Halligmord - Greta Henning - E-Book
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Halligmord E-Book

Greta Henning

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Beschreibung

Ein mysteriöser Mord vor der idyllischen Nordseeküste und eine Hallig voller Geheimnisse – willkommen in der Welt von Ermittlerin Minke van Hoorn! Eine Sturmflut an der Nordsee - und am nächsten Morgen ein grausiger Fund: Auf der kleinen Hallig Nekpen hat die See menschliche Knochen freigespült, die schon seit Jahrzehnten im friesischen Marschboden gelegen haben müssen. Wer war der Tote? Die junge Kommissarin Minke van Hoorn, in ihrer Freizeit engagierte Watt-Rangerin und Robbenretterin, beginnt zu ermitteln. Die beiden alteingesessenen Familien, die auf Nekpen leben, wollen von allem nichts gewusst haben. Da verschwindet der Sohn des alten Deichgrafen auf Nekpen, ein geheimnisvoller Brief taucht auf und Minkes Mutter, scheint etwas zu verbergen. Der alte Fall scheint plötzlich seine Finger bis in die Gegenwart auszustrecken. Minke muss sich beeilen, denn der nächste Herbststurm kündigt sich an...

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Halligmord

Die Autorin

GRETA HENNING ist ein Pseudonym. Die Autorin mag die Nordsee bei jedem Wetter, Wattwanderungen und Krabbenbrötchen – gute Voraussetzungen, um einen Nordseekrimi zu schreiben. Besonders die Welt der friesischen Halligen hat es ihr angetan.

Das Buch

»Das Meer vor Jüsterings Küste hatte sich wieder in eine beinahe außerirdisch wirkende Wattlandschaft verwandelt. Minke beschloss, zu Fuß hinüber nach Midsand zu gehen. In den Pfützen, die sich über das Watt verteilten, spiegelte sich der goldene Himmel. Es lag eine ganz besondere Stimmung in der Luft. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte Minke.«Minke van Hoorn hat ihr altes Leben an den Nagel gehängt. Nun übernimmt sie das Kommissariat in der kleinen Küstenstadt Jüstering, zu der auch die Halligen Midsand und Nekpen gehören. Selbst dort aufgewachsen, muss sich Minke bald ihrem ersten Fall stellen – und der Erkenntnis, dass es tiefe Risse in der Halligidylle gibt.

Greta Henning

Halligmord

Kriminalroman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Paperback1. Auflage Juli 2020© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: © www.buerosued.deE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comISBN 978-3-86493-130-7

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

16. Januar 1987, Freitagabend, 18.45 Uhr 

Esther

NOCH VIER TAGE BIS ZUM STURM

16. Januar 1987, Freitagabend, 19.30 Uhr 

David

NOCH DREI TAGE BIS ZUM STURM

16. Januar 1987, Freitagabend, 20.27 Uhr 

Geert

NOCH ZWEI TAGE BIS ZUM STURM

16. Januar 1987, Freitagabend, 22.00 Uhr 

Alexander

NOCH EIN TAG BIS ZUM STURM

16. Januar 1987, Freitagabend, 22.45 

Christine

AM TAG DES STURMS

16. Januar 1987, Freitagabend, 23.17 Uhr 

Jasper

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

16. Januar 1987, Freitagabend, 18.45 Uhr Esther

NOCH VIER TAGE BIS ZUM STURM

Das Wasser war dunkel. Die Schwärze, die Minke umfing, war so unglaublich, so atemberaubend. Sie fühlte die Kälte, die ihr in die Knochen kroch. Ihr Körper sank immer tiefer. Als sie beinahe den Grund erreicht hatte, begann sie, um sich zu schlagen, versuchte, zurück an die Oberfläche zu gelangen. Aber das Wasser war stärker, es hielt sie fest, zog sie immer weiter nach unten. Plötzlich – was war das? Möwen kreischten. Das konnte nicht stimmen. Unter Wasser gab es keine Möwen. Sie waren laut, ganz nah an ihrem Kopf. Minke wedelte mit den Armen, um sie zu vertreiben. Sie traf nur die weiche Bettdecke, und die Möwen kreischten weiter.

Langsam fand sie in die Realität zurück. Schon wieder der Traum, dachte sie. Die Möwen kreischten künstlich aus ihrem Handy. Ihr neuer Klingelton, gestern auf ihrer Einstandsfeier von diesem hübschen Kerl eingestellt, mit dem sie den halben Abend getanzt und geredet hatte. »Wer an die nordfriesische Küste zurückkommt, zu dem passt das«, hatte er gesagt und gegrinst. »Und als Nächstes schenke ich dir einen Leuchtturm als Schlüsselanhänger.«

Sie hatte gelacht. »Ich mag Leuchttürme.«

»Gut, meiner Familie gehört zufällig einer. Ich nehme dich gerne mal mit.«

»Angeber.«

Da waren sie schon draußen vor dem Gasthaus gewesen, verstohlen wie Fünfzehnjährige, damit Minkes übrige Gäste nichts davon mitbekamen, und nachdem sie genug über Leuchttürme geredet hatten, hatten sie sich geküsst. Minke stöhnte. Der Rest des Abends bestand in ihrem Kopf nur noch aus unzusammenhängenden Bildern. »Verdammter Grog«, murmelte sie. Seit vier Jahren hatte sie so einen Abend nicht mehr erlebt. Minkes Kopf brummte, das Möwengekreische zerrte an ihren Nerven. Endlich angelte sie nach ihrem Handy auf dem Nachttisch. Eine unbekannte Nummer wurde auf dem Display angezeigt. Sie nahm ab und hielt sich das Handy ans Ohr.

»Minke van Hoorn?« Sie war selbst überrascht, wie mitgenommen ihre Stimme klang.

»Minke? Du bist doch jetzt unsere Kommissarin, oder?«

»Ja«, murmelte sie, »seit heute.« Sie konnte die Stimme nicht zuordnen.

»Gut, gut … Hier ist Jörg«, der Mann klang aufgeregt, »Jörg Schmidt. Du weißt schon …«

»Der Postbote?«, fragte Minke verwirrt. Jörg Schmidt war, seit sie denken konnte, als Halligpostbote jeden Tag mit seinem kleinen Postboot zwischen Midsand und Nekpen unterwegs, brachte Briefe und Zeitungen und nahm wiederum mit, was die Halligbewohner nicht selbst zur Poststation aufs Jüsteringer Festland bringen wollten. »Was ist denn los?«, hakte Minke nach.

