter auf dem Gut der Werdenbergs arbeiteten, Peter in der Schmiede, Robert seit Neustem als Bereiter, schien Theklas Leben immer mehr aus den Fugen geraten zu sein.

In den Monaten, die Robert bereits auf dem Hof arbeitete, war er Theklas Freund geworden – und so viel mehr als das. Ein Fluch und Segen zugleich.

Thekla seufzte leise und betrachtete den Hof, die Ställe und das Gutshaus. Es hatte schon einmal bessere Zeiten gesehen. Dass es dem Gut der Werdenbergs an Kapital fehlte, wurde inzwischen an jeder Ecke des Hofes offenbar. Die Ställe mussten dringend renoviert werden, und in der Scheune stand ein Teil des Daches kurz vor dem Einstürzen. Auch das Gutshaus war nicht viel mehr als eine bloße imposante Fassade. Der Balkon bröckelte, die Vorderfront zeigte einige Risse. Es zog an vielen Stellen. Auch für Außenstehende wurde allmählich sichtbar, dass es den Werdenbergs überall an Geld mangelte. Kein Wunder, dass es den Eltern so wichtig war, Thekla als älteste Tochter mit einem angesehenen und wohlhabenden Freiherrn zu vermählen. Und vielleicht war Hagen von Ellerbruch auch gar nicht so ein schrecklicher Aufschneider, wie Thekla befürchtete. Aber sie liebte ihn nicht, würde es niemals tun.

Nachdenklich wandte sich Thekla wieder dem Erntekranz zu. Dabei wanderten die Gedanken weiter durch ihren Kopf. In der letzten Zeit hatte sie oft Mühe, die Verzweiflung nicht überhandnehmen zu lassen. So oft hatte sie ihrem Vater erklärt, dass er es auch aus eigener Kraft schaffen würde, das Gut auf Vordermann zu bringen, wenn er nur endlich von dieser starrsinnigen Idee abkam, weiter Kaltblutpferde zu züchten. Sie wurden in Friedenszeiten nicht mehr gebraucht. Selbst im Transport und in der Landwirtschaft waren die Maschinen auf dem Vormarsch. Stattdessen musste man die Züchtung der Sportpferde vorantreiben. Sie und Bettina hatten gezeigt, wie elegant und sprungbereit sich die Tiere auf Turnieren präsentierten – in diesen Pferden lag die Zukunft. Die Menschen suchten Zerstreuung, sie liebten Reitturniere, auf denen sie ihre Kräfte messen konnten. Aber ihr Vater zögerte, er konnte sich nur schwer von seinen Vorstellungen lösen.

Schritte klangen auf und unterbrachen ihre Gedanken. Thekla sah sich um. Doch es war nur Winfried, der Kutscher, der über den Hof eilte. Er grüßte, Thekla nickte und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Doch sie war zu abgelenkt. Seit sie aufgestanden war, hatte sie leichte Magenschmerzen. Wie nach der Nacht, in der sie zu viel getrunken und anscheinend, ohne es zu bemerken, einer Ehe mit Hagen zugestimmt hatte.

Thekla horchte auf. Hufschläge waren zu hören, und dann fuhr eine zweispännige Kutsche auf den Hof. Sie sah das Wappen der Glasfabrik Gernsheim auf deren schwarzen Schlag. Sofort legte Thekla die zerbrochene Girlande zur Seite und ging der Kutsche entgegen. Gerade öffnete der Fahrer die Tür, und Conrad Borchert, der leitende Angestellte der Glashütte, stieg aus dem Wagen. Darauf folgte seine Frau. Beide waren in vornehmer Sonntagskleidung, sie mit weißem Kleid, großem Hut und Schirm (obwohl es nicht nach Regen aussah), er in Anzug, Rock und Fliege und mit hellem Strohhut. Sie erkannten Thekla zunächst nicht, sah sie doch in ihrem blauen Leinenkleid und der Schürze eher wie eine Küchenmagd aus. Als Thekla sie begrüßte, rümpften sie ein wenig die Nase.

»Wir wünschen den gnädigen Herrn zu sprechen«, sagte Borchert. »Ist er wohl zu Hause?«

Seine Frau puffte ihn aufgeregt in die Seite.

»Das gnädige Fräulein von Werdenberg«, beeilte sie sich hastig zu sagen, und spitz fügte sie hinzu: »Ich habe Sie gar nicht erkannt.« Verlegen beeilte sich auch Borchert, Thekla die Hand zu reichen und sie an seine Lippen zu legen. Thekla lachte, klopfte sich den Schmutz aus der Schürze und zog sich das Kopftuch herunter. Dann schüttelte sie ihre blonden Locken zurecht.

»Entschuldigen Sie meine unpassende Erscheinung«, rief sie vergnügt. »Aber wir sind dabei, Girlanden für die Erntewagen zu binden. Wenn die Ernte ansteht, haben wir keine Zeit dazu.«

»Ah, ja, verstehe. Daran muss ja rechtzeitig gedacht werden«, nickte Frau Borchert, aber es war ihr anzusehen, dass sie diese Arbeit als unter ihrer Würde ansah. Dabei wurde im Dorfe Ilvese gemunkelt, Irmtraut Borchert sei früher die Küchenhilfe im Haushalt des Glasfabrikanten gewesen. Aber wenn man sich erst mal an die Seite eines leitenden Angestellten hochgearbeitet hatte, vergaß man seine Herkunft schnell. Frau Borchert hatte jedenfalls einen Dünkel wie sonst kaum jemand in der gesamten Gemeinde an der Weser.

Nun warfen die beiden Borcherts einen Blick auf Theklas Werk. Auch sie betrachtete es kritisch. Dieser Kranz war aus Weiden und Birken gebunden, und sah zwar noch roh, aber bereits voll und schön aus.

»Später werden Blumen und Ähren hineingesteckt«, erklärte sie. »Dann leuchtet er sicherlich schon von Weitem.«

Borchert nickte. »Eine schöne Arbeit«, bemerkte er höflich. Trotzdem warf er einen missbilligenden Blick auf Theklas Hände, die ziemlich schmutzig waren und an einigen Stellen blutige Kratzer aufwiesen.

