Gute Morde August 2023: Krimi Paket - Alfred Bekker - E-Book

Gute Morde August 2023: Krimi Paket E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Krimis von Alfred Bekker, Peter Haberl . Dieses Buch enthält folgende Krimis: Alfred Bekker: Kommissar Jörgensen und der verrückte Soldat Alfred Bekker: Tödliche Tropfen Peter Haberl: Der Satan hat noch einen Trumpf im Ärmel Alfred Bekker: Saras Flucht Alfred Bekker: Das Mörderschiff Alfred Bekker: Wer killte den Zahnarzt? Alfred Bekker: Die Waffe des Skorpions Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre. Mal provinziell, mal urban. Mal lokal-deutsch, mal amerikanisch. Und immer anders, als man zuerst denkt.

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von Alfred Bekker, Peter Haberl

Gute Morde August 2023: Krimi Paket

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Inhaltsverzeichnis

Gute Morde August 2023: Krimi Paket

Copyright

Kommissar Jörgensen und der verrückte Soldat

TÖDLICHE TROPFEN

Der Satan hat noch einen Trumpf im Ärmel

1

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20

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SARAS FLUCHT von Alfred Bekker |1

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3

Das Mörderschiff

Wer killte den Zahnarzt?

Die Waffe des Skorpions

1

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Gute Morde August 2023: Krimi Paket

von Alfred Bekker, Peter Haberl

Krimis von Alfred Bekker, Peter Haberl

.

Dieses Buch enthält folgende Krimis:

Alfred Bekker: Kommissar Jörgensen und der verrückte Soldat

Alfred Bekker: Tödliche Tropfen

Peter Haberl: Der Satan hat noch einen Trumpf im Ärmel

Alfred Bekker: Saras Flucht

Alfred Bekker: Das Mörderschiff

Alfred Bekker: Wer killte den Zahnarzt?

Alfred Bekker: Die Waffe des Skorpions

Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.

Mal provinziell, mal urban. Mal lokal-deutsch, mal amerikanisch. Und immer anders, als man zuerst denkt.

