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Ein perfekter Halligsommer, ein mysteriöser Mord und eine scharfsinnige Ermittlerin Es ist ein wunderschöner Sommer auf Midsand. Badegäste trudeln ein, die nordfriesische Sonne scheint und abends bietet sich ein grandioses Naturschauspiel. Das "Meeresleuchten" färbt die Nordsee fluoreszierend blau. Dann geschieht das Unfassbare: Am Abend des großen Sommerfests wird ein totes Mädchen in der blau leuchtenden Brandung gefunden. Die siebzehnjährige Leonie trägt noch die Friesentracht und einen Blumenkranz im Haar – sie wurde ermordet. Aber von wem und warum? Kommissarin Minke van Hoorn jagt den Mörder und muss ein Geflecht aus Lügen und Hass entwirren, das sich über die Hallig zieht ...
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Halligzorn
GRETA HENNING ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Sie mag die Nordsee bei jedem Wetter, Wattwanderungen und Krabbenbrötchen – gute Voraussetzungen, um einen Nordseekrimi zu schreiben.Besonders die Welt der friesischen Halligen hat ihr es angetan.
»Während sie auf das Watt blickte, hatte sie plötzlich beinahe das Gefühl, vor dem inneren Auge tatsächlich eine Stadt zu sehen, die sich dort im Mondschein gespenstisch erhob. Eine schlafende Friesenprinzessin in leuchtender Brandung, eine gespenstische Geisterstadt, versunken vor langer Zeit.«Ein Team von Archäologen im Jüsteringer Wattenmeer – sie sind auf der Suche nach einer versunkenen Stadt. Schon bald werden sie fündig, doch nicht alle sind darüber erfreut. Minke van Hoorn ermittelt zunächst in einem Diebstahl und ahnt nicht, dass bald düstere Ereignisse die Halligen überschatten werden.
Greta Henning
Ein Nordseekrimi
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Paperback1. Auflage Februar 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: mauritius images / Nora Frei (Haus) E-Book Konvertierung powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-8437-2538-5
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Nachwort
Leseprobe: Halligmord
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Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Für Papa
Heut bin ich über Rungholt gefahren/die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren
16. Januar 1362
Der Tag begann frostig und klar, mit einem eisblauen Himmel, der sich über die Nordsee spannte, und ein paar Möwen, die durch die kalte Winterluft segelten. Der Junge, der früh morgens am Strand stand, legte den Kopf in den Nacken und sah zu, wie sie dahinschwebten. Das Fliegen sah bei den Vögeln so leicht aus, als müssten sie sich gar nicht anstrengen. Er streckte die Arme, schlug ein paarmal auf und ab und stellte sich vor, er könnte dasselbe tun. Einfach davonfliegen, Everbeck hinter sich lassen. Den Hafen, wo jeden Tag Schiffe anlegten und wo er von früh bis spät Ladung von Bord schleppte. Davonfliegen von den Gassen der Stadt, die jetzt im Winter nur noch aus kaltem Matsch bestanden, vom scharfen Geruch der Torffeuer, der zu Everbeck gehörte wie die Möwen zur Nordsee. Weg von der ärmlichen Hütte, in der er mit seinen Eltern und den vielen Geschwistern hauste. Weg von den reichen Herren und herausgeputzten Damen der Stadt, die einen wie ihn gar nicht wahrnahmen. Ja, weit wegfliegen, das wäre schön. Der Blick des Jungen folgte einer einzelnen großen Möwe, die immer weiter hinaus auf das winterliche Meer flatterte. Sie wurde kleiner und kleiner über diesem unendlichen, kalten Wasser.
»He, Lütt!«, rief in diesem Moment eine ruppige Stimme hinter ihm. »Steh nicht rum – pack an! Gewürzladung aus Amsterdam.« Der Junge sah noch einen Augenblick sehnsüchtig auf den kleinen Punkt am Horizont. Dann drehte er sich folgsam um und begann seine Arbeit.
»Verkaufen Sie auch Briefmarken?« Die Frau mit Strohhut auf dem Kopf und einer schreiend bunt geblümten Sommerbluse wedelte mit einer Handvoll Fotopostkarten, alle mit dem Aufdruck »Gruß aus Jüstering und von den Halligen«.
»Ich brauche sieben Stück! Nein – lieber acht.«
Vor dem Laden in der Jüsteringer Altstadt drängten sich schon jetzt am Morgen die Urlauber um die Postkartenständer und Strandaccessoires. Ein kleiner Junge bettelte seine Mutter an, ihm eine Luftmatratze in Krokodilform zu kaufen. Ein Pärchen probierte Sonnenbrillen auf; ein paar Rentnerinnen mit viel Lippenstift besahen sich Badeanzüge, während eine zierliche Aushilfe das Regal mit der Sonnenmilch wieder auffüllte. Sonnenmilch ging seit Wochen weg wie warme Semmeln; über dem Küstenstädtchen und seinen beiden vorgelagerten Halligen Midsand und Nekpen lag ein Jahrhundertsommer. Jeden Tag stieg das Thermometer weit über dreißig Grad, die Straßen, der Deich, die Halligen, das Meer, alles glänzte im nordisch-hellen Sommerlicht. Ein freies Hotelzimmer oder auch nur einen freien Strandkorb gab es schon lange nicht mehr. Und die Krabbenbrötchen werden auch knapp, dachte Kommissarin Minke van Hoorn. Sie hatte gerade an ihrer Lieblingsfischbrötchenbude am Hafen noch das letzte zum Frühstück ergattert. Zufrieden biss sie nun hinein, während sie weiterging.