»Kommen Sie doch mit mir«, sagte sie. »Ich suche Vater mal. Er wird sich sicherlich über Ihren Besuch freuen.«

Die Lüge kam ihr leicht über die Lippen. Sie war froh, die beiden los zu sein. Allerdings wusste sie auch, dass ihre Eltern sich nicht besonders über diese Gäste freuen würden. Ihre Mutter fand Frau Borchert dumm und eingebildet, ihr Vater redete von Herrn Borchert oft als einem eitlen Spratz. Aber sie würden sie sicherlich überschwänglich begrüßen.

Thekla fand ihre Eltern im Speisezimmer vor, wo sie bei einer Tasse Kaffee am Tisch saßen und die Zeitung lasen. Sie übergab ihre Gäste so schnell wie möglich und entkam dem tadelnden Gesicht ihrer Mutter, um auf den Hof zurückzukehren.

Kurze Zeit später kam auch Bettina zurück, und zu Theklas Freude brachte sie nicht nur Peter, sondern auch Robert mit. Die beiden jungen Männer wirkten so frisch und vergnügt, dass Thekla sofort ihre trüben Gedanken vergaß.

»Eure Hilfe können wir gut gebrauchen!«, rief sie und zeigte auf die Girlande. »Die Weidenzweige sind zu kurz, um das alles zu halten.«

Peter machte sich sofort daran, den Draht um die Zweige zu binden. Robert dagegen betrachtete Theklas Hände.

»Solche schönen Damenhände sollten diese Arbeit besser den Korbflechtern überlassen«, bemerkte er. Und als er sich sicher war, dass ihn niemand beobachtete, strich er vorsichtig über Theklas Handrücken. Die strahlte ihn an. Ihre und Roberts Blicke versanken förmlich ineinander.

»Du hättest mir deine ledernen Handschuhe mitbringen sollen«, erwiderte sie, und er lachte laut.

»Sie würden dir sicherlich großartig stehen«, gab er zurück.

Thekla wollte etwas erwidern, vor allem auch seine Hand kurz berühren, doch in dem Moment sah sie, wie Robert sich unruhig umschaute. Da wusste sie, dass ihr Vater aus dem Haus getreten war.

Schnell trat sie einen Schritt zur Seite und verbarg ihre schmutzigen und wund gescheuerten Hände unter der Schürze. Dann drehte auch sie sich um. Ihr Vater hatte sein strengstes Gesicht aufgesetzt. Neben ihm befand sich Conrad Borchert, auch er steif und mit durchgestrecktem Rücken. Wie ein eitler Pfau sah er aus, fand Thekla.

»Gibt es in der Schmiede heute nichts zu tun?«, wandte sich ihr Vater an die beiden jungen Männer.

»Doch«, erklärte Peter mit seinem jungenhaften Lächeln, mit dem er alle für sich gewinnen konnte. »Aber die jungen Fräulein verzweifelten gerade an dem Erntekranz. Das konnten wir nicht zulassen.«

Er zwinkerte Bettina zu, die fröhlich zurücklächelte.

»Sieht er nicht wundervoll aus«, versuchte Thekla, ihren Vater gnädig zu stimmen. »Wir wollen ihn noch mit Blumen und Ähren verzieren und ihn dann rund um die Kutsche hängen.«

Ihr Vater verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. »Soso«, meinte er, wandte sich dann aber Robert zu. »Der gnädige Herr Borchert sucht zwei neue Kutschpferde für die Glashütte. Welche Pferde können wir ihm da anbieten?«

Zwei Kutschpferde? Thekla war sofort in ihrem Element. Je mehr dieser großen schweren Kutschpferde sie verkauften, umso mehr Platz würde für neue Sportpferde geschaffen. Aufgeregt schaute sie Robert an. Sieben Rheinisch-deutsche Kaltblutpferde hatten sie nur noch. Wenn sie noch zwei Pferde loswurden, konnte man vielleicht weitere Hannoveraner Stuten decken lassen. Oder noch einen neuen Hengst von dem Geld kaufen. Was für ein aufregender Gedanke.

»Die Selma wäre doch geeignet, oder? Und Bruno vielleicht«, wandte sie sich an Robert.

Borchert zog verärgert die Augenbrauen hoch. »Das werden wir unter fachkundigen Männern beraten«, wies er sie ab.

Thekla schluckte. Es war unverschämt, dass sie sich das von diesem Spratz anhören musste. Selbst ihr Vater würde dergleichen nicht sagen. Er wusste nur zu gut, dass sie sich fast besser mit den Pferden auskannte als er. Doch nun wandte er sich beflissen dem leitenden Angestellten der Glasfabrik zu. »Kommen Sie, mein Freund!«, sagte er und zeigte auf die Reithalle. »Unser Bereiter wird Ihnen einige Pferde vorstellen.«

Robert trat nun neben ihren Vater und verbeugte sich leicht. »Robert Steinfels«, stellte er sich vor. »Stets zu Diensten.« Dann nickte er kurz zu Thekla hinüber. »Und ich gebe dem gnädigen Fräulein völlig recht«, sagte er dann. »Die beiden Kutschpferde Selma und Bruno sind sehr geeignet. Sie sind noch jung und kräftig, sind gehorsam und willig, und was das Besondere an ihnen ist: Sie mögen sich gerne. Zu zweit sind die eine verschworene Gemeinschaft. Mit ihnen können Sie sicher sein, dass Sie Ihre Gläser über jede sandige Straße gezogen kriegen.«

Er schaute Thekla bei diesem Satz nicht an, aber sie konnte sich denken, dass er innerlich lächelte. Geschickt hatte er ihr Respekt gezollt.

Sie schaute den drei Männern nach, die gemeinsam zur großen Weide hinübergingen. Robert schritt voraus. Zu gerne hätte sie sich gewünscht, dass er sich nach ihr umschaute, aber er tat es nicht.

***

Friedrich ärgerte sich, und er konnte selbst nicht sagen, warum. An diesem jungen Bereiter gab es gar nichts auszusetzen. Er war höflich, er kannte sich gut aus, und er wusste die Pferde in einem guten Licht darzustellen. Auch jetzt, als er sie auf den Hof holte und sie Borchert präsentierte, machte er einen guten Eindruck. Dazu kam, dass die Pferde so gepflegt wie noch nie aussahen, ganz anders als bei dem alten Bereiter Kirschner. Die Hufe glänzten, die langen dunklen Mähnen der Pferde waren gekämmt, das Fell gebürstet, die Augen ausgewischt. Theklas Herz gehörte den Sportpferden, und der junge Bursche kümmerte sich auch um die Erziehung dieser Pferde geradezu vorbildlich. Vielleicht ärgerte sich Friedrich am meisten darüber, dass man an ihm nichts auszusetzen hatte – außer, dass er immer in der Nähe seiner Tochter auftauchte – oder sie bei ihm.