»Ich weiß nicht …«, begann Jörg umständlich. »Ich bin hier auf Nekpen, habe gerade den Johannsens die Post gebracht und wollte dann von dort hinüber zu den Holts gehen. Jedenfalls, während ich so gehe – gestern Nacht war ja ganz schön Wind und die Flut war hoch -«

»Mhm.« Minke ließ sich wieder in ihr Kissen zurückfallen.

»Jedenfalls hat die Flut hier wohl was freigespült.«

»Aha. Und was?« Eine Flaschenpost, eine Coladose, einen Badeschlappen?, dachte sie müde und sarkastisch. Auf Nekpen passierte nie etwas, es gab keinen verschlafeneren Ort an der ganzen nordfriesischen Küste.

»Einen Schädel. Von einem Menschen, falls ich das richtig beurteilen kann.«

Minke saß aufrecht in ihrem Bett.

Nachdem sie sich von Jörg verabschiedet hatte, wählte sie, immer noch im Bett, die Nummer ihres Bruders.

»Du bist schon wach?«, fragte Bo gut gelaunt als Begrüßung. »War gestern nicht dein großer Einstand?«

»Doch. Aber Jörg hat einen Schädel gefunden.«

»Jörg, der Postbote?«

»Ja.« Minke erklärte alles. »Kannst du kommen?«

Bos gute Laune schwand. »Deswegen den ganzen Weg von hier raus nach Nekpen? Kannst du nicht einen anderen anrufen? In der nordfriesischen Küstenprovinz habe ich auch Kollegen.«

»Aber ich frage doch nicht irgendwen, wenn mein Bruder Rechtsmediziner ist. Und du willst sicher nicht, dass irgendjemand etwas übersieht, so einer aus der nordfriesischen Küstenprovinz …« Minke grinste in sich hinein. Sie kannte den Stolz ihres Bruders und seine Abneigung gegen alles, was nicht städtisch war.

Kurz blieb es still.

»Na schön«, brummte Bo.

»Danke, bis später. Und bring Gummistiefel mit, heute Nacht war die Flut hoch und hat alles aufgeweicht.«

Bo hasste Watt und Schlick. Nicht umsonst hatte er sofort nach der Schule die nordfriesische Küste verlassen und hielt Minke für verrückt, weil sie nun freiwillig dorthin zurückgezogen war.

»Scheißnordsee«, sagte er jetzt nur und legte auf.

Minke stand unschlüssig vor ihrem Kleiderschrank mit den Blümchen darauf, den sie schon als Kind kitschig gefunden hatte. Einige davon hatte sie als Teenager mit Filzstift übermalt. Im Schrank stapelten sich ihre Sachen, davon überraschend viele mit Aufschriften wie »Forschungsprojekt Weißer Hai«, »Robbenschutz geht alle an« oder »Gemeinsam für Tiere«. Es wurde Zeit, dass sie sich neue Kleider anschaffte. Neues Leben – neue T-Shirts, dachte Minke. Aber für heute musste sie sich mit dem zufriedengeben, was sie hatte. Sie griff nach einer Jeans und einem neutralen Pullover.

Als sie auf einem Bein hüpfte, um mit dem anderen in die Jeans zu schlüpfen, trat sie auf etwas Gummiartiges. Sie hob es auf. Es war einer dieser Gummitrolle mit neonfarbenen Flammenhaaren, die vor fünfundzwanzig Jahren jedes Kind haben wollte. Minke warf ihn zwischen die Umzugskartons. Nein, sie brauchte nicht zuerst neue T-Shirts, sie brauchte zuerst eine neue Wohnung. Vor zwei Tagen war sie übergangsweise hier in ihr altes Kinderzimmer in ihrem Elternhaus auf Midsand eingezogen, und es ging ihr jetzt schon auf die Nerven. Überall im Zimmer stapelten sich ihre untergestellten Umzugskartons, an den Wänden hingen noch die Poster, die sie als Jugendliche aufgehängt hatte, und auf dem Schreibtisch klebte noch der Stundenplan aus ihrem Abschlussjahr. Neben der Doppelstunde Französisch stand »Igitt«. Hier hatte sich wirklich nichts verändert, seit sie nach dem Abitur ausgezogen war, um Meeresbiologin zu werden. Dazwischen lagen Jahre – in denen sie auf Forschungsschiffen quer über alle Meere unterwegs gewesen war, dann alles hingeschmissen hatte und Polizistin geworden war. Minke bahnte sich einen Weg zwischen den Kartons hindurch, bis sie den Futternapf und das Katzenfutter fand. Sie kippte eine großzügige Portion davon in den Napf. »Victor, wo bist du – es gibt Frühstück!« Ihr Kater lugte misstrauisch hinter einem Umzugskarton hervor, und es dauerte eine Weile, bis er sich traute, auf seinen drei Beinen durch die fremde Umgebung zu seinem Futter zu humpeln. Victor war Minke zu Beginn der Polizeischule zugelaufen und sie hatte ihn aufgepäppelt. Jetzt streichelte sie ihn. »Versprochen – ich suche uns bald etwas Eigenes«, sagte sie.

Im Badezimmer starrte ihr beim Zähneputzen eine Frau aus dem Spiegel entgegen, der man die Feier von gestern Nacht ansah. Minkes von Natur aus hellblonde Haare waren zerzaust, unter ihren Augen lagen tiefe Ringe, die Wimperntusche von gestern war über ihr Gesicht verschmiert. Sie sah genauso aus, wie sie sich fühlte. Widerstrebend klatschte sie sich ein paar Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht und rubbelte mit dem Handtuch nach, bis die Haut rosig wurde. Dann band sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Das musste reichen.

Unten in der Küche saß ihre Mutter am Frühstückstisch und las Zeitung.

»Moin«, murmelte Minke.