Die Stadt rüstete sich für einen weiteren heißen Sommertag: Eisdielen öffneten, die Straßencafés klappten ihre Tafeln mit Angeboten aus, bald würde hier wie jeden Tag alles bis auf den letzten Platz besetzt sein. In den Restaurants und an den Stränden war die Hölle los – das restliche Leben in der Stadt schien dagegen in einem tiefen Sommerloch zu stecken. Außer ein paar Taschendiebstählen und einer Schlägerei nach einer Sommerparty unten am Hafen war schon lange nichts mehr passiert, was Minke und ihre Assistentin Lisa von der Jüsteringer Polizei beschäftigt hätte. Der Jüsteringer Stadtanzeiger kämpfte seit Wochen mit einem veritablen Fehlen von Schlagzeilen, es gab einfach nichts zu berichten, abgesehen von der unglaublichen Hitze, bei der kein Ende in Sicht war. Minke biss wieder von ihrem Brötchen ab und verzog das Gesicht. Die Remouladensoße war schon nach den paar Hundert Metern unappetitlich warm geworden.
»Ich freu mich langsam auf den Herbst«, murmelte sie. Ihr Weg führte an der großen Stadtkirche mit dem Turmhelm vorbei und dann in eine gepflasterte Gasse. Dort umrundete sie eine Gruppe Senioren, die sich zu einer frühen Stadtführung versammelt hatte, und schnappte dabei ein paar Sätze der Stadtführerin auf: »Unsere Stadt blickt auf eine lange Seefahrer- und Walfängergeschichte zurück. Dieses große alte Gebäude aus Backstein dort drüben«, alle Köpfe drehten sich in die Richtung, in die die Stadtführerin zeigte, »gehörte zum Beispiel einst dem größten Fischhändler von Jüstering.«
Auf genau dieses alte Gebäude steuerte Minke nun zu. Über dem Eingang prangte ein steinerner Fisch aus den lange vergangenen Tagen eben jenes Fischhändlers – und direkt daneben ein blau-weißes Leuchtschild. »Polizei«. Minke war angekommen; der Tag begann.
»Na, war’s heut Morgen schon wieder so voll an deinem Fischständle?«, rief eine Stimme mit eindeutig schwäbischem Akzent, kaum hatte Minke die Tür hinter sich geschlossen. Lisa Röhrle, Ende zwanzig, klein, rundlich, mit braunen Locken und freundlichen Rehaugen, streckte den Kopf aus ihrem Büro. Sie hatte sich nach einer kurzen Ehe und einer noch schnelleren Scheidung, über die sie beinahe nie sprach, im letzten Herbst von der Schwäbischen Alb an die Nordseeküste versetzen lassen – »Weisch, weiter weg ging’s halt net« – und war seitdem Minkes Assistentin. Lisa war schwäbisch-fleißig, unerschütterlich freundlich und für nordfriesische Gewohnheiten viel zu redselig.
»Es ging«, nuschelte Minke mit vollem Mund und schluckte den letzten Bissen Krabbenbrötchen hinunter.
»Ach je, du hasch dich verkleckert.« Lisa deutete auf Minkes verwaschenes T-Shirt. Direkt neben dem kaum noch leserlichen Aufdruck »Projekt Nordseeauster« – ein Überbleibsel aus Minkes früherem Leben als Meeresbiologin – prangte ein Remouladenfleck. Minke rubbelte darüber.
»Nein – net reiben! Des macht alles nur viel schlimmer. Warte!« Lisa verschwand in ihrem Büro und kam gleich darauf mit einer kleinen Pappschachtel zurück. »Hier, ich hab immer Gallseife für solche Notfälle. Meine Oma hat immer g’sagt, es gibt fast nix, was Gallseife net wieder rauskriegt.« Sie nahm ein gelbliches Seifenstück aus der Schachtel und streckte es Minke entgegen. »Aber du musch dich beeilen, wenn es antrocknet, wird es immer schwieriger. Auf der Hochzeit meiner Tübinger Cousine isch auch mal so was passiert. Die hat sich Himbeerbowle auf das Brautkleid gekleckert, Himbeerbowle – das muss man sich mal vorstellen, auf weißer Spitze! Des konnte man natürlich net so lassen, wie hätt denn das ausgesehen?« Sie wedelte immer noch mit dem Seifenstück, während sie redete und drängte Minke in Richtung des Waschbeckens der kleinen Teeküche. »Jedenfalls, meine Tante hatte vorgesorgt und Gallseife im Handtäschle – und was soll ich sagen, des ging einwandfrei wieder raus und kein Mensch hat was gesehen. Die Hochzeitsfotos waren gerettet! Aber sie hat natürlich auch net gewartet, bis es angetrocknet war, und gerubbelt hat sie auch net …« Lisa warf Minke einen vorwurfsvollen Blick zu.