»Schöne Tiere«, murmelte Borchert überrascht. »Kräftig und ruhig.«

»Und gehorsam dazu«, erklärte Robert. Mit wenigen geübten Griffen spannte er die Stute in ihr Geschirr ein. »Sie lassen sich über die Stimme lenken, ich zeige Ihnen mal, wie leicht das geht.«

Jetzt hängte sich Robert hinter das Geschirr, als wäre er Kutscher und Pflug zugleich. Er gab einen schnalzenden Laut, dann lenkte er Selma über den Hof. Bei »har« bog Selma nach links ab, bei »hott« nach rechts. Dazu benutzte er nicht einmal eine Peitsche.

»Sehen Sie? Sie gehorcht auf jedes Wort.« Er lehnte sich nun zurück, nahm die Zügel, sagte einmal kurz »Brr«, und Selma stand wie eine Eins.

Borchert war tatsächlich beeindruckt. Er trat ein paar Schritte zurück und besah sich die Stute aufmerksam. »Schönes Tier«, wiederholte er angetan.

Friedrich musste zugeben, dass er stolz war. Auch wenn er sich im Moment nicht so sehr um die Tiere kümmern konnte, weil die Instandsetzung des Hofes und die Bücher seine ganze Aufmerksamkeit forderten, war er es doch gewesen, der die Zucht dieser Tiere vorangetrieben hatte.

»Bis jetzt haben wir immer Haflinger als Kutschpferde gehabt«, bekannte Borchert. »Aber der Letzte, den wir hatten, machte mit den Knechten, was er wollte. Letzte Woche ist mir eine ganze Ladung Glasflaschen zerbrochen, weil der Gaul mit dem Leiterwagen durchgegangen ist.«

Robert nickte nachdenklich. »Haflinger sind manchmal echte Starrköpfe«, stimmte er zu. »Aber auch Rheinische Kaltblutpferde können eigensinnig sein. Doch unsere sind alle gut erzogen.«

Friedrich konnte dazu nur nicken. Natürlich hatte Robert recht, es ärgerte ihn nur, dass er das Verkaufsgespräch übernahm.

»Sind die Pferde auch so leicht zu reiten?«, wollte Borchert wissen.

Robert setzte bereits zu einer Antwort an, doch Friedrich kam ihm zuvor. »Das sind sie«, erklärte er. »Sie sind zwar willensstark, wie alle Kaltblutpferde, aber sie sind doch feinfühlig.«

So wie ich, hätte er am liebsten hinzugefügt, aber er unterdrückte den Satz.

»Sogar die jungen Fräulein schaffen es, diese Riesen zu reiten«, mischte sich Robert wieder ein.

War ja klar, dass er Thekla ins Spiel brachte. Wahrscheinlich hatte dieser junge Mann pausenlos seine Tochter im Kopf. Und doch imponierte Borchert dieser Einwand.

»Das möchte ich sehen!«, rief er.

Auch wenn Friedrich sich übergangen fühlte, musste er eingestehen, dass der junge Mann klug handelte. Das Verkaufsgespräch schien sich zu lohnen. Er drehte sich zu Thekla um, die immer noch an der Girlande arbeitete.

»Thekla?«, rief er ihr zu. »Wärst du so nett, mal die Selma zu reiten?«

Seine Tochter sah überrascht auf. »In Reithose?«, fragte sie.

Friedrich verzog das Gesicht. »Na, du kannst ja schlecht in deinem Kleid reiten«, gab er zurück.

Thekla sah ihn ungläubig an. Dann nickte sie.

»Ich komme gleich«, rief sie ihm zu. Anschließend huschte sie ins Haus, um sich umzuziehen.

In der Zwischenzeit führte Robert auch Bruno im Geschirr vor, und Borchert schien auch an ihm Gefallen zu finden. Dann kam Thekla zurück, und gemeinsam mit Robert holten sie Sättel und Trensen. Friedrich führte derweil Konversation mit Borchert, fragte nach der Familie, nach dem Sohn Hubert, den er persönlich für einen Trottel hielt, und lauschte den Lobreden des Vaters über dessen Klugheit. Gleichzeitig aber hatte er seine Aufmerksamkeit auf das Geschehen vor der Reithalle gerichtet, wo Robert und Thekla nun damit beschäftigt waren, den Pferden die Trensen anzulegen. Seine Tochter ließ sich von Robert helfen, den Sattel auf den Pferderücken zu legen. Wieder fühlte Friedrich Zorn in sich aufsteigen. Der Sattel war zwar schwer, und das Pferd war groß, doch er wusste, dass sie das eigentlich allein konnte.

Es wurde wirklich höchste Zeit, dass sein Fräulein Tochter unter die Haube kam. Auch wenn sie sich offensichtlich dagegen sträubte, wusste er nur zu gut, dass Freiherr Hagen von Ellerbruch der Richtige für Thekla war. Ein Mann mit Pferdeverstand und genügend Kapital, um das Gut wieder auf Vordermann zu bringen, würde allen von Nutzen sein. Noch fehlte es Thekla an Weitsichtigkeit, sich über die Fügung des Schicksals zu freuen, aber in ein paar Jahren würde sie ihm dankbar sein.

Als Friedrich mit Borchert die Reithalle betrat, trafen sie auf Sybille, die mit Borcherts Frau bereits einen Platz in der ersten Reihe der Tribüne eingenommen hatte.

»Frau Borchert wollte sich die Pferdeschau nicht entgehen lassen«, rief sie ihm zu.

»Recht so«, brummte er und ging mit Borchert zu ihnen hinüber. Gemeinsam schauten sie zum Eingang, durch den nun Robert und Thekla geritten kamen.

»Wie ungewöhnlich für eine Frau«, hörte Friedrich Frau Borchert wispern, und wusste, dass sie eher ungehörig als ungewöhnlich sagen wollte. Er drehte sich zu ihr um.

»Was soll ich machen«, tat er seufzend. »Meine Tochter ist mit Stutenmilch groß geworden. Sie hat Pferdeblut in den Genen.«

»Das wird sich ändern, wenn sie einen Mann an ihrer Seite hat«, kommentierte Borchert, während er eine Zigarre aus der Rocktasche zog und sie paffend anzündete. »Der wird ihr die Flausen schon austreiben.«

Nun beugte sich Frau Borchert weiter zu Sybille hinüber.

