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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
Kommissar Jörgensen und der verrückte Soldat
von Alfred Bekker
1
»Legt euch hin, verdammt noch mal, oder ich niete euch alle
um!«, rief Ingo Borgwardt. Er feuerte zweimal seine Automatik ab.
Schreie gellten durch das Hamburger Kaufhaus. Eine der Kugeln
durchdrang die Verkleidung unterhalb des Rolltreppenhandlaufs.
Etwas zischte. Ein Teil der Beleuchtung fiel aus. Die Rolltreppe
blieb mit einem Ruck stehen. Etwa zwei Dutzend Personen befanden
sich dort, wurden durcheinandergewirbelt, duckten sich. Borgwardt
feuerte über ihre Köpfe hinweg. Der bärtige Mittvierziger trug
einen Bundeswehr-Helm, eine Tarnhose mit Springerstiefeln sowie
eine abgeschabte Lederjacke mit aufgenähtem Totenkopf und der
Aufschrift BORN TO RIDE HARLEY. Borgwardts Augen waren weit
aufgerissen, die Pupillen stark erweitert. Das Gesicht glich einer
verzerrten Maske. Niemand unter den Geiseln zweifelte daran, einem
Wahnsinnigen in die Hände gefallen zu sein.
2
Aus den Augenwinkeln heraus nahm Borgwardt eine Bewegung wahr.
Er wirbelte herum, die Automatik im Beidhandanschlag. Mehrere
Kunden und zwei Verkäuferinnen standen in der Nähe der
Registrierkasse.
»Wer eine falsche Bewegung macht, stirbt!«
Ein Mann im dunklen Anzug griff sich unter das Jackett. Sein
Kopf war hochrot, er rang nach Luft.
Borgwardt feuerte.
Die Kugel traf den Mann in die Stirn.
Er schlug der Länge nach zu Boden. Regungslos blieb er in
verkrampfter Haltung liegen. Das Jackett rutschte zur Seite. Von
einer Waffe war nichts zu sehen.
Die anderen Geiseln des Wahnsinnigen waren wie erstarrt.
Niemand rührte sich.
»Auf den Boden!«, knurrte Borgwardt.
Auch die Geiseln in der Nähe der Registrierkasse legten sich
nach und nach nieder. Borgwardt feuerte einmal zwischen sie. Die
Kugel fuhr in den Teppichboden.
Eine Frau stieß einen schrillen Schrei aus.
Borgwardt drehte sich herum, schoss in Richtung eines
Kleiderständers, wo er eine Bewegung gesehen zu haben glaubte. Ein
Spiegel wurde getroffen und zersprang.
»Ihr kriegt mich nicht!«, schrie Borgwardt mit heiserer
Stimme. Die Halsschlagader trat dabei deutlich hervor,
pulsierte.
Er blickte hinauf zu den Balustraden der oberen Geschosse.
Borgwardt stand inmitten eines Atriums. Licht fiel durch eine
Glaskonstruktion in der Decke. Fünfundzwanzig Meter oder acht
Stockwerke lagen zwischen Borgwardts Standort und diesem Licht. Von
den Balustraden aus konnte man von höheren Stockwerken zum Ort des
Geschehens hinunterblicken. Hier und da sahen neugierige Passanten
nach unten. Sie hatten zwar die Schüsse gehört, aber niemandem war
klar, was sich weiter unten abspielte.
Borgwardt stieß einen wilden Schrei aus. Er schoss eine Salve
von fünf schnell nacheinander abgefeuerten Schüssen ab.
Die Neugierigen an den Balustraden verzogen sich.
Borgwardt wandte sich den neben der Registrierkasse am Boden
liegenden Geiseln zu.
Neben dem Mann, den er erschossen hatte, bildete sich eine
immer größer werdende Blutlache. Eine der Verkäuferinnen zitterte,
war einem Nervenzusammenbruch nahe. Sie biss die Lippen
aufeinander.
Borgwardt riss das Magazin aus der Automatik, griff in die
Seitentasche seiner Lederjacke und ersetzte es durch ein
Frisches.
An der Balustrade des nächst höheren Stockwerks gingen die
Security-Leute in Stellung. Sie blieben mit ihren Revolvern vom
Kaliber 38 lieber in Deckung. Auf eine Situation wie diese hatte
sie niemand vorbereitet.
Borgwardt feuerte in ihre Richtung. Dann zog er eine
Handgranate unter der Lederjacke hervor. Er hatte sie an dem
breiten Bundeswehr-Gürtel getragen, an dem außerdem noch eine
Munitionstasche und ein Kampfmesser hingen. Drei weitere dieser
Hölleneier befanden sich außerdem noch dort.
»Verschwindet da oben!«, rief er. »Oder ich jage hier alles in
die Luft!«
Eine Megafonstimme ertönte.
»Seien Sie vernünftig! Wir möchten mit Ihnen reden!«
Borgwardt wirbelte herum, feuerte sofort in die Richtung, aus
der er die Megafonstimme gehört zu haben glaubte. Er erwischte mit
seiner Salve ein Mobilé aus ultraleichten
Plastik-Micky-Maus-Figuren, das scheinbar freischwebend an fast
unsichtbaren Fäden von der Decke hing.
»Was immer auch Ihre Forderungen sein mögen, wir können
darüber reden«, meldete sich erneut die Megafonstimme. »Tun Sie
jetzt nur nichts Unüberlegtes!«
Schweißperlen glänzten auf Ingo Borgwardts Stirn. Er wirkte
wie ein gehetztes Tier.
Borgwardt wandte sich einem der neben der Registrierkasse am
Boden liegenden Geiseln zu. Er stieß eine junge Verkäuferin mit dem
Stiefel an.
»Aufstehen!«, knurrte er.
Die Verkäuferin wimmerte. Am Revers ihres blauen Kleides hing
ein Namensschild. Sarah Meißner stand darauf. Das lange, blonde
Haar war durcheinandergewirbelt, das Make-up vollkommen
verlaufen.
Borgwardt richtete seine Waffe auf sie. Er deutete auf die
andere Seite des Raums, wo eine Tür zum Treppenhaus führte.
»Ich will, dass Sie vor mir hergehen!«, rief er.
»Bitte ...«
Sarah Meißner wimmerte. Tränen flossen über ihr Gesicht. Sie
zitterte am ganzen Körper. Borgwardt fasste sie am Arm, stieß sie
vorwärts. Er deutete mit dem Lauf der Automatik in Richtung der Tür
zum Treppenhaus.
»Wo ist der Schlüssel?«, fragte er.
»Es ist nicht abgeschlossen ...«
In den Hamburger Hochhäusern war es lange üblich gewesen, die
Zugänge zum Treppenhaus abzuschließen und erst im Notfall durch
Sicherheitspersonal öffnen zu lassen. Doch vielerorts hatte man in
dieser Hinsicht bereits umgedacht. Im Ernstfall ging nämlich
wertvolle Zeit verloren.
Borgwardt führte Sarah Meißner vor sich her, blickte
zwischendurch nach oben. Der gesamte Bereich, in dem er sich
befand, war von den Balustraden der oberen Etagen aus einsehbar.
Ich bin hier wie auf dem Präsentierteller!, durchzuckte es
ihn.
Er wirbelte herum, schoss über einen Kleiderständer hinweg,
hinter dem er eine Bewegung erkannt zu haben glaubte. Sein Blick
glitt zur Seite.
Zwischen zwei Regalfronten war eine gerade Gasse, die sich bis
zur anderen Seite des Verkaufsraums zog. Dort befand sich ein
Nebenausgang für das Personal. Die Tür stand offen.
In geduckter Haltung lauerten dort drei schwarz uniformierte
Security-Männer. Die Revolver trugen sie im Anschlag.
»Waffe weg!«, brüllte einer von ihnen.
Sie zögerten. Keiner von ihnen wagte zu schießen. Die Gefahr
für die Geisel war unkalkulierbar. Borgwardt handelte
blitzschnell.
Er zog Sarah Meißner wie einen Schutzschild vor sich, feuerte
gleichzeitig seine Automatik ab. Fünf Schüsse in rascher Folge
wummerten durch den Gang. Einer der Security-Männer sank getroffen
zu Boden. Die anderen beiden gingen rechts und links hinter den
Regalfronten in Deckung.
»Verzieht ... euch, ihr ... Ärsche!«, brüllte Borgwardt.
Sein Gesicht wurde zur Grimasse. Die Augäpfel traten hervor.
Die Halsschlagader ebenfalls. Sie pulsierte deutlich sichtbar.
Borgwardt brüllte weiter. Aber niemand verstand, was er sagte. Es
hörte sich wie das Lallen eines Betrunkenen an. Laute, Silben,
manchmal Wortfetzen, die aber keinen Sinn ergaben.