Minke nahm die Seife und begann halbherzig, den Fleck auszuwaschen. Der Fleck war ihr egal, aber sie wollte sich weitere Gallseifengeschichten von Lisa ersparen. Das T-Shirt sog sich schnell mit Wasser voll. Immerhin ein bisschen Erfrischung, dachte Minke. Selbst in den dicken Gemäuern der alten Polizeistation staute sich seit Tagen die Hitze. Auch jetzt spürte Minke, wie sich auf ihrer Stirn ein unangenehmer Schweißfilm bildete. Lisa dagegen sah aus, als würde ihr die Hitze gar nichts ausmachen. Süddeutsche Gene, vermutete Minke.
»Du, übrigens, des wollte ich noch sagen – ich will am Wochenende schwäbische Laubfrösche machen«, plauderte ihre Assistentin währenddessen weiter. »Ich glaub echt, des würde dir auch schmecken. Ich bring dir welche mit, ja?«
Minke brummte etwas Unverständliches. Sie öffnete den Kühlschrank auf der Suche nach der letzten Packung Eistee und dachte an das letzte Mal, als Lisa ihr eine schwäbische Spezialität mitgebracht hatte. Ochsenmaulsalat war das gewesen und es schmeckte genau nach dem, woraus es bestand. Da wollte sie lieber gar nicht wissen, was schwäbische Laubfrösche waren.
»Hat heute Morgen schon jemand angerufen?«, wechselte Minke das Thema.
Lisa nickte. »Die alte Frau Vermeer von gegenüber – der isch mal wieder der Pudel ausgebüxt.« Der Pudel riss alle paar Wochen aus und meistens fand ihn jemand auf dem Deich wieder, wo er leidenschaftlich ein paar Schafe anbellte. »Dann hat David angerufen«, zählte Lisa weiter gewissenhaft auf. »Der wollte fragen, ob er dich heut Abend zum Fescht abholen soll oder ob du selber hinkommsch.«
David Holt, der Sohn des letzten Deichgrafen von Nekpen und Leiter der Seehundstation auf den Klippen war seit einem Jahr Minkes Freund. Sie hatte ihn bei ihrem ersten Fall kennengelernt; ein netter Naturbursche aus altfriesischer Familie, der meist in groben Strickpullovern und Gummistiefeln herumlief und trotzdem ihrer Meinung nach umwerfend aussah. Mit ihm würde sie heute Abend auf das Fest im Halligprinzen drüben auf Midsand gehen.
»Ach ja, und dann noch deine Mutter«, fuhr Lisa fort. »Die lässt fragen, welches Kleid du heute Abend für ‘s Fescht anziehen willsch.«
Minke lachte. »Ich besitze gar kein Kleid. Meine Mutter schnappt wirklich noch über wegen heute Abend.«
Das Fest – dieses Jahr unter dem Motto »Altfriesischer Abend« – wurde jeden Sommer vom Halligverein organisiert, dessen Vorsitzende Imma van Hoorn war. Seit Wochen hatte sie kein anderes Gesprächsthema mehr. Es war ihr sogar gelungen, Minkes Zwillingsbruder Eibo, genannt Bo, der in Kiel als Rechtsmediziner arbeitete und rein gar nichts für die kalte Nordsee, seinen traditionellen friesischen Vornamen und die nordfriesische Provinz, in der er aufgewachsen war, übrighatte, zu überreden, für diesen Abend nach Midsand zu kommen. Daran, ihre starrköpfige Tochter zum Basteln der Dekorationsgirlanden zu bewegen, war sie allerdings gescheitert.
»Also ich freu mich ja echt schon total«, plapperte Lisa in diesem Moment strahlend weiter. »Altfriesischer Abend, des klingt doch toll. Und der Halligprinz isch so ein hübsches Gasthaus, so richtig friesisch mit dem alten Reetdach. Dazu das wahnsinnig tolle Wetter. Ich lieb ja den Sommer – das wird sicher ein subber Abend heut.«
Minke hatte sich Eistee eingeschenkt und steuerte mit dem Glas aus der Teeküche in Richtung ihres Büros. Lisa blieb ihr auf den Fersen. »Ich dacht übrigens, ich zieh mein gelbes Sommerkleid an – weisch, welches ich meine? Oder vielleicht komm ich auch richtig friesisch-patriotisch in Blau-Rot-Gold? Was ziehsch denn du an, wenn schon kein Kleid?«
»T-Shirt mit Remoulade vielleicht.«
Minke erntete einen entsetzten Blick von Lisa.