»In Gernheim erzählt man sich, es gäbe bereits einen Heiratsanwärter«, raunte sie ihr zu.

Friedrich drehte sich zu ihr um und berichtete ihr voller Stolz von Hagen von Ellerbruch, der um Theklas Hand angehalten hatte. Die beiden Borcherts waren entzückt.

»Dann wird einer Verlobung ja bald nichts mehr im Wege stehen«, begeisterte sich Frau Borchert.

Friedrich hätte zu gerne zugestimmt, doch leider entging ihm nicht, welche Blicke seine Tochter mit dem jungen Bereiter tauschte.

Thekla schritt auf Selma durch die Halle, und der junge Mann passte sein Pferd ihren Schritten an, wie ein eingespieltes Gespann. Nun ließen sie die großen schweren Pferde in den Trab fallen. Das sah sehr beeindruckend und gleichzeitig so leichtfüßig aus. Auch Borchert imponierten die beiden.

»Die gehorchen auf den feinsten Schenkeldruck!«, rief er. »Was können Sie sich glücklich schätzen, so einen erfahrenen jungen Bereiter gefunden zu haben.«

»Jaja«, knurrte Friedrich.

Er betrachtete Robert, der nun so an ihm vorbeiritt, dass er im Profil zu sehen war. Immer wieder wurde ihm bewusst, dass Robert Steinfels seiner Mutter äußerlich überhaupt nicht ähnlich war. Diese hellen Augen und die blonden Haare standen im Gegensatz zu Margaretes dunklem, fast italienischem Teint. Und doch – der energische Zug um seine Lippen, das vorgestreckte Kinn, wenn er sich, wie jetzt, durchsetzte. Genauso hatte sie es auch gemacht.

Plötzlich hatte Friedrich wieder Margarete vor Augen, wie sie da am Gartenzaun stand, den Erdbeersaft noch an den Händen, und mit ihm redete. Er hatte sich sofort in sie verliebt. Diese Sinnlichkeit, die von ihr ausging, diese liebevolle Freundlichkeit, hinter der sich so viel Traurigkeit verbarg …

»Friedrich«, holte ihn nun eine Stimme zurück, und er spürte Sybilles Hand auf seinem Arm. Erschrocken zuckte er zusammen.

»Hmm?« Er knurrte. Sybille zog tadelnd die Augenbrauen hoch. Sie duldete es nicht, wenn er sich unhöflich ausdrückte.

»Sollen sie nicht auch mal Galopp gehen?«, wiederholte sie ihre Frage.

»Natürlich«, gab Friedrich hastig zurück.

Robert hatte es ebenfalls gehört. Er ritt auf die Ecke der Reithalle zu, drückte den Schenkel an und schnalzte mit der Zunge. Sein Pferd fiel in einen ausladenden Galopp. Thekla hielt mit ihrem Pferd mit. Gemeinsam jagten sie nun eine Runde durch die Halle, ließen ihre Pferde schließlich wieder in den Trab zurückfallen und beendeten ihre gemeinsame Vorführung damit, dass sie ihre Pferde eine leichte Verbeugung machen ließen.

»Großartig!«, rief Borchert begeistert. »Ich schlage vor, dass wir mit den Preisverhandlungen beginnen.«

***

Robert wusste, dass sie nicht lange allein sein würden. Trotzdem tauschte er einen kurzen Blick mit Thekla. Sie wiederum strahlte ihn an, strich ganz kurz über seinen Oberarm. Automatisch streckte er seine Hand aus, ließ sie an ihrem Arm entlanggleiten und berührte ihre Fingerspitzen. Kleine heimliche Berührungen, dann stand Friedrich mit Borchert schon wieder in der Sattelkammer. Die Erleichterung über die gelungene Vorstellung war dem Gutsherrn anzusehen. Er beachtete Robert und Thekla nicht, seine Aufmerksamkeit gehörte einzig und allein seinem Gast und den Pferden.

»Das sind wunderbare Tiere, oder?«, rief er voller Stolz.

»Ich bin beeindruckt«, bestätigte Borchert und strich dem großen Bruno über die dunkle Mähne.

Robert beeilte sich, die Pferde abzusatteln, damit der neue Kunde sie noch einmal in ihrer ganzen Pracht begutachten konnte. Dabei spürte er Theklas Blick. Es gefiel ihm, dass sie in seiner Nähe war, und er mochte die Art, wie sie ihn anschaute. Ob Friedrich wohl spürte, dass sie durch ein geheimes Band miteinander verbunden waren? Unwillkürlich fragte Robert sich, was seine Mutter an diesem Mann gefunden hatte. Wenn Friedrich nur nicht so feige gewesen wäre, die Schwangerschaft abzustreiten, würde sie vielleicht sogar heute noch leben.

Was für eine seltsame Fügung des Schicksals, dass sie nun ausgerechnet an diesem Gut gelandet waren, wo sich ihre Leben merkwürdig ineinander verflochten. Letztendlich war Thekla der Dreh- und Angelpunkt gewesen. Wäre sie damals nicht zufällig mit einem lahmen Pferd an seiner Schmiede im Dorf vorbeigekommen, hätte sie ihn später nicht angefleht, das Turnier auf dem Gutshof zu gewinnen, um ihr aus der Bredouille zu helfen … Das Leben trieb wahrlich seltsame Blüten.

»Der Herr Borchert möchte beide Pferde kaufen«, riss ihn Friedrich nun aus seinen Gedanken. »Mach sie für den Transport fertig und binde sie an die Kutsche!«

Friedrichs Tonfall war wie immer streng und duldete keinen Widerspruch. Robert verbeugte sich leicht, begann dann, die beiden Pferde noch einmal zu bürsten. Dabei lauschte er darauf, dass die Werdenbergs und ihre Besucher die Sattelkammer verließen. Gerade als sie an der Tür angekommen waren und er an Theklas Bewegungen bereits spüren konnte, dass sie auf ihn zugehen würde, drehte sich Werdenberg noch einmal um.

»Thekla?«, sagte er streng. »Würdest du uns bitte begleiten?«

Und Sybille fügte hinzu: »Und kleide dich bitte für das Abendessen neu an.«

Thekla murmelte eine störrische Antwort, die Robert trotz der verpassten Chance zum Schmunzeln brachte.

