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Ein verirrter Wal, rätselhafte Giftmorde und eine Hallig im Frühlingserwachen Der nordfriesische Februar ist rau, aber hier und da blühen im grünen Halliggras die ersten Schneeglöckchen. Während Kommissarin Minke van Hoorn mit einem verirrten Pottwal vor der Küste beschäftigt ist, geschieht auf Hallig Midsand Unerklärliches: Die Chorleiterin Hanni Krüdener bricht nach dem Kirchenkaffee zusammen und stirbt. Minkes Bruder Bo, eigentlich Rechtsmediziner in Kiel und nach einem Sportunfall gelangweilter Patient auf dem Familiensofa, stellt bald fest: Hannis Tod war kein Unfall. Während der Küstenwind weht und der Wal um die Halligen kreist, muss Minke sich beeilen, denn der Giftmörder hat schon sein nächstes Opfer im Visier ...
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Halliggift
GRETA HENNING ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Sie mag die Nordsee bei jedem Wetter, Wattwanderungen und Krabbenbrötchen – gute Voraussetzungen, um einen Nordseekrimi zu schreiben. Besonders die Welt der friesischen Halligen hat es ihr angetan.
»Es war nicht schlimm. Merkwürdigerweise war es sogar beinahe schön. Sie dachte an das Dunkle. Das, was sie sich endlich von der Seele geredet hatte – keine Minute zu früh, wie sie nun feststellte. Jetzt, wo sie auf dem Boden lag, war sie dankbar darum. Es war gut, dass sie darüber gesprochen hatte. Nun konnte sie es vielleicht endgültig loslassen. Und all der Druck, all der Kampf der letzten Jahre fand hier auf dem Küchenboden ein Ende. Es war, das stellte sie in ihren letzten Augenblicken fest, beinahe schön.«Ein rätselhafter Todesfall erschüttert die nordfriesischen Halligen. Die »Mutter Teresa von Midsand«, Hanni Krüdener, wurde vergiftet. Niemand kann sich erklären, wer ein Motiv haben sollte, der beliebten älteren Dame etwas anzutun. Während die Vorbereitungen für das traditionelle Biikebrennen auf Hochtouren laufen, jagt Minke einen rätselhaften Mörder, der keine Spuren zu hinterlassen scheint.
Greta Henning
Ein Nordseekrimi
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Mai 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2938-3
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Liebes Tagebuch,
Kapitel 1
Liebes Tagebuch,
Kapitel 2
Liebes Tagebuch,
Kapitel 3
Liebes Tagebuch,
Kapitel 4
Liebes Tagebuch,
Kapitel 5
Liebes Tagebuch,
Kapitel 6
Liebes Tagebuch,
Kapitel 7
Liebes Tagebuch,
Kapitel 8
Liebes Tagebuch,
Kapitel 9
Liebes Tagebuch,
Kapitel 10
Liebes Tagebuch,
Kapitel 11
Liebes Tagebuch,
Kapitel 12
Liebes Tagebuch,
Kapitel 13
Liebes Tagebuch,
Kapitel 14
Epilog
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Liebes Tagebuch,
Liebes Tagebuch,
heute ist Silvester, ein guter Tag, um ein Tagebuch anzufangen. Unten höre ich, wie Mama und Papa das Essen vorbereiten. Es gibt Fondue wie jedes Jahr. Ich sitze hier oben am Fenster und sehe hinaus ins Dunkel. Die Lichter der Stadt funkeln. Die meisten aus meiner Klasse sind jetzt wohl auf der Party. Ob ich etwas verpasse? Ich glaube, nicht. Unten singt Anna irgendein selbst erfundenes Lied. Mama sagt, wenn sie alt genug ist, kann sie wie ich in den Chor. Jonas spielt nebenan mit Bauklötzen. Ab und zu fällt ein Stapel um, und ich höre ihn schimpfen.
Im Wetterbericht heißt es, es soll bald schneien. Ich hoffe, noch in den Weihnachtsferien. Meine letzten Weihnachtsferien – nächstes Jahr studiere ich schon, Medizin in Berlin. Unten ruft Mama, es gibt Essen. Ich schreibe morgen weiter.
»Ein Pottwal …« Minke van Hoorn balancierte geübt auf dem winzigen Motorboot und hielt dabei das Fernglas an die Augen. »Eigentlich ziemlich unwahrscheinlich. Sie verirren sich selten hierher, und wir hatten seit Jahren keinen mehr vor der Küste.«
»Was glaubst du dann, was es ist?« Die hübsche, zierliche Frau neben ihr, mit einem schwarzen Pagenkopf und einer weißen Daunenjacke, sah ebenfalls aufs Meer hinaus.