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Kommissar Jörgensen und der verrückte Soldat
von Alfred Bekker
1
»Legt euch hin, verdammt noch mal, oder ich niete euch alle um!«, rief Ingo Borgwardt. Er feuerte zweimal seine Automatik ab. Schreie gellten durch das Hamburger Kaufhaus. Eine der Kugeln durchdrang die Verkleidung unterhalb des Rolltreppenhandlaufs. Etwas zischte. Ein Teil der Beleuchtung fiel aus. Die Rolltreppe blieb mit einem Ruck stehen. Etwa zwei Dutzend Personen befanden sich dort, wurden durcheinandergewirbelt, duckten sich. Borgwardt feuerte über ihre Köpfe hinweg. Der bärtige Mittvierziger trug einen Bundeswehr-Helm, eine Tarnhose mit Springerstiefeln sowie eine abgeschabte Lederjacke mit aufgenähtem Totenkopf und der Aufschrift BORN TO RIDE HARLEY. Borgwardts Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen stark erweitert. Das Gesicht glich einer verzerrten Maske. Niemand unter den Geiseln zweifelte daran, einem Wahnsinnigen in die Hände gefallen zu sein.
2
Aus den Augenwinkeln heraus nahm Borgwardt eine Bewegung wahr. Er wirbelte herum, die Automatik im Beidhandanschlag. Mehrere Kunden und zwei Verkäuferinnen standen in der Nähe der Registrierkasse.
»Wer eine falsche Bewegung macht, stirbt!«
Ein Mann im dunklen Anzug griff sich unter das Jackett. Sein Kopf war hochrot, er rang nach Luft.
Borgwardt feuerte.
Die Kugel traf den Mann in die Stirn.
Er schlug der Länge nach zu Boden. Regungslos blieb er in verkrampfter Haltung liegen. Das Jackett rutschte zur Seite. Von einer Waffe war nichts zu sehen.
Die anderen Geiseln des Wahnsinnigen waren wie erstarrt. Niemand rührte sich.
»Auf den Boden!«, knurrte Borgwardt.
Auch die Geiseln in der Nähe der Registrierkasse legten sich nach und nach nieder. Borgwardt feuerte einmal zwischen sie. Die Kugel fuhr in den Teppichboden.
Eine Frau stieß einen schrillen Schrei aus.
Borgwardt drehte sich herum, schoss in Richtung eines Kleiderständers, wo er eine Bewegung gesehen zu haben glaubte. Ein Spiegel wurde getroffen und zersprang.
»Ihr kriegt mich nicht!«, schrie Borgwardt mit heiserer Stimme. Die Halsschlagader trat dabei deutlich hervor, pulsierte.
Er blickte hinauf zu den Balustraden der oberen Geschosse. Borgwardt stand inmitten eines Atriums. Licht fiel durch eine Glaskonstruktion in der Decke. Fünfundzwanzig Meter oder acht Stockwerke lagen zwischen Borgwardts Standort und diesem Licht. Von den Balustraden aus konnte man von höheren Stockwerken zum Ort des Geschehens hinunterblicken. Hier und da sahen neugierige Passanten nach unten. Sie hatten zwar die Schüsse gehört, aber niemandem war klar, was sich weiter unten abspielte.
Borgwardt stieß einen wilden Schrei aus. Er schoss eine Salve von fünf schnell nacheinander abgefeuerten Schüssen ab.
Die Neugierigen an den Balustraden verzogen sich.
Borgwardt wandte sich den neben der Registrierkasse am Boden liegenden Geiseln zu.
Neben dem Mann, den er erschossen hatte, bildete sich eine immer größer werdende Blutlache. Eine der Verkäuferinnen zitterte, war einem Nervenzusammenbruch nahe. Sie biss die Lippen aufeinander.
Borgwardt riss das Magazin aus der Automatik, griff in die Seitentasche seiner Lederjacke und ersetzte es durch ein Frisches.
An der Balustrade des nächst höheren Stockwerks gingen die Security-Leute in Stellung. Sie blieben mit ihren Revolvern vom Kaliber 38 lieber in Deckung. Auf eine Situation wie diese hatte sie niemand vorbereitet.
Borgwardt feuerte in ihre Richtung. Dann zog er eine Handgranate unter der Lederjacke hervor. Er hatte sie an dem breiten Bundeswehr-Gürtel getragen, an dem außerdem noch eine Munitionstasche und ein Kampfmesser hingen. Drei weitere dieser Hölleneier befanden sich außerdem noch dort.
»Verschwindet da oben!«, rief er. »Oder ich jage hier alles in die Luft!«
Eine Megafonstimme ertönte.
»Seien Sie vernünftig! Wir möchten mit Ihnen reden!«
Borgwardt wirbelte herum, feuerte sofort in die Richtung, aus der er die Megafonstimme gehört zu haben glaubte. Er erwischte mit seiner Salve ein Mobilé aus ultraleichten Plastik-Micky-Maus-Figuren, das scheinbar freischwebend an fast unsichtbaren Fäden von der Decke hing.
»Was immer auch Ihre Forderungen sein mögen, wir können darüber reden«, meldete sich erneut die Megafonstimme. »Tun Sie jetzt nur nichts Unüberlegtes!«
Schweißperlen glänzten auf Ingo Borgwardts Stirn. Er wirkte wie ein gehetztes Tier.
Borgwardt wandte sich einem der neben der Registrierkasse am Boden liegenden Geiseln zu. Er stieß eine junge Verkäuferin mit dem Stiefel an.
»Aufstehen!«, knurrte er.
Die Verkäuferin wimmerte. Am Revers ihres blauen Kleides hing ein Namensschild. Sarah Meißner stand darauf. Das lange, blonde Haar war durcheinandergewirbelt, das Make-up vollkommen verlaufen.
Borgwardt richtete seine Waffe auf sie. Er deutete auf die andere Seite des Raums, wo eine Tür zum Treppenhaus führte.
»Ich will, dass Sie vor mir hergehen!«, rief er.
»Bitte ...«
Sarah Meißner wimmerte. Tränen flossen über ihr Gesicht. Sie zitterte am ganzen Körper. Borgwardt fasste sie am Arm, stieß sie vorwärts. Er deutete mit dem Lauf der Automatik in Richtung der Tür zum Treppenhaus.
»Wo ist der Schlüssel?«, fragte er.
»Es ist nicht abgeschlossen ...«
In den Hamburger Hochhäusern war es lange üblich gewesen, die Zugänge zum Treppenhaus abzuschließen und erst im Notfall durch Sicherheitspersonal öffnen zu lassen. Doch vielerorts hatte man in dieser Hinsicht bereits umgedacht. Im Ernstfall ging nämlich wertvolle Zeit verloren.
Borgwardt führte Sarah Meißner vor sich her, blickte zwischendurch nach oben. Der gesamte Bereich, in dem er sich befand, war von den Balustraden der oberen Etagen aus einsehbar.
Ich bin hier wie auf dem Präsentierteller!, durchzuckte es ihn.
Er wirbelte herum, schoss über einen Kleiderständer hinweg, hinter dem er eine Bewegung erkannt zu haben glaubte. Sein Blick glitt zur Seite.
Zwischen zwei Regalfronten war eine gerade Gasse, die sich bis zur anderen Seite des Verkaufsraums zog. Dort befand sich ein Nebenausgang für das Personal. Die Tür stand offen.
In geduckter Haltung lauerten dort drei schwarz uniformierte Security-Männer. Die Revolver trugen sie im Anschlag.
»Waffe weg!«, brüllte einer von ihnen.
Sie zögerten. Keiner von ihnen wagte zu schießen. Die Gefahr für die Geisel war unkalkulierbar. Borgwardt handelte blitzschnell.
Er zog Sarah Meißner wie einen Schutzschild vor sich, feuerte gleichzeitig seine Automatik ab. Fünf Schüsse in rascher Folge wummerten durch den Gang. Einer der Security-Männer sank getroffen zu Boden. Die anderen beiden gingen rechts und links hinter den Regalfronten in Deckung.
»Verzieht ... euch, ihr ... Ärsche!«, brüllte Borgwardt.
Sein Gesicht wurde zur Grimasse. Die Augäpfel traten hervor. Die Halsschlagader ebenfalls. Sie pulsierte deutlich sichtbar. Borgwardt brüllte weiter. Aber niemand verstand, was er sagte. Es hörte sich wie das Lallen eines Betrunkenen an. Laute, Silben, manchmal Wortfetzen, die aber keinen Sinn ergaben.
Sarah Meißner stieß einen schrillen Schrei aus.
Borgwardt schob sie vorwärts.
Schließlich blieb er etwa zehn Meter vor dem Treppenhaus-Zugang stehen.
Er gab Sarah einen Stoß, richtete seine Automatik auf sie.
»Tür öffnen!«
Sarah Meißner wimmerte, schien einem Nervenzusammenbruch nahe zu sein.
Sie bewegte sich schleppend auf die Tür zu.
»Schneller!«
Borgwardt glaubte hinter sich eine Bewegung zu erkennen, wirbelte herum, feuerte ohne zu zielen. Zwei Kugeln fetzten in einen Kleiderständer hinein, zerrissen den Stoff von einem Dutzend Long-Jacketts. Sarah Meißner rannte in Richtung des Treppenhauszugangs. Offenbar glaubte sie, dem Wahnsinnigen entkommen zu können. Sie erreichte den Treppenhauszugang, riss die Tür auf. Dahinter standen mehrere Uniformierte der Security. Sie hielten ihre Waffen im Anschlag.
Borgwardt handelte reflexartig.