***

Peter und Bettina waren vollauf damit beschäftigt, den Erntewagen weiter zu schmücken. Natürlich hätte Peter längst wieder in seine Schmiede zurückkehren müssen, aber in einer halben Stunde war Feierabend für ihn, und dann konnte er sowieso machen, was er wollte. Außerdem gab es in der Schmiede nichts mehr zu tun, außer aufzuräumen, und das konnte er auch immer noch abends erledigen.

»Kannst du hier mal festhalten?«, bat Bettina und drückte ihm das eine Ende der Girlande in die Hand. Dann versuchte sie, den Draht um ihr Gesamtkunstwerk zu wickeln. Peter beobachtete sie lächelnd. Sie war so in ihrem Element, dass sie sogar ihre Schuhe ausgezogen hatte, um schneller laufen zu können. Obwohl sie die Tochter des Stallmeisters Lorenz von Wallmeyer war, ließ sie ihn ihre Stellung nie spüren. In den vergangenen Wochen war Bettina in seiner Gegenwart immer unbefangener geworden. Seit jenem Turnier, zu dem er sie begleitet hatte – und das sie entgegen allen Erwartungen beinah sogar gewonnen hatte. Er betrachtete ihre Füße, den einen wohlgeformten und den anderen, der ein wenig in sich gekrümmt und deutlich schmaler und kleiner als der andere war. Jetzt hüpfte sie zu der Zange, nahm sie und hinkte zur Girlande zurück.

»Warte, lass mich das machen«, rief Peter, aber da hatte sie den Draht auch schon durchgeknipst. Er schüttelte lachend den Kopf. »Wenn du so weitermachst, stelle ich dich als Gesellen in der Schmiede ein«, meinte er.

Bettina schaute ihn nun an, das schmale Gesicht ein wenig schräg gelegt, die dunklen Augen auf ihn gerichtet.

»Die Arbeit würde mir tatsächlich gefallen«, sagte sie, und Peter glaubte ihr das aufs Wort.

Die Girlande hielt nun, und sie breiteten sie auf dem Hof aus, um zu sehen, wie lang sie war. Peter lief sie mit großen Schritten ab. Zwölf Meter maß er. Das dürfte reichen. Erleichtert ließ sich Bettina auf die Bank am Hof fallen, während Peter das Kunstwerk vorsichtig einrollte und behutsam zur Seite legte.

Da er nicht wagte, sich neben Bettina zu setzen, lehnte er sich gegen die Mauer und versuchte, mit ihr zu plaudern. Leider war er in belanglosen Schönredereien nicht geübt, was auch an Bettina lag, die immer so offen und ehrlich die Dinge auf den Punkt brachte, dass er verblüfft in Schweigen verfiel.

»Du scheinst dich ja sehr auf das Dorffest zu freuen«, begann er in munterem Plauderton, und sie erwiderte mit offenem Gesicht: »Aber nein, überhaupt nicht. So ein Dorffest ist todlangweilig.« Sie richtete ihre dunklen Augen so direkt auf ihn, dass seine Handflächen feucht wurden und er eine unruhige Regung in seiner Magengegend verspürte. »Ich kann doch gar nicht tanzen«, erklärte sie. »Ich sitze nur herum und schaue den anderen zu.«

Verzweifelt überlegte Peter etwas Tröstliches, was er antworten konnte, aber es fiel ihm nichts ein, und sie erwartete es auch gar nicht.

»Es ist auch schrecklich, wenn wir in die Kirche einziehen«, führte sie weiter aus. »Die anderen müssen immer auf mich warten. Das ist mir richtig unangenehm.« Verlegen strich Bettina sich über ihre dunklen Locken. »Beim letzten Mal bin ich gar nicht hingegangen.«

Peter wollte schnell einwenden, dass sie kommen müsste, sonst wäre der Abend für ihn auch kein Vergnügen, aber er wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte, und da war sie ihm auch schon wieder zuvorgekommen.

»Vater versteht das, wenn ich nicht hingehe.«

»Bitte komm trotzdem«, wagte Peter nun vorzubringen. »Meinetwegen«, fügte er hinzu.

Wieder ein langer Blick. Ihre Augen wirkten plötzlich so sanft. Dann nickte sie, und das machte ihn überglücklich. Gerade überlegte er, sich zu ihr zu setzen, da hörte er energische Schritte. Friedrich und sein Gast setzten in großen Schritten über den Hof, gefolgt von Sybille und der anderen Besucherin. Friedrich hatte den Kopf hoch erhoben und beachtete Peter mit keinem Blick. Er wirkte, als wenn er einen Krieg gewinnen wollte. Mit gewichtigen Mienen verschwand die Gruppe im Haus.

Was er wohl sagen würde, wenn ich mich ihm in den Weg stelle und ihm sage: Weißt du eigentlich, dass ich dein Sohn bin?, schoss es Peter durch den Kopf. Dieser Gedanke begleitete ihn, seit er die Wahrheit kannte. Seitdem spielte er diese Szene durch, in der er Friedrich von Werdenberg mit der Wahrheit konfrontierte, und in der er endlich erleben konnte, wie dem eingebildeten Wichtigtuer das arrogante Lächeln aus dem Gesicht fiel. Eines Tages würde er es wagen, ihm das zu sagen. Eines Tages …

»Du siehst so traurig aus«, bemerkte Bettina plötzlich. Irritiert schaute Peter sie an.

»Du scheinst ihn nicht besonders zu mögen, unseren Freiherrn von Werdenberg«, stichelte Bettina neckend.

»Stimmt«, gab Peter offen zu. »Genau genommen kann ich ihn sogar überhaupt nicht ausstehen.«

»Das ist komisch«, stellte Bettina überrascht fest. »Denn wenn man euch genau betrachtet, seht ihr euch sogar ein bisschen ähnlich.«

Aber genau das wollte Peter nun wirklich nicht hören.

»Findest du?«, fragte Peter.

Bettina lachte. »Du siehst ganz erschrocken aus, wenn ich das sage«, meinte sie. »Dabei ist es doch gar nicht schlimm. Er sieht doch ganz gut aus.«

»Findest du?«, fragte Peter noch einmal. Und dann fiel er erst recht in ein dumpfes Schweigen.

Kapitel 2

An Peter und Paul kamen die Schnitter. Robert liebte diese besonderen Tage, die so viel Aufregung in den sonst gleichförmigen ruhigen Dorfalltag brachten. Die fahrenden Gesellen waren Saisonarbeiter, die in den länglichen alten Backsteinbauten in Petershagen ihr Quartier bezogen. Schnitterkaserne nannte man die beiden Häuser, in welchen die Tagelöhner einen großen Teil des Sommers verbrachten und die Felder in Petershagen und den anderen Dörfern der Umgebung bestellten.

