Halleluja - So ist das Leben - Ben Engel - E-Book

Halleluja - So ist das Leben E-Book

Ben Engel

4,8

Beschreibung

HALLELUJA - So ist das Leben, eine "ziemlich" autobiographische und "relativ" chronologische Erzählung in 48 Kapitel. Der Protagonist: Zwischen Blaumann und Nadelstreifen, und zwischen Verdammnis und größtem Glück, an den Fronten des Seins. Die Geschichten sind knapp, lakonisch, berührend, wahrhaftig und treffen mitten ins Herz. Halleluja - So ist das Leben Gott, Promille, Tod, Sex, Liebe, Verlust, Soul und Rock and Roll: der Sound des Lebens. Man wünscht sich als Leser eine Musikbox mit den passenden Inhalten - ganz in der Nähe.

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Für alle, die so sind, und für die Anderen.

INHALTSVERZEICHNIS

TEIL I

KLEINES DORF – GROSSE HÖLLE (Mexikanisches Sprichwort)

01 INTRO

02 MÄNNER

03 7:6 oder EIN GÖTTLICHER SCHLENZER + EPILOG

04 GOTT AUS HEISSER KEHLE

05 LA PALOMA, VON DORF ZU DORF – VON KRUG ZU KRUG

06 LÖCKNER

07 ICH BIN EIN ROCK ’N’ ROLLER

08 JAMES + EPILOG Teil 1 u. Teil 2

09 PROLOG BYE BYE + BYE BYE

TEIL II

WUMM

10 BRIGHT LIGHTS, BIG CITY – (AND) HE HOLDS THE BOOK

11 MEIN ODER SEIN

12 SOMMERZEIT

13 ELKE – TOCHTER DES KARLCHEN

14 FÄRBER UND FARBEN

15 ADELHEID oder ZWEI KLEINE BEGEGNUNGEN

16 WO DIE SONNE SCHEINT

17 DAS KLEINE BROT DES BÄCKERS

18 KÖNIGE

19 5 MARK oder DER TIGER VON ERDING

20 HIMMLISCHE RUH

21 HORSTI Teil 1 – ALLES WIE GEHABT oder DES MENSCHEN SOHN HAT NICHT

22 WUMM WUMM

23 HORSTI Teil 2 – STROMER

24 MEIN GOTT

25 HORSTI Teil 3 – IT CAME OUT OF THE SKY

26 MARION TRY SLAUGHTER

27 HERZ AUS STEIN

TEIL III

SPUREN

28 EIN KLEINES LIED

29 WERTE

30 J.J.

31 BIST DU EINSAM HEUT NACHT? + EPILOG

32 HEARTBROKEN KING

33 TWO GENTLEMEN – AN EINEM NACHMITTAG AB HALB DREI

34 ROTER MOND

35 ES IST 8 UHR 30, SIE WOLLTEN GE…

36 PITTCHEN

37 TWO GENTLEMEN – AN EINEM TAG OHNE SCHNEE

38 NO SOCCER ON TV

39 ES WAR HERBST

40 KLICK KLACK

41 SPUREN IM SAND + Anm. d. Red.

42 HALLELUJA – DAS IST ROCK ’N’ ROLL

43 ES WAR FRÜHLING

44 MIT EINEM SCHUSS ROCK ’N’ ROLL

45 TWO GENTLEMEN – SCHREIBEN AN EINEM TAG ZWEI LIEDER

46 SUPERSTARS

47 FRAUEN

48 OUTRO

TEIL I

KLEINES DORF – GROSSE HÖLLE

(Mexikanisches Sprichwort)

Kapitel 1

INTRO

Wer weiß – wenn er wüsste.

***

Kapitel 2

MÄNNER

Es war Winter und es war kalt.

Die Frau, die er liebte,

War mit den Heizkosten durchgebrannt

Und er saß einsam,

Verloren und beinahe erfroren

In diesem Ein-Zimmer-Appartemannt.

Ach,

Hätte er damals

Doch nicht an der falschen Tür geklingelt.

***

Kapitel 3

7:6 oder EIN GÖTTLICHER SCHLENZER

Henry war auf dem Weg nach Hause. Er war glücklich. 7:6 hatte er mit seinen Kumpels aus dem kleinen Ort in einem prächtigen Fußballspiel gegen die Burschen aus dem Nachbardorf gewonnen.

In der letzten Minute hatte Henry das Tor zum 7:6 geschossen. Mit einem schönen Schlenzer und natürlich mit links. Göttlich! Jetzt war er der Held.

Sein Gesicht glühte noch. Er war von oben bis unten durchgeschwitzt, und seine armselige Sonntagskleidung, inklusive der braunen Halbschuhe, sah ganz schön mitgenommen aus. Aber sie hatten gewonnen und er hatte das entscheidende Tor geschossen. Er war glücklich und jetzt gleich zuhause.