Sarah Meißner stieß einen schrillen Schrei aus.
Borgwardt schob sie vorwärts.
Schließlich blieb er etwa zehn Meter vor dem
Treppenhaus-Zugang stehen.
Er gab Sarah einen Stoß, richtete seine Automatik auf
sie.
»Tür öffnen!«
Sarah Meißner wimmerte, schien einem Nervenzusammenbruch nahe
zu sein.
Sie bewegte sich schleppend auf die Tür zu.
»Schneller!«
Borgwardt glaubte hinter sich eine Bewegung zu erkennen,
wirbelte herum, feuerte ohne zu zielen. Zwei Kugeln fetzten in
einen Kleiderständer hinein, zerrissen den Stoff von einem Dutzend
Long-Jacketts. Sarah Meißner rannte in Richtung des
Treppenhauszugangs. Offenbar glaubte sie, dem Wahnsinnigen
entkommen zu können. Sie erreichte den Treppenhauszugang, riss die
Tür auf. Dahinter standen mehrere Uniformierte der Security. Sie
hielten ihre Waffen im Anschlag.
Borgwardt handelte reflexartig.
Er griff mit der linken zum Gürtel, riss eine der Handgranaten
hervor. Mit den Zähnen betätigte er den Auslöser. Die Granate war
jetzt scharf. Borgwardt schleuderte sie in Richtung der Männer,
feuerte gleichzeitig auf sie.
Die Uniformierten hatten Borgwardt nicht rasch genug durch
einen gezielten Schuss ausschalten können. Sarah Meißner stand
ihnen im Weg.
Borgwardts Handgranate detonierte. Sowohl Sarah als auch die
Security-Leute wurden davon erfasst.
Die Schreie wurden vom Explosionsgeräusch übertönt. Borgwardt
selbst bekam noch die Druckwelle zu spüren, wurde zu Boden
gerissen.
Er rollte sich ab.
Die mörderische Flammenhölle sengte ihn an. Sein Jackenärmel
fing Feuer. Borgwardt schrie auf, ruderte heftig mit dem Arm,
schlug damit auf den Boden.
Die Flamme erlosch.
Borgwardt rappelte sich auf. Er drehte sich herum.
Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.
Zum Aufzug!, durchzuckte es ihn.
Eigentlich hatte er den Lift nicht benutzen wollen. Das Risiko
war einfach zu groß. Durch Abschalten des Stroms konnte man ihn
ziemlich leicht kaltstellen. Aber jetzt blieb ihm keine andere
Wahl, als das Risiko einzugehen.
Ich bin eingekreist!, durchfuhr es ihn. Seine Verfolger
schienen überall zu sein. Ein Laserstrahl brach sich für
Sekundenbruchteile in einer Glasscheibe. Borgwardt reagierte
blitzschnell, hechtete hinter eine Regalwand. Dort, wo er gerade
noch gestanden hatte, brannte sich ein Projektil in den
Teppichboden. Borgwardt sah den Laserpunkt wandern. Der Schütze
musste sich auf einer der Balustraden der oberen Stockwerke
befinden.
Ihr werdet mich nicht kriegen!, schwor er sich. Und wenn ich
dafür das ganze Gebäude in die Luft sprengen muss!
3
Mein Name ist Kriminalhauptkommissar Uwe Jörgensen. Zusammen
mit meinem Kollegen Roy Müller gehöre ich einer Sonderabteilung der
Kripo an, die sich Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe des
Bundes nennt und in Hamburg angesiedelt ist.
Roy und ich waren Richtung Hamburg Mitte unterwegs. Es war
gegen 17.00 Uhr. Ausnahmsweise waren wir einmal relativ pünktlich
aus dem Büro herausgekommen, um Feierabend zu machen.
Trotzdem sollte es an diesem Abend noch mehrere Stunden
dauern, ehe ich Roy an der bekannten Ecke absetzen konnte.
Wir erhielten einen dringenden Notruf aus der Zentrale.
Kriminaldirektor Jonathan D. Bock war persönlich am Apparat.
»Fahren Sie sofort zum Kaufhaus BigZ, da ist im Moment die
Hölle los!«, berichtete uns der Chef der Kriminalpolizei Hamburg.
Wir hörten seine Stimme über die Freisprechanlage des Sportwagens,
den die Fahrbereitschaft des Kriminalpolizei uns zur Verfügung
stellte. »Ein offensichtlich geistesgestörter Amokschütze befindet
sich dort, hat zeitweilig Geiseln genommen und wild um sich
geschossen. Unter anderem sprengte er mehrere Wachleute und eine
Angestellte mit einer Handgranate in die Luft. Spezialkommandos der
Polizei sind auf dem Weg zum Einsatzort ...«
»Einen gemütlichen Feierabend hatte ich mir anders
vorgestellt, Herr Bock«, sagte ich, ließ dabei das Seitenfenster
herunter. Roy reichte mir das Blaulicht an. Ich setzte es auf das
Dach.
»Tut mir leid, Uwe, muss leider sein. Sie und Roy sind am
dichtesten dran«, setzte Herr Bock noch hinzu.
»Schon in Ordnung«, meinte Roy.
Ich trat das Gaspedal durch, schaltete das Martinshorn
ein.
Minuten später erreichten wir das BigZ.
Dutzende von Einsatzwagen der Polizei waren bereits am Ort des
Geschehens.
Wir hatten Glück, so nahe am Ort des Geschehens gewesen zu
sein. Andernfalls hätten wir Schwierigkeiten gehabt, überhaupt noch
durchzukommen. In spätestens einer Viertelstunde würde der Verkehr
um das Kaufhaus herum zum Erliegen kommen. Ich stellte den Wagen am
Straßenrand ab.
Wir stiegen aus und legten die Kevlar-Westen an. Die Dinger
sind zwar unbequem, können aber Leben retten. Bei Einsätzen wie
diesem sind sie für jeden Polizisten Pflicht. Außerdem legten wir
Ohrhörer und Mikro an. Wenn wir tatsächlich ins Kaufhaus
hineingingen, um den Amokläufer zu stellen, dann war das nur
denkbar, wenn wir die ganze Zeit über mit der Einsatzleitung vor
Ort in Funkkontakt blieben.
Zahlreiche panikerfüllte Kunden strömten ins Freie. Ein noch
so großes Aufgebot an Polizisten hätte sie nicht aufhalten
können.
Die Situation war chaotisch.
Die Kollegen versuchten verzweifelt, etwas Ordnung zu
schaffen. Ein Team des Rettungsdienstes stand zum Einsatz bereit.
Aber noch konnte es nicht in Aktion treten.
Ein paar Dutzend Meter von uns entfernt sah ich das Kamerateam
eines Lokalsenders. Polizisten verhinderten, dass es sich weiter
dem Eingangsbereich des Kaufhauses näherte.
Die mobile Einsatzzentrale befand sich in einem Van der
Polizei. Dort trafen wir den Einsatzleiter. Polizeihauptmeister
Maik Rohmann.
Rohmann war ein etwas fülliger Mittvierziger. Ihm stand der
Schweiß auf der Stirn.
»Schön, dass euer Büro jemanden geschickt hat!«, sagte er in
unsere Richtung. »Wir brauchen jede Unterstützung. Leider läuft
hier alles im Moment noch ziemlich chaotisch ...«
»Wo befindet sich der Kerl?«, fragte ich.
»Das ist ja das Problem! Wir haben ihn verloren!«
»Was?«
»Er stieg in einen Aufzug, nachdem er mit einer Handgranate
mehrere Wachleute und eine Verkäuferin in die Luft sprengte. Aber
anscheinend ist er nirgendwo ausgestiegen. Sonst wäre das auf der
Videoüberwachung zu sehen gewesen.«
»Dann ist der Kerl noch im Lift!«, stellte ich fest.
»Die Kabine war leer!«, gab Maik Rohmann zur Antwort.
Ich überprüfte die Ladung meiner SIG und stellte den zu meinem
Ohrhörer passenden Funkempfänger auf die bei der Polizei
gebräuchliche Frequenz ein.
»Sie haben sicher schon von diesen verrückten Lift-Surfern
gehört, Herr Rohmann!«
PHM Rohmann runzelte die Stirn.