»Die Schnitter kommen!«, rief ihm nun auch Peter zu. Dabei hatte Robert diese Rufe schon durch das ganze Dorf schallen hören. Und dann sah er die Erntehelfer selbst.

Frauen, Männer und Kinder kamen mit ihren Handwagen und Pferden die staubige Dorfstraße entlang. Meist kamen die Schnitter aus Polen und hatten einen langen Weg von jenseits der Oder hinter sich. Wo immer sie ankamen, gerieten die Dörfer in helle Aufregung. Robert betrachtete sie fasziniert. Den Schnitterfamilien haftete ein Zauber an. Auch wenn die Kinder meist bitterarm und spindeldürr waren, waren sie den Dorfkindern an Mut und Geschwindigkeit haushoch überlegen. Die Männer waren kräftiger und konnten beim Biertrinken mit den Dorfbewohnern mithalten, und ihre Frauen standen den Dorffrauen in Sachen Schönheit in nichts nach. Von den Geschichten über sie ging aber eine gewisse Verruchtheit aus, sodass die Frauen auf dem Dorf ihre Männer in der Erntezeit nicht aus den Augen ließen. Auch Robert erinnerte sich an einen Kampf gegen einen Schnitterjungen, damals, als er klein war, den er blutig verloren hatte.

Den Schnittern blieb nur wenig Zeit, sich einzurichten. Schnell gingen sie an die Arbeit. Dann wurden die Felder bestellt. Das Gras wurde mit der Sense gemäht, in Reihen in die Sonne gelegt, später gewendet und zu Garben gebunden. Kein junger Mann konnte sich nun der Arbeit entziehen, auch Peter und Robert nicht. Sein Bruder hatte viel in der Schmiede zu tun, half, die Sensen zu schärfen und zu reparieren. Robert wurde auf den Feldern gebraucht, spannte die kräftigen Kaltblutpferde ein und ließ sie die Wagen ziehen. Aber auch die Hannoveraner wurden vor die Wagen gespannt. Jedes Pferd wurde gebraucht. Doch selbst wenn die Arbeit schwer war und der Tag kein Ende fand, es brachte alle zusammen, und stimmte glücklich, zu sehen, wie schnell man vorankam.

Obwohl es nur wenige Möglichkeiten gab, Thekla zu sehen, wusste Robert doch genau, dass sie oft irgendwo in seiner Nähe war. Hin und wieder begegneten sie einander und tauschten kurze verstohlene Blicke.

Die Mädchen aus dem Dorf boten das Unterhaltungsprogramm während der Arbeit. Sie fanden sich oft am Rande des Feldes ein, um zu singen. Besonders wenn sich der arbeitsreiche Tag dem Ende neigte, standen sie dort in einer Reihe und sangen Guter Mond, du gehst so stille oder Abendstille überall. Auch Thekla und Bettina gehörten dazu. Wenn Robert Thekla singen hörte, setzte er sich in ihre Nähe und schloss die Augen.

In diesem Sommer hatten sie Glück mit dem Wetter. Es war einer der heißesten Monate des Jahres, und die Sonne brannte unbarmherzig auf die Menschen und die Felder hernieder. Die Luft flirrte. Robert sah, wie Friedrich sorgenvoll zum Himmel blickte.

»Heute gibt es noch was!«, murmelte er.

Robert ahnte, dass er recht haben könnte. Noch war nichts zu sehen. Die weißen Wolken am Himmel sahen ungefährlich aus. Aber Friedrich verbreitete Unruhe und spornte sie an.

»Beeilt euch!«, rief er. »Das gibt bald ein mordsmäßiges Gewitter.«

»So ein Unsinn!«, regten sich die Schnitter auf. »Das sind Schäfchenwolken. Die tun nichts.«

Aber Robert spürte bereits einen leichten Windzug. Der Wind hatte sich gedreht, kam nun aus westlicher Richtung. Und da, grollte da nicht am Horizont ein leiser Donner?

»Beeilt euch!«, rief nun auch Robert den Schnittern zu. »Zwei Reihen müssen wir noch!«

Titus und Fallada, die beiden Pferde, die er für die letzte Fuhre eingespannt hatte, hoben ihre Köpfe und spitzten die Ohren. Unruhig wirkten sie. Da war Robert klar, dass es nicht mehr lange dauern würde. Die Pferde spürten das Unwetter, bevor die Menschen die dunklen Wolken zu sehen bekamen.

»Macht schnell!«, rief er noch einmal.

Die vordem harmlosen Schäfchenwolken hatten sich schnell zu einer violetten Luftschicht zusammengezogen. Der Donner wurde zunehmend lauter. Robert fasste nun mit an, und weil kein Rechen mehr frei war, warf er das Heu mit den Händen auf den Wagen.

»Los! Tempo!«

»Das gibt gleich was!«

»Beeilt euch!«

Die Feldarbeiter schwitzten. In aller Eile wurde das Heu auf die Wagen geladen. Noch eine letzte Reihe Heu gab es, aber die dunklen Wolken kamen näher und näher. Sie hingen so tief, dass sie fast zum Greifen nahe erschienen. Plötzlich war Friedrich neben ihm.

»Wir müssen los!«, schrie er. Dann griff er die Zügel der Pferde und trabte mit ihnen los. Ein kleines Schnittermädchen lief neben ihm her, machte eine verzweifelte Geste, weil sie auf Fallada aufsitzen wollte, aber Friedrich beachtete sie nicht.

»Sammle die Rechen ein!«, rief er Robert im Vorbeihasten zu.

Robert nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Während er sicherging, dass inzwischen alle auf dem Weg zur Scheune waren, hatten die Wolken nun eine schwarze Front gebildet, die langsam auf ihn zukam. Der Tag verdunkelte sich wie die Nacht. Jetzt zuckte ein greller Blitz durch die schwarze Wand.

Robert hob einen Rechen auf, dann einen zweiten, aber er wusste, dass es sinnlos war, was er da tat. Es wurde höchste Zeit, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Die Holzrechen würden nach dem Gewitter immer noch an der Stelle liegen, an der sie sie zurückgelassen hatten.