Dort warteten sie schon auf ihn. Natürlich hätte er sich nicht wegstehlen dürfen und noch viel weniger hätte er Fußball spielen dürfen. Aber seine Kumpels brauchten ihn doch und er spielte doch so gerne Fußball und – was sollte er denn zuhause? Still in der Ecke sitzen und sich ansehen und anhören, wie sie sich dort auch am siebten Tag der Woche untereinander mit Wort und Tat zerfleischten? Warum durfte er denn nie zum Spielen gehen. All die anderen Kinder durften das!

Er hatte doch auch am Morgen schon seine Pflicht getan. War in aller Herrgottsfrühe die drei Kilometer zur Kirche gelaufen, dort durch den Seiteneingang in die – wie immer eiskalte – Sakristei des heiligen Gebäudes gegangen, hatte sich sein Ministranten-Gewand übergeworfen und dann auf die deutsch-lateinische Art seinen Dienst im Namen Gottes für die Menschheit getan.

Das meiste von den demutsvoll hingehauchten Psalmen und Versen verstand er nicht. Das kümmerte ihn aber weniger.

Henry kannte seine Einsätze, wusste, wann das große Buch von rechts nach links – und dann wieder von links nach rechts – zu tragen war und – was ganz wichtig war – wann er Wasser und Wein dem ebenso brutalen wie lüsternen gnädigen Herrn Pfarrer einzuschenken hatte.

Er hatte also seine Pflicht getan, dann zur Mittagszeit sein Essen mit Widerwillen heruntergewürgt und als die Gelegenheit günstig war blitzschnell das Haus verlassen.

Henry verabscheute zutiefst die Kleidungsstücke, die sie ihn zwangen anzuziehen. Trotzdem versuchte er jetzt seinen derangierten Sonntagsanzug etwas zu ordnen. Mit einem Taschentuch säuberte und polierte er seine Schuhe.

So recht gelang es ihm nicht.

In etwa wusste Henry, was auf ihn zukommen würde. Oder sollte es heute einmal anders sein? Er hatte doch dieses tolle Tor geschossen.

Nein. Er ahnte, es würde nicht anders sein. Weg war das schöne Glücksgefühl. Die Angst, die ihn meistens beherrschte, war wieder da.

Er ging ins Haus. Zu Mutter, Tante, Großmutter. Eine weibliche Dreifaltigkeit, die ihm das Schicksal zugewiesen hatte.

Sie saßen in der Küche am großen Tisch. Seine Großmutter hatte die aufgeschlagene Bibel vor sich liegen und plapperte fast lautlos die christlichen Dramen. Nur leichte Schmatzlaute waren zu hören. Auch als sie Henry mit einem Blick – der direkt aus der Hölle zu kommen schien – ansah, plapperte sie unverdrossen die heiligen Frömmigkeiten weiter.

Sie hatte ihren Platz gefunden: irgendwo zwischen gläubig, schmerzvoll und freudlos. Nun sollte der Rest der Menschheit auch beten, büßen und jammern.

Henrys Tante war in diesem Bund der Verknöcherten und Verbiesterten diejenige, die noch mit einem Hauch Lebensfreude ausgestattet war. Fast schon frivol. Wenn die anderen nicht dabei waren, lachte sie sogar manchmal mit Henry. Dann war sie richtig fröhlich. In ihrem Wesen war sie allerdings sehr wechselhaft. Gerade noch gelacht, und schon trafen im nächsten Moment Verachtung und Abneigung Henry umso härter. Trotz allem war ihr Henry für die fröhlichen Momente dankbar.

Jetzt war allerdings keine Fröhlichkeit von ihr zu erwarten. Das spürte Henry genau. Und ihr Blick schien auch aus der Hölle zu kommen. Sie blätterte in einem Bestellkatalog zwischen den Seiten mit den mannigfaltig abgebildeten Kittelschürzen. (Ohne die schien ein Leben für die drei Damen des Hauses nicht möglich!) Wenn sie sich von Henrys Großmutter unbeobachtet fühlte, schaute sie sich auch schon mal die Seiten mit den verwerflichen Abbildungen sündiger Damenunterwäsche an. Sie hatte sich von diesen ach so unkeuschen Dingen auch schon mal heimlich etwas bestellt. Henry wusste, wo sie die Hemdchen und Höschen versteckt hatte. Das nützte ihm jetzt aber auch nichts.

Seine Mutter saß an der Stirnseite des Tisches. Direkt vor dem einzigen Fenster des Raumes. Helles Licht fiel auf ihren kleinen Kopf. Sie wirkte fast kahl. Ihr dünnes und glanzloses Haar machte ihr sehr zu schaffen. Henry war sich sicher, dass sie auch unter ihrer großen Hakennase und dem kleinen nach unten gezogenen Mund litt. Manchmal bemitleidete er sie. Meistens jedoch schämte er sich für sie. So sehr wünschte er sich immer wieder eine schöne Mutter. Eine, die ihn so richtig gernhätte. Die gut riechen würde und die lustig wäre. Und einen Vater wünschte er sich. Mit dem hätte er Fußball spielen können. Aber wie sollten diese Wunder geschehen? Henry hatte keine Antwort. Seine Mutter war doch so, wie sie war, und sie sagte immer, sie wolle keinen Mann mehr. Das eine Mal hätte ihr gereicht.