»Moin!« Imma sah erstaunt vom »Jüsteringer Küstenboten« auf. Sie war in einen wild gemusterten indischen Kaftan gehüllt und trug ihre typische Frisur – eine Art unordentlicher, grau gewordener Turm. »Schon wach?«

»Ich muss arbeiten.« Minke nahm sich eine Tasse aus dem Regal, dann setzte sie sich zu ihrer Mutter an den Küchentisch. »Auf Nekpen.«

Imma sah sie forschend an. Ihr Therapeutinnengesicht, würde Bo jetzt sagen, die freundlich fragende Miene, die sie für ihre Patienten perfektioniert hatte, die sie im Anbau des Hauses seit Jahren mit Gesprächstherapie, Töpfern, Malen und Klangschalen therapierte. Minke war gegen das Therapeutinnengesicht immun. Sie goss sich wortlos Kaffee ein und löffelte Zucker nach, in der Hoffnung, dass die Mischung aus Koffein und Energie schnell wirken würde.

Schließlich gab Imma vorerst auf. Sie griff nach der Blaubeermarmelade und kleckste sich eine ordentliche Portion auf ihr Brötchen. »Ich gehe später übrigens zu Papas Grab. Ich dachte, du willst vielleicht mitkommen – jetzt, wo du da bist?«

Minke wusste, dass Immas beiläufiger Tonfall gespielt war. Michael van Hoorn war vor vier Jahren bei einem Segelausflug mit Freunden verunglückt. Seitdem war Minke noch nie zu seinem Grab auf den kleinen Midsander Halligfriedhof gegangen; nicht einmal bei seiner Beerdigung war sie gewesen – sehr zum Leidwesen von Imma, die das nicht für gesund hielt.

»Nein, will ich nicht.«

»Minke, ich glaube, es wäre wirklich gut für dich … ein Schritt in die richtige Richtung, Trauerarbeit ist ein Prozess …«, begann Imma die Diskussion, die sie schon oft geführt hatten. »Das Grab zu sehen, vielleicht ein bisschen mit ihm zu reden, das sind alles gesunde Dinge.«

»Mama, ich bin nicht eine deiner Patientinnen.« Minke stand auf und trank ihren Kaffee im Stehen aus. »Ich bin so nicht. Und ich rede auch garantiert nicht mit einem Grabstein.« Sie beugte sich vor und küsste ihre Mutter flüchtig auf die Wange. »Tschüss, ich muss los.«

Im Flur schlüpfte Minke in Gummistiefel und Regenjacke und öffnete dann die Haustür, wobei unvermeidlich eines der vielen Windspiele klimperte, die ihre Mutter im ganzen Haus und im halben Garten aufgehängt hatte. Draußen wehte ein leichter Wind, die salzige Nordseeluft war kühl und klar und der Himmel wolkenlos und hellblau. Ein perfekter Halligmorgen. Minke atmete tief durch. Hallig Midsand, wo sie aufgewachsen war, lag still und friedlich vor ihr. Minke sah von einer Warft zur anderen. Midsand bestand aus insgesamt fünf Warften, große, aufgeschüttete Erdhügel, auf denen die Häuser der Bewohner gebaut worden waren, um sie vor Überflutung zu schützen. Die Warften bildeten einen großzügigen Ring um eine ausgedehnte Wiesenfläche, die viel niedriger lag als die Warften und bei Landunter immer sofort überflutet wurde. Minke fand, dass die Markuswarft, auf der ihr Elternhaus stand, die schönste der Midsander Warften war. Hier gab es sieben Wohnhäuser, den kleinen Halligladen und den »Halligprinzen«, das einzige Gasthaus der Hallig. Dort hatte sie in der Nacht noch gefeiert. Außerdem lag auf der Markuswarft der Fething, der frühere Süßwasserspeicher aus den Zeiten, in denen es noch keine Wasserleitungen auf der Hallig gegeben hatte. Im Fething war damals das Regenwasser für ganz Midsand gesammelt worden, heute paddelten darauf ein paar Schwäne und Enten, und am Ufer standen zwei Sitzbänke, stolz aufgestellt, als Midsand vor ein paar Jahren den Wettbewerb »Schönste Hallig Nordfrieslands« gewonnen hatte.

Neben der Markuswarft lag die Stinewarft mit fünf Wohnhäusern, dann kam die Südwarft mit der Jugendherberge von Midsand, die im Sommer immer voll belegt war. Auf der Ostseite der Hallig, in Richtung Küste, lag die kleine Kirchenwarft mit der schiefen alten Halligkirche, dem kleinen Friedhof und dem Pfarrhaus. Noch kleiner war bloß die Frankwarft im Norden von Midsand. Auf ihr lebte nur eine Familie, die Franks, die den einzigen Bauernhof auf Midsand betrieben. Die dazugehörigen Schafe und zotteligen Gallowayrinder bevölkerten im Frühjahr und Sommer die Halligwiese.

Midsand lag still da, es war noch früh. Eine einsame Möwe kreischte über Minke am Morgenhimmel, eine Ente schnatterte auf dem Fething, mehr Bewegung gab es noch nicht. Alle saßen noch an den Frühstückstischen. Minke ging die Warft hinunter zum Wasser; dort wartete das Polizeiboot, ihr neues Dienstfahrzeug, das sie gestern Abend dort angelegt hatte. Die Nordsee war von der stürmischen Nacht aufgewühlt, das Wasser sandig braun. Die Ebbe hatte eingesetzt, in ein paar Stunden würde hier nichts als Watt sein, so weit das Auge reichte, sodass man zu Fuß zwischen den Halligen und Jüstering unterwegs sein konnte. Minke sah hinüber zur Küste. Jüstering lag in der Morgensonne, der flache Sandstrand, der im Sommer voller Badegäste war, war jetzt leer. Im Süden zog sich der Strand breit die Küste entlang, im Norden wurde er schmaler. Majestätisch erhoben sich die Steilklippen in der Sonne. Ganz am Ende der Klippen im Norden ging der Strand schließlich in Felsen über. Dort stand auf einer kleinen Felseninsel das Wahrzeichen der Stadt: ein kleiner, uralter Leuchtturm, nicht weiß-rot, sondern noch in Backstein gemauert, mit einer weißen Laterne auf der Spitze. Dieser Blick: der Leuchtturm, die Klippen, der Strand, die Nordsee … und das alte Küstenstädtchen war ein beliebtes Fotomotiv. In den Jüsteringer Postkartenständern wurde es in unendlich vielen Varianten angeboten. »Nordfriesische Grüße aus Jüstering und von den Halligen«.