In Minkes Büro trocknete auf der Fensterbank eine Topfpflanze traurig vor sich hin. Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Fälle der letzten Wochen: Nachbarschaftsstreitigkeiten wegen zu viel Grillrauch, eine Anzeige wegen illegal vermieteter Strandkörbe und ein E-Bike-Diebstahl vor einer Ferienwohnung. Alles nicht besonders spannend. Minke setzte sich lustlos an ihren Schreibtisch und blickte zur Wand, wo als einziger Schmuck ein Zeitungsartikel über Kommissar Michael van Hoorn hing. Minkes Vater war eine Legende in Jüstering und auf den Halligen gewesen, es gab praktisch keinen Fall, den er nicht aufgeklärt hatte. Auf seinen plötzlichen Tod bei einem Segelunfall vor fünf Jahren hatte jeder in der Familie anders reagiert: Imma ging seither jeden Tag auf den Friedhof und pflegte dort die Blumen, Bo hatte sich ein schickes schwarzes Cabrio gekauft und Minke hatte ihr altes Leben als Meeresbiologin hingeschmissen und war auf die Polizeischule gegangen, um in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Nun sah sie zu dem grobkörnigen Zeitungsfoto ihres Vaters, auf dem er am selben Schreibtisch saß wie sie jetzt. Moin, Papa – wie hast du eigentlich solche langweiligen Sommerwochen ausgehalten?, fragte sie ihn in Gedanken. Sie seufzte. Es half alles nichts. Sie startete den altersschwachen Computer und machte sich an den Bericht über das gestohlene E-Bike.
Das Mädchen, das über den sonnengefluteten Schulhof des Theodor-Storm-Gymnasiums ging, hatte lange braun gebrannte Beine, die durch den kurzen teuren Sommerrock gut zur Geltung kamen. Ihre blonden Haare schwangen bei jedem Schritt und sie strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das man beinahe mit den Händen greifen konnte. Kichernd folgten ihr ihre Klassenkameradinnen, wohin sie ging, und die Jungs auf dem Schulhof verdrehten sich die Hälse nach ihr.
Wie es wohl war, so bewundert zu werden?, dachte Eida, die oben am Fenster des Lehrerzimmers stand und hinaus auf den Schulhof blickte. Leonie Schwarz war noch nicht lange auf der Schule und trotzdem kannte sie jeder. Ihr Vater war ein erfolgreicher Bauunternehmer, die Mutter wunderschön, Leonie selbst reich, jung und selbstbewusst. Die Lehrerin lehnte den Kopf gegen das warme Fensterglas, während sie weiter hinunter zu den Schülern schaute. Dort unten steckte sich Leonie gerade ein Kaugummi in den Mund und lachte dann über etwas, das eines der anderen Mädchen gesagt hatte. Über allem war der wolkenlose blaue Himmel. Eida im Lehrerzimmer sehnte sich nach Wind, nach Wolken und nach einem bisschen kühlen Regen.
»Eida? Dein Nachhilfeschüler wartet.« Die Sekretärin des Direktors steckte den Kopf zur Tür des Lehrerzimmers herein. Eida drehte sich um.
»Kommst du?« Die Sekretärin sah sie ungeduldig an.
»Natürlich, entschuldige.«
Vom Schulhof drang das Lachen der Mädchen durch die Fenster zu ihr herauf.
»Hallo? Hier ist der Professor«, bellte Jeske Hein in sein Handy. Er tigerte ungeduldig in dem kleinen, einfachen Pensionszimmer auf und ab. »Ich habe Sie schon gestern versucht zu erreichen. Sagen Sie – was haben Sie daran nicht verstanden, dass ich keine Post will?! Ich habe mich doch klar ausgedrückt, als ich gesagt habe ›Nur am Telefon‹, oder?«
Der Mann mit skandinavischem Akzent am anderen Ende der Leitung kam gar nicht dazu, etwas zu sagen. Als er dazu ansetzte, schnitt ihm der wütende Professor sofort das Wort ab. »Keine Briefe, keine Postkarten, keine Rauchzeichen. Kapiert?«
»Aber wir schicken immer …«, wagte der Mann schüchtern einzuwerfen.
»Hören Sie, Mann, ich komme noch in Teufels Küche, wenn das so weitergeht.«
»Bei Ihrer Frau? Oh, das wollte ich natürlich nicht.«
Jeske Hein stutzte. Dann fiel ihm der Zusammenhang wieder ein.
»Ja, ja, genau – bei meiner Frau. Also hören Sie auf, Mann.«
Er legte auf, warf das Handy auf das schmale Bett und trat dann ans Fenster. Er sah hinaus auf die Wiese. Von Weitem konnte er das Camp sehen, die einzelnen Ausgrabungsfelder, die sie angelegt hatten, die Feldschirme. Alles lag friedlich in der Sonne. Hoffentlich bleibt das so, dachte Jeske Hein.