Unbeweglich saß sie am Tisch. Musterte Henry mit ihren grauen unglücklichen Augen. Nicht bereit zu vergeben. Auch nicht einem knapp Neunjährigen.

Sie deutete in die Ecke neben der Tür. „Geh dahin und rühr dich nicht von der Stelle“, sagte sie knapp und hart.

Ach, wäre er doch nur schon so stark und unbesiegbar wie seine Helden in den Comics. Noch nicht einmal weglaufen konnte er. Nur in der Ecke stehen und warten.

Seine Mutter nahm ein Strickzeug auf. Unter dem Klappern der Nadeln entstand wieder eine dieser selbstgestrickten Abscheulichkeiten. Wie er sich auch hierfür schämte. Aber es gab kein Entrinnen. Die Schränke waren voll damit und es musste angezogen werden.

Seitdem er zur Schule ging, musste er wenigstens nicht mehr die „Mädchensachen“ anziehen. „Warum bist du Saukerl denn auch noch ein Bub geworden. Andere haben doch auch Mädchen gekriegt“, durfte sich Henry immer wieder von seiner Mutter anhören.

Sie hatte ihm die Haare ganz lang wachsen lassen, flocht ihm Zöpfe, zog ihm Mädchenkleider an, setzte ihm Frauenhüte auf, hängte ihm Pelze aus Fuchs oder Kaninchen über die schmalen Schultern, malte ihm mit Lippenstift die Lippen rot an, machte ab und an sogar ein Foto von Henry „als Mädchen“ und schlug ihm zwischen die Beine.

Kurz vor Henrys Schulbeginn hatte sie ihm die Haare ganz kurz geschnitten und gab es auf, aus Henry ein Mädchen machen zu wollen. Zwischen die Beine schlug sie ihn weiterhin.

Henry kam mit Schulanfang auch erstmals mit anderen Kindern zusammen. Vorher war er konsequent weggesperrt worden und hatte außer Mutter, Tante und Oma auch kaum mal einen anderen Erwachsenen zu Gesicht bekommen. „Mit so einer Schande muss man sich schämen.“ Später las Henry mal was über Kaspar Hauser. Da sah er irgendwie Ähnlichkeiten zu sich in der Zeit vor der Schule.

Seine Mutter strickte weiter.

Die Nadeln klapperten, die Katalogseiten raschelten, die Bibel schmatzte und Henry harrte dem Unausweichlichen.

Mehr als zwanzig Minuten stand er da. Dann legte seine Mutter das Strickzeug beiseite. „Komm, du verdammter Saukerl“, sagte sie ruhig.

Nein – auch heute keine Vergebung. Wo war der liebe Gott, zu dem er jeden Tag mindestens drei Mal beten musste. Dem er jeden Sonntag und auch an vielen Werktagen in aller Öffentlichkeit diente. Dessen Helfern auf Erden er regelmäßig seine kleinen Sünden beichtete. Wo war er, der liebe Gott? 7:6 gewonnen – und Henry war doch kein schlechter Mensch. Was hatte er denn Schlimmes getan? Der Schlenzer war doch göttlich. Hatte Fred gesagt. Und der war immerhin Spielführer.

Maria – das war doch die Mutter Gottes. Aber diese Maria, Henrys Mutter, zog ihn jetzt aus der Küche in das schräg gegenüberliegende Wohnzimmer. Ihre kleinen, harten, knochigen Hände zwangen ihn ohne Erbarmen in die gute Sonntagsstube. Lämpchen, Deckchen, Nippes ohne Ende. An den Wänden Bildchen von frommen Menschen und lieben Engelchen, weise mahnende Sprüche. Im Großformat Soldaten, die ins offene Feuer liefen. Neben dem Lichtschalter ein immer gut gefülltes Weihwasserbecken und – hinter einem Schrank versteckt – eine kräftige Weidenrute. Der Himmel auf Erden.

Jetzt wurde es ernst.

Hose runter. Unterhose auch. Über einen Sessel beugen. Henry wurde übel vor Angst. Aus der Küche hörte er noch seine Großmutter rufen: „Schlach ihm ned auf de Kopf.“

Danke Oma!

Mehr war nicht zu erwarten. Bei aller Gläubigkeit: Strafe musste sein. Auch für kleine Jungs. Was nutzte es da, dass Deutschland vor zwei Wochen Weltmeister geworden war: 3:2 gegen Ungarn. Fritz Walter hatte so toll gespielt.

Sie schlug zu.

Henry schrie.

Sie schlug weiter.

Henry schrie weiter.

Und sie schlug weiter, immer weiter.

Die Weidenrute färbte sich rot.

Henrys Blut tropfte auf Hose, Unterhose, Kniestrümpfe, die braunen Halbschuhe und auf den angeblich so teuren Perserteppich.