Minke wandte sich von dem malerischen Anblick ab und steuerte in Richtung Nekpen. Die kleine Schwester von Midsand lag ein wenig weiter draußen in der Nordsee. Früher einmal hatten die beiden Halligen zusammengehört, später hatte eine schwere Sturmflut ein Stückchen von Midsand abgetrennt und Hallig Nekpen geformt. So hatte Minke es jedenfalls im Erdkundeunterricht gelernt; als Kind hatte sie sich viel lieber vorgestellt, dass der berühmte nordfriesische Wassermann Ekke Nekkepenn ein Stück von Midsand abgebissen hätte. Weil es ihm nicht schmeckte, hatte er es in Minkes Fantasie gleich wieder ausgespuckt und die Midsander hatten es nach ihm benannt.

Minke hielt ihr Gesicht in den Fahrtwind. Die Gischt legte winzige Tröpfchen Meerwasser auf ihr Gesicht und vertrieb ihren Katerkopfschmerz. Für ihren Geschmack war die Fahrt beinahe zu kurz; bald schon lenkte sie das Boot an die betonierte Halligkante von Nekpen heran. Der Beton war nötig, um Nekpen davor zu bewahren, durch die Gezeiten immer weiter zu schrumpfen. Als Minke den Fuß auf den aufgeweichten Halligboden jenseits des Betons setzte, schien er nachzugeben, jeder Schritt hinterließ nasse Fußspuren im Gras. Sie stapfte an der Johannsenwarft vorbei zur flachen Halligwiese von Nekpen. Schon von Weitem winkte der Postbote ihr zu. »Moin Minke«, rief er erleichtert, »gut, dass du da bist! Lange hätte ich hier neben dem Burschen nicht mehr allein herumstehen wollen.« Er wandte den Kopf und zeigte auf eine Stelle in der Halligwiese. »Dort drüben ist er. Es ist schon ein bisschen unheimlich.«

Minke ging auf das Etwas zu, das dort halb in der Marsch steckte. Sie bückte sich hinunter, um es besser sehen zu können. Tatsächlich – es war ein Schädel. Die Augenhöhlen waren halb mit dem dunkelbraunen Marschboden gefüllt, sodass es wirkte, als würde er sie ansehen. Der Kiefer steckte noch halb im Boden, nur die obere Zahnreihe war zu sehen. Sehr schöne Zähne, dachte Minke. Und eindeutig menschlich.

Jörg, der nun, wo er nicht mehr alleine war, offensichtlich mutiger wurde, trat hinter sie. »Und?«, fragte er.

»Du hast recht, das ist ein Schädel. Es war richtig, dass du mich angerufen hast.«

Jörg starrte auf das, was dort in der Erde steckte. Er schüttelte sich. »Es sieht grausig aus«, sagte er. »Was glaubst du, wer ihn dort vergraben hat?«

Minke wusste noch nicht, ob der Schädel überhaupt etwas zu bedeuten hatte. Vielleicht war er viel eher etwas für das Museum als für die Polizei – ein Matrose, jemand, der vor hundert Jahren hier gelebt hatte … Sie sah sich um. Der alte rote Backsteinbau auf der Johannsenwarft lag friedlich im Morgenlicht. Im Norden stand das stolze weiße Friesenhaus der Holts, der alten Deichgrafenfamilie. Der Fundort des Schädels befand sich ungefähr in der Mitte zwischen den beiden Häusern. Jörg sah sie mit gespannt aufgerissenen Augen an. Sie beschloss, ihm etwas zu bieten. »Na ja«, sagte sie mit Grabesstimme, »viel Auswahl gibt es hier ja nicht.«

Jörg schnappte entsetzt nach Luft.

Bo schlängelte sich schlecht gelaunt durch den morgendlichen Verkehr aus dem Stadtgebiet hinaus in Richtung Autobahnkreuz. Der Weg, der vor ihm lag, war umständlich: zuerst an die Küste nach Jüstering und von dort aus mit dem Boot nach Nekpen. Oder – wenn er Pech hatte – zu Fuß über das Watt. Nur im Sommer fuhr bei Ebbe ab und zu für die Touristen ein Pferdefuhrwerk durchs Watt, oder es gab Ponyreiten über den graubraunen Schlick. Aber es war nicht mehr Sommer. Bo war es schon als Kind auf die Nerven gegangen, ständig davon abhängig zu sein, ob die Nordsee gerade mit Wasser gefüllt war oder nicht. Jetzt rechnete er nach. Wenn dort draußen wirklich ein ganzes Skelett lag, dann würde er – auch mit Unterstützung der Spurensicherung, die er vorsichtshalber verständigt hatte – viele Stunden brauchen, um jeden Knochen zu bergen. Anschließend dann mit der Leiche zurück an Land und von dort aus ins Rechtsmedizinische Institut … Er überschlug die Fahrtdauer, und ihm wurde klar, dass er seine Theaterkarten für heute Abend vergessen konnte. Und alles nur, weil meine Schwester nicht einfach Robbenstreichlerin und Haizählerin bleiben konnte, dachte er säuerlich. Minke war begeisterte Meeresbiologin gewesen; schon als Kind hatte sie sich lieber mit Tieren als mit anderen Kindern abgegeben und niemals Angst vor dem Wasser gehabt, egal wie hoch die Wellen waren. Darum hatte es alle so überrascht, als sie ihren Beruf nach Michaels Tod hingeschmissen hatte. Normale Leute trauerten, indem sie schwarze Kleider anzogen, weinten und Blumen am Grab niederlegten. Minke tat nichts von alledem, dafür hatte sie sich in den Kopf gesetzt, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Michael van Hoorn war fünfundzwanzig Jahre lang der Kommissar von Jüstering gewesen – und ein sehr erfolgreicher noch dazu.

Bo hatte das Autobahnkreuz erreicht und fuhr in Richtung Küste. Er schaltete das Radio ein. »Moin, wunderschönes Friesland«, jubilierte der Sprecher. Bo verdrehte die Augen. Auch diesen Friesenpatriotismus hatte er noch nie verstanden. Seine Eltern hatten ihren Kindern ja unbedingt traditionelle nordfriesische Namen geben müssen. Er war Eibo getauft worden, nach einem seiner Urgroßväter. Als Kind hatte er seine Freunde beneidet, wenn sie im Kunstunterricht »Florian«, »Sebastian« oder »Marc« unter ihre Kartoffeldrucke kritzeln konnten – und früh dafür gesorgt, dass ihn jeder Bo nannte.