»Ich weiß es nicht, Kajsa. Vielleicht ein anderer Wal. Oder gar kein Wal – vielleicht haben sich die Fischer, die ihn bei der Küstenwache gemeldet haben, auch einfach vertan. So etwas kommt vor.«
Kajsa lachte. »Du meinst, so wie bei Loch Ness?«
Die Nordsee lag an diesem Nachmittag Mitte Februar blaugrau und winterschwer vor ihnen. Der Himmel war bewölkt, die letzten Tage hatte es geregnet. Nun war es immerhin trocken, aber der Wind wehte den beiden Frauen eisig ins Gesicht und ließ Minkes langen weißblonden Pferdeschwanz flattern. Sie war froh über ihre Jeans und die winddichte Funktionsjacke. Am Morgen hatte die Leiterin der Küstenwache sie in ihrem Büro in der Jüsteringer Polizeistation angerufen und gemeldet, dass zwei Fischer einen Pottwal vor der Küste der Stadt gesehen haben wollten. »Ich weiß, du bist jetzt Kommissarin«, hatte Ulla am Telefon gesagt. »Aber du bist auch die einzige Meeresbiologin, die wir haben. Ex-Meeresbiologin, meinetwegen. Könntest du mal gucken?«
Ein paar Möwen kreischten über Minke, und sie legte den Kopf in den Nacken. Die weiß-grauen Lachmöwen kreisten über ihrem Boot, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass es hier irgendetwas für sie zu stibitzen gab. Sie hatte sich von Ulla nicht lange bitten lassen. Erstens weil es in der Polizeistation sowieso seit Wochen kaum etwas zu tun gab. Es schien sogar den Dieben, Schmugglern oder sonstigen Störenfrieden zu kalt zu sein, um vor die Tür zu gehen. Zweitens aber auch, weil sie es liebte, auf dem Wasser unterwegs zu sein. Selbst an solchen Tagen wie jetzt, wo der kalte Wind in den Ohren rauschte und einem die Gischt ins Gesicht blies. »Vermisst du es eigentlich manchmal?«, fragte Kajsa, als hätte sie Minkes Gedanken gelesen. »Dein altes Leben, vor der Polizei. Auf Forschungsschiffen irgendwo im Eismeer unterwegs zu sein, das stelle ich mir aufregend vor.«»Aufregender, als Kommissarin zu sein?« Minke grinste. »Ich mag beides.«Sie sah zurück zum Land. Jüstering lag dort friedlich im Nachmittagslicht. Die hohe Backsteinkirche mit dem spitzen Kirchturm war gut von hier aus zu sehen, genauso wie der breite Stadtstrand und das elegante alte Strandhotel mit seiner weißen Zuckerbäckerfassade. Im Norden erhoben sich die Steilklippen und davor der alte Leuchtturm auf seiner kleinen Felseninsel – das beliebteste Postkartenmotiv der Stadt, das im Sommer die Urlaubsgäste zu Tausenden nach Hause verschickten. Vor Jüstering ragten außerdem zwei Halligen aus dem graublauen Wasser, wie zwei unterschiedlich große, leuchtend grüne Hügel: die winzig kleine Hallig Nekpen und die größere Hallig Midsand, auf der Minke aufgewachsen war und wo sie jetzt wieder lebte, seit sie als Kommissarin von Jüstering zurückgekommen war.
»Da!«, rief Kajsa plötzlich und zeigte aufgeregt auf einen Punkt vor ihnen im Wasser. »Ist da draußen nicht was?«
Minkes Blick folgte Kajsas ausgestrecktem Finger. Tatsächlich war da eine auffällige Wellenform ein paar Hundert Meter vor ihnen. Sie beobachtete die Stelle ein paar Augenblicke. »Nein«, sagte sie dann, »da ist nur eine Unterströmung.«
Kajsa lachte. »Tut mir leid. Ich kenne mich mit Hamsterschnupfen und Hundezahnstein aus; vom Meer habe ich wenig Ahnung.« Kajsa war Tierärztin und mit Minke zur Schule gegangen. Normalerweise begegneten sie sich nur noch, wenn Minke ihren Kater zum Impfen brachte. »Es war trotzdem nett, dass du mitgekommen bist«, stellte Minke fest. »Vier Augen sehen immer mehr als zwei.«
»Ja, zum Beispiel merkwürdige Wellen«, gab Kajsa zurück und schnitt eine Grimasse. »David hätte dir wahrscheinlich deutlich mehr genützt.«
David Holt war der Leiter der städtischen Seehundstation und Minkes Freund. Sie hatte ihn bei ihrem allerersten Fall kennengelernt, und die beiden waren seitdem, wie Minkes Zwillingsbruder Bo es gerne ausdrückte, ›beinahe ekelhaft glücklich‹. David liebte wie Minke die Nordsee. »Ja, aber er hat gerade so viel um die Ohren. In der Seehundstation gibt es viel zu tun, und dieses Jahr hilft er auch noch bei den Vorbereitungen fürs Biikebrennen mit.«
»Dass wir das immer noch machen …« Kajsa sah hinaus aufs Meer. »Dieses archaische Riesenfeuer auf den Klippen wie in grauer Vorzeit, um den Winter zu vertreiben.«
Minke ließ das Fernglas sinken und lachte. »Wenn du es so sagst, klingt es ja grauenhaft. Dabei liebe ich den Abend! Ich glaube, das Biikebrennen ist mein Lieblingstag im ganzen Jahr.« Sie machte ein schwärmerisches Gesicht. »Das große Feuer in der Dunkelheit dort oben, die Funken, die in die Nacht fliegen, alle sind versammelt, Hannis Kinderchor singt, und dann gibt es den leckeren Biike-Grog …«
»Ich trinke nicht.«
»Das macht nichts, es ist auch ohne Punsch toll.« Minke hielt sich das Fernglas wieder an die Augen. »Ich war schon als Kind verrückt nach dem Biikefeuer. Einmal habe ich dem Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein einen Brief geschrieben und gefordert, dass wir an dem Tag schulfrei kriegen sollten.«
Kajsa prustete los. »Und das hat nicht geklappt?«
»Komischerweise nicht. – Moment!« Minke hatte plötzliche im Augenwinkel eine Bewegung auf dem Wasser wahrgenommen, links vom Boot, beinahe auf der Höhe von Nekpen. »Das war keine Welle!«
Beide starrten wie gebannt auf den Punkt. Ein paar Sekunden passierte nichts. Dann aber wurde die Meeresoberfläche von einem dunkelgrauen Etwas und einer prustenden, meterhohen Fontäne durchbrochen. Im nächsten Moment war das Wasser wieder ruhig, als wäre nichts passiert.