Zur selben Zeit lag in einer beeindruckenden, neu gebauten modernen Villa in bester Jüsteringer Lage Kristin Schwarz in der Badewanne. Eigentlich war es zu warm, um zu baden, aber sie hatte eben Lust darauf gehabt und außerdem hatte sie sich diese Badewanne gewünscht. Nun lag sie im zarten weißen Schaum und bereitete sich gedanklich auf den Tag vor. Sie betrachtete ihre perfekt gepflegten Füße, strich sich über den immer noch straffen Körper, tastete nach ihren blondierten Haaren, die sie zum Baden mit einer Klammer hochgesteckt hatte. Ja, sie war noch schön. Wenn ihr Mann das nur erkennen würde. Er hatte ihr versprochen, dass sich alles änderte, wenn sie erst hier in Jüstering wohnen würden. Traumvilla, Traumleben, hatte er immer gesagt. Und dass er hier in der nordfriesischen Provinz, aus der er stammte, nicht mehr so viel arbeiten würde wie in Hamburg, dass sie wieder ein richtiges gemeinsames Leben hätten. Versprochen hatte er es ihr, so oft versprochen! Doch hier war es genauso weitergegangen wie in Hamburg – eigentlich war es sogar noch schlimmer geworden. In Stephans Kopf gab es nur Projekte, Baugelände, Profite, Grundstückspreise, Strategien. Dauernd war er auf der Pirsch nach irgendwelchen unbebauten Quadratmetern, die er sich einverleiben konnte, irgendetwas darauf bauen, teuer vermieten – und dann das nächste Projekt. Wie er an all diese Grundstücke kam, das wollte sie eigentlich gar nicht so genau wissen.
Und währenddessen lag sie hier in ihrer neuen Badewanne, in ihrer neuen Villa und war in Jüstering genauso einsam wie in Hamburg. Die Halbtagsstelle, die sie als Modezeichnerin angenommen hatte, füllte sie nicht aus und sie täuschte vor allem nicht über die Schieflage in ihrer Ehe hinweg. Ja, Stephan liebte sie, aber er war besessen von seiner Arbeit und skrupellos, was seine Geschäfte anging. Ein Verrückter, dachte Kristin, mit viel Härte zu anderen und sich selbst. Er war nicht mehr der Mann, den sie einmal geheiratet hatte. Immerhin hatte er sich heute Zeit für den Termin im Strandhotel mit Leonie genommen, um die letzten Dinge für ihre Geburtstagsparty abzuklären. Dieser Geburtstag ging Kristin allmählich auf die Nerven. Leonies Ideen, was ihre Party anging, wurden immer ausgefallener. »Das wäre noch viel cooler, Papa. Bitte!«, brauchte sie nur zu sagen und schon stimmte er zu und mietete einen Schokoladenbrunnen, eine Schaumkanone oder was ihr noch so einfiel.
Kristin seufzte. Leonie war verwöhnt, das konnte jeder sehen – jeder außer Stephan. Sie blickte zu der riesigen Fensterfront, die es selbst hier im Badezimmer gab. Ihr Mann liebte Glas und Licht. Er war im Jüstering der Siebzigerjahre in einer einfachen, muffigen dunklen Fischerwohnung am Hafen aufgewachsen. Er hatte sich hochgearbeitet, mit grenzenlosem Ehrgeiz, mit Fleiß, mit Ellenbogen und dem richtigen Riecher. Er war stolz darauf. Sie konnte verstehen, warum er alles abstreifen wollte, was so war wie die Wohnung, in der er aufgewachsen war. Aber musste auch das Badezimmer so viel Glas haben? Von der Badewanne aus sah Kristin in den blauen Sommerhimmel. Was für ein schöner Tag, dachte sie. Einen solchen Tag musste man nutzen. Es nutzte nichts, in Trübsal zu versinken. Mit einem Ruck stand sie aus der Wanne auf, Wasser und Schaum liefen an ihrer Haut herunter. Sie griff nach dem flauschigen Handtuch und trocknete sich ab, dann rieb sie sich mit teurer, gut riechender Lotion ein. Stephan hatte ihr die Flasche von einer Geschäftsreise mitgebracht, weil er den Duft mochte. Während Kristin sich damit eincremte, fragte sie sich, ob er ihn überhaupt noch an ihr wahrnahm.