Im Radio kam nun die Wettervorhersage. »Es sieht nicht gut aus, liebe Nordfriesen«, sagte die Sprecherin. »Vor Island hat sich eine Sturmfront gebildet, die Kurs auf unsere Küste nimmt. Die Meteorologen erwarten ihre Ankunft in den nächsten Tagen; Orkanstärke ist wahrscheinlich. Die Sturmsaison beginnt in diesem Jahr also ungewöhnlich früh. Decken Sie sich mit allem Nötigen ein, und rechnen Sie auf den Halligen mit Landunter.«

Ein unpassend sorgloser Jingle wurde eingespielt, dann sagte eine Stimme: »Und nun ein bisschen Morgenmusik.« Bo schaltete das Radio aus, als die ersten Klänge von »Cheri Cheri Lady« einsetzten.

Esther Johannsen wachte an diesem Morgen auf und fühlte sich wie gerädert. Die ganze Nacht hatte der Wind ums Haus auf der Johannsenwarft gepfiffen, und sie war deswegen ständig aufgewacht. Irgendwann war sie in die Küche gegangen und hatte sich eine heiße Milch mit Honig gemacht, aber auch das hatte nichts genützt. Erst als es draußen schon dämmerte, war sie endlich eingenickt. Ein Blick auf den Wecker sagte ihr, dass sie nur zwei Stunden geschlafen hatte. Im Haus war es vollkommen still. Linda, die mit ihrer Familie seit ein paar Jahren im oberen Stockwerk wohnte, war mit ihrem Mann und ihrer Tochter übers Wochenende zu den Schwiegereltern an die Ostsee gefahren.

Esther stand auf und ging ins Badezimmer. Dort ließ sie heißes Wasser in die Badewanne einlaufen und gab das Badesalz mit Lavendelduft dazu, das Linda ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Als die Wanne voll mit warmem Wasser und duftendem Schaum war, schlüpfte sie aus ihrem Nachthemd. Bevor sie in die Wanne stieg, fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild, nackt, wie sie war. Sie sah sich selten so an, und niemand sonst sah sie so – sie hatte seit Langem keinen Mann mehr. Ihre Figur war immer noch gut; die meisten Frauen in ihrem Alter hatten keine Taille mehr, waren mollig und schlaff geworden, aber sie nicht. Wenig essen, wenig Fett, wenig Zucker, diese Regeln waren ihr in den vielen Jahrzehnten in Fleisch und Blut übergegangen, sie beachtete sie streng, ließ sich nie gehen. Im Herbst und Winter fuhr sie einmal in der Woche hinüber nach Jüstering in das kleine Hallenbad und schwamm dort eine Stunde; im Sommer ging sie in der Nordsee schwimmen. Ihre Haare färbte sie braun und achtete darauf, dass nie ein Ansatz zu sehen war. Nur die Falten um ihre Augen und den Mund verrieten, wie alt sie wirklich war.

Esther tauchte einen Fuß ins Badewasser. Die Wärme entspannte sie sofort. Bald lag sie zufrieden in der Wanne und dachte über den Tag nach, der vor ihr lag. Es war ein Montag. Montags saugte sie gewöhnlich Staub, bezahlte anfallende Rechnungen, und abends leitete sie die Kirchenchorprobe drüben in der kleinen Midsander Halligkirche.

Esther schloss die Augen und sank etwas tiefer in das warme Wasser. Noch einmal ging sie alle Schritte des vor ihr liegenden Tages durch. Ja, es würde ein ganz normaler Montag werden.

»Also, was denkst du?« Minke sah ihren Bruder an, der mit für Anlass und Umgebung völlig unpassenden kalbsledernen Herrenschuhen und in einem safranfarbenen Kaschmirmantel neben ihr auf der Halligwiese vor dem Schädel stand und sich fortwährend Schlick von den Schuhen putzte.

Um sie herum liefen einige Leute der Spurensicherung in weißen Schutzanzügen über die Wiese und bereiteten sich darauf vor, die Knochen zu bergen, die da noch unter Gras und Erde stecken mochten.

»Na ja – ein Mensch«, Bo wischte sich schon wieder mit einem frischen Taschentuch über die Schuhspitze. »Tot. Mehr weiß ich nicht.«

»Was ist mit diesem Loch im Schädel?« Minke deutete auf die tiefe Einkerbung am Oberkopf. »Ist das die Todesursache, oder könnte das auch irgendwann im Nachhinein geschehen sein?«

»Du meinst, als ihm eine Möwe posthum den Schädel aufhackte – wie das ja ständig vorkommt?«

Minke verdrehte nur die Augen.

Bo grinste und besah sich nun das Schädeldach genauer. »Spontan würde ich sagen: Das ist die Todesursache. Aber ich muss das alles erst genauer untersuchen.«

Gerade begann die Spurensicherung damit, das Gelände um den Schädel herum abzusperren. Das gelbe Absperrband flatterte hörbar im Wind.

»Du hast ›er‹ gesagt. Glaubst du, es war ein Mann?«, fragte Minke.

Bo legte den Kopf schief und starrte den Schädel an, der seinerseits zurückzustarren schien. »Ich muss warten, ob wir einen Beckenknochen finden, aber er hat ausgeprägte Augenwülste, das spricht für einen Mann.«

Minke musterte ihren Zwillingsbruder. »Seltsam, dass wir jetzt Kollegen sind, findest du nicht?«

»Furchtbar seltsam. Könntest du nicht doch wieder Sender auf Fische kleben? Dann wäre meine Welt wieder in Ordnung.«

Minke knuffte ihn in die Seite.

In diesem Moment nahm sie eine Bewegung auf der Johannsenwarft wahr. Sie sah hinüber. Dort stand eine Frau im Bademantel. Zuerst regungslos, dann setzte sie sich in Bewegung und kam auf sie zu.

»Ich glaube, ich rede besser mal mit ihr«, sagte Minke. Bo nickte und begann dann damit, den Schädel freizulegen.

Esther Johannsen trug Gummistiefel, die einen deutlichen Kontrast zu ihrem fliederfarbenen Bademantel bildeten. Ihre Haare wurden von einer großen Klammer am Hinterkopf zusammengehalten. Selbst so sah sie noch wie aus dem Ei gepellt aus.

»Was ist denn passiert?«, rief sie, als sie in Hörweite von Minke angekommen war. Sie kannten sich, so wie sich alle Bewohner der beiden Halligen irgendwie kannten.