Kajsa sah Minke mit weit aufgerissenen Augen an. »Sag bloß, das war …?!«
» … ein Pottwal!«
»Und du bist sicher, dass du nicht mitkommen willst? Du sollst doch die Fotos machen.«
»Ich will schon, ich kann nur nicht.« Sarah lag auf dem Sofa in ihrem Haus auf Midsand und schob sich das dritte Hustenbonbon des Nachmittags in den Mund. »Und die Fotos kann auch jemand anderes übernehmen. Mich hat es eben wirklich erwischt – Februar ist Erkältungszeit.«
»Aber – Leas Auftritt …!« Johannes sah seine Frau vorwurfsvoll an.
»Den sollte ich wohl nicht mit meinem Gehuste stören, oder? Und sie wird bestimmt auch ohne Mama im Publikum eine tolle Krake abgeben.«
Sarahs Mann schüttelte den Kopf. »Diese Rolle ist eine Schande. Ich werde das Hanni heute noch einmal sehr deutlich sagen. Am besten melde ich Lea von der Theatergruppe ab. Sie verschwendet da nur ihr Talent.«
»Großer Gott!« Sarah seufzte und platzierte den feuchten Lappen auf ihrer Stirn neu. »Das ist doch einfach Hannis Kindertheatergruppe, die ein nettes kleines Stück aufführt. Es ist nicht der Broadway. Und Lea ist völlig zufrieden als Krake.«
»Unsinn, sie hätte die Hauptrolle bekommen sollen. Die Fischersfrau hat eine Menge zu singen, da hätte sie ihr Talent allen beweisen können – allen voran Hanni, die einfach nicht einsehen will, dass man Kinder manchmal einfach fordern muss, ein bisschen schubsen, damit sie ihr Potenzial entfalten.« Er hielt mit spitzen Fingern das liebevoll gebastelte Krakenkostüm in die Luft.
»Johannes.« Sarah lugte entnervt unter dem Lappen hervor und betrachtete ihren mit beigen Cordhosen und einem etwas altmodischen Pullunder bekleideten Ehemann. »Versprich mir, dass du nicht noch einmal eine Szene machst. Dass du Lea den Nachmittag nicht verdirbst! Und dass du sie am Kuchenbuffet von allem fernhältst, was Erdnüsse beinhalten könnte.«
Er antwortete nicht, weil Lea in diesem Moment summend die Treppe hinunterhüpfte. Sie nahm ihm das Krakenkostüm ab und schlüpfte vergnügt hinein.
»Viel Spaß, mein Schatz!«, rief Sarah und hustete wieder. »Nimm diesen Grinch dort mit und hab einen schönen Nachmittag.«Lea warf ihrer Mutter eine Kusshand zu, dann nahm sie ihren Vater, der immer noch eine versteinerte Miene zur Schau stellte, an der Hand und zog mit ihm los.
»Hm … oder vielleicht eher ein helles Träublesrot?« Lisa Röhrle, Minkes Assistentin, hielt in der Jüsteringer Polizeistation probehalber ein zart johannisbeerrotes Farbmuster an die Flurwand. »Ja, des wär auf jeden Fall auch hübsch!«
Dass Minke heute Nachmittag unvorhergesehen freigenommen hatte und draußen auf dem Meer war, machte ihr nichts aus – im Gegenteil, damit hatte sie endlich Gelegenheit, die Wandfarbenmuster, die sie schon vor ein paar Tagen bestellt hatte, zu begutachten. Sie wusste, dass ihr Projekt ehrgeizig war – Minke davon zu überzeugen, endlich das scheußliche Sechzigerjahre-Schlammgrün überstreichen zu lassen, würde ein ganzes Stück Arbeit werden. Aber es war nun schon ein Jahr her, seit sie sich von Stuttgart hierher hatte versetzen lassen, und Lisa fand, dass ein Jahr in dieser tristen, heruntergekommenen Polizeistation wirklich genug war. Sie blätterte weiter zu einem pastelligen Mint.