Er griff mit der linken zum Gürtel, riss eine der Handgranaten hervor. Mit den Zähnen betätigte er den Auslöser. Die Granate war jetzt scharf. Borgwardt schleuderte sie in Richtung der Männer, feuerte gleichzeitig auf sie.
Die Uniformierten hatten Borgwardt nicht rasch genug durch einen gezielten Schuss ausschalten können. Sarah Meißner stand ihnen im Weg.
Borgwardts Handgranate detonierte. Sowohl Sarah als auch die Security-Leute wurden davon erfasst.
Die Schreie wurden vom Explosionsgeräusch übertönt. Borgwardt selbst bekam noch die Druckwelle zu spüren, wurde zu Boden gerissen.
Er rollte sich ab.
Die mörderische Flammenhölle sengte ihn an. Sein Jackenärmel fing Feuer. Borgwardt schrie auf, ruderte heftig mit dem Arm, schlug damit auf den Boden.
Die Flamme erlosch.
Borgwardt rappelte sich auf. Er drehte sich herum. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.
Zum Aufzug!, durchzuckte es ihn.
Eigentlich hatte er den Lift nicht benutzen wollen. Das Risiko war einfach zu groß. Durch Abschalten des Stroms konnte man ihn ziemlich leicht kaltstellen. Aber jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als das Risiko einzugehen.
Ich bin eingekreist!, durchfuhr es ihn. Seine Verfolger schienen überall zu sein. Ein Laserstrahl brach sich für Sekundenbruchteile in einer Glasscheibe. Borgwardt reagierte blitzschnell, hechtete hinter eine Regalwand. Dort, wo er gerade noch gestanden hatte, brannte sich ein Projektil in den Teppichboden. Borgwardt sah den Laserpunkt wandern. Der Schütze musste sich auf einer der Balustraden der oberen Stockwerke befinden.
Ihr werdet mich nicht kriegen!, schwor er sich. Und wenn ich dafür das ganze Gebäude in die Luft sprengen muss!
3
Mein Name ist Kriminalhauptkommissar Uwe Jörgensen. Zusammen mit meinem Kollegen Roy Müller gehöre ich einer Sonderabteilung der Kripo an, die sich Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe des Bundes nennt und in Hamburg angesiedelt ist.
Roy und ich waren Richtung Hamburg Mitte unterwegs. Es war gegen 17.00 Uhr. Ausnahmsweise waren wir einmal relativ pünktlich aus dem Büro herausgekommen, um Feierabend zu machen.
Trotzdem sollte es an diesem Abend noch mehrere Stunden dauern, ehe ich Roy an der bekannten Ecke absetzen konnte.
Wir erhielten einen dringenden Notruf aus der Zentrale. Kriminaldirektor Jonathan D. Bock war persönlich am Apparat.
»Fahren Sie sofort zum Kaufhaus BigZ, da ist im Moment die Hölle los!«, berichtete uns der Chef der Kriminalpolizei Hamburg. Wir hörten seine Stimme über die Freisprechanlage des Sportwagens, den die Fahrbereitschaft des Kriminalpolizei uns zur Verfügung stellte. »Ein offensichtlich geistesgestörter Amokschütze befindet sich dort, hat zeitweilig Geiseln genommen und wild um sich geschossen. Unter anderem sprengte er mehrere Wachleute und eine Angestellte mit einer Handgranate in die Luft. Spezialkommandos der Polizei sind auf dem Weg zum Einsatzort ...«
»Einen gemütlichen Feierabend hatte ich mir anders vorgestellt, Herr Bock«, sagte ich, ließ dabei das Seitenfenster herunter. Roy reichte mir das Blaulicht an. Ich setzte es auf das Dach.
»Tut mir leid, Uwe, muss leider sein. Sie und Roy sind am dichtesten dran«, setzte Herr Bock noch hinzu.
»Schon in Ordnung«, meinte Roy.
Ich trat das Gaspedal durch, schaltete das Martinshorn ein.
Minuten später erreichten wir das BigZ.
Dutzende von Einsatzwagen der Polizei waren bereits am Ort des Geschehens.
Wir hatten Glück, so nahe am Ort des Geschehens gewesen zu sein. Andernfalls hätten wir Schwierigkeiten gehabt, überhaupt noch durchzukommen. In spätestens einer Viertelstunde würde der Verkehr um das Kaufhaus herum zum Erliegen kommen. Ich stellte den Wagen am Straßenrand ab.
Wir stiegen aus und legten die Kevlar-Westen an. Die Dinger sind zwar unbequem, können aber Leben retten. Bei Einsätzen wie diesem sind sie für jeden Polizisten Pflicht. Außerdem legten wir Ohrhörer und Mikro an. Wenn wir tatsächlich ins Kaufhaus hineingingen, um den Amokläufer zu stellen, dann war das nur denkbar, wenn wir die ganze Zeit über mit der Einsatzleitung vor Ort in Funkkontakt blieben.
Zahlreiche panikerfüllte Kunden strömten ins Freie. Ein noch so großes Aufgebot an Polizisten hätte sie nicht aufhalten können.
Die Situation war chaotisch.
Die Kollegen versuchten verzweifelt, etwas Ordnung zu schaffen. Ein Team des Rettungsdienstes stand zum Einsatz bereit. Aber noch konnte es nicht in Aktion treten.
Ein paar Dutzend Meter von uns entfernt sah ich das Kamerateam eines Lokalsenders. Polizisten verhinderten, dass es sich weiter dem Eingangsbereich des Kaufhauses näherte.
Die mobile Einsatzzentrale befand sich in einem Van der Polizei. Dort trafen wir den Einsatzleiter. Polizeihauptmeister Maik Rohmann.
Rohmann war ein etwas fülliger Mittvierziger. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn.
»Schön, dass euer Büro jemanden geschickt hat!«, sagte er in unsere Richtung. »Wir brauchen jede Unterstützung. Leider läuft hier alles im Moment noch ziemlich chaotisch ...«
»Wo befindet sich der Kerl?«, fragte ich.
»Das ist ja das Problem! Wir haben ihn verloren!«
»Was?«
»Er stieg in einen Aufzug, nachdem er mit einer Handgranate mehrere Wachleute und eine Verkäuferin in die Luft sprengte. Aber anscheinend ist er nirgendwo ausgestiegen. Sonst wäre das auf der Videoüberwachung zu sehen gewesen.«
»Dann ist der Kerl noch im Lift!«, stellte ich fest.
»Die Kabine war leer!«, gab Maik Rohmann zur Antwort.
Ich überprüfte die Ladung meiner SIG und stellte den zu meinem Ohrhörer passenden Funkempfänger auf die bei der Polizei gebräuchliche Frequenz ein.
»Sie haben sicher schon von diesen verrückten Lift-Surfern gehört, Herr Rohmann!«
PHM Rohmann runzelte die Stirn.
»Sie meinen, der Kerl turnt jetzt an den Drahtseilen im Liftschacht herum?«
4
Unsere Kollegen Tobias Kronburg und Ludger Mathies trafen wenig später ein. Ihr Weg hierher war etwas länger gewesen als der unsere. Ein Spezialeinsatzkommando steckte im Stau fest. Rund um das Kaufhaus war in Hamburg Mitte der Verkehr total zusammengebrochen. Die Vielzahl von Einsatzfahrzeugen war daran nur zum Teil Schuld. Tausende von Besuchern des Kaufhauses strömten völlig unkontrolliert aus ihm heraus, liefen zu ihren Fahrzeugen in der Tiefgarage und versuchten - von Panik getrieben - diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Familien mit Kindern waren darunter, die einen vergnüglichen Spätnachmittag beim Einkaufsbummel hatten verbringen wollen.
Die Panik, die der Amokläufer verbreitet hatte, musste sich rasend verbreitet haben. Es hatte keinen Sinn, diese Menschenmassen mit einer Handvoll Polizisten aufhalten zu wollen. Das hätte nur in einer Katastrophe geendet. Wir konnten nur hoffen, dass die Security in der Videozentrale wirklich sehr genau ihre Bildschirme kontrolliert hatten. Wenn nicht, war der Amokläufer vielleicht mit den Menschenmassen hinausgespült worden, ohne dass ihn jemand bemerkt hatte.
In dem Fall hatten wir schlechte Karten.
KHM Rohmann entschied, das Eintreffen des Spezialkommandos nicht abzuwarten.
Wir gingen in das Gebäude hinein. Das Rettungsdienstteam folgte uns. Der Strom der von Panik ergriffenen Kaufhaus-Kunden kam uns dabei entgegen und sorgte dafür, dass wir länger brauchten als gewöhnlich. Rohmann leitete den Einsatz vom Van aus. Er war dabei in ständigem Funkkontakt mit der Videoüberwachungszentrale des privaten Security Service, der normalerweise innerhalb des Kaufhauses für Sicherheit zu sorgen hatte.
Bei den Aufzügen trafen wir ein paar Security-Leute.
Sie waren mit der Situation vollkommen überfordert. Der Schrecken stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
»Fragen Sie mal nach, welchen Lift der Killer benutzt hat!«, wandte ich mich über Funk an Rohmann.
Wenig später konnte mir der Polizeihauptmeister darauf eine Antwort geben.
»Er hat die Nummer 5 benutzt!«
»Danke!«
Ich ging zum Aufzug mit der Nummer fünf und sorgte per Knopfdruck dafür, dass sich die Kabine in Bewegung setzte.