»Minke«, Esther hatte sie inzwischen erreicht und stand vor ihr. Minke nahm einen dezenten Duft von Lavendel wahr. »Was ist denn da drüben los?« Esther wirkte verschreckt.

»Ich weiß noch nichts Genaues«, beschwichtigte Minke. »Der Postbote hat einen Schädel gefunden.«

Esther sah sie einen Moment ungläubig an, dann schlug sie die Hand vor den Mund. »Oh Gott, wie grauenvoll.« Sie sah hinüber zu den Leuten von der Spurensicherung, die gerade damit beschäftigt waren, ihre Werkzeuge auszupacken. »Linda wird auch erschrecken, wenn sie nach Hause kommt und das sieht.«

Minke beschloss, das nicht zu kommentieren. Linda, Esthers Tochter, hatte ihr vor vielen Jahren einmal Nachhilfe gegeben. Sie war eine robuste Frau, die nicht den Eindruck machte, leicht zu erschrecken zu sein.

»Und Emily erst …«, murmelte Esther.

Minke erinnerte sich vage an Lindas Tochter. Sie kannte sie nur als kleines Mädchen, inzwischen musste sie ein Teenager sein. »Linda und Felix waren mit Emily übers Wochenende auf Sylt, weißt du«, schob Esther nach. Immer noch war ihr Blick wie gebannt auf die Stelle auf der Halligwiese gerichtet. Dann straffte sie sich. »Minke, darf ich wieder reingehen? Mir ist kalt und ich habe zu tun.«

»Natürlich«, Minke lächelte ihr aufmunternd zu. »Und mach dir keine Sorgen, bestimmt ist es ein Fall fürs Museum.«

Esther lächelte erleichtert zurück. »Richtig, das kann natürlich sein.« Sie drehte sich um und ging zu ihrem Haus zurück. Ihre Schritte erzeugten in der nassen Wiese ein schmatzendes Geräusch.

Geert Lütz öffnete die winzige Bankfiliale von Midsand an diesem Morgen ein wenig später als sonst. Er hatte die Zeit zuvor damit vertrödelt, zu frühstücken, die Ergebnisse von ein paar Pferdewetten zu googeln und mit seiner Frau darüber zu diskutieren, wohin sie im nächsten Sommer in den Urlaub fahren könnten.

»Wenn schon England, dann zum Pferderennen, damit ich auch was davon habe«, hatte er gesagt.

»Du immer mit deinen Pferderennen«, hatte Ruth geantwortet. »Ich will eine hübsche kleine Pension, Tea Time, Spaziergänge, kleine Dörfchen …«

Geert hatte geseufzt. Seine Frau war eine glühende Verehrerin von Rosamunde Pilcher und ähnlichen Liebesromanen, und ihre Reisevorstellungen entsprachen diesen kitschigen Welten, in denen sie so gerne versank.

»Nein, Ruth, nicht schon wieder«, hatte er darum am Frühstückstisch dagegengehalten. »Dann lieber richtig in den Süden. Mallorca – zwei Wochen all inclusive, Pool, kühles Bier und in Badeschlappen zum Abendessen.« Schon als er es ausgesprochen hatte, wusste er, dass Ruth dagegen sein würde. Sie hatte ihn entsetzt angesehen: »Es fehlt gerade noch, dass du einen Eimer Sangria und einen langen Strohhalm willst, Geert.«

Schließlich waren sie ohne Einigung auseinandergegangen, und so kam es, dass Geert nun eine Viertelstunde zu spät die winzige Bankfiliale aufschloss, die er nun schon seit beinahe vierzig Jahren als einziger Mitarbeiter auf Midsand betreute.

Die Halligbank bestand nur aus einem einzigen Raum, einem Safe, einem Tisch und einem etwas altersschwachen Computer. Geerts Arbeit dort war eher beschaulich, auf einer Hallig gab es wenige Kunden, aber Geert machte das nichts aus. Schon als junger Mann hatte er etwas gefunden, womit er seinen Alltag trotzdem aufregend gestalten konnte: Pferderennen. Er kannte sich aus, wettete auf alles und verlor meistens – wobei er stets alles daransetzte, dass Ruth nie etwas von diesen Verlusten erfuhr. Sie hielten ihn außerdem nicht davon ab, immer weiterzuwetten.

Geert schloss die Tür mit der Aufschrift »Jüsteringer Bank-Dependance Midsand« auf und knipste die hässliche Neonlampe an der Decke des Büros an. Das Zimmer hatte einen ganz eigenen Geruch, den er in all den Jahren nicht wirklich zu benennen geschafft hatte. Es roch nach dem alten braunen Teppichboden, ein bisschen staubig, ein bisschen nach Heizungsluft und ein bisschen nach der Erde der Topfpflanzen, die auf Ruths Betreiben hin in dem Büro verteilt waren.

Ein Kalender mit rotem Schiebefenster hing an der Wand hinter Geerts Schreibtisch. Es stand noch auf dem letzten Monat; er hatte bisher vergessen, es zu ändern. Das Foto des Monats zeigte eine Landschaft in Griechenland. Griechenland, dachte Geert plötzlich, dahin könnte man auch fahren. Klingt vielleicht romantischer als Mallorca. Romantik war seiner Frau doch so wichtig, wichtiger als alles andere. Er nahm sich vor, es ihr am Abend vorzuschlagen.

Aber zuerst lag ein weiterer Tag an seinem Schreibtisch vor ihm. Er setzte sich und nahm die Brotbüchse, die Ruth ihm jeden Morgen liebevoll füllte, heraus. Er hatte zwar gerade erst gefrühstückt, aber das war ihm egal. Während er in ein Käsebrot biss, sah er durch die Fensterscheiben hinaus auf die Hallig. Die Morgensonne schien, der Morgen war ruhig, die Wege, die sich über Midsand zogen, menschenleer und das Meer dahinter glatt. Arne stapfte gerade über die Halligwiese, um nach seinen Kühen zu sehen, sonst war niemand unterwegs. Geert wusste, dass er nicht allzu bald mit Kundschaft rechnen musste, er hatte Zeit. Also kramte er Wetttabellen hervor. Schnell war er in Träumen darüber versunken, welche großen Summen er bald gewinnen würde.