Die Stadt hatte das Haus, in dem die Polizei untergebracht war, irgendwann in der Wirtschaftswunderzeit einem ehemaligen Fischhändler abgekauft. Über dem Eingang prangte ein steinerner Fisch neben dem blau-weißen Polizei-Leuchtschild, und noch immer roch es in den alten Gewölbekellern unter den Büros, in denen heute die Akten der letzten fünfzig Jahre Jüsteringer Polizeigeschichte vor sich hinstaubten, nach sauren Heringen. »Aber man könntʼ halt auch mal ein bissle was aufhübschen«, murmelte Lisa. »Nur net, wenn man Minke van Hoorn heißt.«
Frustriert sah sie zu Minkes offener Bürotür hinüber. Während Lisa schon ein paar Tage nach Dienstantritt ihr Büro mit Fotos der schwäbischen Familie und Freunde, bunten Kinderzeichnungen von Nichten und Neffen, Urlaubsmitbringseln und einer Menge Topfpflanzen auf der Fensterbank verschönert hatte, sah Minkes noch genau so trist aus, wie sie es von ihrem Vater übernommen hatte. Vater und Tochter hatten ganz offensichtlich nichts für Farben, Dekoration und Pflanzen übrig; Minke war zufrieden mit dem abgenutzten Furnierschreibtisch, den grauen Büroordnern in den Regalen und den kahlen Wänden, an denen lediglich ein einziger Zeitungssausschnitt mit langsam gelb werdenden Klebestreifen hing. Darauf zu sehen war ein grobkörniges Schwarz-Weiß-Bild von Michael van Hoorn irgendwann in den Achtzigerjahren an genau demselben Schreibtisch, der immer noch dort stand. Genauso gleichgültig war Minke, was die abblätternde Wandfarbe, den welligen Linoleumboden oder das Sammelsurium uralter Kaffeebecher in der kleinen Teeküche anging. Lisa seufzte. Sie hatte bereits einiges versucht: Minke Topfpflanzen mitgebracht, die dann auf ihrer Fensterbank vertrockneten. Ihr einen pinken Tacker in Katzenform geschenkt, der gleich in irgendeiner Schreibtischschublade verschwunden war. »Aber wie wärʼs wenigschtens mit ein paar Fotos?«, hatte sie erst letzte Woche verzweifelt gefragt. »Schön in einem bunten Rähmle – da sähʼs doch gleich ganz anders aus. Vielleicht ein Bild von David? Oder von Imma und Bo?«
Minke hatte nur unbeeindruckt aufgesehen. »Aber ich weiß doch schon, wie mein Freund, meine Mutter und mein Bruder aussehen.«
»Total unromantisch.« Lisa faltete schwungvoll die Farbmuster wieder zusammen. »Als würdʼ sie ein Foto oder ein Topfpflänzle hier und da umbringen.«
Sie ging hinüber an den Schreibtisch, rief ihre E-Mails auf und sah zufrieden, dass die bunten Kaffeebecher laut Paketdienst schon unterwegs waren. Manche musste man einfach zu ihrem Glück zwingen.
»Bäh!« Bo van Hoorn starrte unglücklich den trockenen runden Keks an, der so hart war, dass man kaum davon abbeißen konnte. Knerken, das traditionelle Halliggebäck, das seine Mutter und seine Schwester so gern aßen und er noch nie gemocht hatte. Er legte den angebissenen Keks auf den Wohnzimmertisch und schob ihn mit dem Zeigefinger weit von sich. Dann lag er einfach nur da und sah frustriert an die Zimmerdecke. Vor einer Woche noch war er die pulvrigen Skipisten von Berchtesgaden hinuntergesaust und hatte die Abende in seinem sündhaft teuren Berghotel mit Sterneküche verbracht. Nach dem Abendessen war er beinahe jedes Mal mit einem Glas Gin in der Hand im plüschig-roten Hotelkino eingenickt, das mit einem Augenzwinkern ausschließlich bayrische Heimatfilmklassiker zeigte.
Und jetzt? Missmutig sah er an sich hinunter. Jetzt trug er den alten ballonseidenen Jogginganzug seines Vaters und lag auf der Couch seiner Mutter, beide Beine in Schienen eingezurrt und einen Rollstuhl neben sich. Wieder und wieder spulte er im Kopf zu dem Moment zurück, in dem er auf einer vereisten Stelle der Piste die Kontrolle über seine Skier verloren hatte. Er fühlte noch, wie seine Beine wegrutschten und er unsanft landete – dann war alles schwarz.
»Herr van Hoorn, Herr van Hoorn? Hören Sie mich?« Eine Hand hatte ihm eher unsanft die Wange getätschelt, das war seine nächste Erinnerung. »Sie sind in der Klinik Berchtesgaden. Keine Sorge, Ihre Beine werden wieder.« Wie durch einen Nebel hatte er gespürt, wie sich jemand an seinen Unterschenkeln zu schaffen machte – erst rechts, dann links. Es tat nicht wirklich weh, aber es fühlte sich merkwürdig an. »Herr van Hoorn? Wen sollen wir informieren?«
»Meine Mutter«, hatte er gemurmelt, ohne darüber nachzudenken.