Wenn das die Großmutter sah. Er wusste, auch daran war er schuld. Es war ja sein Blut. Henry war sich sicher: Er konnte gar nicht genug beten, um von all seinen Sünden erlöst zu werden. Er hörte seine Mutter fluchen und keuchen. Sie war am Ende ihrer Kraft. Noch ein paar Schläge in die Kniekehlen. Aus. Überstanden.

Für heute war es vorbei. Hoffentlich!

Leise schluchzend und wimmernd kniete Henry auf dem teuren Teppich. Wieviel Mark hatte der denn gekostet?

Er hörte seine Mutter wieder: „Du missratener Sau-Bankert, wegen dir ist das alles. Frisst uns hier das Brot weg. Die Guten mussten sterben und du bist eine einzige Schande. Was für eine gottverdammte Sauerei, dass du Sauhund damals nicht verreckt bist. Die anderen waren nicht so blöd. Die haben es wegmachen lassen. Die waren nicht so blöd. Du Dreckskerl bist nicht verreckt.“

Jetzt verstellte sie ihre Stimme: „Nehmen Sie eine Nadel, oder springen Sie einfach aus zwei, drei Metern auf den Boden, hat das alte Dreckweib gesagt. Hat alles nichts geholfen. Du Sau bist hier!“

Sie begann zu weinen. Das war ganz schlimm für Henry: Angst ‒ Abscheu ‒ Mitleid. Was empfand er am stärksten? Er wusste nicht ein noch aus. Gegrüßet seist Du, Maria, betete er täglich. Mit einem Zipfel ihrer Kittelschürze wischte nun seine Mutter Maria das Blut von der Weidenrute. Dann versuchte sie mit ihrem Taschentuch die blutige Spur auf dem Perser zu entfernen. „Du entsetzlicher Saukerl, schau dir das an.“

Ja, Henry schaute sich das an.

Dann schnäuzte sie in das blutverschmierte Taschentuch und wischte sich damit noch die Tränen aus den Augen. Sie sah jetzt wie ein von seiner blutigen Beute gezeichneter Raubvogel aus.

Ekel überkam Henry. Er kniete immer noch. Eigentlich genauso wie in der Kirche.

Sah Gott, was da immer wieder geschah?

Meinte seine Mutter wirklich, was sie sagte?

Gott sieht doch alles und Erwachsene lügen doch nicht.

Also musste es wahr und richtig sein, denn Gott schien ja auch nichts dagegen zu haben!

So oft schon hatte sie diese Dinge zu ihm gesagt.

Immer wieder.

Und immer wieder mit den gleichen Worten. Trotzdem, warum schlug sie ihn so? Warum?

Tante und Oma schlugen ihn auch. Auch beinahe täglich. Warum?

Und sie schlugen sich ja auch untereinander.

Selbst direkt vor oder auch direkt nach dem Kirchgang. Egal – Gründe gab es immer. Und meistens war Henry der angebliche Grund dafür, dass sie mit größter Gewalt, ringend, würgend, boxend, tretend aufeinander losgingen. (Sehr oft bildeten Oma und Tante eine „Christliche Union“ gegen die Mutter, die das Gotteshaus nicht ganz so oft wie die beiden besuchte und „deren gottverfluchter Bankert allen das knappe Brot wegfraß“.) Aber auch mit schnell greifbaren Hilfsmitteln, wie Stühle, Hocker, Schürhaken, Holzscheite, Töpfe, Messer, Gabeln, wurde „gekämpft“. „Wertvolle“ Teller, Tassen und sonstige Kleinteile wurden als Wurfgeschosse genutzt und flogen gegen Körper, gegen Wände, gegen den Küchenschrank oder auch durch die Scheibe des Küchenfensters. (Da kam dann endlich mal frische Luft in den viereckigen Raum.) Alles mit hysterischem Fluchen und Geschrei begleitet und fast immer mit sehr blutigen Ergebnissen.

Aber „wirklich tragisch“ wurde es nur, wenn das auch hier unvermeidliche Weihwasserbecken beschädigt wurde. Dann war was los! So eine Sünde! Und alles wegen Henry, dem Bankert!

Die Tante hatte auch einen „Bankert“. Gehabt. Denn sie ertränkte dass sich ebenfalls die „falsche“ Adresse aussuchende Wesen, gleich nach seiner Geburt in der Jauchegrube, die neben der Scheune auf der anderen Straßenseite lag.

Dafür saß die Tante dann ein knappes Jahr im Gefängnis und wurde von Mutter Maria beinahe täglich mit den Begriffen „Zuchthäuslerin“ und „Kindesmörderin“ bedacht. Die Antwort der Tante lautete Tag ein, Tag aus: „Elendischer Sarschnachel, dürrappische Zegge! Dein verfluchter Bankert, der gottverdammte Wasserbollagg, frisst uns hier das Brot weg.“

Die Oma erhob während der gegenseitigen Beschimpfungen der beiden Schwestern immer wieder mahnend und weinerlich die Stimme in Richtung ihrer Tochter Maria: „Sadan, versündisch disch ned. Rischded nischd, damit ihr nischd gerischded werded“, und gab somit, auch immer wieder, die Vorlage für die nächste, immer wieder gleiche Tirade der Mutter Maria: „Halt nur zu deiner Kindesmörderin, du verbabbtes Tier. Du alte Sau, halt dein Maul. Sonntags in die Kirche rennen ...“

Manchmal, oder auch sehr oft, wünschte sich Henry, er hätte keine Ohren gehabt.