Da, ein weiterer Blitz jagte über den Himmel, gefolgt von einem gewaltigen Donner. Die ersten Tropfen fielen. Sie waren so dick, dass nur wenige genügten, um das Hemd auf Roberts Schulter zu durchnässen. Er kniff die Augen zusammen und schaute hinüber zu dem Heuwagen, der gerade an der Scheune angekommen war. Die Schnitter jubelten. Sie hatten es geschafft.

Nun begann auch Robert zu rennen. Der Regen prasselte bereits so heftig auf ihn hernieder, dass er kaum noch die Hand vor Augen erkennen konnte. Dabei blitzte und donnerte es gleichzeitig. So ein Gewitter auf freiem Feld war brandgefährlich, das wusste Robert nur zu gut. Seine Mutter hatte ihn immer davor gewarnt, sich dann im Freien aufzuhalten. Er hatte selbst erlebt, wie Kühe auf freiem Feld vom Blitz getroffen wurden und tot auf der Wiese lagen.

Darum rannte er nun schneller – und blieb plötzlich jäh stehen. Vor ihm auf dem freien Feld saß jemand in der Hocke und hatte sich die Arme schützend über den Kopf gelegt. Eine junge Frau! Ein Bauernmädchen. So schnell Robert konnte, rannte er zu ihr.

»Komm!«, rief er. »Schnell.«

Wieder blitzte es, diesmal gleißend hell und gefährlich nah. Der Donner, der kaum eine Sekunde später folgte, hörte sich an wie ein Paukenschlag aus der Hölle. Die Frau hob den Kopf und schrie, und da erkannte Robert sie.

Mit einem Satz war er bei Thekla.

»Was machst du …«

Weiter kam er nicht, denn Thekla zog ihn zu sich herunter. Sie war genau wie er klatschnass. Das Wasser lief ihr aus den Haaren, von dort über die Kleidung. Sie trug ein einfaches Leinenkleid, darüber eine Schürze, auf dem Kopf ein buntes Kopftuch. Er hatte sie noch nie so gesehen, wie ein Bauernmädchen sah sie aus. Offenbar hatte sie bis zuletzt bei der Heuernte geholfen.

Er sah, dass sie zitterte. Ihre Arme waren mit einer Gänsehaut überzogen, die feinen Härchen hatten sich aufgerichtet. Er verspürte den Wunsch, sein Hemd auszuziehen und ihr überzulegen, aber das wäre lächerlich gewesen, denn er war genauso nass wie sie.

»Margot sagt immer, wenn man auf dem Feld vom Gewitter überrascht wird, soll man sich hinhocken«, erklärte sie laut, und ihre Lippen schnatterten dabei. Er musste trotz allem lachen, legte seinen Arm um sie und zog sie näher. »Und dann muss man beten«, ergänzte er. »Das jedenfalls hat mir meine Mutter immer geraten.«

Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel, laut und krachend folgte der Donner. Thekla schrie leise auf. Beschützend zog Robert sie fester an sich.

Der Regen prasselte unbarmherzig auf sie herab und verwandelte ihre Haare und ihre Kleidung in einen Wasserfall. Und trotzdem. Sie hatten ihre Arme umeinandergeschlungen, und Robert fühlte sich wie auf einer Insel, die nicht von dem Gewitter erreicht wurde. Niemand konnte ihnen etwas anhaben. Thekla drückte sich eng an Robert, er erwiderte ihren Druck. Ihre nasse Wange presste sich gegen seine, das Wasser aus seinen Haaren lief über ihren Hals. Beide verschmolzen zu einer einzigen Wassergestalt. Aquarius.

So saßen sie da, und Robert wünschte sich, das Gewitter würde nicht enden, oder doch, denn es war ja auch gefährlich, aber gleichzeitig war es so wunderschön.

Dann endlich ließ der Regen nach, und so heftig, wie er über sie gekommen war, verzog er sich wieder.

»Thekla?«, hörten sie nun eine Stimme aus der Scheune rufen. Bettina. Ängstlich klang sie.

»Sie macht sich Sorgen«, flüsterte Thekla. »Wir haben die ganze Zeit zusammengearbeitet.«

»Geh!«, ermahnte Robert sie. »Bevor die anderen kommen und dich suchen.«

Thekla zögerte. Einen Moment drückte sie sich ganz fest an ihn, dann erst ließ er sie zögerlich los.

»Kannst du dich an den Abend im Stall erinnern?«, fragte sie.

Robert lächelte leise. »Wie könnte ich das vergessen. Du hast mir gesagt, dass du ihn niemals heiraten wirst. Egal wie ich dazu stehe.«

»Und?« Sie schaute ihn nun forschend an. Silbrig graue Augen in einem nassen Gesicht. »Weißt du jetzt, wie du zu mir stehst?«

»Ja«, sagte er. »Ich weiß es jetzt. Genau in diesem Moment ist es mir klar geworden.«

Sie lachte leise. »Und was denkst du?«

»Ich liebe dich«, gestand er ihr.

Wieder lachte Thekla. »Samstag ist das Dorffest«, flüsterte sie ihm zu. »Wirst du mit mir tanzen?«

»Das werde ich.«

»Vor allen Leuten?«

»Vor allen Leuten. Und vielleicht küsse ich dich sogar.«

»Vor allen Leuten?«

»Vor allen Leuten«, erwiderte er. Er war selbst überrascht, wie einfach ihm diese Worte über die Lippen kamen. Im Grunde hatte er nie daran gezweifelt, dass sie zueinander gehörten.

Jetzt lachte sie laut. Dann stand sie widerstrebend auf, doch hielt immer noch seine Hand in ihrer.

»Ich freue mich drauf«, sagte sie. Dann ließ sie ihn los und rannte zum Gut hinüber.

Er starrte ihr nach. Sein Herz hämmerte wie verrückt. War es das, wonach er sich die ganze Zeit über gesehnt hatte? Eine kurze verrückte Aussprache mitten im Regen, pitschnass, zitternd und doch klar wie nie zuvor. Sie liebten einander, und wenn man sich liebte, würde man auch einen Weg finden, auf dem man zueinanderfand. Glücklich ließ er sich auf den Boden fallen und streckte sich weit auf der nassen Erde aus. Der Regen hatte sich zu einem Bach gesammelt und floss mit heftiger Strömung über die Wiese, direkt auf ihn zu. Jetzt hatte das Wasser ihn erreicht, schoss unter ihm hindurch, nässte sein Hemd, seine Hose, die Unterwäsche, Strümpfe und Schuhe. Er streckte die Arme aus, spreizte die Beine, ließ sich vom Wasser unter- und überspülen und lachte, wie er schon lange nicht mehr gelacht hatte.