»Sie meinen, der Kerl turnt jetzt an den Drahtseilen im
Liftschacht herum?«
4
Unsere Kollegen Tobias Kronburg und Ludger Mathies trafen
wenig später ein. Ihr Weg hierher war etwas länger gewesen als der
unsere. Ein Spezialeinsatzkommando steckte im Stau fest. Rund um
das Kaufhaus war in Hamburg Mitte der Verkehr total
zusammengebrochen. Die Vielzahl von Einsatzfahrzeugen war daran nur
zum Teil Schuld. Tausende von Besuchern des Kaufhauses strömten
völlig unkontrolliert aus ihm heraus, liefen zu ihren Fahrzeugen in
der Tiefgarage und versuchten - von Panik getrieben - diesen Ort so
schnell wie möglich zu verlassen. Familien mit Kindern waren
darunter, die einen vergnüglichen Spätnachmittag beim
Einkaufsbummel hatten verbringen wollen.
Die Panik, die der Amokläufer verbreitet hatte, musste sich
rasend verbreitet haben. Es hatte keinen Sinn, diese Menschenmassen
mit einer Handvoll Polizisten aufhalten zu wollen. Das hätte nur in
einer Katastrophe geendet. Wir konnten nur hoffen, dass die
Security in der Videozentrale wirklich sehr genau ihre Bildschirme
kontrolliert hatten. Wenn nicht, war der Amokläufer vielleicht mit
den Menschenmassen hinausgespült worden, ohne dass ihn jemand
bemerkt hatte.
In dem Fall hatten wir schlechte Karten.
KHM Rohmann entschied, das Eintreffen des Spezialkommandos
nicht abzuwarten.
Wir gingen in das Gebäude hinein. Das Rettungsdienstteam
folgte uns. Der Strom der von Panik ergriffenen Kaufhaus-Kunden kam
uns dabei entgegen und sorgte dafür, dass wir länger brauchten als
gewöhnlich. Rohmann leitete den Einsatz vom Van aus. Er war dabei
in ständigem Funkkontakt mit der Videoüberwachungszentrale des
privaten Security Service, der normalerweise innerhalb des
Kaufhauses für Sicherheit zu sorgen hatte.
Bei den Aufzügen trafen wir ein paar Security-Leute.
Sie waren mit der Situation vollkommen überfordert. Der
Schrecken stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
»Fragen Sie mal nach, welchen Lift der Killer benutzt hat!«,
wandte ich mich über Funk an Rohmann.
Wenig später konnte mir der Polizeihauptmeister darauf eine
Antwort geben.
»Er hat die Nummer 5 benutzt!«
»Danke!«
Ich ging zum Aufzug mit der Nummer fünf und sorgte per
Knopfdruck dafür, dass sich die Kabine in Bewegung setzte.
Wir warteten geduldig ab, während die anderen sich auf den
Weg in den siebten Stock machten. Dort sollte es einen
schwerverletzten Mann mit einer Schusswunde geben.
Sicherheitshalber nahmen die Kollegen den Weg über das
Treppenhaus.
Schließlich war der Amokläufer in Besitz von Handgranaten.
Vielleicht hatte er auch weiteren Sprengstoff dabei. Sobald er sich
in die Enge getrieben fühlte, war dieser Tätertyp vollkommen
unberechenbar.
Die Kabine von Nummer 5 erreichte das Erdgeschoss.
Ich wandte mich an einen der hauseigenen Security-Leute.
»Können Sie im Aufzugsbereich den Strom abschalten?«
»Das ist gegen die Vorschriften!«, bekam ich zur Auskunft.
»Schließlich könnten sich noch Personen in den Aufzügen befinden
...!«
»Tun Sie es trotzdem, wir können nicht länger warten!«
»Ich werde die Verantwortung nicht übernehmen!«, erwiderte der
Mann.
Roy meldete sich zu Wort.
»Wenn der Kerl wirklich irgendwo in diesem Schacht
herumklettert, dann sollten wir ihn schleunigst stellen!«, fand er.
»Schließlich hat er Handgranaten bei sich.«
Tobias Kronburg wandte sich an den Wachmann.
»Wir übernehmen die Verantwortung! Also stellen Sie den Strom
ab!«
Ich wartete nicht länger. Sollte Tobias versuchen, mit der
Autorität eines Ex-Polizisten dafür sorgen, dass die
Stromversorgung der Aufzüge abgeschaltet wurde.
Ich betrat die Kabine. Roy folgte mir. Ich deutete mit dem
Lauf der SIG hinauf zum Kabinendach.
»Schau dir das an!«
»Du hattest den richtigen Riecher, Uwe!«
Eine der Platten des Kabinendachs war aus ihrer Halterung
gebrochen worden. Der Täter hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie
wieder exakt in die Lücke hineinzupassen.
Roy bildete mit den Händen einen Tritt. Ich steckte die SIG
ein, schwang mich hinauf. Die Platte war lose. Sie ließ sich zur
Seite schieben. Mit einem schabenden Laut fiel sie vom Kabinendach
herunter in die Tiefe. Und das mussten mindestens noch einmal zehn
oder zwölf Meter sein, schließlich befanden sich unterhalb des
Kaufhauses mehrere Parkdecks, zu denen man ebenfalls über die
Aufzüge gelangen konnte.
Ich zog mich mit einem Klimmzug empor. Die Öffnung war groß
genug, um hindurchzuklettern. Der Amokschütze hatte es etwas
schwerer gehabt. Ich vermutete, dass er die seitlichen Haltegriffe
als Tritte benutzt und die Finger durch das Gitter eines
Lüftungsschlitzes knapp unterhalb der Decke gekrallt hatte.
Ich griff zur SIG, blickte mich um. Es herrschte Halbdunkel.
Eine schwache Notbeleuchtung gab es hier im Schacht. Irgendwo weit
über mir fiel spärliches Licht durch dicke Glasbausteine in der
Gebäudedecke.
»Siehst du was?«, fragte Roy.
Ich brauchte einige Augenblicke, um mich an das Halbdunkel zu
gewöhnen.
Ein knarrender Laut ließ mich abwärts blicken. Eine der
Liftkabinen wurde angehoben, kam langsam höher. Von dem Amokläufer
sah ich dort jedoch keine Spur.
Immer wieder machten sogenannte Lift-Surfer von sich reden,
die eine Mutprobe daraus machten, in den Schächten von einer Kabine
zur anderen zu springen. Ein riskantes Spiel. Schon so mancher war
dabei buchstäblich zerrissen worden. Die Sicherheitsbestimmungen
waren inzwischen verschärft worden, so dass es schwieriger war, die
Liftkabine zu verlassen. Offenbar reichten diese verschärften
Vorschriften noch immer nicht aus.
Von oben senkte sich ebenfalls eine Kabine herab.
Ich hörte die Megafonansagen der Kollegen. Alle, die sich noch
im Gebäude aufhielten, wurden angewiesen, nicht die Fahrstühle zu
benutzen.
Dann hielten beide Liftkabinen mit einem Ruck.
Die Notbeleuchtung verlosch.
»Hier spricht Uwe Jörgensen von der Kriminalpolizei!«, rief
ich.
Meine Worte hallten im Schacht wider. Ich musste langsam und
deutlich sprechen.
»Wir wissen, dass Sie hier sind! Sie haben keine Chance zu
entkommen. Aber was immer auch Ihr Anliegen sein mag, Sie werden in
einem fairen Prozess die Möglichkeit bekommen, es an die
Öffentlichkeit zu bringen.«
Ich lauschte. Was ich gesagt hatte, war nicht mehr als ein
Schuss ins Blaue. Niemand von uns wusste, was wirklich in dem Kopf
des Amokläufers vor sich ging. Manche wollten einfach nur auf
spektakuläre Weise in die Öffentlichkeit. Gescheiterte Existenzen,
die sich einen großen Abgang inszenierten und sich dabei Vorbilder
aus den Medien nahmen. Je nachdem, wie groß der Schaden war, den
sie angerichtet hatten, starben diese Menschen in der Gewissheit,
dass die Öffentlichkeit von ihnen Notiz genommen hatte.
Es gab andere Fälle, in denen sich die Betreffenden einfach
nur voll bewusstseinsverändernder Drogen gepumpt hatten.
Ich hoffte nicht, dass der Kerl, mit dem wir es zu tun hatten,
zu dieser Kategorie zählte. Denn die Angehörigen dieser Sorte
konnte man mit noch so geschickt gewählten Worten nicht
beeinflussen.
Roy kletterte inzwischen zu mir herauf.
Noch immer herrschte ansonsten absolute Stille im
Schacht.
»Hören Sie, man wird Ihnen helfen!«, rief ich. »Ich bin
überzeugt davon, dass Sie Hilfe brauchen. Ich verspreche Ihnen,
dass man Sie Ihnen auch geben wird! Es muss mit dem heutigen Tag
nicht alles für Sie zu Ende sein. Allerdings können Sie dieses
Gebäude nur lebend verlassen, wenn Sie sich ergeben!«
Wieder keine Antwort.