Aber er musste sich alles mitanhören. Er hatte kein eigenes Zimmer und musste immer bei den „Erwachsenen“ sein, damit er keinen „Blödsinn“ machen würde. Und er durfte ja auch nicht zum Spielen rausgehen und schon gar nicht zum Spielen mit anderen Kindern. Denn die würden ihn ja nur „verderben“. Da waren sich Mutter, Tante und Oma ausnahmsweise mal einig. Und in dem, was Henry später mal werden sollte: Bauer oder Pfarrer.

Das Blut wollte sich nicht spurlos aus dem Teppich vertreiben lassen. Henrys Mutter fluchte ohne Unterlass: „Herrgott Sakrament, Herrgott Sakrament, Herrgott … was eine Schande! Als du eine Woche alt warst, hab ich dich nachts im Körbchen auf die Fensterbank ins Freie gestellt. Eine Lungenentzündung solltest du kriegen. Du Sau hast es überlebt. Bist nicht verreckt, du Bankert. Was eine Schande! Was für eine gottverdammte Schande!“ Henry weinte leise weiter. Er hatte doch nur Fußball gespielt. Und später wollte er doch zu Real Madrid gehen und dort als Fußballer berühmt werden und ganz viel Geld verdienen.

Henrys Mutter ließ jetzt von dem Teppich ab. Der schimmerte jetzt am linken Rand in zartem Rot. „Zur Strafe gehst du nächste Woche nicht einmal vor die Tür.“

Am Donnerstag war das Rückspiel geplant. Da musste er hin. Was sollte er denn machen? Da musste er doch hin. „Zieh dich wieder an, und dann gehst du raus und holst Holz rein, du verfluchter Plattkopp.“ „Ja“, sagte Henry leise.

Dann erlöste er sich von der Dauerkniebeuge, stand auf und zog sich die Hosen hoch. Wenn das nur nicht so wehgetan hätte. Alles klebte und brannte. Die Kniekehlen schmerzten entsetzlich. Nur nicht bewegen. Aber am Donnerstag musste er wieder laufen können.

Henrys Mutter war fluchend zurück in die Küche gegangen. Die Wohnzimmertür hatte sie offen gelassen. Während Henry seine blutigen Sonntags-Kniestrümpfe hochzog, hörte er seine Tante ein Liedchen trällern: Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein …

In einer Sangespause hörte er die Großmutter sagen: „Haste ihm auch ned auf de Kopf geschlache?“

Nein, das hatte sie diesmal nicht!

*

Das Rückspiel!

Am Donnertag. Um halb drei. Diesmal im Nachbarort. Da musste er sofort nach der Schule hin. Sonst war das nicht zu schaffen. Vielleicht gelang ihm ja wieder so ein Schlenzer. Ob auch wieder göttlich?

So genau wusste Henry gar nicht, was das bedeuten sollte. Irgendetwas Gutes? Je mehr Henry überlegte, umso weniger kam er zu einem Ergebnis.

Hauptsache, er machte sein Tor. Natürlich mit links – und warum nicht doch wieder mit einem göttlichen Schlenzer?!

***

EPILOG –

7:6 oder EIN GÖTTLICHER SCHLENZER

Henry stand draußen vor dem Holzschuppen und schaute auf das gemischte Grün des angrenzenden Gartens. Er überlegte und grübelte noch, wie er das am Donnerstag zum Rückspiel am besten machen könnte.

Aber Überlegen und Grübeln war nicht gut. Wie oft hatten sie ihm schon, von hinten oder von der Seite, aufs Haupt geschlagen, wenn er sich in den einzigen Freiraum, den er hatte, seine Gedanken- und Gefühlswelt, zurückzog und einfach so dastand. Wenn er dachte und fühlte und nichts mehr um ihn herum zu existieren schien. Er auch nicht bemerkte, wenn sich eine „schlagende Gefahr“ näherte.

Batsch! – und: „Die Missgeburt hat wieder simuliert. Wie der Heiner!“ Nochmal: Batsch!

„Heiner“ wurde als Schimpfwort gebraucht. Damit war sein Großvater Heinrich gemeint – als schlechtes Vorbild. Nach außen hin wurde „sein Andenken“ auch noch zwanzig Jahre nach seinem Tod von den dreien „sehr in Ehren gehalten“.