***

»Holla! Du bist ja ein Mann geworden!«, staunte Robert, als er seinen Bruder im Badezimmer antraf. Der stand vor dem kleinen Spiegel, das Kinn voller Rasierschaum, und kämpfte sich mit der Klinge einen Weg durch die weiße Masse.

»Schneid dich nicht! Sieht ein bisschen peinlich aus, wenn du ein Pflaster am Kinn hast.«

Robert konnte es nicht lassen, seinen Bruder zu foppen. Aber es war, wie er gesagt hatte. Als er Peter zum ersten Mal gesehen hatte, war er noch schlaksig und dünn gewesen, unterernährt von dem wenigen Essen des Magdalenenheims, in dem er aufgewachsen war. Doch er war erwachsen geworden. Siebzehn Jahre war er nun alt, und er hatte sich zu einem großen kräftigen jungen Mann entwickelt, einschließlich Bartwuchs und Muskeln. Es stand ihm ausgezeichnet.

»Red nicht so groß!«, wehrte der sich. »Pass lieber auf, dass du dich nicht mit deiner Krawatte erwürgst.«

Jetzt lachten beide. Eine Festtagsstimmung lag über dem Dorf, wie sie es noch nie erlebt hatten, und die beiden genossen es in vollen Zügen. Auch im Angerdorf, in dem Robert vorher gewohnt hatte, hatte es schöne Dorffeste gegeben, aber er war dort als Kind stets der Außenseiter gewesen, der kleine schmächtige Junge, der mit seinem Vater zum Erntefest kam, und dem man schon von Weitem ansah, dass ihm die Mutter fehlte. Später war er dann nicht mehr hingegangen.

Jetzt hier mit seinem Bruder zu feiern, Thekla zu treffen, den Erntezug mit zu begleiten und schließlich den ganzen Abend mit dem schönsten Mädchen des Dorfes tanzen zu dürfen, machte ihn glücklich … bevor er den Kampf mit der Krawatte begann.

An diesem Tag im August ruhte die Arbeit auf dem Hof, aber die Tiere mussten natürlich trotzdem betreut werden. Besonders an diesem Morgen sollten sie ausreichend Futter bekommen, denn fast alle Pferde waren anschließend mit eingespannt, die Wagen des Erntezuges zu ziehen.

»Ich füttere noch schnell die Tiere, bevor ich mich für den Kirchgang fertig mache«, überlegte Robert. »Mach mir schon mal einen Knoten in die Krawatte, damit ich sie mir nur noch über den Kopf ziehen muss.«

»Das hättest du wohl gerne«, murmelte Peter, während er sich mit der Klinge über die Kehle kratzte. Als er fertig war, hielt er seinem Bruder sein glatt poliertes Kinn hin. »Na, was sagst du?«

»Glatt wie ein Kinderpopo«, grinste Robert.

Peter strich sich über die Oberlippe und betrachtete sich erneut im Spiegel.

»Ich überlege manchmal, ob ich mir einen Schnäuzer zulege«, meinte er. »Meinst du, es würde mich noch erwachsener machen?«

Robert schüttelte den Kopf. »Du wirkst älter, als du bist«, sagte er. »Wie unsere Mutter. Als ob du schon ein ganzes Leben gesehen hättest«, fügte er dann hinzu.

Äußerlich sah Peter der Mutter allerdings kaum ähnlich. Ihre schwarzen Haare und die kohlschwarzen Augen hatte keiner von ihnen beiden geerbt. Peters Haare hatten sogar einen rötlichen Schimmer, wenn die Sonne darauf schien. Ganz wie bei Friedrich von Werdenberg. Aber das sollte Robert jetzt besser nicht sagen. Er wusste, wie traurig und verbittert es Peter machte.

»Wie schön wäre es, wenn unsere Mutter mit zu diesem Fest kommen könnte«, seufzte sein Bruder leise.

Robert machte eine wegwerfende Handbewegung. »Keine traurigen Gedanken heute«, ordnete er an. »In wenigen Minuten beginnt die große Feier. Ich muss nur noch kurz nach den Tieren sehen.«

Hastig schlüpfte er in seine Stallhose, zog die Hosenträger über das Unterhemd, stieg dann in die Stiefel und rannte zum Stall hinüber. Es war noch früh am Morgen, und die Pferde schauten überrascht über die Boxtür. Sie hatten noch nicht damit gerechnet, Futter zu bekommen. Robert musste schmunzeln, als er Lanzelot sah. Der Hengst sah aus wie ein kleiner verschlafener Junge, den man aus den schönsten Träumen geweckt hatte. Ihm hing sogar noch Stroh in der Mähne.

Robert ging zu ihm und streichelte ihn. Er hatte sich zu einem guten Verlasspferd entwickelt und war tatsächlich vor einer Woche vom Zuchtverein der Hannoveraner Züchter mit einem Prädikat ausgezeichnet und zu einem Beschälhengst qualifiziert worden, genau wie Roberts eigener Hengst Titus. Die nächste Stute, die rossig wurde, wollten sie von Lanzelot decken lassen.

Robert warf ihm Klee und Heu in die Box, legte ihm außerdem einen Apfel und eine Portion Hafer in die Futterkrippe. Dann ging er weiter zu Titus, der schon unruhig hin und her tänzelte. Auch er bekam eine große Portion Heu und Klee, dazu viel Kraftfutter. Mit ruhigen Bewegungen, aber trotzdem zügig ging Robert weiter von Box zu Box und fütterte ein Pferd nach dem anderen.

Bei Viola, der hübschen Fuchsstute, verweilte er länger. Sie bekam in den nächsten Tagen ihr zweites Fohlen. Ihr Bauch war schon sehr rund, trotzdem wirkte die Stute ruhig. Robert beugte sich unter den Bauch der Stute und befühlte ihren Euter. Er war noch ganz trocken, aber Robert wusste, dass das nichts zu bedeuten hatte. Der Zeitpunkt, an dem die Stute abfohlte, war oft nicht zu erkennen, das erzählten die Pferdebesitzer jedenfalls immer. Einige hatten Nächte neben ihrem Pferd geschlafen, um die Geburt mitzuerleben, und waren trotzdem in den frühen Morgenstunden von einem weichen Fohlenmaul geweckt worden.