Wir warteten geduldig ab, während die anderen sich auf den Weg in den siebten Stock machten. Dort sollte es einen schwerverletzten Mann mit einer Schusswunde geben. Sicherheitshalber nahmen die Kollegen den Weg über das Treppenhaus.
Schließlich war der Amokläufer in Besitz von Handgranaten. Vielleicht hatte er auch weiteren Sprengstoff dabei. Sobald er sich in die Enge getrieben fühlte, war dieser Tätertyp vollkommen unberechenbar.
Die Kabine von Nummer 5 erreichte das Erdgeschoss.
Ich wandte mich an einen der hauseigenen Security-Leute.
»Können Sie im Aufzugsbereich den Strom abschalten?«
»Das ist gegen die Vorschriften!«, bekam ich zur Auskunft. »Schließlich könnten sich noch Personen in den Aufzügen befinden ...!«
»Tun Sie es trotzdem, wir können nicht länger warten!«
»Ich werde die Verantwortung nicht übernehmen!«, erwiderte der Mann.
Roy meldete sich zu Wort.
»Wenn der Kerl wirklich irgendwo in diesem Schacht herumklettert, dann sollten wir ihn schleunigst stellen!«, fand er. »Schließlich hat er Handgranaten bei sich.«
Tobias Kronburg wandte sich an den Wachmann.
»Wir übernehmen die Verantwortung! Also stellen Sie den Strom ab!«
Ich wartete nicht länger. Sollte Tobias versuchen, mit der Autorität eines Ex-Polizisten dafür sorgen, dass die Stromversorgung der Aufzüge abgeschaltet wurde.
Ich betrat die Kabine. Roy folgte mir. Ich deutete mit dem Lauf der SIG hinauf zum Kabinendach.
»Schau dir das an!«
»Du hattest den richtigen Riecher, Uwe!«
Eine der Platten des Kabinendachs war aus ihrer Halterung gebrochen worden. Der Täter hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie wieder exakt in die Lücke hineinzupassen.
Roy bildete mit den Händen einen Tritt. Ich steckte die SIG ein, schwang mich hinauf. Die Platte war lose. Sie ließ sich zur Seite schieben. Mit einem schabenden Laut fiel sie vom Kabinendach herunter in die Tiefe. Und das mussten mindestens noch einmal zehn oder zwölf Meter sein, schließlich befanden sich unterhalb des Kaufhauses mehrere Parkdecks, zu denen man ebenfalls über die Aufzüge gelangen konnte.
Ich zog mich mit einem Klimmzug empor. Die Öffnung war groß genug, um hindurchzuklettern. Der Amokschütze hatte es etwas schwerer gehabt. Ich vermutete, dass er die seitlichen Haltegriffe als Tritte benutzt und die Finger durch das Gitter eines Lüftungsschlitzes knapp unterhalb der Decke gekrallt hatte.
Ich griff zur SIG, blickte mich um. Es herrschte Halbdunkel. Eine schwache Notbeleuchtung gab es hier im Schacht. Irgendwo weit über mir fiel spärliches Licht durch dicke Glasbausteine in der Gebäudedecke.
»Siehst du was?«, fragte Roy.
Ich brauchte einige Augenblicke, um mich an das Halbdunkel zu gewöhnen.
Ein knarrender Laut ließ mich abwärts blicken. Eine der Liftkabinen wurde angehoben, kam langsam höher. Von dem Amokläufer sah ich dort jedoch keine Spur.
Immer wieder machten sogenannte Lift-Surfer von sich reden, die eine Mutprobe daraus machten, in den Schächten von einer Kabine zur anderen zu springen. Ein riskantes Spiel. Schon so mancher war dabei buchstäblich zerrissen worden. Die Sicherheitsbestimmungen waren inzwischen verschärft worden, so dass es schwieriger war, die Liftkabine zu verlassen. Offenbar reichten diese verschärften Vorschriften noch immer nicht aus.
Von oben senkte sich ebenfalls eine Kabine herab.
Ich hörte die Megafonansagen der Kollegen. Alle, die sich noch im Gebäude aufhielten, wurden angewiesen, nicht die Fahrstühle zu benutzen.
Dann hielten beide Liftkabinen mit einem Ruck.
Die Notbeleuchtung verlosch.
»Hier spricht Uwe Jörgensen von der Kriminalpolizei!«, rief ich.
Meine Worte hallten im Schacht wider. Ich musste langsam und deutlich sprechen.
»Wir wissen, dass Sie hier sind! Sie haben keine Chance zu entkommen. Aber was immer auch Ihr Anliegen sein mag, Sie werden in einem fairen Prozess die Möglichkeit bekommen, es an die Öffentlichkeit zu bringen.«
Ich lauschte. Was ich gesagt hatte, war nicht mehr als ein Schuss ins Blaue. Niemand von uns wusste, was wirklich in dem Kopf des Amokläufers vor sich ging. Manche wollten einfach nur auf spektakuläre Weise in die Öffentlichkeit. Gescheiterte Existenzen, die sich einen großen Abgang inszenierten und sich dabei Vorbilder aus den Medien nahmen. Je nachdem, wie groß der Schaden war, den sie angerichtet hatten, starben diese Menschen in der Gewissheit, dass die Öffentlichkeit von ihnen Notiz genommen hatte.
Es gab andere Fälle, in denen sich die Betreffenden einfach nur voll bewusstseinsverändernder Drogen gepumpt hatten.
Ich hoffte nicht, dass der Kerl, mit dem wir es zu tun hatten, zu dieser Kategorie zählte. Denn die Angehörigen dieser Sorte konnte man mit noch so geschickt gewählten Worten nicht beeinflussen.
Roy kletterte inzwischen zu mir herauf.
Noch immer herrschte ansonsten absolute Stille im Schacht.
»Hören Sie, man wird Ihnen helfen!«, rief ich. »Ich bin überzeugt davon, dass Sie Hilfe brauchen. Ich verspreche Ihnen, dass man Sie Ihnen auch geben wird! Es muss mit dem heutigen Tag nicht alles für Sie zu Ende sein. Allerdings können Sie dieses Gebäude nur lebend verlassen, wenn Sie sich ergeben!«
Wieder keine Antwort.
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, ein rotes Blitzen hoch über mir zu sehen. Ein Laserstrahl, der an mehreren Stellen mit den fingerdicken Drahtseilen zusammentraf. Dadurch wurde er selbst auf die große Entfernung hin für einen Sekundenbruchteil gut sichtbar.
»Er ist dort oben«, flüsterte ich Roy zu, der nach unten geblickt und davon nichts mitbekommen hatte.
»Wie kommst du darauf?«, fragte mein Partner.
»Ich habe den Laserpointer seiner Waffe gesehen.«
»Warum hat er sich verdammt noch einmal nach oben tragen lassen? Das gibt doch keinen Sinn, Uwe!«
»Vielleicht doch!«
»Du meinst, da wird man ihn zuletzt suchen.«
»Ich hoffe, dass das der einzige Grund ist«, murmelte ich.
Ich gab die ungefähre Position, an der ich den Strahl des Laserpointer zu sehen geglaubt hatte, an die Einsatzzentrale durch. Polizeihauptmeister Rohmann konnte so schon einmal ein paar Leute auf den Weg schicken.
Roy wandte den Kopf zu mir.
»Na, was ist? Hat der Amateurpsychologe Uwe Jörgensen schon aufgegeben oder versuchst du noch einmal, den Typ aus der Reserve zu locken?«, fragte Roy.
Er fasste die SIG mit beiden Händen. Suchend blickte er empor.
Das schwache Gegenlicht, das durch die Glasbausteine in der Decke drang, machte es nicht gerade einfacher, etwas zu erkennen. Aber einen Scheinwerfer zu benutzen, wäre für uns vermutlich Selbstmord gewesen. Der Amokläufer hätte dann ein gut sichtbares Ziel vor sich gehabt.
Ein schabendes Geräusch war zu hören, hallte mehrfach wider.
Immerhin bestätigte mich das in der festen Überzeugung, dass dort oben tatsächlich jemand war.
»Hier ist noch mal Uwe Jörgensen von der Kriminalpolizei«, rief ich zu ihm hinauf. »Draußen warten ein paar Fernsehteams und Presseleute. Aber das Kaufhaus ist komplett abgeriegelt. Von denen kommt keiner nahe genug heran, um Sie auf das Band zu bekommen. Sie wollen doch, dass man von Ihnen Notiz nimmt, oder?«
Die Antwort des Amokläufers bestand aus Schweigen.
»Wenn Sie aufgeben, sorge ich dafür, dass Sie vorne durch den Haupteingang geführt werden, wenn Sie das wollen. Dann werden Ihr Gesicht und das, was Sie in die Kameras sagen, um die ganze Welt gehen. Sie werden der Aufmacher in den Abendnachrichten sein! Was ist? Ist das kein Angebot?«
Wieder war ein Geräusch zu hören. Es klang wie ein Ratsch. Eine Waffe wurde durchgeladen. Dann folgte ein Schrei. Ein dunkler Schatten fiel aus Höhe des fünfzehnten oder sechzehnten Stocks. Der Körper eines Menschen. Genau das hatte ich befürchtet. Deswegen, so glaubte ich in diesem Moment, war der Amokläufer aufwärts »gesurft». Er gehörte offenbar zu jener Sorte, denen es einzig und allein um die Inszenierung eines dramatischen Abgangs ging.
»Verdammt!«, knurrte Roy.
Im nächsten Moment hörten wir tief unten seinen Körper aufschlagen. Ein alptraumhafter Laut!