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, ein rotes Blitzen
hoch über mir zu sehen. Ein Laserstrahl, der an mehreren Stellen
mit den fingerdicken Drahtseilen zusammentraf. Dadurch wurde er
selbst auf die große Entfernung hin für einen Sekundenbruchteil gut
sichtbar.
»Er ist dort oben«, flüsterte ich Roy zu, der nach unten
geblickt und davon nichts mitbekommen hatte.
»Wie kommst du darauf?«, fragte mein Partner.
»Ich habe den Laserpointer seiner Waffe gesehen.«
»Warum hat er sich verdammt noch einmal nach oben tragen
lassen? Das gibt doch keinen Sinn, Uwe!«
»Vielleicht doch!«
»Du meinst, da wird man ihn zuletzt suchen.«
»Ich hoffe, dass das der einzige Grund ist«, murmelte ich.
Ich gab die ungefähre Position, an der ich den Strahl des
Laserpointer zu sehen geglaubt hatte, an die Einsatzzentrale durch.
Polizeihauptmeister Rohmann konnte so schon einmal ein paar Leute
auf den Weg schicken.
Roy wandte den Kopf zu mir.
»Na, was ist? Hat der Amateurpsychologe Uwe Jörgensen schon
aufgegeben oder versuchst du noch einmal, den Typ aus der Reserve
zu locken?«, fragte Roy.
Er fasste die SIG mit beiden Händen. Suchend blickte er
empor.
Das schwache Gegenlicht, das durch die Glasbausteine in der
Decke drang, machte es nicht gerade einfacher, etwas zu erkennen.
Aber einen Scheinwerfer zu benutzen, wäre für uns vermutlich
Selbstmord gewesen. Der Amokläufer hätte dann ein gut sichtbares
Ziel vor sich gehabt.
Ein schabendes Geräusch war zu hören, hallte mehrfach
wider.
Immerhin bestätigte mich das in der festen Überzeugung, dass
dort oben tatsächlich jemand war.
»Hier ist noch mal Uwe Jörgensen von der Kriminalpolizei«,
rief ich zu ihm hinauf. »Draußen warten ein paar Fernsehteams und
Presseleute. Aber das Kaufhaus ist komplett abgeriegelt. Von denen
kommt keiner nahe genug heran, um Sie auf das Band zu bekommen. Sie
wollen doch, dass man von Ihnen Notiz nimmt, oder?«
Die Antwort des Amokläufers bestand aus Schweigen.
»Wenn Sie aufgeben, sorge ich dafür, dass Sie vorne durch den
Haupteingang geführt werden, wenn Sie das wollen. Dann werden Ihr
Gesicht und das, was Sie in die Kameras sagen, um die ganze Welt
gehen. Sie werden der Aufmacher in den Abendnachrichten sein! Was
ist? Ist das kein Angebot?«
Wieder war ein Geräusch zu hören. Es klang wie ein Ratsch.
Eine Waffe wurde durchgeladen. Dann folgte ein Schrei. Ein dunkler
Schatten fiel aus Höhe des fünfzehnten oder sechzehnten Stocks. Der
Körper eines Menschen. Genau das hatte ich befürchtet. Deswegen, so
glaubte ich in diesem Moment, war der Amokläufer aufwärts
»gesurft». Er gehörte offenbar zu jener Sorte, denen es einzig und
allein um die Inszenierung eines dramatischen Abgangs ging.
»Verdammt!«, knurrte Roy.
Im nächsten Moment hörten wir tief unten seinen Körper
aufschlagen. Ein alptraumhafter Laut!
Dann wurde es hell im Schacht. Eine gewaltige Explosion brach
los. Tief unter uns war eine Flammenhölle. Der Knall war
ohrenbetäubend. Offenbar war eine der Handgranaten losgegangen, die
der Kerl bei sich trug. Wahrscheinlich hatte er den Auslöser noch
gezogen, während er in die Tiefe fiel. Die Druckwelle erfasste die
Liftkabine, auf deren Dach wir uns befanden mit voller Wucht. Wir
mussten uns festhalten, klammerten uns an den Drahtseilen fest. Es
wurde höllisch heiß. Wir kletterten in die Kabine zurück. Zuerst
Roy, dann ich.
Ludger und Tobias nahmen uns in Empfang, halfen uns dabei.
Eine weitere Detonation erschütterte jetzt den gesamten
Aufzugsschacht.
»Der Kerl scheint jede Menge Explosives bei sich gehabt zu
haben«, kommentierte Roy den zweiten Knall.
Wir traten aus der Kabine heraus.
»Uwe! Roy! Was ist da bei euch los, verdammt noch mal?«,
dröhnte die Stimme von PHM Rohmann in meinem Ohrhörer.
Ich atmete tief durch.
»Der Kerl hat sich das verschafft, worauf er es wohl von
Anfang an abgesehen hatte - einen spektakulären Abgang«, berichtete
ich.
»Er hätte auf dein Angebot eingehen sollen, Uwe«, murmelte Roy
düster. »Dann wäre er auch berühmt geworden ...«
Ich schloss einige Augenblicke lang die Augen. Die aufgeregte
Stimme von PHM Rohmann beachtete ich für den Moment nicht weiter.
Irgendetwas stimmt hier nicht, durchzuckte es mich. Ich konnte
nicht sagen, was genau es war. Aber ich hatte das deutliche Gefühl,
dass es hier um mehr ging, als nur um einen Mann, der in die
Psychiatrie gehört hätte. Ich zermarterte mir das Hirn, versuchte
mir noch einmal im Einzelnen zu vergegenwärtigen, was gerade
geschehen war. Irgendein winziges Detail passte nicht ins Bild. Nur
ein winziges Stück in einem Puzzle. So sehr ich mich auch
anstrengte, es fiel mir nicht ein. Noch nicht.
5
Am nächsten Morgen saßen wir im Besprechungszimmer von Herrn
Bock, unserem Chef. Außer Roy und mir waren auch die Kollegen
Tobias Kronburg und Ludger Mathies anwesend. Darüber hinaus Max
Warter aus dem Innendienst unseres Büros.
»Ich möchte mich für Ihren Einsatz bedanken«, sagte Herr Bock.
»Dass dieser Mann es am Ende doch vorgezogen hat, seinem Leben ein
spektakuläres Ende zu setzen, war ganz gewiss nicht Ihr Fehler.
Immerhin scheint sich der Verdacht, dass dieser Amoklauf
irgendeinem terroristischen Hintergrund hat, bislang nicht
bestätigt zu haben.«
Ich nippte an meinem Kaffee. Mandys Spezialmischung. Der
Kaffee, den die Sekretärin unseres Chefs braute, war im gesamten
Polizeipräsidium eine Legende.
Herr Bock gab inzwischen das Wort an Max Warter weiter.
»So wie ich das sehe, dürfte der Fall so gut wie abgeschlossen
sein, auch wenn noch nicht alle Berichte vollständig vorliegen. Bei
dem Amokläufer handelt es sich um einen ehemaligen Soldaten. Ingo
Borgwardt, einen für seine Tapferkeit ausgezeichneten
Bundeswehr-Soldaten. Sein letzter Einsatz war in Afghanistan.
Borgwardt kehrte hochgradig traumatisiert zurück und wurde für
dienstunfähig erklärt. Nach seinem Ausscheiden aus der Bundeswehr
schloss er sich einer Rocker-Gang an, deren Angehörige von
Clubbesitzern als Türsteher engagiert wurden. Diese Türsteher
kontrollierten, welche Dealer und Prostituierten in die Clubs
hineinkamen und welche nicht.«
»Sicher ein einträgliches Geschäft!«, kommentierte Tobias
Kronburg.
Warter fuhr fort: »Borgwardt handelte sich ein paar Vorstrafen
wegen Körperverletzung ein, war wohl zeitweilig auch drogensüchtig.
Nach Angaben seines Bewährungshelfers hat ihn am Ende sogar seine
Gang ausgestoßen.«
Ein tragisches Schicksal, ging es mir durch den Kopf. Vom
hochdekorierten Helden zu einer drogensüchtigen Randexistenz. Aber
war das Grund genug, um mit einer Waffe und mehreren Handgranaten
in ein großes Kaufhaus zu gehen, um dort ein Blutbad anzurichten?
Keiner der Menschen, die dort in Mitleidenschaft gezogen worden
waren, hatte Borgwardt etwas angetan. Der pure Zufall hatte sie zu
seinen Opfern gemacht.
Ich lehnte mich etwas zurück, nahm noch einen Schluck
Kaffee.
Max Warter setzte inzwischen seine Ausführungen fort.