Niels stolperte müde über die weite Midsander Halligwiese und blinzelte ins Licht. Gestern Abend war es spät geworden. Lange hatte er mit den anderen Archäologiestudenten und ihrem Professor noch vor dem großen Arbeitszelt beisammengesessen. Sie hatten sich ein paar Flaschen Wein geteilt und sich ihre Zukunft ausgemalt, jetzt, wo die Ergebnisse der Ausgrabung so unerwartet sensationell waren – besser, als sie es sich jemals erträumt hatten. Erst um Mitternacht waren sie in ihre Pensionsbetten gefallen. Dort lagen jetzt auch noch alle, abgesehen von ihm. Niels war heute mit der Frühschicht an der Reihe. Er war dafür zuständig, das Grabungszelt aufzuräumen, die Werkzeuge so zu säubern, dass sie für den heutigen Ausgrabungstag wieder einsatzfähig waren, und die Feldschirme über den einzelnen Gruben aufzuspannen, sodass die Sonne später bei den Ausgrabungen nicht allzu sehr auf Rücken und Nacken stach. Natürlich hatten sie trotzdem alle Sonnenbrand, aber das nahmen sie gerne in Kauf. Man entdeckte nicht alle Tage eine versunkene Stadt.
Niels gähnte herzhaft. Die warme Luft roch salzig, die Nordsee war gerade dabei, von der nächtlichen Ebbe zurück an die Küste zu schwappen und dabei das dunkelbraune Watt rund um die grüne Hallig zu überfluten. Ein paar Möwen kreischten über Midsand, und das Camp der Archäologen mit den Zelten und den sieben fein säuberlich abgesteckten Grabungsfeldern lag still und friedlich in der Vormittagssonne.
Niels öffnete das große Arbeitszelt und begann, dort ein wenig Ordnung zu schaffen. Als Nächstes machte er sich daran, die Werkzeuge sauber zu machen, all die Kellen und Spatel, die Stechbohrer und schließlich auch die Handfeger und Pinsel, die für die Feinarbeiten gebraucht wurden. Als alles aufgereiht und sauber an seinem Platz lag, wandte er sich der wichtigsten Aufgabe zu – die erste Runde Kaffee für alle zu kochen. Nach gestern Abend war das besonders nötig. Niels schaltete den Generator an und befüllte dann die alte Kaffeemaschine, die Professor Hein auf jede seiner Ausgrabungen mitschleppte, mit Wasser und Kaffeepulver. Schließlich gluckerte die Maschine zufrieden vor sich hin, der Duft nach Kaffee waberte durch das Zelt. Niels betrachtete sein Werk und pfiff dabei zufrieden vor sich hin. Doch plötzlich blieb sein Blick an etwas hängen, das er vorher übersehen hatte – sein Pfeifen verstummte.
»Oh mein Gott!« Niels stand wie angewurzelt da. Sein Herz raste. »Nein, nein, nein«, stammelte er. »Das kann nicht sein! Das ist nicht wahr.«
Zitternd griff er zu seinem Handy und wählte die Nummer der Polizei.
Minke lenkte das leichte Polizeiboot über das noch recht flache Wasser, das verriet, dass die Ebbe noch nicht allzu lange her war. Wenn die Nordsee sich zurückzog, waren die Halligen und die Küstenstadt Jüstering für eine kurze Zeit durch Watt miteinander verbunden; schwappte das Wasser bei Flut zurück, lag zwischen den Halligen und dem Festland zwei Kilometer blaue Nordsee. Lisa klammerte sich an der Reling fest. Seit ihrem Dienstantritt hatte sie sich an Minkes rasanten Fahrstil sowohl an Land als auch auf dem Wasser gewöhnen müssen. Auch jetzt spritzte die Gischt einen feinen, salzigen Wassernebel in ihr Gesicht, während Minke, hoch aufgerichtet am Steuer, ungerührt noch einen Gang höher schaltete. Ihre ungewöhnlich weißblonden Haare, die sie wie so oft zu einem schlichten Pferdeschwanz gebunden hatte, flatterten dabei wie eine Fahne im Fahrtwind. Und die Freude darüber, endlich etwas zu tun zu haben, stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Und diesen Archäologen wurde was genau geklaut?«, schrie Lisa gegen Gischt und Motorbrummen an.
»Irgendeine Figur.« Minke steuerte das Boot in einer kühnen Kurve in Richtung Halligufer. »Gestern Nacht offenbar – der Anrufer war ziemlich aufgeregt.«
»Passiert so etwas auf Midsand öfter? Ich meine – Diebstahl?«
»Überhaupt nicht. In meiner Kindheit kam höchstens mal ein Kaugummi aus Ruths Laden weg.« Minke peilte die Anlegestelle vor der Markuswarft an. »Wer stiehlt schon etwas auf einer Hallig, auf der jeder jeden kennt und von der man bei Ebbe nur zu Fuß wegkommt?«
Sie bremste das Boot scharf ab und legte an. Erleichtert sprang Lisa auf festen Grund. Minke folgte ihr und gemeinsam schlugen sie den Weg über die Markuswarft zur Halligwiese ein. Die Markuswarft war die größte der fünf Midsander Warften, künstlich aufgeschüttete Erdhügel, die die Häuser darauf vor Sturmfluten schützen sollten. Minke war auf der Markuswarft aufgewachsen und seit sie zurück an die nordfriesische Küste gezogen war, lebte sie wieder auf der Hallig. Im Haus ihres alten Geschichtslehrers Paul Breitmann hatte sie sich eine winzige Wohnung unterm Reetdach gemietet. Dort lebte sie nun schon seit fast einem Jahr, zusammen mit ihrem dreibeinigen Kater Victor. Von der Anlegestelle aus konnte man das rote Backsteinhäuschen und Pauls verwilderten Garten mit dem alten knorrigen Pflaumenbaum erkennen.