Dann wurde es hell im Schacht. Eine gewaltige Explosion brach los. Tief unter uns war eine Flammenhölle. Der Knall war ohrenbetäubend. Offenbar war eine der Handgranaten losgegangen, die der Kerl bei sich trug. Wahrscheinlich hatte er den Auslöser noch gezogen, während er in die Tiefe fiel. Die Druckwelle erfasste die Liftkabine, auf deren Dach wir uns befanden mit voller Wucht. Wir mussten uns festhalten, klammerten uns an den Drahtseilen fest. Es wurde höllisch heiß. Wir kletterten in die Kabine zurück. Zuerst Roy, dann ich.
Ludger und Tobias nahmen uns in Empfang, halfen uns dabei. Eine weitere Detonation erschütterte jetzt den gesamten Aufzugsschacht.
»Der Kerl scheint jede Menge Explosives bei sich gehabt zu haben«, kommentierte Roy den zweiten Knall.
Wir traten aus der Kabine heraus.
»Uwe! Roy! Was ist da bei euch los, verdammt noch mal?«, dröhnte die Stimme von PHM Rohmann in meinem Ohrhörer.
Ich atmete tief durch.
»Der Kerl hat sich das verschafft, worauf er es wohl von Anfang an abgesehen hatte - einen spektakulären Abgang«, berichtete ich.
»Er hätte auf dein Angebot eingehen sollen, Uwe«, murmelte Roy düster. »Dann wäre er auch berühmt geworden ...«
Ich schloss einige Augenblicke lang die Augen. Die aufgeregte Stimme von PHM Rohmann beachtete ich für den Moment nicht weiter. Irgendetwas stimmt hier nicht, durchzuckte es mich. Ich konnte nicht sagen, was genau es war. Aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass es hier um mehr ging, als nur um einen Mann, der in die Psychiatrie gehört hätte. Ich zermarterte mir das Hirn, versuchte mir noch einmal im Einzelnen zu vergegenwärtigen, was gerade geschehen war. Irgendein winziges Detail passte nicht ins Bild. Nur ein winziges Stück in einem Puzzle. So sehr ich mich auch anstrengte, es fiel mir nicht ein. Noch nicht.
5
Am nächsten Morgen saßen wir im Besprechungszimmer von Herrn Bock, unserem Chef. Außer Roy und mir waren auch die Kollegen Tobias Kronburg und Ludger Mathies anwesend. Darüber hinaus Max Warter aus dem Innendienst unseres Büros.
»Ich möchte mich für Ihren Einsatz bedanken«, sagte Herr Bock. »Dass dieser Mann es am Ende doch vorgezogen hat, seinem Leben ein spektakuläres Ende zu setzen, war ganz gewiss nicht Ihr Fehler. Immerhin scheint sich der Verdacht, dass dieser Amoklauf irgendeinem terroristischen Hintergrund hat, bislang nicht bestätigt zu haben.«
Ich nippte an meinem Kaffee. Mandys Spezialmischung. Der Kaffee, den die Sekretärin unseres Chefs braute, war im gesamten Polizeipräsidium eine Legende.
Herr Bock gab inzwischen das Wort an Max Warter weiter.
»So wie ich das sehe, dürfte der Fall so gut wie abgeschlossen sein, auch wenn noch nicht alle Berichte vollständig vorliegen. Bei dem Amokläufer handelt es sich um einen ehemaligen Soldaten. Ingo Borgwardt, einen für seine Tapferkeit ausgezeichneten Bundeswehr-Soldaten. Sein letzter Einsatz war in Afghanistan. Borgwardt kehrte hochgradig traumatisiert zurück und wurde für dienstunfähig erklärt. Nach seinem Ausscheiden aus der Bundeswehr schloss er sich einer Rocker-Gang an, deren Angehörige von Clubbesitzern als Türsteher engagiert wurden. Diese Türsteher kontrollierten, welche Dealer und Prostituierten in die Clubs hineinkamen und welche nicht.«
»Sicher ein einträgliches Geschäft!«, kommentierte Tobias Kronburg.
Warter fuhr fort: »Borgwardt handelte sich ein paar Vorstrafen wegen Körperverletzung ein, war wohl zeitweilig auch drogensüchtig. Nach Angaben seines Bewährungshelfers hat ihn am Ende sogar seine Gang ausgestoßen.«
Ein tragisches Schicksal, ging es mir durch den Kopf. Vom hochdekorierten Helden zu einer drogensüchtigen Randexistenz. Aber war das Grund genug, um mit einer Waffe und mehreren Handgranaten in ein großes Kaufhaus zu gehen, um dort ein Blutbad anzurichten? Keiner der Menschen, die dort in Mitleidenschaft gezogen worden waren, hatte Borgwardt etwas angetan. Der pure Zufall hatte sie zu seinen Opfern gemacht.
Ich lehnte mich etwas zurück, nahm noch einen Schluck Kaffee.
Max Warter setzte inzwischen seine Ausführungen fort.
»Es gibt hier einen Bericht von Dr. Wilhelm Eisenmann. Er ist forensischer Psychiater und attestierte Borgwardt im letzten Jahr im Zusammenhang mit einer Körperverletzung eine schwere Psychose. Borgwardt hatte offenbar Wahnvorstellungen, glaubte verfolgt zu werden.«
»Aber was hat dazu geführt, dass er gestern durchdrehte?«, fragte ich.
Max Warter zuckte die Achseln.
»Eine Verkettung unglücklicher Umstände vielleicht. Wahrscheinlich werden wir es nicht mehr herausfinden.«
»Der Fall steht mehr oder weniger kurz vor dem Abschluss«, erklärte Herr Bock. »Ich bin froh, dass wir es wenigstens mit einem gewöhnlichen Verrückten zu tun hatten - und nicht mit dem Selbstmordattentäter irgendeiner wahnsinnigen islamistischen Terror-Sekte!«
Mein Instinkt meldete sich. Irgendetwas passte hier nicht zusammen. Ich wandte mich an Max Warter.
»Hast du was dagegen, wenn ich mir den vorläufigen Bericht mal ansehe?«
»Bitte!«
6
Später saßen Roy und ich in unserem gemeinsamen Dienstzimmer, das wir uns schon seit einer Ewigkeit teilten.
»Ich verstehe dich nicht«, meinte Roy. »Was hoffst du in diesem verdammten Bericht zu finden? Wir haben jede Menge Arbeit, da sollte uns dieser Borgwardt nicht länger beschäftigen, als unbedingt notwendig.«
»Roy, ich möchte, dass wir das alles noch einmal durchgehen.«
»Wenn's sein muss ...«
»Muss sein.«
»Dafür bist du mir dann aber was schuldig!«
»Durch die Handgranaten-Explosion unten im Schacht ist kaum etwas von Borgwardt übrig geblieben ...«
»Aber wir wissen, dass er eine automatische Waffe vom Typ FDK-234 Remington, Kaliber 44 benutzte. Von dem Schießeisen blieb genug übrig, um es identifizieren zu können.«
»Andernfalls müssten wir ein paar Tage warten, bis die Kollegen der Ballistik die Projektile untersucht hätten, die Borgwardt verballert hat.«
»Die FDK-234 ist eine automatische Waffe.« Ich deutete auf den Computerschirm. Roy umrundete den Schreibtisch und sah sich die Abbildung an, die ich mir von der Internetseite des Herstellers heruntergeladen hatte. »Zwölf Schuss sind im Magazin. Die Hülsen werden automatisch ausgeworfen, es gibt keinen Sicherungsbügel und selbstverständlich braucht man sie nicht durchzuladen ...«
»Worauf willst du hinaus, Uwe?«
»Ich habe mir die ganze Zeit das Hirn zermartert. Ich kam einfach nicht drauf. Aber jetzt hat es klick gemacht!«
»Na, da bin ich aber gespannt!«
»Du musst es auch gehört haben ...«
»Was?«
»Kurz bevor der Kerl in die Tiefe sprang, habe ich gehört, wie eine Waffe durchgeladen wurde.«
Roy sah mich entgeistert an, runzelte die Stirn und schüttelte schließlich energisch den Kopf.
»Das gibt doch keinen Sinn, Uwe!«
»Eben. Es sei denn, man geht davon aus, dass da noch jemand war ...«
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Ich habe einen Laserpointer aufblitzen sehen. Davon ist aber nichts gefunden worden, wenn man nach den Ergebnissen des Berichtes geht.«
»Kann sein, dass er durch die Detonation so zerfetzt wurde, dass Spezialisten ein halbes Jahr die Einzelteile zusammenpuzzeln müssten.«
»Vielleicht war Borgwardts Waffe auch gar nicht mit einem Laserpointer ausgestattet.«
»Es gibt Videoaufzeichnungen des Amoklaufs, Uwe.«
»Worauf warten wir noch?«
»Glaubst du, dass der Aufwand wirklich lohnt? Außerdem sind die Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras im Labor. Warten wir doch einfach ab, was die Kollegen der Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst herausfinden.«
Ich erhob mich von meinem Bürostuhl.
»Angenommen, Borgwardt ist gar nicht gesprungen, sondern wurde erschossen ... Der Täter hätte irgendwo aus einer der anderen Liftkabinen heraus feuern können. Wie leicht sich die Außenwandung öffnen lässt, haben wir ja gesehen. Ein Kinderspiel.«
»Es gab kein Schussgeräusch.«
»Dann hat er einen Schalldämpfer benutzt.«