Im Gegensatz zu seiner Nachbarin Esther Johannsen machte Jasper Holt keine Anstalten, auf Minke zuzugehen, um zu erfahren, was auf der Halligwiese vor sich ging. Er wartete, bis Minke zu ihm kam. Jasper stammte aus der alten, wichtigen Familie der Holts, über Jahrhunderte hatten seine Ahnen als Deichgrafen maßgeblich die Geschicke der beiden Halligen und Jüsterings gelenkt, er selbst war der letzte Deichgraf von Jüstering gewesen – er hatte seinen Stolz. So saß er ruhig an die Hauswand gelehnt auf der schmalen Holzbank in der Herbstsonne, über ihm der hohe Giebel seines Hauses mit dem kreisrunden Bullaugenfenster darin und dem überstehenden Reetdach, das das Haus ein wenig an einen Zyklopen mit Ponyfrisur erinnern ließ, und wartete. Über der alten, blau lackierten Haustür mit dem mächtigen metallenen Türklopfer hing das Wappen der Deichgrafen Holt: ein goldener Fisch auf blauem Grund, darum Schnörkel und die gemeißelte Jahreszahl 1703. Während Minke auf ihn zuging, dachte sie, dass es schwer zu entscheiden war, wer mehr Selbstbewusstsein ausstrahlte: der große weiße Friesenhof mit dem prächtigen alten Wappen oder der alte Deichgraf selbst in Wachsjacke und mit Hut, der ihr mit unbewegter Miene entgegensah. Ein alter knorriger Birnbaum stand vor dem Deichgrafenhaus und wirkte wie ein Wächter der Warft.

»Moin, Herr Holt.«

»Moin, Lütte«, antwortete Jasper mit knarrender Altmännerstimme. »Du bist doch die Kleine von Imma und Michael, stimmt‘s? An dich kann ich mich noch erinnern, als du so klein warst.« Er zeigte mit der Hand etwa Zwergengröße. »Hast dich ganz schön verändert.«

Von Jasper konnte man das nicht behaupten, dachte Minke. Er war in ihren Augen schon immer alt gewesen; hochgewachsen mit schneeweißen Haaren und meerblauen Augen, die ziemlich viel Intelligenz ausstrahlten. Ein Deichgraf, wie man ihn sich vorstellte, auch wenn Jüstering das altehrwürdige Amt als letzte der nordfriesischen Provinzen irgendwann Anfang der Neunziger auch endlich abgeschafft hatte – belächelt vom Rest Schleswig-Holsteins, der fand, dass es schon längst wie aus der Zeit gefallen war.

»Ich bin jetzt Kommissarin«, antwortete Minke. »Ganz neu – das ist mein erster Tag.«

»Aha.«

Minke wandte sich hinüber zur Halligwiese, wo die Leute von der Spurensicherung inzwischen wie kleine weiße Gespenster über das Grün wanderten; Bos gelber Mantel leuchtete in der Sonne.

»Der Postbote hat ein Skelett dort gefunden, das wir jetzt bergen«, erklärte sie. »Ich wollte Sie nur darüber informieren.«

»Ein Skelett?« Die wasserblauen Augen blickten milde interessiert. »Ein alter Wikinger vielleicht?«

»Vielleicht. Ich weiß noch nichts Genaueres.«

»Papa, wo soll ich mit den Fischen hin?«, fragte in diesem Moment eine Stimme, die Minke bekannt vorkam. Sie und Jasper drehten sich gleichzeitig um. Im Türrahmen eines der alten Wirtschaftsgebäude stand ein groß gewachsener Mann, dunkelblond mit attraktivem Gesicht und breiten Schultern. Er trug einen Norwegerpullover und darüber eine Anglerhose. Selbst in diesem Aufzug sah er gut aus. Als er Minke erkannte, lächelte er. »Oh, hallo«, sagte er, »wir haben uns ja erst gestern Nacht gesehen.«

Minke schwieg. Er war es gewesen, den sie hinter dem »Halligprinzen« geküsst hatte; David Holt, der Sohn des Deichgrafen. Er war ihr gestern gleich aufgefallen. Seit vier Jahren interessierte sie sich kaum für etwas – das hatte Männer mit eingeschlossen. Seltsam, dass es bei David plötzlich anders war.

»Guck, Lütte, wir waren schon heute früh morgens Kabeljau angeln«, sagte Jasper in diesem Moment gut gelaunt und beendete damit das gespannte Schweigen. »Kabeljau beißt am besten, wenn es kalt und dunkel ist, wusstest du das?« Tatsächlich lagen in einem Eimer neben ihm drei sehr schöne Fische.

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16. Januar 1987, Freitagabend, 18.45 Uhr Esther

Esther stand vor dem gedeckten Esstisch und prüfte angestrengt jedes Detail. Die Gläser waren poliert, die Servietten ordentlich gefaltet, die Salatteller standen bereit, das Besteck glänzte und lag da wie abgezirkelt. Die Tischdecke hatte sie gleich zweimal gebügelt, mit dem alten, schweren Bügeleisen, das einmal ihrer Schwiegermutter gehört hatte. Das Weiß der Tischdecke war makellos; es passte zu den Servietten und dem Porzellan. Ja, es war alles perfekt, so wie es von ihr erwartet wurde.

In der Mitte des Tischs stand das Blumengesteck aus weißen Rosen und cremefarbenen Freesien. Auch das prüfte sie mit geübtem Blick. Schließlich fiel ihr Auge auf das vertrocknete Blütenblatt einer Rose. Sie beugte sich vor und entfernte es. Ja, jetzt war es perfekt.

Nun konnte sie beruhigt zurück in die Küche nebenan gehen. Dort kochte auf dem Herd ein großer Topf mit Grünkohl. Esther hatte ihn so zubereitet, wie es hier an der nordfriesischen Küste Tradition war: mit Butterschmalz, Zwiebeln, Fleischbrühe und einem Lorbeerblatt. Obenauf lagen die Pinkel, die groben Kochwürste. Jetzt fehlten nur noch die Kartoffeln. Esther gab Butterschmalz in eine Pfanne. Sie drehte die Hitze darunter auf und sah zu, wie die Butter zu einem klar-goldenen Fleck zerschmolz. Dann streute sie Zucker darüber. Schnell war die Küche von einem typisch nordfriesischen Geruchsgemisch erfüllt: Kartoffeln, Zucker, Fleisch und Grünkohl. Süß und salzig – broken sööt, wie man auf Friesisch sagte, gebrochene Süße.