Viel größer und beeindruckender war der Halligprinz, das einzige Gasthaus auf Midsand. Heute Abend würde dort der »Altfriesische Abend« stattfinden; von Weitem konnte Minke ihre Mutter ausmachen, die mit den anderen Mitgliedern des Halligvereins auf der Wirtshausterrasse gerade Girlanden aufhängte und Tische herumschob.
Auf Midsands größter Warft gab es auch einen Halligladen, eine winzige Bankfiliale und den Fething, den alten Süßwasserspeicher der Hallig, der heute nur noch ein Teich war. An diesem Vormittag lag er glatt und still in der Sonne, nur ein paar Enten paddelten darauf herum.
Neben der Markuswarft lag die Stinewarft mit weiteren Wohnhäusern und einem kleinen Gemeindezentrum. Als Nächstes kam die kleine Südwarft mit dem Midsander Landschulheim. Auf der Seite der Hallig, die zur Küste hin lag, folgten dann die Kirchwarft mit der alten Halligkirche, dem Friedhof und dem Pfarrhaus und im Norden die kleinste Warft, die Frankwarft, auf der die Bauernfamilie Frank mit ihren Schafen und Kühen wohnte. Zwischen den fünf Halligen breitete sich die weite Halligwiese aus, die alles miteinander verband. Dorthin steuerten Minke und Lisa.
»Man denkt gar nicht, dass das so weit isch«, keuchte Lisa und versuchte, mit Minkes deutlich längeren Beinen Schritt zu halten. »Die Hallig kommt einem eigentlich klein vor, aber diese Wiese isch echt riesig.«
»Genau sieben Minuten zu Fuß von der Frankwarft zur Markuswarft, neun von der Kirchwarft, dreizehn von der Südwarft und wieder sieben von der Stinewarft.« Minke grinste. »Ich muss es wissen – Bo und ich haben das eine halbe Kindheit lang ausgemessen. Das war eines unserer Spiele.«
Lisa hielt sich die Seite. »Bei uns auf der Alb haben wir eher Schnellerles gespielt.«
»Was bitte?«
»Auf Hochdeutsch: mit Murmeln«, schnaufte Lisa.
Sie hatten die Ausgrabungsstätte erreicht. Seit Beginn des Sommers hatte hier eine Gruppe Archäologen von der Universität Kiel ihre Zelte aufgeschlagen und nach und nach Gruben in die grüne Halligwiese gegraben. Am Anfang waren es nur zwei gewesen, jetzt zählte Minke sieben. Viel wusste sie nicht über diese Ausgrabungen, nur dass die Archäologen sich für den ganzen Sommer im Halligprinzen eingemietet hatten. Tjark, der alte Wirt, mit dem Minke eine nordfriesisch-wortkarge Freundschaft pflegte, seit sie alt genug gewesen war, ihr Taschengeld bei ihm in Fritten zu investieren, war darüber nicht unbedingt begeistert gewesen. »Die buchen mir den halben Gasthof aus und finden, dass ich darüber froh sein sollte«, hatte er bei ihrem letzten Besuch geknurrt. »Dabei treten sich in diesem Wahnsinnssommer die Touristen hier sowieso die Füße platt. Ich könnte jedes Zimmer doppelt belegen, wenn ich wollte. Hätten die nicht im Winter da draußen rumbuddeln können?«
Jetzt sah die ganze Archäologengruppe Minke und Lisa aufgeregt entgegen. Sie hatten sich vor dem großen Arbeitszelt versammelt und redeten hektisch durcheinander.
»Moin!« Minke rief über das Stimmengewirr hinweg. »Ich bin Kommissarin Minke van Hoorn, das ist meine Assistentin Lisa Röhrle.«
Das Stimmengewirr legte sich. »Gut, dass Sie hier sind.« Ein nervös wirkender rothaariger junger Mann mit Brille trat vor. »Ich bin Niels – ich war es, der Sie angerufen hat.«
»Sie haben also den Diebstahl entdeckt?«
Er nickte. »Ich habe mich so erschrocken!«, gab er zu. »Mit so etwas rechnet man doch wohl nicht.« Das Mädchen, das neben ihm stand, legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. Minke kannte sie; es war die Nichte ihres Vermieters, die bei ihm wohnte. Seit Wochen jobbte sie begeistert als Aushilfe bei den Grabungen.