»Es gibt hier einen Bericht von Dr. Wilhelm Eisenmann. Er ist
forensischer Psychiater und attestierte Borgwardt im letzten Jahr
im Zusammenhang mit einer Körperverletzung eine schwere Psychose.
Borgwardt hatte offenbar Wahnvorstellungen, glaubte verfolgt zu
werden.«
»Aber was hat dazu geführt, dass er gestern durchdrehte?«,
fragte ich.
Max Warter zuckte die Achseln.
»Eine Verkettung unglücklicher Umstände vielleicht.
Wahrscheinlich werden wir es nicht mehr herausfinden.«
»Der Fall steht mehr oder weniger kurz vor dem Abschluss«,
erklärte Herr Bock. »Ich bin froh, dass wir es wenigstens mit einem
gewöhnlichen Verrückten zu tun hatten - und nicht mit dem
Selbstmordattentäter irgendeiner wahnsinnigen islamistischen
Terror-Sekte!«
Mein Instinkt meldete sich. Irgendetwas passte hier nicht
zusammen. Ich wandte mich an Max Warter.
»Hast du was dagegen, wenn ich mir den vorläufigen Bericht mal
ansehe?«
»Bitte!«
6
Später saßen Roy und ich in unserem gemeinsamen Dienstzimmer,
das wir uns schon seit einer Ewigkeit teilten.
»Ich verstehe dich nicht«, meinte Roy. »Was hoffst du in
diesem verdammten Bericht zu finden? Wir haben jede Menge Arbeit,
da sollte uns dieser Borgwardt nicht länger beschäftigen, als
unbedingt notwendig.«
»Roy, ich möchte, dass wir das alles noch einmal
durchgehen.«
»Wenn's sein muss ...«
»Muss sein.«
»Dafür bist du mir dann aber was schuldig!«
»Durch die Handgranaten-Explosion unten im Schacht ist kaum
etwas von Borgwardt übrig geblieben ...«
»Aber wir wissen, dass er eine automatische Waffe vom Typ
FDK-234 Remington, Kaliber 44 benutzte. Von dem Schießeisen blieb
genug übrig, um es identifizieren zu können.«
»Andernfalls müssten wir ein paar Tage warten, bis die
Kollegen der Ballistik die Projektile untersucht hätten, die
Borgwardt verballert hat.«
»Die FDK-234 ist eine automatische Waffe.« Ich deutete auf den
Computerschirm. Roy umrundete den Schreibtisch und sah sich die
Abbildung an, die ich mir von der Internetseite des Herstellers
heruntergeladen hatte. »Zwölf Schuss sind im Magazin. Die Hülsen
werden automatisch ausgeworfen, es gibt keinen Sicherungsbügel und
selbstverständlich braucht man sie nicht durchzuladen ...«
»Worauf willst du hinaus, Uwe?«
»Ich habe mir die ganze Zeit das Hirn zermartert. Ich kam
einfach nicht drauf. Aber jetzt hat es klick gemacht!«
»Na, da bin ich aber gespannt!«
»Du musst es auch gehört haben ...«
»Was?«
»Kurz bevor der Kerl in die Tiefe sprang, habe ich gehört, wie
eine Waffe durchgeladen wurde.«
Roy sah mich entgeistert an, runzelte die Stirn und schüttelte
schließlich energisch den Kopf.
»Das gibt doch keinen Sinn, Uwe!«
»Eben. Es sei denn, man geht davon aus, dass da noch jemand
war ...«
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Ich habe einen Laserpointer aufblitzen sehen. Davon ist aber
nichts gefunden worden, wenn man nach den Ergebnissen des Berichtes
geht.«
»Kann sein, dass er durch die Detonation so zerfetzt wurde,
dass Spezialisten ein halbes Jahr die Einzelteile zusammenpuzzeln
müssten.«
»Vielleicht war Borgwardts Waffe auch gar nicht mit einem
Laserpointer ausgestattet.«
»Es gibt Videoaufzeichnungen des Amoklaufs, Uwe.«
»Worauf warten wir noch?«
»Glaubst du, dass der Aufwand wirklich lohnt? Außerdem sind
die Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras im Labor. Warten
wir doch einfach ab, was die Kollegen der Ermittlungsgruppe
Erkennungsdienst herausfinden.«
Ich erhob mich von meinem Bürostuhl.
»Angenommen, Borgwardt ist gar nicht gesprungen, sondern wurde
erschossen ... Der Täter hätte irgendwo aus einer der anderen
Liftkabinen heraus feuern können. Wie leicht sich die Außenwandung
öffnen lässt, haben wir ja gesehen. Ein Kinderspiel.«
»Es gab kein Schussgeräusch.«
»Dann hat er einen Schalldämpfer benutzt.«
»Wenn du angeblich hören konntest, wie eine Waffe durchgeladen
wird, dann müsstest du trotz Schalldämpfer auch etwas von dem
Schuss mitgekriegt haben.«
»Hängt davon ab, ob bei der verwendeten Waffe seitlich Schall
austreten kann oder nicht. Und natürlich von der Qualität des
Dämpfers. Du weißt genau, dass es Modelle gibt, bei denen man
wirklich so gut wie nichts hört. Außerdem gab es Nebengeräusche,
die das leicht überdecken konnten. Du hast doch von dem Durchladen
auch nichts mitgekriegt, Roy.«
»Und das Mündungsfeuer? Uwe, du willst jetzt nicht behaupten,
dass du so etwas gesehen hättest!«
»Nein, das nicht ...«, musste ich zugeben.
»Na siehst du!«, meinte Roy. »Es war ziemlich dunkel, dass
hätte richtig geblitzt, meinst du nicht auch?«
»Je nachdem, in welchem Winkel wir zum Schützen gestanden
hätten. Wenn wir mit dem Rücken zu ihm gestanden haben ...«
Roy unterbrach mich.
»Du bist unverbesserlich, Uwe, aber diesmal hast du dich
eindeutig verrannt!«
»Roy!«
»Wenn du deine Theorie Herrn Bock vortragen willst, halte ich
dich nicht ab, Uwe. Aber alles, was du damit erreichen wirst, ist,
dass du ein paar Tage auf Erholungsurlaub geschickt wirst. Außerdem
ergibt das doch keinen Sinn, was du da sagst.«
»Wieso?«
»Wer sollte denn ein Motiv dazu haben, Borgwardt in den
Fahrstuhlschacht nachzusteigen, um ihn abzuknallen? Jedenfalls
besteht die Bewaffnung der Security-Leute nicht aus Waffen, die mit
Laserpointern ausgestattet sind. Ganz zu schweigen von einem
Schalldämpfer.«
Ohne Schalldämpfer hätten Roy und ich in dem geschlossenen
Liftschacht das Schussgeräusch nicht überhören können. Dass einer
der Wachmänner oder der Polizisten im Rahmen des Einsatzes auf
Borgwardt geschossen hatte, war so gut wie auszuschließen. Der
Einsatz war schließlich von Polizeihauptmeister Rohmann zentral
koordiniert worden.
»Es gibt noch eine Möglichkeit, die vielleicht alles erklärt,
Uwe.«
Ich sah meinen Partner an, hob die Augenbrauen.
»Da bin ich aber gespannt!«
»Borgwardt könnte sich selbst erschossen haben. Den Lauf an
die Schläfe und - peng.«
»Und warum das?«
»Er hatte Angst, in der Tiefe auf dem Asphalt aufzuschlagen.
Klingt absurd, aber psychologisch erklärbar. Du weißt selbst, dass
es immer wieder Selbstmörder gibt, die auf Nummer supersicher gehen
...«
»… und die Handgranate hat sich dann von selbst
gezündet!«
Roy schüttelte den Kopf.
»Du lässt nicht locker, was? Borgwardt könnte den Auslöser der
Handgranate zuerst betätigt, sich dann erschossen und hinabgestürzt
sein.«
»Vorausgesetzt - er war schnell.«
»Er war ein Soldat, Uwe«, gab Roy zu bedenken.
7
Was hast du nur getan, Ingo!, durchzuckte es die junge Frau.
Sie stellte die Kaffeetasse auf der Anrichte ihrer Wohnküche ab,
strich sich anschließend mit einer fahrigen Geste eine blonde
Strähne aus dem Gesicht.
Susanne Borgwardt traten Tränen in die Augen. Wie gelähmt saß
sie vor dem Fernseher und starrte auf den Bildschirm. Ein Reporter
in kariertem Jackett berichtete über das Thema eins aller Hamburger
Lokalsender. Der Amokläufer im Kaufhaus BigZ.
Susanne hatte schon am Abend davon gehört, diese Nachricht
aber nicht mit ihrem Bruder Ingo in Verbindung gebracht. Erst jetzt
wurde ihr die Wahrheit bewusst.