»In Ordnung.«
Im nächsten Moment war er hellwach, aber da war es schon zu spät gewesen. Die Berchtesgadener Ärztin, mit seinem Smartphone in der Hand, hatte in der Kontaktliste offensichtlich schon »Mama« aufgerufen und wählte. »Nein …!«, hatte er zu protestieren versucht, aber sie lächelte ihm nur verbindlich zu und meldete sich dann. »Ja, hier Doktor Huber, Frau van Hoorn, Ihr Sohn will Sie sprechen.«
»Nein!«, protestierte er nun lauter, aber sie hielt ihm unerbittlich das Telefon entgegen. Schicksalsergeben nahm er es. »Hallo, Mama.«
»Aber du kannst doch unmöglich so hilflos und allein in deiner Wohnung sein, Bo«, hatte Imma natürlich insistiert.
»Hilflos und allein? Ich wohne in der Kieler Innenstadt. Hundert Quadratmeter mit Aufzug. Mein Sushilieferant kommt auch noch nach Mitternacht. Und abgesehen davon: Ich bin selber Arzt.«
»Du bist Rechtsmediziner, Schatz. Das ist kein richtiger Arzt.«
»Mama …«
Die Ärztin an seinem Krankenbett hatte gegrinst.
»Papperlapapp, du lässt dich auf jeden Fall vom Krankentransport zu mir nach Midsand bringen. Gute Nordseeluft, die Ruhe auf der Hallig, mütterliche Pflege – du wirst sehen, es gibt nichts Besseres, um wieder fit zu werden. Übrigens: Wie in aller Welt hast du es eigentlich geschafft, gleich beide Beine zu lädieren? Ist das nicht ziemlich ungewöhnlich?«
Bo starrte wieder zu dem trockenen Keks. Ruhe auf der Hallig, er schnaubte. Er langweilte sich schrecklich. Seit er denken konnte, hatte er es kaum erwarten können, von der Hallig, auf der er aufgewachsen war, zu flüchten. Matschig-kaltes Watt, Salzwiesen und ein paar Schafe – was gab es hier sonst noch? Friesische Provinz, Leute, die Labskaus für ein kulinarisches Highlight hielten, und ständig schlechtes Wetter. Wütend wischte er den Keks vom Tisch. Er war nicht überrascht, dass dieser den Sturz auf den Boden völlig unbeschadet überstand.
Auch der alte Leuchtturmwärter verbrachte einen langweiligen Nachmittag in der eleganten Seniorenresidenz, in der er seit einiger Zeit lebte. Er hörte draußen die Schritte der vorbeieilenden Pflegerinnen. Mittlerweile erkannte er jede einzelne der Schwestern an der Art, wie sie auf den weichen Teppichen gingen, mit denen hier alle Flure ausgelegt waren. Schwester Monika zum Beispiel schleifte ein bisschen mit dem rechten Fuß, das war leicht herauszuhören. Schwester Corinne trippelte in kurzen, kleinen Schrittchen, die ihn immer an eine Maus erinnerten. Und Schwester Nathalie stampfte mit den Fersen auf, was man ihr bei ihrer schmächtigen Figur gar nicht zugetraut hätte.
Der alte Mann saß in seinem Sessel, zufrieden und ruhig, und sah aufs Meer hinaus. Er hatte, als er hier eingezogen war, auf ein Zimmer mit Meerblick bestanden und anstandslos den Aufpreis dafür bezahlt. Sein ganzes Leben lang hatte er das Meer gesehen, damit wollte er jetzt, im Ruhestand, nicht aufhören. Seine Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Woran sollte man auch denken, wenn man so alt war wie er? Er war nicht irgendjemand gewesen, er war der letzte – der allerletzte – Leuchtturmwärter von Friesland. Den Großteil seines Lebens hatte er im Leuchtturm vor den Steilklippen von Jüstering verbracht. Wenn er die Augen schloss, konnte er noch genau die kleine Wohnung vor sich sehen, in der er dort hoch oben und einsam gehaust hatte, Tag und Nacht – zumindest bei Flut – das Rauschen der Wellen in den Ohren. Die Nordsee, das war sein Leben gewesen. Er hatte den Schiffen den Weg geleuchtet, so wie das früher auch gewesen war. Nach ihm hatte dann auch Jüstering als letzte friesische Stadt eine elektrische Leuchtanlage einbauen lassen; die Zeiten der Leuchtturmwärter waren endgültig vorbei.
Dabei waren sie früher so wichtig gewesen, diese Leuchtfeuer. Der alte Mann sah auf den Wandkalender, den das Seniorenheim jedem Bewohner zu Beginn des Jahres spendiert hatte. Unter dem reichlich klischeehaften Foto einer Möwe am Wolkenhimmel reihten sich die Tage des Februars aneinander. Der 21. war dort mit Filzstift eingekreist, das hatte er selbst gemacht. Der 21. Februar, das Biikebrennen. Auch die riesigen Feuer, die in dieser Nacht überall an der friesischen Küste entzündet wurden, waren früher Leuchtfeuer gewesen. Sie hatten den Männern, die an diesem Tag ausliefen, um monatelang Wale zu fangen, den Weg geleuchtet. Nicht alle von ihnen waren wieder nach Hause zurückgekehrt – nicht, dass das etwas Besonderes gewesen wäre. Mit der Gefahr, die das Meer eben war, hatte man damals gelebt. Das war alles furchtbar lange her. Aber die Biikefeuer leuchteten immer noch, immer am 21. Februar. Der alte Mann betrachtete das eingekreiste Datum. Er schluckte. Nicht ohne Grund hatte er dort schwarzen Filzstift benutzt.