»Wenn du angeblich hören konntest, wie eine Waffe durchgeladen wird, dann müsstest du trotz Schalldämpfer auch etwas von dem Schuss mitgekriegt haben.«
»Hängt davon ab, ob bei der verwendeten Waffe seitlich Schall austreten kann oder nicht. Und natürlich von der Qualität des Dämpfers. Du weißt genau, dass es Modelle gibt, bei denen man wirklich so gut wie nichts hört. Außerdem gab es Nebengeräusche, die das leicht überdecken konnten. Du hast doch von dem Durchladen auch nichts mitgekriegt, Roy.«
»Und das Mündungsfeuer? Uwe, du willst jetzt nicht behaupten, dass du so etwas gesehen hättest!«
»Nein, das nicht ...«, musste ich zugeben.
»Na siehst du!«, meinte Roy. »Es war ziemlich dunkel, dass hätte richtig geblitzt, meinst du nicht auch?«
»Je nachdem, in welchem Winkel wir zum Schützen gestanden hätten. Wenn wir mit dem Rücken zu ihm gestanden haben ...«
Roy unterbrach mich.
»Du bist unverbesserlich, Uwe, aber diesmal hast du dich eindeutig verrannt!«
»Roy!«
»Wenn du deine Theorie Herrn Bock vortragen willst, halte ich dich nicht ab, Uwe. Aber alles, was du damit erreichen wirst, ist, dass du ein paar Tage auf Erholungsurlaub geschickt wirst. Außerdem ergibt das doch keinen Sinn, was du da sagst.«
»Wieso?«
»Wer sollte denn ein Motiv dazu haben, Borgwardt in den Fahrstuhlschacht nachzusteigen, um ihn abzuknallen? Jedenfalls besteht die Bewaffnung der Security-Leute nicht aus Waffen, die mit Laserpointern ausgestattet sind. Ganz zu schweigen von einem Schalldämpfer.«
Ohne Schalldämpfer hätten Roy und ich in dem geschlossenen Liftschacht das Schussgeräusch nicht überhören können. Dass einer der Wachmänner oder der Polizisten im Rahmen des Einsatzes auf Borgwardt geschossen hatte, war so gut wie auszuschließen. Der Einsatz war schließlich von Polizeihauptmeister Rohmann zentral koordiniert worden.
»Es gibt noch eine Möglichkeit, die vielleicht alles erklärt, Uwe.«
Ich sah meinen Partner an, hob die Augenbrauen.
»Da bin ich aber gespannt!«
»Borgwardt könnte sich selbst erschossen haben. Den Lauf an die Schläfe und - peng.«
»Und warum das?«
»Er hatte Angst, in der Tiefe auf dem Asphalt aufzuschlagen. Klingt absurd, aber psychologisch erklärbar. Du weißt selbst, dass es immer wieder Selbstmörder gibt, die auf Nummer supersicher gehen ...«
»… und die Handgranate hat sich dann von selbst gezündet!«
Roy schüttelte den Kopf.
»Du lässt nicht locker, was? Borgwardt könnte den Auslöser der Handgranate zuerst betätigt, sich dann erschossen und hinabgestürzt sein.«
»Vorausgesetzt - er war schnell.«
»Er war ein Soldat, Uwe«, gab Roy zu bedenken.
7
Was hast du nur getan, Ingo!, durchzuckte es die junge Frau. Sie stellte die Kaffeetasse auf der Anrichte ihrer Wohnküche ab, strich sich anschließend mit einer fahrigen Geste eine blonde Strähne aus dem Gesicht.
Susanne Borgwardt traten Tränen in die Augen. Wie gelähmt saß sie vor dem Fernseher und starrte auf den Bildschirm. Ein Reporter in kariertem Jackett berichtete über das Thema eins aller Hamburger Lokalsender. Der Amokläufer im Kaufhaus BigZ.
Susanne hatte schon am Abend davon gehört, diese Nachricht aber nicht mit ihrem Bruder Ingo in Verbindung gebracht. Erst jetzt wurde ihr die Wahrheit bewusst.
Tränen rannen ihr über das Gesicht und verwandelten ihr Make-up in ein Aquarell. Ingo war zehn Jahre älter als sie. Bevor er zur Bundeswehr gegangen war, hatte sie eine sehr starke Bindung zu ihrem großen Bruder gehabt. Später nicht mehr. Zu stark hätte er sich verändert. Dennoch, sein Tod und dessen grauenhafte Begleitumstände rissen Susanne in einen Abgrund der Depression. Sie hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Warum nur?, durchzuckte es ihre Gedanken. Ein dicker Kloß steckte im Hals.
An der Tür klingelte es.
Erst beim zweiten Mal wurde es ihr wirklich bewusst. Sie ging zur Tür, blickte durch den Spion. Zwei Männer in schwarzen Anzügen standen vor der Tür. Susanne aktivierte mit einem Knopfdruck die Sprechanlage.
»Was möchten Sie?«, fragte die junge Frau.
»Frau Borgwardt? Wir sind von der Mordkommission der Hamburg Polizei. Mein Name ist Kommissar Schmidt. Neben mir steht mein Partner Kommissar Roth. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Susanne schluckte. Ein dicker Kloß steckte ihr im Hals. Es geht bestimmt um Ingo und das, was er im Kaufhaus angerichtet hat, durchzuckte es sie. Sie spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden. Sie hatte weiche Knie. Der Schock, den sie durch die Nachricht von der Wahnsinnstat ihres Bruders erlitten hatte, steckte ihr sichtlich in den Knochen.
Der Mann, der sich Schmidt nannte, hielt ihr seinen Ausweis vor den Spion.
»Einen Augenblick«, murmelte sie, fast wie in Trance. Die ganze Situation erschien ihr vollkommen irreal. Sie öffnete die Tür. Die beiden Männer traten ein, ließen den Blick durch das Ein-Zimmer-Apartment schweifen.
Der Mann, der als Roth vorgestellt worden war, trat ein paar Schritte nach rechts und warf einen Blick ins Bad. Dabei hatte er die Hand an der Waffe, die er im Gürtelholster unter dem Jackett trug.
Schmidts Gesicht blieb unbewegt. Er musterte Susanne einen Augenblick.
»Frau Borgwardt, Ihr Bruder ...«
»Ich habe es eben in den Nachrichten erfahren«, sprudelte es aus ihr heraus. »Und ich habe keine Ahnung, weshalb er etwas so Schreckliches getan hat. Ich meine, mir war natürlich bekannt, dass Ingo nicht mehr derselbe war, seit er damals aus Afghanistan zurückkehrte. Ingo muss dort schreckliche Szenen miterlebt haben.« Sie atmete tief durch, schluckte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Posttraumatischen Belastungstrauma, so lautete die Diagnose. Sie werden natürlich sagen, dass so etwas keine Entschuldigung dafür sein kann, wenn jemand Jahre später in voller Bewaffnung in ein Kaufhaus geht und ein Blutbad hinterlässt ...«
»Es muss ein Schock für Sie sein, das von Ihrem Bruder zu erfahren«, sagte Schmidt.
Sie nickte. »Ich kann es noch immer nicht glauben.«
»Nach unseren Unterlagen sind Sie Ingo Borgwardts einzige noch lebende Verwandte.«
»Ja. Unsere Eltern starben vor drei Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfalls.«
»Was machen Sie beruflich, Frau Borgwardt?«
»Ich bin Lehrerin an einer Grundschule hier in Wandsbek. Im Moment sind Ferien.«
»Hatten Sie in letzter Zeit des Öfteren Kontakt mit Ihrem Bruder?«
»Nein ...« Susanne war etwas verwirrt. Warum diese Fragen?
»Wir wissen, dass Ihr Bruder vor drei Tagen hier in Ihrer Wohnung war, Frau Borgwardt«, meldete sich jetzt Roth zu Wort.
»Sie haben Ingo beobachtet!«, stieß sie hervor.
»Wir haben uns bei den Nachbarn erkundigt ... Ich muss Ihnen leider noch ein paar weitere unerfreuliche Dinge über Ihren Bruder sagen«, fuhr Schmidt nach kurzer Pause fort. »Er war in kriminelle Geschäfte verwickelt, ob Sie es nun glauben oder nicht.«
Susanne nickte leicht.
»Er hatte jeden Halt verloren«, murmelte sie. »Ich habe ihn vor drei Tagen zum ersten Mal seit über einem Jahr gesehen ...«
»Wissen Sie, was Ihr Bruder in der Zeit davor gemacht hat?«
»Keine Ahnung.«
»Sie hatten überhaupt keinen Kontakt?«, vergewisserte sich Schmidt.
Susanne Borgwardt wich einen Schritt zurück.
»Warum ist das so wichtig für Sie? Bei allem Respekt, aber ich habe mit dem, was gestern im Kaufhaus passiert ist, nicht das Geringste zu tun. Ich verstehe also nicht, weshalb Sie mich ...«
Schmidt unterbrach sie.
»Vor drei Wochen hat Ihr Bruder Sie angerufen. Das können wir beweisen.«
Susanne schluckte.
»Woher wissen Sie das? Hören Sie mein Telefon ab?«
Schmidt gab darauf keine Antwort.
»Erzählen Sie mir, was er von Ihnen wollte!«
»Ich dachte, Sie wissen es!«
»Ich möchte sehen, ob Sie uns nun die Wahrheit sagen.«
Susanne atmete tief durch.
»Ingo war in Schwierigkeiten.«
»Was für Schwierigkeiten?«
»Hat er nicht gesagt. Er war in Eile.« Susanne machte eine kurze Pause. Die Gedanken rasten nur so in ihrem Kopf.
Es hat keinen Sinn, mit irgendetwas hinter dem Berg zu halten, ging es ihr durch den Kopf. Ingo kannst du mit deiner Aussage sowieso nicht mehr schaden.