Tränen rannen ihr über das Gesicht und verwandelten ihr
Make-up in ein Aquarell. Ingo war zehn Jahre älter als sie. Bevor
er zur Bundeswehr gegangen war, hatte sie eine sehr starke Bindung
zu ihrem großen Bruder gehabt. Später nicht mehr. Zu stark hätte er
sich verändert. Dennoch, sein Tod und dessen grauenhafte
Begleitumstände rissen Susanne in einen Abgrund der Depression. Sie
hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Warum nur?, durchzuckte es ihre Gedanken. Ein dicker Kloß
steckte im Hals.
An der Tür klingelte es.
Erst beim zweiten Mal wurde es ihr wirklich bewusst. Sie ging
zur Tür, blickte durch den Spion. Zwei Männer in schwarzen Anzügen
standen vor der Tür. Susanne aktivierte mit einem Knopfdruck die
Sprechanlage.
»Was möchten Sie?«, fragte die junge Frau.
»Frau Borgwardt? Wir sind von der Mordkommission der Hamburg
Polizei. Mein Name ist Kommissar Schmidt. Neben mir steht mein
Partner Kommissar Roth. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen
stellen.«
Susanne schluckte. Ein dicker Kloß steckte ihr im Hals. Es
geht bestimmt um Ingo und das, was er im Kaufhaus angerichtet hat,
durchzuckte es sie. Sie spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden.
Sie hatte weiche Knie. Der Schock, den sie durch die Nachricht von
der Wahnsinnstat ihres Bruders erlitten hatte, steckte ihr
sichtlich in den Knochen.
Der Mann, der sich Schmidt nannte, hielt ihr seinen Ausweis
vor den Spion.
»Einen Augenblick«, murmelte sie, fast wie in Trance. Die
ganze Situation erschien ihr vollkommen irreal. Sie öffnete die
Tür. Die beiden Männer traten ein, ließen den Blick durch das
Ein-Zimmer-Apartment schweifen.
Der Mann, der als Roth vorgestellt worden war, trat ein paar
Schritte nach rechts und warf einen Blick ins Bad. Dabei hatte er
die Hand an der Waffe, die er im Gürtelholster unter dem Jackett
trug.
Schmidts Gesicht blieb unbewegt. Er musterte Susanne einen
Augenblick.
»Frau Borgwardt, Ihr Bruder ...«
»Ich habe es eben in den Nachrichten erfahren«, sprudelte es
aus ihr heraus. »Und ich habe keine Ahnung, weshalb er etwas so
Schreckliches getan hat. Ich meine, mir war natürlich bekannt, dass
Ingo nicht mehr derselbe war, seit er damals aus Afghanistan
zurückkehrte. Ingo muss dort schreckliche Szenen miterlebt haben.«
Sie atmete tief durch, schluckte und verschränkte die Arme vor der
Brust. »Posttraumatischen Belastungstrauma, so lautete die
Diagnose. Sie werden natürlich sagen, dass so etwas keine
Entschuldigung dafür sein kann, wenn jemand Jahre später in voller
Bewaffnung in ein Kaufhaus geht und ein Blutbad hinterlässt
...«
»Es muss ein Schock für Sie sein, das von Ihrem Bruder zu
erfahren«, sagte Schmidt.
Sie nickte. »Ich kann es noch immer nicht glauben.«
»Nach unseren Unterlagen sind Sie Ingo Borgwardts einzige noch
lebende Verwandte.«
»Ja. Unsere Eltern starben vor drei Jahren an den Folgen eines
Verkehrsunfalls.«
»Was machen Sie beruflich, Frau Borgwardt?«
»Ich bin Lehrerin an einer Grundschule hier in Wandsbek. Im
Moment sind Ferien.«
»Hatten Sie in letzter Zeit des Öfteren Kontakt mit Ihrem
Bruder?«
»Nein ...« Susanne war etwas verwirrt. Warum diese
Fragen?
»Wir wissen, dass Ihr Bruder vor drei Tagen hier in Ihrer
Wohnung war, Frau Borgwardt«, meldete sich jetzt Roth zu
Wort.
»Sie haben Ingo beobachtet!«, stieß sie hervor.
»Wir haben uns bei den Nachbarn erkundigt ... Ich muss Ihnen
leider noch ein paar weitere unerfreuliche Dinge über Ihren Bruder
sagen«, fuhr Schmidt nach kurzer Pause fort. »Er war in kriminelle
Geschäfte verwickelt, ob Sie es nun glauben oder nicht.«
Susanne nickte leicht.
»Er hatte jeden Halt verloren«, murmelte sie. »Ich habe ihn
vor drei Tagen zum ersten Mal seit über einem Jahr gesehen
...«
»Wissen Sie, was Ihr Bruder in der Zeit davor gemacht
hat?«
»Keine Ahnung.«
»Sie hatten überhaupt keinen Kontakt?«, vergewisserte sich
Schmidt.
Susanne Borgwardt wich einen Schritt zurück.
»Warum ist das so wichtig für Sie? Bei allem Respekt, aber ich
habe mit dem, was gestern im Kaufhaus passiert ist, nicht das
Geringste zu tun. Ich verstehe also nicht, weshalb Sie mich
...«
Schmidt unterbrach sie.
»Vor drei Wochen hat Ihr Bruder Sie angerufen. Das können wir
beweisen.«
Susanne schluckte.
»Woher wissen Sie das? Hören Sie mein Telefon ab?«
Schmidt gab darauf keine Antwort.
»Erzählen Sie mir, was er von Ihnen wollte!«
»Ich dachte, Sie wissen es!«
»Ich möchte sehen, ob Sie uns nun die Wahrheit sagen.«
Susanne atmete tief durch.
»Ingo war in Schwierigkeiten.«
»Was für Schwierigkeiten?«
»Hat er nicht gesagt. Er war in Eile.« Susanne machte eine
kurze Pause. Die Gedanken rasten nur so in ihrem Kopf.
Es hat keinen Sinn, mit irgendetwas hinter dem Berg zu halten,
ging es ihr durch den Kopf. Ingo kannst du mit deiner Aussage
sowieso nicht mehr schaden.
Susanne fuhr fort: »Er bat mich, etwas für ihn aufzubewahren.
Wir kamen nicht einmal dazu, einen Treffpunkt auszumachen, dann war
das Gespräch schon zu Ende.«
»Aber als Ingo Borgwardt vor drei Tagen bei Ihnen auftauchte,
hat er es Ihnen gegeben?«
»Ja«, flüsterte Susanne.
»Dann händigen Sie es uns bitte aus.«
Susanne nickte, ging zu einem Schrank, öffnete die Schublade
und holte eine braunen Umschlag hervor. Schmidt nahm ihn ihr aus
der Hand, öffnete ihn und holte zwei CD-Roms hervor. Er schob sie
zurück.
»Worum geht es hier eigentlich?«, wollte Susanne.
Sie erhielt keine Antwort.
»Haben Sie sich angesehen, was auf den Scheiben drauf ist?«,
fragte Schmidt.
»Nein.«
»Das ist gut so.«
Schmidt nickte Roth zu, der breitbeinig auf der Couch saß.
Roth griff unter sein Jackett, zog seine Pistole hervor. Aus der
Seitentasche des Jacketts holte er einen Schalldämpfer und
schraubte ihn anschließend in aller Seelenruhe auf. Dann lud er die
Waffe durch.
»Sie sind keine Polizisten!«, stieß Susanne hervor. Ihr
Gesicht war zu einer Maske des Entsetzens geworden.
Sie erwachte aus ihrer Erstarrung, schnellte zurück und kam
gerade noch bis zur Anrichte ihrer Wohnküche. Zweimal machte es
»Plop». Roths erster Schuss traf Susanne in der Bauchgegend, der
zweite durchdrang die Schläfe. Ihr Körper zuckte. Als sie zu Boden
fiel, riss sie die Kaffeetasse mit sich, die noch auf der Anrichte
stand. Die Tasse zersprang auf dem Boden. Der Kaffee spritzte hoch
auf. Schmidt wischte ärgerlich ein paar Tropfen von seinem
Jackettärmel.
»Sorry«, sagte Roth.
»Schon gut.«
»Hätten wir sie wirklich umbringen müssen? Sie hat uns doch
die Kripo-Nummer abgekauft!«
»Ich gehe gerne auf Nummer sicher.« Schmidt deutete auf den
Computer, der in einer Ecke angeschlossen war. »Wer weiß, ob sie
sich die Scheiben nicht doch angesehen hat.«
8
Die Untersuchungen im Fahrstuhlschacht des Kaufhauses waren
kompliziert. Spezialisten der Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst
hatten dort wahrscheinlich noch ein paar Tage zu tun, um Spuren zu
sichern. Das Kaufhaus würde während dieser Zeit geschlossen
bleiben. Mit einem aussagekräftigen Bericht war nicht so schnell zu
rechnen.