»David! Stell dir vor, es ist wirklich ein Pottwal!« Minke presste ihr Handy etwas fester ans Ohr, um trotz des Seewindes etwas zu verstehen. »Ja, ganz sicher. Wir müssen auf jeden Fall verhindern, dass er strandet. Hast du Zeit, um heute Nachmittag noch rauszukommen und es dir anzusehen?« Sie lauschte kurz. »Okay, na gut – dann bis heute Abend. Bei mir, ich koche was. Ja, ich dich auch.«
»Oooooh«, machte Kajsa und grinste, als Minke auflegte. »Ihr seid wirklich süß, bei euch kann man ganz neidisch werden.«
»Danke«, Minke lächelte. »Wir haben wohl einfach wirklich Glück gehabt. Und wie ist es bei dir? Gibt es gerade jemanden?«
»Du meinst, abgesehen von Wellensittichen und Katzen?«
Kurz huschte ein Schatten über Kajsas fein gezeichnetes Gesicht. »Nein. Ich meine … da wäre vielleicht schon jemand. Er muss es nur kapieren.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Ach, lass uns nicht darüber reden. Heute ist nur der Wal wichtig, oder? Er ist übrigens schon ziemlich lange unten.«
»Pottwale jagen normalerweise Kraken in der Tiefsee. Die Wale können lange die Luft anhalten.«
Kajsa beugte sich ein wenig über die Reling und sah hinunter in das winterdunkle Wasser. »Ein merkwürdiges Gefühl«, sagte sie. »Ich meine, dass dort unten irgendwo so ein riesiges Tier schwimmt und – Oh Gott!« Im nächsten Moment schrie sie auf und stolperte erschrocken zurück. Ihre Hand klammerte sich um Minkes Arm. Eine riesige dunkelgraue Schwanzflosse ragte plötzlich direkt neben dem Boot aus dem Wasser. Mit einem lauten Knall schlug sie auf die Meeresoberfläche; salzig kalte Tropfen regneten auf die beiden Frauen herab, das Boot schaukelte. »Wow!«, hauchte Kajsa.
»Nordsee«, seufzte Minke verliebt.
Liebes Tagebuch,
nun habe ich doch nicht gleich geschrieben. Mittlerweile ist das neue Jahr vier Tage alt. Es hat tatsächlich an Neujahr geschneit, und dann kam der Frost. Die Siele durch die Wiesen sind jetzt alle zugefroren, und heute konnten wir darauf schon Schlittschuh fahren. Ich liebe es, wenn man so durch die Welt gleitet und die Luft eisig ist. Jonas hat noch Angst auf dem Eis, aber Anna lernt schnell, und sie war so süß, wie sie mit roten Bäckchen die ersten Schleifen gedreht hat.
Heute Abend war ich mit Svenja und Nathalie im Kino, in einem Liebesfilm. Es war so eine richtig romantische Geschichte mit einem Paar, das sich am Ende natürlich kriegt, und alles ist toll. Ein Kuss in Großaufnahme zum Schluss, und Svenja hat vor Rührung geweint. Ob ich so etwas auch einmal erleben werde, frage ich mich? Bisher war ich noch nie verliebt, und geküsst habe ich einen Jungen auch noch nie. Ich will das erst, wenn es der Richtige ist, die ganz, ganz große Liebe.
»Der Frühling kommt / der Winter gehtauf den steilen Klippen die Fischersfrau stehtSie sieht hinaus aufs weite Meer /das Feuer brennt, ihr Herz ist schwer.«
Das kleine Mädchen mit dem perfekt genähten, altertümlich wirkenden Kleid und einer blütenweißen Haube auf dem Kopf holte emsig Luft, um den nächsten Vers aufzusagen, stockte dann aber. Hilfe suchend fand ihr Blick die Frau in der vordersten Reihe, die ihr aufmunternd zulächelte. Hanni Krüdener, in einem Faltenrock und mit Haarklammern zurückgesteckten grauen Löckchen, hielt den Text auf den Knien und formte mit den Lippen lautlos den Anfang der nächsten Zeile. »Ihr Mann wird fahren weit hinaus …«
Das Gesicht des Mädchens hellte sich auf.