Esther gab die vorbereiteten Kartoffeln in die Butter und briet sie an. Sie warf einen kurzen Blick auf die Uhr; die Gäste konnten jeden Augenblick kommen.

Sie sah aus dem Fenster. Die Dämmerung lag schon nachtblau und schwer über der kleinen Hallig, ein dunkler, ungemütlicher Januarabend, wie geschaffen dafür, im Haus zu sitzen und es warm zu haben. Ab und zu schlugen Wellen gegen das Ufer. Das Meer war schon seit Tagen unruhig und der Wind schien nicht mehr aufhören zu wollen, sausend und pfeifend um das Haus und die Warft zu streichen. Gestern hatte er vom Dach des alten Schafstalls einen Ziegel geweht, der auf dem Asphalt des Hofes zerbrochen war. Esther hatte es schnell in Ordnung gebracht, jetzt sah der Hof wieder makellos aus.

An solchen Wintertagen fühlte sich Nekpen immer besonders klein an. Esther war selbst auf der Nachbarhallig aufgewachsen, Hallig Midsand, deutlich größer als die winzige Hallig, auf der sie gerade stand und Kartoffeln briet. Daran, wie winzig Nekpen war, hatte sie sich bis heute nicht wirklich gewöhnt, obwohl sie schon so viele Jahre mit Hinnerk hier lebte; es war sein Elternhaus. Esthers Gedanken flogen zurück zu ihrem Hochzeitstag. Sie war gerade erst achtzehn geworden und wie wahnsinnig verliebt in Hinnerk, Arzt und zwölf Jahre älter als sie. Sie dachte daran, wie schön sie sich in ihrem Brautkleid gefühlt hatte, und an die Feier im teuren Strandhotel drüben in Jüstering. Vom Küchenfenster aus konnte sie die Lichter der kleinen Küstenstadt auf dem Festland sehen, zu der die beiden Halligen gehörten. Das ist meine kleine Welt, dachte Esther, die Halligen und das Städtchen am Ufer, dazwischen bewegt sich alles. Als sie nach ihrer Hochzeit hier auf der Johannsenwarft eingezogen war, war ihr Nekpen vorgekommen wie ein nordfriesisches Bullerbü: ein postkartenblauer Himmel, die grüne weite Halligwiese, die einzigen beiden Warften von Nekpen mit ihren Höfen, der Johannsenwarft im Süden und der Holtwarft im Norden. Die Holts und die Johannsens waren schon immer die einzigen Familien auf Nekpen gewesen. Damals, als junge Braut, hatte Esther gedacht, dass es herrlich sein musste, auf diesem abgeschiedenen Flecken in der Nordsee Kinder großzuziehen, die den ganzen Tag auf der Halligwiese spielen konnten, nur in Gesellschaft einiger Möwen oder Strandkrabben. Das Leben auf Midsand war schon gemächlich, aber auf Nekpen stand die Zeit beinahe still. Die einzige Abwechslung boten im Frühjahr die Ringelgänse, die auf Nekpen ein paar Wochen Halt machten und die Luft mit ihren schnarrenden Rufen erfüllten, bevor sie weiterzogen.

Esther hätte gerne viele Kinder gehabt, aber sie hatte nur eines bekommen. Sie lächelte unwillkürlich, als sie an ihre Tochter dachte. Mutterliebe ist wirklich etwas Eigenartiges, dachte sie und wendete die Kartoffeln. So ein starker Instinkt. Als Linda klein war, hätte sie sie den ganzen Tag küssen und knuddeln können und ließ sie kaum eine Sekunde aus den Augen. Jetzt war Linda schon beinahe erwachsen; heute übernachtete sie bei einer Freundin drüben auf Hallig Midsand. Hinnerk hatte es ihr widerwillig erlaubt. Und bald wird sie ausziehen und ihr eigenes Leben führen, dachte Esther. Da war sie froh um den kleinen Nachbarsjungen, drüben auf der Holtwarft. Sonst wäre Nekpen endgültig viel zu still geworden. Jasper Holt hatte entgegen allen Erwartungen vor einigen Jahren doch noch geheiratet, und Christine war bald schwanger geworden. Jetzt war David sechs Jahre alt und kam manchmal zu Esther zu Besuch, dann kochte sie ihm eine heiße Schokolade. Auch mit Christine verstand sie sich gut, obwohl sie so unterschiedlich waren: Esther still und zurückhaltend, Christine lebensfroh und lustig.

Esther schaltete die Hitze unter den Kartoffeln auf eine niedrigere Stufe. Der Elektroherd war erst kurz vor ihrer Hochzeit eingebaut worden – »für dich, mein Liebling«, hatte Hinnerk damals gesagt. Vorher hatte ihre Schwiegermutter auf einem vorsintflutlichen Herd gekocht und sogar schon den Generator drüben auf der Holtwarft, der die Hallig mit Strom versorgte, für Teufelszeug gehalten. Die Halligen waren langsamer im 20. Jahrhundert angekommen als der Rest der Welt.

Esther griff sich in den Nacken und löste den Knoten ihrer Kochschürze. Nachdem sie sie beiseitegelegt hatte, betrachtete sie ihr Spiegelbild im abendlichen Küchenfenster. Ihre glatten dunkelbraunen Haare hatte sie zu einer eleganten Frisur hochgesteckt. Das kirschrote Cocktailkleid, das sie trug, stand ihr gut. Die Perlenkette war ein Geschenk von Hinnerk zum fünften Hochzeitstag gewesen; sie wusste, dass es ihm gefiel, wenn sie sie trug. Esther strich sich über das Haar und stellte erleichtert fest, dass alles sicher saß. Nichts würde verrutschen, alles war in Ordnung.

Sie hörte, wie Hinnerk die Treppe aus dem oberen Stock herunterkam. Draußen an der Anlegestelle stiegen gerade Esthers Schwester und ihr Schwager aus dem Boot und kämpften sich durch den Wind. Ein Gast fehlte noch. Esther strich das Kleid glatt; dann atmete sie tief durch, öffnete die Küchentür und ging in den Flur. Hinnerk stand schon da. Er trug einen Anzug und ein Paar teure Lederschuhe wie immer. Die Schuhe ließ er sich aus England kommen, den Anzug maßschneidern. Auf solche Dinge legte er Wert.

»Ist alles fertig?«, fragte er, als er seine Frau sah.

Esther nickte.

Es klingelte an der Tür, der Abend begann.