Dennoch gab es bereits am nächsten Morgen erste Hinweise
darauf, dass Ingo Borgwardt vielleicht doch nicht aus eigenem
Antrieb den Tod gefunden hatte.
Unser Chefballistiker David Ochmer erläuterte uns die Daten,
die sich bislang ergeben hatten. »Das Schwierigste bei diesem Fall
ist die Sicherung der Spuren«, erläuterte uns David bei der
allmorgendlichen Besprechung in Herrn Bocks Büro.
»Das gilt nicht nur für uns. Ich nehme an, die Kollegen von
der Gerichtsmedizin haben da weitaus größere Probleme. Schließlich
hat die Explosion der Handgranate fast alles zerfetzt, was
Erkennungsdienstler normalerweise unter das Mikroskop legen. Aber
es gibt zum Glück ein paar Dinge, die auch gegen Explosionen
ziemlich resistent sind. Projektile zum Beispiel. Borgwardt
benutzte eine MLK 27. Das ist eine automatische Pistole, die auch
für die Kriminalpolizei mal als Standardwaffe in der näheren
Auswahl war, bevor man sich schließlich für unsere SIG Sauer P 226
entschied. Der Punkt ist der: Es wurde im Schacht geschossen. Wir
haben zwei Projektile gefunden. Ob Borgwardt wirklich durch diese
Schüsse starb, ist schwer zu sagen. Die Kollegen der
Gerichtsmedizin werden versuchen, das durch Untersuchungen an
verschiedenen Knochenfragmenten festzustellen. Falls Knochen
getroffen oder auch nur gestreift wurden, stehen die Chancen gut,
falls die Schüsse nur durch weiches Gewebe gedrungen sind, wird man
diese Frage nie mehr mit absoluter Sicherheit klären können. Aber
eins steht zweifelsfrei fest: Sowohl die verschossenen Projektile,
als auch die ebenfalls aufgefundenen Patronenhülsen sind nicht mit
Borgwardts Waffe abgeschossen worden.«
Herr Bock hob die Augenbrauen.
»Konnten Sie denn noch ballistische Tests mit Borgwardts Waffe
durchführen?«
David Ochmer schüttelte energisch den Kopf.
»Nein, natürlich nicht. Die Waffe war in einem viel zu
schlechten Zustand. Aber wir konnten die Projektile mit jenen
vergleichen, die der Amokläufer zuvor abgeschossen hatte. Der
Befund ist eindeutig. Es wurde aus einer anderen Waffe
gefeuert.«
»Kommt einer der Security-Leute infrage?«, hakte Herr Bock
nach.
»Das Kaliber passt nicht. Die Securitys im Kaufhaus tragen
alle einen Smith & Wesson-Revolver vom Kaliber 38
Special.«
»Und jemand von unseren Leuten, der sich vielleicht besonders
hervortun wollte?« Herr Bock sprach diese Vermutung in gedämpftem
Tonfall aus. Es war schier undenkbar, dass sich ein
Kriminalkommissar oder ein Streifenpolizist so verhielt. Und doch
konnte man diese Möglichkeit nicht völlig außer Acht lassen.
»Das ist nicht anzunehmen«, erklärte David. »Natürlich kann
niemand garantieren, dass alle im Einsatz befindlichen Kräfte
unsere Standard-Waffen benutzt haben. Dann würde uns nicht einmal
eine ballistische Untersuchung sämtlicher eingesetzter Waffen etwas
nutzen. Aber ich denke, wir kommen auf einem anderen Weg schneller
ans Ziel.«
»Und der wäre?«
»Warten Sie ...« David Ochmer projizierte mit Hilfe eines
Beamers, den er an seinem Laptop angeschlossen hatte, eine
schematische Darstellung des Aufzugsschachtes an die Wand. »Wir
haben hin und her gerechnet ...«, meinte er und markierte mit einem
Laserpointer eine bestimmte Stelle in der Schachtwand. »Hier traf
eines der Geschosse auf und blieb stecken. Wir fanden
mikroskopische Gewebespuren. Die Kugel muss den fallenden Körper
durchschlagen haben. Der Schütze befand sich etwa in Höhe achten
Stocks.«
»Das bedeutet, dass wir den Täter auf Video haben müssten«,
stieß ich hervor. »Schließlich wird das Kaufhaus flächendeckend
überwacht.
David Ochmer nickte. »Stimmt!«
»Der Killer wird die Außenhaut von einer Liftkabine geöffnet
und von dort geschossen haben.«
»Wir haben die Kabine identifiziert. Allerdings wissen wir
nicht, in welche Etage er in den Lift gestiegen ist. Das bedeutet
eine lange Video-Sitzung.«
Das Verfahren, das David Ochmer vorschlug, war aufwändig. Und
es war noch nicht einmal sicher, dass etwas Brauchbares dabei
herauskam. Wenn der Täter nur von hinten oder aus einem ungünstigen
Winkel zur Überwachungskamera zu sehen war, konnte man ihn
eventuell selbst anhand von Videobildern nicht
identifizieren.
»Was das Motiv angeht, so tappen wir wohl noch vollkommen im
Dunkeln«, meinte Roy.
»Das Rätsel wird noch etwas verworrener, Roy«, erklärte Herr
Bock. »Gestern Abend wurde Ingo Borgwardts Schwester Susanne in
Wandsbek tot in ihrer Wohnung aufgefunden.«
»Da muss natürlich nicht unbedingt ein Zusammenhang bestehen«,
meinte ich.
Herr Bock wandte den Blick in meine Richtung.
»In diesem Fall besteht aber einer. Der ballistische
Schnelltest hat ergeben, dass Susanne Borgwardt mit derselben Waffe
getötet wurde wie ihr Bruder.«
Mir fiel der Kinnladen herunter.
»Das gibt's doch nicht!«
»Es werden natürlich noch eingehendere Untersuchungen
durchgeführt, deren Resultate wir nicht vor morgen früh haben. Aber
ich rechne damit, dass dieses Ergebnis bestätigt wird.«
9
Roy und ich fuhren zur Hornstraße in Wandsbek. Für Hamburger
Verhältnisse waren die Mieten hier günstig.
Wir waren mit Kommissar Simon Kromer verabredet, dem Leiter
der Mordkommission II. Er leitete die Ermittlungen im Mordfall
Susanne Borgwardt. Wir trafen ihn zusammen mit zwei Kollegen der
Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst in der Wohnung an.
Kromer begrüßte uns freundlich.
»Sieht aus, als wäre das ein Fall für euch«, meinte er.
»Jedenfalls, nach dem vorläufigen ballistischen Bericht.« Kromer
kratzte sich am Hinterkopf. »Ich hätte nie gedacht, dass so etwas
dabei herauskommt.«
»Und wir haben jetzt die undankbare Aufgabe, herauszufinden,
warum ein Kaufhausamokläufer und seine Schwester durch Projektile
aus derselben Waffe getötet wurden.«
»Dieser Ingo Borgwardt hat eine bunte Vergangenheit«, meinte
Kromer. »Ich habe mir die Daten angesehen, die abrufbar sind. Vom
hochdekorierten Kriegshelden zur gescheiterten Existenz ...«
»Manchmal ist das nur ein kleiner Schritt«, sagte Roy.
»So wie ich das sehe, war Borgwardt in den letzten Jahren ein
Kleinkrimineller, mehr nicht. Vielleicht psychisch krank. Aber
seine Schwester war eine graue Maus. Da gibt es nicht den
geringsten Zusammenhang mit irgendwelchen halbseidenen
Sachen.«
»Vielleicht wissen wir einfach noch zu wenig über die Lady«,
murmelte ich und ließ dabei den Blick durch das Apartment
schweifen.
Dort, wo die Tote am Vortag aufgefunden worden war, befanden
sich weiße Markierungen mit Kreide. Überall waren Blutflecken zu
sehen. Eine zersprungene Kaffeetasse lag auf dem Boden.
»Wann ist Susanne Borgwardt gestorben?«, fragte Roy.