»Am Biikebrennen fahren die Männer weit hinaus«,
posaunte nun die kleine Fischersfrau mit neuem Selbstbewusstsein heraus. »Mit Glück werden sie bringen einen Wal nach Haus.«
Auf Hannis Wink hin hüpfte ein Junge in einem riesigen, blaugrau bemalten Pappmascheekostüm in Form eines Wals auf die Bühne. Die Sonne fiel in diesem Moment durch die alten Kirchenfenster und tauchte die Bühne in goldenes Licht. Ein begeistertes Raunen ging durch die Menge, und die Eltern schossen eifrig Fotos. Währenddessen paddelte der Pappmascheewal vergnügt mit ausholenden Schwimmbewegungen um die Fischersfrau herum. Geert, der seit ein paar Monaten bei Hannis Kindertheatertruppe assistierte, stellte drei Kinder in silbrigen Makrelenkostümen auf, die nun gemeinsam mit der Fischersfrau ein Lied über das spannende Leben der Wale sangen, während Hanni Gitarre dazu spielte. Als das Lied zu Ende war, legte das Mädchen die flache Hand über die Augen, als würde sie von den Klippen aus in die Ferne spähen.
»Der Wal, das große Riesentier /Von seinem Waltran damals lebten wir.«
Der Wal schwamm großzügig eine Extrarunde.
»Jeden Frühling fuhren die Fischer darum zum Fang /Am Tag nachdem das Prasseln des Biikefeuers erklang.«
Ein paar Kinder im Flammenkostümen kamen auf die Bühne, fassten einander an den Händen und hüpften im Kreis herum. Dazu knisterte Geert mit Seidenpapier, sodass es sich wie ein Feuerprasseln anhörte.
»Den Weg leuchteten den Walfängern die hohen Flammen,ein letzter Gruß, bis man wieder wäre zusammen.So geht es in Friesland seit ältester Zeit /vor dem Petritag kommt das Biikebrennen, ihr lieben Leutʼ.«
Auf dem Gesicht des kleinen Mädchens breitete sich Erleichterung aus; sie hatte es geschafft. Schwungvoll verbeugte sie sich, während der Wal von der Bühne aus wild seinen Eltern zuwinkte. Alle Kinder zusammen sangen eine Abschlussstrophe, dann war das Stück endgültig vorbei, und Applaus brandete in der Kirche auf.
»Wunderbar!« Eine Frau mit honigblonden Haaren und Beffchen am Blusenkragen stand auf und ging nach vorn ans Mikrofon. Erst seit kurz vor Weihnachten war Agneta die neue Pfarrerin auf Midsand. Jetzt lächelte sie die kleinen Schauspieler an und sagte mit ihrem deutlich hörbaren schwedischen Akzent: »Das habt ihr wirklich toll gemacht, Kinder – vielen Dank! Ein so schönes Stück, das ihr für uns gespielt habt; das muss unbedingt mit Himbeertörtchen und Kakao belohnt werden.« Die Kinder strahlten. »Und natürlich wollen wir uns auch bei Hanni und Geert bedanken, ohne die es das Stück nicht gegeben hätte. Kommt ihr bitte auch nach vorne?« Die Pfarrerin zauberte zwei üppige Blumensträuße mit Christrosen, Schneeglöckchen und Winterschneeballzweigen und dazu zwei Schachteln Pralinen hervor. Hanni und Geert nahmen beides lächelnd entgegen. »Übrigens«, Agneta sah kurz zu Hanni, die ihr etwas verlegen zunickte. »Es gibt tolle Neuigkeiten, die ich verkünden darf: Unsere Hanni Krüdener, von der ja einige bereits sagen, dass sie bestimmt bald einen Heiligenschein bekommt, bei den vielen tollen Dingen, die sie so selbstlos tut«, die Menge schmunzelte, » … wird in diesem Jahr mit dem ›Jüsteringer Engel‹ ausgezeichnet. Das ist der Preis für herausragendes soziales Engagement, und ich denke, wir sind uns alle einig, dass Hanni ihn mehr als verdient hat. Danke noch einmal!« Alle applaudierten. Hannis Wangen erröteten. »Hanni, Hanni!«, riefen ein paar ältere Theaterkinder ausgelassen.
»So, und nun kommen wir zum gemütlichen Teil des Nachmittags«, verkündete Agneta. »Es gibt bergeweise Kuchen und Törtchen, Kaffee und Kakao für alle und zum Glück auch ein paar Helfer, die beides ausgeben. Alles, was wir heute einnehmen, kommt unserem Kirchendach zugute. Sie wissen ja, es leckt hier und da und braucht dringend neue Ziegel. Ich darf verkünden, dass wir ausgerechnet heute eine große Spende bekommen haben, und dafür sind wir sehr dankbar. Aber noch ist nicht alles beisammen.« Sie zwinkerte. »Also – füllen Sie sich die Bäuche, und haben Sie einen schönen Nachmittag.«
Johlend stürzten die Kinder durch den Mittelgang hinüber zu den Leckereien. Die Erwachsenen folgten.
Kurz darauf war die alte Midsander Halligkirche erfüllt vom Klimpern der Kuchengabeln auf den Tellern, von Klatsch und Tratsch und Kaffeeduft. Dazwischen rannten fröhliche Kinder, verkleidet als Heringe, Kraken und Fischer mit schokoladenverschmierten Mündern umher.