Susanne fuhr fort: »Er bat mich, etwas für ihn aufzubewahren. Wir kamen nicht einmal dazu, einen Treffpunkt auszumachen, dann war das Gespräch schon zu Ende.«
»Aber als Ingo Borgwardt vor drei Tagen bei Ihnen auftauchte, hat er es Ihnen gegeben?«
»Ja«, flüsterte Susanne.
»Dann händigen Sie es uns bitte aus.«
Susanne nickte, ging zu einem Schrank, öffnete die Schublade und holte eine braunen Umschlag hervor. Schmidt nahm ihn ihr aus der Hand, öffnete ihn und holte zwei CD-Roms hervor. Er schob sie zurück.
»Worum geht es hier eigentlich?«, wollte Susanne.
Sie erhielt keine Antwort.
»Haben Sie sich angesehen, was auf den Scheiben drauf ist?«, fragte Schmidt.
»Nein.«
»Das ist gut so.«
Schmidt nickte Roth zu, der breitbeinig auf der Couch saß. Roth griff unter sein Jackett, zog seine Pistole hervor. Aus der Seitentasche des Jacketts holte er einen Schalldämpfer und schraubte ihn anschließend in aller Seelenruhe auf. Dann lud er die Waffe durch.
»Sie sind keine Polizisten!«, stieß Susanne hervor. Ihr Gesicht war zu einer Maske des Entsetzens geworden.
Sie erwachte aus ihrer Erstarrung, schnellte zurück und kam gerade noch bis zur Anrichte ihrer Wohnküche. Zweimal machte es »Plop». Roths erster Schuss traf Susanne in der Bauchgegend, der zweite durchdrang die Schläfe. Ihr Körper zuckte. Als sie zu Boden fiel, riss sie die Kaffeetasse mit sich, die noch auf der Anrichte stand. Die Tasse zersprang auf dem Boden. Der Kaffee spritzte hoch auf. Schmidt wischte ärgerlich ein paar Tropfen von seinem Jackettärmel.
»Sorry«, sagte Roth.
»Schon gut.«
»Hätten wir sie wirklich umbringen müssen? Sie hat uns doch die Kripo-Nummer abgekauft!«
»Ich gehe gerne auf Nummer sicher.« Schmidt deutete auf den Computer, der in einer Ecke angeschlossen war. »Wer weiß, ob sie sich die Scheiben nicht doch angesehen hat.«
8
Die Untersuchungen im Fahrstuhlschacht des Kaufhauses waren kompliziert. Spezialisten der Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst hatten dort wahrscheinlich noch ein paar Tage zu tun, um Spuren zu sichern. Das Kaufhaus würde während dieser Zeit geschlossen bleiben. Mit einem aussagekräftigen Bericht war nicht so schnell zu rechnen.
Dennoch gab es bereits am nächsten Morgen erste Hinweise darauf, dass Ingo Borgwardt vielleicht doch nicht aus eigenem Antrieb den Tod gefunden hatte.
Unser Chefballistiker David Ochmer erläuterte uns die Daten, die sich bislang ergeben hatten. »Das Schwierigste bei diesem Fall ist die Sicherung der Spuren«, erläuterte uns David bei der allmorgendlichen Besprechung in Herrn Bocks Büro.
»Das gilt nicht nur für uns. Ich nehme an, die Kollegen von der Gerichtsmedizin haben da weitaus größere Probleme. Schließlich hat die Explosion der Handgranate fast alles zerfetzt, was Erkennungsdienstler normalerweise unter das Mikroskop legen. Aber es gibt zum Glück ein paar Dinge, die auch gegen Explosionen ziemlich resistent sind. Projektile zum Beispiel. Borgwardt benutzte eine MLK 27. Das ist eine automatische Pistole, die auch für die Kriminalpolizei mal als Standardwaffe in der näheren Auswahl war, bevor man sich schließlich für unsere SIG Sauer P 226 entschied. Der Punkt ist der: Es wurde im Schacht geschossen. Wir haben zwei Projektile gefunden. Ob Borgwardt wirklich durch diese Schüsse starb, ist schwer zu sagen. Die Kollegen der Gerichtsmedizin werden versuchen, das durch Untersuchungen an verschiedenen Knochenfragmenten festzustellen. Falls Knochen getroffen oder auch nur gestreift wurden, stehen die Chancen gut, falls die Schüsse nur durch weiches Gewebe gedrungen sind, wird man diese Frage nie mehr mit absoluter Sicherheit klären können. Aber eins steht zweifelsfrei fest: Sowohl die verschossenen Projektile, als auch die ebenfalls aufgefundenen Patronenhülsen sind nicht mit Borgwardts Waffe abgeschossen worden.«
Herr Bock hob die Augenbrauen.
»Konnten Sie denn noch ballistische Tests mit Borgwardts Waffe durchführen?«
David Ochmer schüttelte energisch den Kopf.
»Nein, natürlich nicht. Die Waffe war in einem viel zu schlechten Zustand. Aber wir konnten die Projektile mit jenen vergleichen, die der Amokläufer zuvor abgeschossen hatte. Der Befund ist eindeutig. Es wurde aus einer anderen Waffe gefeuert.«
»Kommt einer der Security-Leute infrage?«, hakte Herr Bock nach.
»Das Kaliber passt nicht. Die Securitys im Kaufhaus tragen alle einen Smith & Wesson-Revolver vom Kaliber 38 Special.«
»Und jemand von unseren Leuten, der sich vielleicht besonders hervortun wollte?« Herr Bock sprach diese Vermutung in gedämpftem Tonfall aus. Es war schier undenkbar, dass sich ein Kriminalkommissar oder ein Streifenpolizist so verhielt. Und doch konnte man diese Möglichkeit nicht völlig außer Acht lassen.
»Das ist nicht anzunehmen«, erklärte David. »Natürlich kann niemand garantieren, dass alle im Einsatz befindlichen Kräfte unsere Standard-Waffen benutzt haben. Dann würde uns nicht einmal eine ballistische Untersuchung sämtlicher eingesetzter Waffen etwas nutzen. Aber ich denke, wir kommen auf einem anderen Weg schneller ans Ziel.«
»Und der wäre?«
»Warten Sie ...« David Ochmer projizierte mit Hilfe eines Beamers, den er an seinem Laptop angeschlossen hatte, eine schematische Darstellung des Aufzugsschachtes an die Wand. »Wir haben hin und her gerechnet ...«, meinte er und markierte mit einem Laserpointer eine bestimmte Stelle in der Schachtwand. »Hier traf eines der Geschosse auf und blieb stecken. Wir fanden mikroskopische Gewebespuren. Die Kugel muss den fallenden Körper durchschlagen haben. Der Schütze befand sich etwa in Höhe achten Stocks.«
»Das bedeutet, dass wir den Täter auf Video haben müssten«, stieß ich hervor. »Schließlich wird das Kaufhaus flächendeckend überwacht.
David Ochmer nickte. »Stimmt!«
»Der Killer wird die Außenhaut von einer Liftkabine geöffnet und von dort geschossen haben.«
»Wir haben die Kabine identifiziert. Allerdings wissen wir nicht, in welche Etage er in den Lift gestiegen ist. Das bedeutet eine lange Video-Sitzung.«
Das Verfahren, das David Ochmer vorschlug, war aufwändig. Und es war noch nicht einmal sicher, dass etwas Brauchbares dabei herauskam. Wenn der Täter nur von hinten oder aus einem ungünstigen Winkel zur Überwachungskamera zu sehen war, konnte man ihn eventuell selbst anhand von Videobildern nicht identifizieren.
»Was das Motiv angeht, so tappen wir wohl noch vollkommen im Dunkeln«, meinte Roy.
»Das Rätsel wird noch etwas verworrener, Roy«, erklärte Herr Bock. »Gestern Abend wurde Ingo Borgwardts Schwester Susanne in Wandsbek tot in ihrer Wohnung aufgefunden.«
»Da muss natürlich nicht unbedingt ein Zusammenhang bestehen«, meinte ich.
Herr Bock wandte den Blick in meine Richtung.
»In diesem Fall besteht aber einer. Der ballistische Schnelltest hat ergeben, dass Susanne Borgwardt mit derselben Waffe getötet wurde wie ihr Bruder.«
Mir fiel der Kinnladen herunter.
»Das gibt's doch nicht!«
»Es werden natürlich noch eingehendere Untersuchungen durchgeführt, deren Resultate wir nicht vor morgen früh haben. Aber ich rechne damit, dass dieses Ergebnis bestätigt wird.«
9
Roy und ich fuhren zur Hornstraße in Wandsbek. Für Hamburger Verhältnisse waren die Mieten hier günstig.
Wir waren mit Kommissar Simon Kromer verabredet, dem Leiter der Mordkommission II. Er leitete die Ermittlungen im Mordfall Susanne Borgwardt. Wir trafen ihn zusammen mit zwei Kollegen der Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst in der Wohnung an.
Kromer begrüßte uns freundlich.
»Sieht aus, als wäre das ein Fall für euch«, meinte er. »Jedenfalls, nach dem vorläufigen ballistischen Bericht.« Kromer kratzte sich am Hinterkopf. »Ich hätte nie gedacht, dass so etwas dabei herauskommt.«
»Und wir haben jetzt die undankbare Aufgabe, herauszufinden, warum ein Kaufhausamokläufer und seine Schwester durch Projektile aus derselben Waffe getötet wurden.«