»Gestern Nachmittag«, gab Simon Kromer Auskunft. »Natürlich
müssen wir da noch den Bericht der Gerichtsmedizin abwarten. Am
Abend war Frau Borgwardt mit einem gewissen Arnulf Kettker zu einem
Theaterbesuch verabredet. Kettker ist Angestellter einer Bank in
Hamburg Mitte.«
»Mit diesem Kettker würde ich gerne sprechen.«
»Die Adresse schreibe ich Ihnen auf. Jedenfalls haben Kettker
und Frau Borgwardt gegen 16.30 Uhr miteinander telefoniert. Als
Kettker sie dann gegen 19.30 Uhr abholen wollte, machte niemand
auf. Er schöpfte Verdacht, drang in die Wohnung ein und fand seine
Freundin. Susanne Borgwardt starb also zwischen 16.30 und 19.30
Uhr.«
»Wie gelangte Kettker in die Wohnung?«, hakte ich nach.
»Er hatte einen Schlüssel. Die beiden hatten übrigens vor, in
zwei Monaten zu heiraten.«
»Wir sind hier soweit fertig«, erklärte eine der beiden
Erkennungsdienstler. Eine attraktive Dreißigjährige, die selbst in
dem weißen Einweg-Overall, den sie bei der Arbeit trug, noch sexy
aussah.
Kromer wandte sich ihr zu und fragte: »Hat sich noch etwas
Neues ergeben?«
Die Kollegin vom Erkennungsdienst nickte und deutete auf die
Couch.
»Der Killer saß auf der Couch. Aber es befand sich
höchstwahrscheinlich noch ein zweiter Mann im Raum.« Sie deutete
auf eine bestimmte Stelle auf dem Teppichboden, die ebenfalls
markiert war. »Der zweite Mann hat im weichen Teppichboden einen
Abdruck seines Schuhabsatzes hinterlassen. Er scheint vor kurzem
durch eine Öllache oder etwas Ähnlichem gelaufen zu sein.«
»Könnte es sich um Kettkers Abdruck handeln?«, fragte
ich.
Die Kollegin vom Erkennungsdienst zuckte die Achseln.
»Sofern er mindestens Schuhgröße 45 hat, ja.«
»Solche Riesenfüße dürften uns wohl gleich ins Auge fallen,
wenn wir ihn besuchen«, raunte Roy.
Die schöne Erkennungsdienst-Kollegin wandte sich zur Tür. Dort
angekommen, blieb sie noch einmal stehen, drehte sich herum.
»Noch was ... Der zweite Mann hat vermutlich Kaffeeflecken an
der Kleidung.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Woher wollen Sie wissen, dass es ein Mann war?«
Sie zuckte die Achseln.
»Ich gebe es zu: Es könnte auch eine Frau mit Schuhgröße 45
aufwärts gewesen sein, aber die sind selten, oder?«
10
»Es muss hier gleich sein«, sagte der Mann, der sich »Schmidt«
genannt hatte. Er saß am Steuer eines weißen Toyotas.
»Roth« hatte eine Karte auf dem Schoß. Sein Gesicht wirkte
angestrengt.
Schmidt lenkte den Toyota die schmale Straße entlang, die sich
etwa eine halbe Stunde von Hamburg entlang Richtung Süden
schlängelte.
Schließlich erreichten sie den Parkplatz, der als Treffpunkt
fungieren sollte. Eine dunkle Limousine mit Überlänge parkte dort.
Zwei Männer in schwarzen Anzügen patrouillierten auf und ab.
Sie waren mit MPis ausgerüstet.
»Unser Freund Einauge ist schon da!«, stellte Roth fest.
»Gefällt mir nicht«, knurrte Schmidt.
»Wieso?«
»Ich bin gerne der erste am Treffpunkt. Aus Prinzip. Dann kann
man besser die Lage checken, und man fühlt sich einfach
sicherer.«
Roth grinste, überprüfte kurz noch die Ladung seiner Pistole
und die Justierung des Laserpointer. Er lud sie durch. Anschließend
verbarg er die Waffe wieder unter der Jacke.
»Eine Automatik wäre praktischer«, meinte Schmidt.
»Aber keine ist so leise wie dieses Eisen«, gab Roth zur
Antwort.
Er sah auf die Uhr. Schmidt lenkte den Toyota auf den
Parkplatz, hielt etwa zwanzig Meter von der Limousine entfernt.
Roth stieg zuerst aus, dann Schmidt. Die beiden Bodyguards
richteten ihre MPis auf die beiden.
»So etwas nenne ich einen warmherzigen Empfang«, knurrte
Roth.
Schmidt ließ den Blick schweifen. Es war kühl.
»Ich werde allein mit Einauge sprechen«, sagte Schmidt. »Du
bleibst hier und erschießt diese Bastarde, sollte mir jemand ein
Haar krümmen.«
»Mit Vergnügen!«
Schmidt griff unter sein Jackett, zog eine Pistole hervor und
gab sie Roth.
»Bewahre sie gut für mich auf!«
»Worauf du einen lassen kannst.«
Schmidt ging auf die beiden Bodyguards zu, hob leicht die
Hände dabei. Einer der beiden durchsuchte ihn kurz nach Waffen.
Dann führte er ihn an die Limousine heran, während der andere
Bodyguard Roth im Auge hielt.
Schmidt blickte in Richtung der Limousine.
Eine der getönten Seitenscheiben wurde herabgelassen.
Ein vollkommen haarloses Gesicht war zu sehen. Eine Filzklappe
bedeckte das rechte Auge. Schmidt schätzte diesen Mann auf etwa
fünfzig Jahre. Einauge war sein Spitzname. Wer der Kahlkopf
wirklich war, wussten sie nicht.
»Wir haben Borgwardt zur Strecke gebracht«, sagte Schmidt.
»Jetzt sind Sie an der Reihe, Ihren Teil der Abmachung
einzuhalten.«
Einauge besaß keine Augenbrauen. Sein Gesicht blieb vollkommen
unbewegt, zeigte nicht die geringste Reaktion.
»Was ist mit der zweiten Sache, die Sie für mich erledigen
sollten?«
»Sehen Sie kein Fernsehen? Die Hamburger Lokalsender haben den
Tod von Susanne Borgwardt zwar nicht ganz so groß herausgebracht
wie den Abgang ihres Bruders, aber ...«
»Ich spreche von den CD-Roms.«
»Wo ist das Geld?«
Einauge schnippte mit den Fingern.
Der Bodyguard, der bislang seine MPi auf den unbewaffneten
Smith gerichtet hatte, ging zum Kofferraum der Limousine, öffnete
sie und holte einen Diplomatenkoffer hervor. Anschließend kehrte er
zu Schmidt zurück und überreichte ihm den Koffer.
»Das Zahlenschloss hat die Kombination 12345«, sagte
Einauge.
»Wie originell!«, ätzte Schmidt.
Er öffnete den Koffer einen Spalt. Weit genug, um zu sehen,
dass er mit Geldbündel gefüllt war.
»Die Summe stimmt«, erklärte Einauge.
»Falls nicht, werden Sie es bereuen«, erwiderte Schmidt
eiskalt.
Er griff unter seine Jacke, holte die beiden CD-Roms hervor,
die Ingo Borgwardt seiner Schwester zur Aufbewahrung gegeben
hatte.
Einauge nahm sie entgegen. Er grinste zynisch.
»Falls sich auf einer der Scheibe hier nur ein Baller-Game
befinden sollte, dann werden Sie das bereuen!«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was auf den CDs drauf
ist!«
»Gut so. Leben Sie wohl! Falls ich Ihre Dienste noch einmal in
Anspruch nehmen möchte, weiß ich ja, wie ich mit Ihnen in Kontakt
treten kann.«
Die getönte Seitenscheibe der Limousine glitt empor. Das
Gesicht des Kahlkopfs verschwand. Der Motor wurde gestartet. Die
beiden Bodyguards stiegen zu und die Limousine brauste davon.
Schmidt sah sie in Richtung Hamburg fahren.
Schmidt reckte die Faust empor, stieß dabei einen
Triumphschrei aus. Ein Superjob war das gewesen! Schmidt kehrte zu
Roth zurück. Als die beiden Männer etwa zwei Meter voneinander
entfernt waren, warf Roth ihm die Waffe zu. Schmidt fing sie auf,
reichte Roth den Geldkoffer.
»Sieh mal nach, ob der einäugige Gauner sich nicht verzählt
hat!« Roth legte den Koffer auf die Motorhaube des Toyotas, öffnete
ihn.
»Wird Zeit, sich zur Ruhe zu setzen, was?«, murmelte er. Ein
zufriedenes Lächeln spielte um seine dünnen Lippen.
Schmidt hob die Pistole.
»Für einen dürfte es reichen!«, meinte er.
Roth wirbelte herum, blickte direkt in den Lauf der
Automatik.
Schmidt drückte ab.
Aus der Waffe löste sich kein Schuss. Es machte lediglich
»klick». Roth griff in aller Seelenruhe zu seiner eigenen
Waffe.