Er war ungefähr zehn Jahre vor Henrys Ankunft gestorben. Angeblich unter sehr dramatischen Umständen. Aber Genaues erzählte man nicht. Nur so viel hatte Henry mitbekommen: Heiner war ein Landwirt wider Willen, der – nach seinen Zeugnissen beurteilt – in seinem Jahrgang der zweitklügste Schüler von Hessen gewesen war. Der Gedichte schrieb, die auch regelmäßig im Kreisanzeiger veröffentlicht wurden. Der Geige spielte und dem – den Aussagen nach – „unverantwortlicher Weise“ der Violinschlüssel wichtiger war als der Schlüssel für eine ertragreiche Landwirtschaft.

Heiner, dessen Andenken in Wirklichkeit gar nicht so sehr in Ehren gehalten wurde und der wohl auch sehr oft still dastand und mit Blick in die unbegrenzte und undefinierbare Weite dachte und fühlte. Halt genauso wie Henry.

(Batsch! „Die Missgeburt hat wieder simuliert. Wie der Heiner!“)

„Simuliert“. Sie gebrauchten die „alte“ Bedeutung für Grübeln, Nachsinnen und Ähnliches.

„Wie der Heiner!“

Was hatte Heiner gedacht?

Was hatte er gefühlt?

Henry hätte das gerne gewusst.

Was hatte Heiner gedichtet?

Waren seine Gedichte noch irgendwo?

Welche Musik hatte er mit seiner Geige gespielt?

Hatte er gut Geige spielen können?

War die Geige, die auf dem Dachboden lag, erst nach Heiners Tod zerstört worden?

Hatte er auch Fußball gespielt, der „Sau-Heiner“, wie sie in ganz besonderen Momenten Henry und somit ja auch Opa Heinrich „in Ehren“ nannten?

Hatte er auch mit links schlenzen können?

Auch göttlich?

Batsch! ...

***

Kapitel 4

GOTT AUS HEISSER KEHLE

Es war der letzte Tag der Sommerferien. Als mehr oder weniger unfreiwilliger Ministrant für alle Fälle hatte ich schon in aller unchristlichen Herrgottsfrühe beim Sieben-Uhr-Gottesdienst meine Morgenpflicht getan: Brav das Buch der Bücher von rechts nach links und später dann von links nach rechts getragen. Hatte präzise die lateinischen Litaneien ergänzt. Mit ernsthafter Miene den Weihrauchkessel geschwungen und aufopferungsvoll Hochwürden wohldosiert den Wein und das Wasser gereicht.

Nach dem letzten Amen blitzschnell raus aus dem Gotteshaus, rauf aufs Fahrrad und ab in Richtung Bauernhaus. Ein paar Happen runterwürgen und – nein: kein Fußball, kein Schwimmbad, kein Sonst nix. Meine Anverwandten verstanden keinen Spaß, kannten keine Gnade: Raus auf das Feld – arbeiten! Das Schicksal eines ungewollten und ungeliebten Countryboys.

Das Getreide sollte in einen transportfähigen Modus gebracht werden.

Die Sonne brannte erbarmungslos auf mein ungeschütztes junges Haupt, und ich fragte mich die Frage aller Fragen: „Warum ausgerechnet ich?“

Und schon steckten weitere gut formatierte und auf bösartig programmierte Disteln in meinen zarten Händen.

Ein paar Stunden – und ein paar hundert hoffnungslose Hilferufe – später hatte zumindest die Sonne erst mal ihren Spaß daran verloren, mich zu quälen, und verschwand lautlos am Horizont. Wohin auch immer!? Jedenfalls war jetzt bald die Zeit für Teil zwei meiner Zwangsdienste im Namen des Herrn: Abendmesse – ich sollte erneut dienen. Mit verzweifeltem Eifer trat ich in die Pedale der Erbsünde, sah schon den Turm des Glaubens und stellte mir zum wiederholten Male an diesem Tage die Frage aller Fragen, als ich feststellte, dass mir bis zur wundersamen Metamorphose in einen Diener der Messe noch etwas Zeit blieb. Und so fuhr ich zweirädrig zu dem kleinen Kino dieser kleinen Stadt. Etwas Weltliches vor dem Sakralen konnte und sollte sicher nicht schaden. Die Bilder in den Schaukästen faszinierten mich immer wieder aufs Neue. Was würde mir heute so geboten werden?

Meine Überraschung war groß: Keine bunten Wild-West-Gestalten, keine finsteren Gesellen eines düsteren Kriminalfalles und auch keine Heidis mit Heide-Röschen an ihren Heide-Höschen schauten mich an, sondern Elvis Presley. Bisher hatte ich von ihm nur ein paar kleine Bildchen in öden bunten Blättern gesehen. Und außer ein paar dumpfen Musikfetzen von Heartbreak Hotel, die durch die Ritzen eines „verruchten“ Lokals an meine hungrigen Ohren gedrungen waren, hatte ich auch noch nichts von ihm gehört. Aber diese irgendwie „andersklingenden“ Töne reichten aus, um mich neugierig zu machen.