»Dieser Ingo Borgwardt hat eine bunte Vergangenheit«, meinte Kromer. »Ich habe mir die Daten angesehen, die abrufbar sind. Vom hochdekorierten Kriegshelden zur gescheiterten Existenz ...«
»Manchmal ist das nur ein kleiner Schritt«, sagte Roy.
»So wie ich das sehe, war Borgwardt in den letzten Jahren ein Kleinkrimineller, mehr nicht. Vielleicht psychisch krank. Aber seine Schwester war eine graue Maus. Da gibt es nicht den geringsten Zusammenhang mit irgendwelchen halbseidenen Sachen.«
»Vielleicht wissen wir einfach noch zu wenig über die Lady«, murmelte ich und ließ dabei den Blick durch das Apartment schweifen.
Dort, wo die Tote am Vortag aufgefunden worden war, befanden sich weiße Markierungen mit Kreide. Überall waren Blutflecken zu sehen. Eine zersprungene Kaffeetasse lag auf dem Boden.
»Wann ist Susanne Borgwardt gestorben?«, fragte Roy.
»Gestern Nachmittag«, gab Simon Kromer Auskunft. »Natürlich müssen wir da noch den Bericht der Gerichtsmedizin abwarten. Am Abend war Frau Borgwardt mit einem gewissen Arnulf Kettker zu einem Theaterbesuch verabredet. Kettker ist Angestellter einer Bank in Hamburg Mitte.«
»Mit diesem Kettker würde ich gerne sprechen.«
»Die Adresse schreibe ich Ihnen auf. Jedenfalls haben Kettker und Frau Borgwardt gegen 16.30 Uhr miteinander telefoniert. Als Kettker sie dann gegen 19.30 Uhr abholen wollte, machte niemand auf. Er schöpfte Verdacht, drang in die Wohnung ein und fand seine Freundin. Susanne Borgwardt starb also zwischen 16.30 und 19.30 Uhr.«
»Wie gelangte Kettker in die Wohnung?«, hakte ich nach.
»Er hatte einen Schlüssel. Die beiden hatten übrigens vor, in zwei Monaten zu heiraten.«
»Wir sind hier soweit fertig«, erklärte eine der beiden Erkennungsdienstler. Eine attraktive Dreißigjährige, die selbst in dem weißen Einweg-Overall, den sie bei der Arbeit trug, noch sexy aussah.
Kromer wandte sich ihr zu und fragte: »Hat sich noch etwas Neues ergeben?«
Die Kollegin vom Erkennungsdienst nickte und deutete auf die Couch.
»Der Killer saß auf der Couch. Aber es befand sich höchstwahrscheinlich noch ein zweiter Mann im Raum.« Sie deutete auf eine bestimmte Stelle auf dem Teppichboden, die ebenfalls markiert war. »Der zweite Mann hat im weichen Teppichboden einen Abdruck seines Schuhabsatzes hinterlassen. Er scheint vor kurzem durch eine Öllache oder etwas Ähnlichem gelaufen zu sein.«
»Könnte es sich um Kettkers Abdruck handeln?«, fragte ich.
Die Kollegin vom Erkennungsdienst zuckte die Achseln.
»Sofern er mindestens Schuhgröße 45 hat, ja.«
»Solche Riesenfüße dürften uns wohl gleich ins Auge fallen, wenn wir ihn besuchen«, raunte Roy.
Die schöne Erkennungsdienst-Kollegin wandte sich zur Tür. Dort angekommen, blieb sie noch einmal stehen, drehte sich herum.
»Noch was ... Der zweite Mann hat vermutlich Kaffeeflecken an der Kleidung.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Woher wollen Sie wissen, dass es ein Mann war?«
Sie zuckte die Achseln.
»Ich gebe es zu: Es könnte auch eine Frau mit Schuhgröße 45 aufwärts gewesen sein, aber die sind selten, oder?«
10
»Es muss hier gleich sein«, sagte der Mann, der sich »Schmidt« genannt hatte. Er saß am Steuer eines weißen Toyotas.
»Roth« hatte eine Karte auf dem Schoß. Sein Gesicht wirkte angestrengt.
Schmidt lenkte den Toyota die schmale Straße entlang, die sich etwa eine halbe Stunde von Hamburg entlang Richtung Süden schlängelte.
Schließlich erreichten sie den Parkplatz, der als Treffpunkt fungieren sollte. Eine dunkle Limousine mit Überlänge parkte dort.
Zwei Männer in schwarzen Anzügen patrouillierten auf und ab. Sie waren mit MPis ausgerüstet.
»Unser Freund Einauge ist schon da!«, stellte Roth fest.
»Gefällt mir nicht«, knurrte Schmidt.
»Wieso?«
»Ich bin gerne der erste am Treffpunkt. Aus Prinzip. Dann kann man besser die Lage checken, und man fühlt sich einfach sicherer.«
Roth grinste, überprüfte kurz noch die Ladung seiner Pistole und die Justierung des Laserpointer. Er lud sie durch. Anschließend verbarg er die Waffe wieder unter der Jacke.
»Eine Automatik wäre praktischer«, meinte Schmidt.
»Aber keine ist so leise wie dieses Eisen«, gab Roth zur Antwort.
Er sah auf die Uhr. Schmidt lenkte den Toyota auf den Parkplatz, hielt etwa zwanzig Meter von der Limousine entfernt. Roth stieg zuerst aus, dann Schmidt. Die beiden Bodyguards richteten ihre MPis auf die beiden.
»So etwas nenne ich einen warmherzigen Empfang«, knurrte Roth.
Schmidt ließ den Blick schweifen. Es war kühl.
»Ich werde allein mit Einauge sprechen«, sagte Schmidt. »Du bleibst hier und erschießt diese Bastarde, sollte mir jemand ein Haar krümmen.«
»Mit Vergnügen!«
Schmidt griff unter sein Jackett, zog eine Pistole hervor und gab sie Roth.
»Bewahre sie gut für mich auf!«
»Worauf du einen lassen kannst.«
Schmidt ging auf die beiden Bodyguards zu, hob leicht die Hände dabei. Einer der beiden durchsuchte ihn kurz nach Waffen. Dann führte er ihn an die Limousine heran, während der andere Bodyguard Roth im Auge hielt.
Schmidt blickte in Richtung der Limousine.
Eine der getönten Seitenscheiben wurde herabgelassen.
Ein vollkommen haarloses Gesicht war zu sehen. Eine Filzklappe bedeckte das rechte Auge. Schmidt schätzte diesen Mann auf etwa fünfzig Jahre. Einauge war sein Spitzname. Wer der Kahlkopf wirklich war, wussten sie nicht.
»Wir haben Borgwardt zur Strecke gebracht«, sagte Schmidt. »Jetzt sind Sie an der Reihe, Ihren Teil der Abmachung einzuhalten.«
Einauge besaß keine Augenbrauen. Sein Gesicht blieb vollkommen unbewegt, zeigte nicht die geringste Reaktion.
»Was ist mit der zweiten Sache, die Sie für mich erledigen sollten?«
»Sehen Sie kein Fernsehen? Die Hamburger Lokalsender haben den Tod von Susanne Borgwardt zwar nicht ganz so groß herausgebracht wie den Abgang ihres Bruders, aber ...«
»Ich spreche von den CD-Roms.«
»Wo ist das Geld?«
Einauge schnippte mit den Fingern.
Der Bodyguard, der bislang seine MPi auf den unbewaffneten Smith gerichtet hatte, ging zum Kofferraum der Limousine, öffnete sie und holte einen Diplomatenkoffer hervor. Anschließend kehrte er zu Schmidt zurück und überreichte ihm den Koffer.
»Das Zahlenschloss hat die Kombination 12345«, sagte Einauge.
»Wie originell!«, ätzte Schmidt.
Er öffnete den Koffer einen Spalt. Weit genug, um zu sehen, dass er mit Geldbündel gefüllt war.
»Die Summe stimmt«, erklärte Einauge.
»Falls nicht, werden Sie es bereuen«, erwiderte Schmidt eiskalt.
Er griff unter seine Jacke, holte die beiden CD-Roms hervor, die Ingo Borgwardt seiner Schwester zur Aufbewahrung gegeben hatte.
Einauge nahm sie entgegen. Er grinste zynisch.
»Falls sich auf einer der Scheibe hier nur ein Baller-Game befinden sollte, dann werden Sie das bereuen!«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was auf den CDs drauf ist!«
»Gut so. Leben Sie wohl! Falls ich Ihre Dienste noch einmal in Anspruch nehmen möchte, weiß ich ja, wie ich mit Ihnen in Kontakt treten kann.«
Die getönte Seitenscheibe der Limousine glitt empor. Das Gesicht des Kahlkopfs verschwand. Der Motor wurde gestartet. Die beiden Bodyguards stiegen zu und die Limousine brauste davon. Schmidt sah sie in Richtung Hamburg fahren.
Schmidt reckte die Faust empor, stieß dabei einen Triumphschrei aus. Ein Superjob war das gewesen! Schmidt kehrte zu Roth zurück. Als die beiden Männer etwa zwei Meter voneinander entfernt waren, warf Roth ihm die Waffe zu. Schmidt fing sie auf, reichte Roth den Geldkoffer.
»Sieh mal nach, ob der einäugige Gauner sich nicht verzählt hat!« Roth legte den Koffer auf die Motorhaube des Toyotas, öffnete ihn.
»Wird Zeit, sich zur Ruhe zu setzen, was?«, murmelte er. Ein zufriedenes Lächeln spielte um seine dünnen Lippen.
Schmidt hob die Pistole.
»Für einen dürfte es reichen!«, meinte er.
Roth wirbelte herum, blickte direkt in den Lauf der Automatik.
Schmidt drückte ab.
Aus der Waffe löste sich kein Schuss. Es machte lediglich »klick». Roth griff in aller Seelenruhe zu seiner eigenen Waffe.