Der Reeder Jost Thomsen machte wie jeden Freitagnachmittag, seit er mit zwanzig das Unternehmen übernommen hatte, seinen Rundgang durch seine Werft. Jetzt war er Mitte sechzig – wo war die Zeit hin? Wie immer trug er Anzug und ordentliche, handgenähte Lederschuhe – immerhin ließ er mittlerweile die Krawatte weg. Er schmunzelte, als er daran dachte. Christinas Einfluss zeigte langsam, aber sicher Wirkung. Er nahm immer dieselbe Route; begann um drei Uhr am Trockendock, wo die Arbeiter Schiffe der Reederei überprüften und reparierten, was kaputt war. Von den Trockendocks aus ging es weiter zum Baudock, wo die neuesten Schiffe entwickelt, entworfen und gebaut wurden.
Am Trockendock waren an diesem Freitag die Techniker mit einem der Krabbenkutter der Reederei beschäftigt, bei dem die Steuerung Ärger machte. Als sie den Reeder bemerkten, winkten sie ihm in ihren Blaumännern und den gelben Schutzhelmen zu. Jost ließ sich kurz berichten, was zu machen war, und besichtigte selbst den Schaden. »He, Chef«, sprach ihn einer der ältesten Arbeiter an. »Hätte ja nicht gedacht, dass Sie heute auch Ihren Rundgang machen.«
»So, und warum nicht?«
»Sie heiraten doch morgen.«
Die Männer grinsten. Er wusste, dass sie Christina mochten. Er hatte sie schon ein paarmal freitags mitgenommen, und sie hatte sofort ausgelassen mit den Arbeitern herumgealbert. Irgendwie schaffte sie es immer, dass ihr die Herzen zuflogen.
»Wo ist Ihre junge Braut denn?«, fragte einer der Männer.
»Die ist heute Nachmittag drüben auf Midsand.«
»Na dann ist ja gut. Ich hab schon befürchtet, sie hätte kalte Füße gekriegt.« Alle lachten.
»Wir beneiden Sie, Chef!«, rief einer. »So eine wie Christina gibtʼs nicht überall …«
Jost unterhielt sich noch kurz mit ihnen und ging dann weiter. Am Baudock wurde ein neues Frachtschiff gebaut. Jost nahm sich Zeit, um mit den Ingenieuren zu reden, die neuesten Pläne mit ihnen zu diskutieren. Er liebte die riesigen Frachter, die bunte Container in die ganze Welt brachten. Schon als kleiner Junge war er hier in der Werft auf ihnen herumgeklettert, hatte sich vorgestellt, wo das Schiff überall hinfahren würde – nach Afrika oder nach Asien, irgendwohin, wo es ganz anders roch und ganz anders aussah als das, was er kannte. Später war er in den Sommerferien ein paarmal auf einer solchen Fahrt mitgefahren, einmal über den Suezkanal bis nach Hongkong und in einem anderen Sommer quer über den Atlantik bis nach Buenos Aires. Sein Vater hatte ihn gewähren lassen. Reederei und Meer liegt den Thomsens im Blut, hatte er immer gesagt. Und ich habe das auch lange geglaubt, dachte Jost. Viel zu lange.
»Herr Thomsen?« Einer der Ingenieure sah ihn fragend an. »Was halten Sie denn nun davon?« Jost konzentrierte sich wieder auf den Plan, den der Mann ihm unter die Nase hielt. Er nickte. »Ja, das klingt gut. Berechnen Sie ein Modell, und wir sprechen darüber, wenn ich aus den Flitterwochen zurück bin. Wir fliegen am Sonntag und bleiben bis Ende März.«
Sein Gegenüber lachte. »Eigentlich so wie immer, Herr Thomsen. Wann haben Sie schon einmal einen Februar in Friesland verbracht? Wir haben ja schon alle gestaunt, dass Sie es wegen der Hochzeit ausnahmsweise bis zur Mitte des Monats hier aushalten.«
Jost antwortete nicht. Er nickte seinem Schiffsingenieur nur zu und ging weiter. Es stimmt, dachte er, es ist Ewigkeiten her, dass ich um diese Zeit hier gewesen bin, dass ich das Biikebrennen gesehen habe. Es waren nur noch fünf Tage bis dahin. Er spürte, wie er unruhig wurde. Er wollte in die Sonne, irgendwohin, wo es nicht aussah wie Friesland im Februar. Er ertrug es nicht. »Übermorgen«, murmelte er. »Übermorgen sind wir hier weg.« Im Flugzeug auf dem Weg in den Süden. Verheiratet. Er lächelte.
»Darf ich Ihnen gratulieren?« Die junge Frau mit den kupferroten hochgesteckten Haaren lächelte. »Das ist ja toll mit dem Preis, den Sie bekommen.« Sie schlüpfte auf den letzten freien Platz an der Kaffeetafel, an der Hanni gemeinsam mit Geert, seiner Frau Ruth, die den kleinen Halligladen auf Midsand betrieb, und der Pfarrerin saß. Der Kaffeenachmittag war im vollen Gange, die Gäste drängten sich am Kuchenbuffet, und an der Kaffeeausgabe hatte Tjark, der sonst als Wirt hinter der Theke des »Halligprinzen« stand, alle Hände voll zu tun.
»Oh, danke, das ist nett«, lächelte Hanni. »Auch wenn ich ehrlich gesagt schrecklich aufgeregt wegen der Preisverleihung bin.«