Die sogenannten Erwachsenen sprachen immer wieder mit größter Verachtung über ihn und seine Negermusik, aber die Halbstarken, zu denen ich ja aufgrund meiner zarten dreizehn Jahre sowie meiner bäuerlichen und kirchlichen Aktivität nicht so recht gehörte, erzählten sich wahre Wunderdinge über Elvis Presley. Und mich kleinen Sklaven des Feldes und großen Ignoranten schulischer Aufgaben schaute Elvis jetzt an.

Elvis Presley. Eine Erscheinung wie von einem anderen Stern: rote Samthose, rot-weißes Satinhemd – weiße Gitarre.

Ich las den Filmtitel auf dem herrlichen Plakat:

Gold aus heisser Kehle

Welch eine Poesie – welch ein Traum!

Gold aus heisser (jawohl, mit Doppel-s!) Kehle

Das musste ich sehen – ich musste in diesen Film. Oh Gott – aber ich musste doch auch in dein Haus zum Dienen. Die Schäfchen konnten doch gar nicht ohne mich anfangen. Und ich hatte doch auch gar kein Geld für das Kino.

Zum Glück hatte sich an diesem Abend die Platzanweiserin des ehrwürdigen Kinopalastes auch für etwas anderes entschieden. Vielleicht hatte sie sogar einen Kirchgang vorgezogen und wartete nun mit den anderen Schäfchen auf den Herrn Pfarrer und auf mich.

Jedenfalls war sie nicht da und ich konnte mich während des Vorfilms unbemerkt durch den Notausgang in die letzte Reihe der Fürstenberg-Lichtspiele schleichen.

Dann ging es los! Es war unbeschreiblich. So etwas hatte ich bisher noch nie gesehen – wo auch, – und noch nie gehört – wie auch! Elvis sprach sogar Deutsch. Und wie er sang und wie er sich bewegte. Meine Tränen des Glücks und der Freude ließen immer wieder für Sekunden die Bilder auf der Leinwand verschwimmen. Und all die wunderschönen Frauen, die nur ihn wollten. Und wie er den bösen Fiesling verprügelte.

Es war um mich geschehen.

Jetzt hatte ich endlich einen Gott. Zwar von dieser Welt – aber trotzdem wie aus einer anderen Galaxis.

Oh Elvis Presley – wie wunderbar war seine Musik! Wie wundervoll konnte er tanzen. Wie wunderschön war seine Gitarre. Und welch ein Wunderwerk war seine Frisur mit dieser tollen Tolle.

Ich wollte, dass der Film niemals aufhören mochte. Doch nach neunzig Minuten war Schluss. Es waren die schönsten neunzig Minuten meines bisherigen Lebens. Aber ohne Rücksicht auf meinen Willen und auf meine Gefühle erschien der Nachspann auf der Leinwand, und bevor das Zuschauerlicht den Kinosaal wieder erhellte und die Besucher gänzlich aus ihren Träumen riss, verschwand ich mit schnellen leisen Schritten durch den Notausgang in den späten und dunklen Abend.

Elvis hatte am Schluss des Films nach einigen Umwegen seine Liebe gefunden und ich war voll unendlicher Glücksgefühle.

Danke – Elvis. Danke – mein Gott.

Ich radelte im Rhythmus des Rock ’n’ Roll nach Hause. Ich sang, und mein Dynamo klang mit seinem sonoren Summen wie The Jordanaires, die Backgroundsänger von Elvis, und meine kleine Fahrradlampe, die mir dürftig die holprigen Straßen erhellte, war mein Bühnenlicht, meine Erleuchtung!

In my dreams the lights

Shine bright and pretty

Near to me and yet so far –

Will I always be a lonesome cowboy

Am I only reaching for a star?

Dann wurde es düster. Ich war dort angekommen, wo ich eigentlich nicht hinwollte, aber hinmusste: bei meinem Zuhause im Dorf der

sechshundert dunklen Seelen.

Kein Licht war in einem der Fenster des Sandsteinbaus zu sehen. Die Eingangstür war abgeschlossen, und da ich bisher nicht für würdig befunden wurde, mit einem Schlüssel für das edle Gemäuer umgehen zu dürfen, musste ich klopfen. Es dauerte eine Weile, bis meine Mutter die Tür öffnete. In eine farblose Schrecklichkeit von Nachthemd gehüllt und mit wirrem Haar trat sie auf die Eingangstreppe hinaus.

Normalerweise war ich nach der Abendmesse so gegen halb neun zuhause. Jetzt war es nach halb elf und sie stand auf der Treppe vor mir und ich sang. Ich konnte nicht anders – ich musste tanzen und ich musste singen.

I got a woman mean as she can be

I got a woman mean as she can be

Das Nachthemd mit dem wirren Haar legte los:

„Wo warst du Sau so lange?“

Was sollte ich ihr antworten?

„Ich war in der Kirche.“

Sometimes I think

She’s almost mean as me

„Lüg nicht, du Drecksau.“ Und schon holte sie zu ihrem täglichen Ritual aus: Schläge auf den Kopf, zwischen die Beine und wo auch immer sie hintraf. Schläge waren mein täglich Brot. Meistens wusste ich nicht mal, warum. Vielleicht war ihr täglich Brot, mich zu schlagen. Aber sehr wahrscheinlich war ich ja selber an allem schuld. Schließlich betete ich ja, zwar gezwungenermaßen, aber doch mindestens drei Mal am Tag: ... unser täglich Brot gib uns heute ...

Bisher hatte ich es nicht gewagt, auch nur kleinste Ausweich- und Abwehrbewegungen zu machen. Immer still gestanden und die Schläge genommen, so wie sie kamen.

Heute nicht!

Die erste Rechte kam und ich wich locker aus.

I feel it in my leg

I feel it in my shoe

Die Linke kam – kein Problem, meine Reflexe waren hervorragend.

Tell me pretty baby

If you think you feel it too

„Bleib endlich stehen, du gottverdammter Bankert. Du warst doch niemals in der Kirche.“

„Doch.“

Ich bewegte mich im Rhythmus und imitierte das Schulterzucken von Elvis.

Let’s have a party

Uuuu

Let’s have a party

„Hör auf mit der Dreckssingerei – und bleib stehen. Wo warst du Sauhund?“

Sie versuchte mich beidhändig zu erwischen – keine Chance, der kleine Engel war geschickt und geschmeidig. Sie sollte mich nicht mehr hauen – nie mehr!

„Ich war in der Kirche.“

Got a lot o’ livin’ to do

Got a lot o’ lovin’ to do

„Du gottverdammtes Schwein.“

Come on baby

To make it fun it takes two

Ja, zum Spaßhaben braucht es zwei. Und zum Schlagen auch. Einer, der schlägt, und einer, der sich schlagen lässt!

„Du Missgeburt warst niemals in der Kirche. Wie hieß die Predigt heute Abend?“

Jetzt halfen auch keine schnellen Reflexe mehr; eine Antwort musste her.

Was sollte ich sagen? Ich hatte doch keine Ahnung, unter welches Motto seine Herrlichkeit Hochwürden an diesem Abend die unumstößlichen Wahrheiten gestellt hatte.

Oh baby let me be

You’r lovin’ teddy bear

Nein, nein – das ging doch nicht. Ich überlegte – was sollte ich sagen? Ich sah wieder das wunderschöne Filmplakat vor mir, und beinahe hätte ich gesagt: Gold aus heißer Kehle. Ich konnte es gerade noch im Ansatz stoppen.

Lieber Gott, was soll ich denn sagen?

Meine Neu-Erleuchtung trug erste Früchte: „Gott aus heißer Kehle.“

Ich konnte es nicht fassen, wie mir das so schnell in den Sinn gekommen war: Gott aus heißer Kehle. Sie schien leicht verblüfft und grübelte kurz. Dann sagte sie: „So ein Blödsinn!“

Aber es schien sie doch etwas zu beruhigen.

„Gott aus heißer Kehle – so ein blöder Blödsinn“, murmelte sie. „Bald elf Uhr. Morgen kriegst du den ganzen Tag nichts zu essen. Komm jetzt rein!“

Sie versuchte nochmal, einen Schwinger anzubringen, aber auch der ging ins Leere, und blitzschnell war ich an ihr vorbei und lief tanzend und singend die Treppen zu meinem Zimmer hinauf.

Ich würde mich nie mehr von ihr schlagen lassen. Und Herr Pfarrer und die gläubigen Schäfchen würden mich nie mehr im Ministrantenröckchen sehen.

In diesem Moment tauschte ich das Röckchen gegen den Rock und den Roll.

Some people like to rock

Some people like to roll

But moovin’ and a groovin’

Gone satisfy my soul

Ja: Let’s have a party!

Und – Elvis: I’ll always be Loving You.

***

Kapitel 5

LA PALOMA, VON DORF ZU DORF ‒ VON KRUG ZU KRUG

…bach, …born, …heim, …hain, …au, …burg, …tal, …hausen, so endeten die meisten Dorfnamen in meiner Frühzeit-Umgebung. Einige hatten sogar die bezaubernde Endung …gesäß. Grundlos?

Manche Dörfer lagen nur einen Kilometer von der nächsten Menschenansiedlung entfernt, und trotzdem waren die dort jeweils gesprochenen „Sprachen“ doch sehr unterschiedlich. Alle Dialekte hatten allerdings eines gemeinsam: Sie waren unglaublich roh und unverständlich.

Und es gab noch eine Gemeinsamkeit. In jeder dieser Ortschaften, am Gesäß der Welt, gab es mindestens eine Gaststätte (dort hieß es Wirtshaus) mit dem Namen Zum Dorfkrug.

*

Es war ein Samstag. Noch am Morgen.

Wie immer am sechsten Tag der Woche war ich zu der entwürdigenden Tätigkeit des Straßenkehrens verurteilt.

Die freundliche Aufforderung von meiner Mutter lautete jedes Mal in etwa: „Du Drecksau, kehr