»Okay, und was genau wurde geklaut?«, fragte Minke. »Eine alte Tonscherbe oder so etwas?«
»Nein – ein Kunstschatz, unglaublich wertvoll«, antwortete Niels. »Dieses Pferdchen ist eine archäologische Sensation.«
»Ein Pferdle?!«, echote Lisa verwirrt.
»Ganz recht. Ein Bernsteinpferd, vierzehntes Jahrhundert.« Eine sonore Stimme drang aus dem Halbdunkel des großen Arbeitszeltes, wo für einen Moment nur ein Schatten zu erkennen war. Dann trat der Mann ins Sonnenlicht. »Guten Morgen. Ich bin der Leiter dieser Ausgrabungen, Professor Jeske Hein.«
Er hatte einen dichten Dreitagebart, ein kantiges Gesicht und einen wachen Blick. Minke hatte ihn schon ab und an von Weitem auf der Wiese oder im Halligprinzen gesehen. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig. In olivfarbenen Arbeitshosen und einem beigen Hemd kam er nun auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. Der Händedruck war fest.
»Danke, dass Sie beide so schnell gekommen sind.« Er unterbrach sich und betrachtete Minkes Haare. »Eine bemerkenswerte Haarfarbe, Frau Kommissarin. Sind Sie eine echte Friesin?«
»Ich bin auf Midsand aufgewachsen, wenn Sie das meinen.« Minke musterte ihn ihrerseits. Gut aussehend und sehr selbstsicher, dachte sie, wahrscheinlich der Schwarm seiner Studentinnen. Außerdem ehrgeizig, sonst wäre er kaum so jung schon Professor.
Laut sagte sie: »Ein Pferd aus Bernstein wurde Ihnen also geklaut? Aber Bernstein ist doch nicht besonders teuer.«
»Heute nicht mehr, aber früher war es das.« Jeske Hein breitete die Arme vage über die Wiese aus. »In der Epoche, mit der wir uns beschäftigen, jedenfalls. Das Bernsteinpferd ist unser kostbarster Zeuge dieser Zeit.«
»Aha. Und wo haben Sie Ihren kostbarsten Zeugen aufbewahrt?«
»Im Tresor. Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen.«
Kurz darauf standen Minke und Lisa im Zelt vor einem kleinen Tresor neben dem ziemlich unordentlichen Schreibtisch des Professors. Die Tresortür war aufgehebelt worden, vermutlich mit einem Brecheisen. Minke betrachtete die Kratzspuren im Lack, wo das Werkzeug wohl bei den ersten Versuchen abgerutscht war.
»Ich mach mal ein paar Fotos.« Lisa zog ihr Handy aus der Tasche und begann eifrig, den aufgebrochenen Tresor von jeder Seite aus zu fotografieren. »Wissen Sie, Herr Hein, des isch ganz zentral, dass man gleich Fotos macht, weil sich ja später vielleicht was verändert, und dann sind Spuren weg, die vielleicht da gewesen wären und dann isch man dankbar, wenn man Fotos hat, auf denen man sich noch mal alles angucken kann, um vielleicht …«
»Professor Hein, wenn ich bitten darf. Tun Sie, was Sie nicht lassen können. – Wissen Sie«, wandte sich der Professor dann wieder an Minke, »das Bernsteinpferd ist friesisches Kulturerbe, ein Kunstschatz, eine archäologische Sensation.«
»Wenn dieses Bernsteinpferd so sensationell ist – wieso haben Sie es dann nicht in einen richtigen Tresor getan, zum Beispiel drüben in der Halligbank?«, fragte Minke.
»Nun ja, aus Sentimentalität, schätze ich. Ich wollte es bei mir haben. Wissen Sie – so etwas zu finden, das ist der Jackpot. Das, wovon jeder Archäologe träumt.« Er machte eine Pause. »Die bringen es sicher auf Nimmerwiedersehen ins Ausland«, sagte er dann.
»Die? Haben Sie also einen Verdacht?«
Er zuckte die Achseln. »Na ja, das wird doch bestimmt nicht einer allein gemacht haben. Eine Bande vermutlich, Kunstdiebe.«
»Hm.« Minke betrachtete den kleinen Tresor und die Aufbruchspuren im Lack. Es war einfach zu denken, dass jemand Fremdes den Diebstahl begangen hatte und niemand aus der Halliggemeinschaft, in der sie aufgewachsen war. Fremde waren zurzeit viele auf der Hallig. Es wimmelte vor Badegästen – da würde jemand, der in Wirklichkeit etwas anderes im Sinn hatte, als ein paar schöne Urlaubstage an der Nordsee zu verbringen, tatsächlich nicht unbedingt auffallen.
»Wie viel ist die Figur denn wert?«, fragte sie.
Der Professor bedachte sie mit einem Blick, den sie nicht recht deuten konnte, dann winkte er ihr, mit ihm zu kommen.
»Ich denke, Sie verstehen das alles besser, wenn wir auf den Ausgrabungsfeldern sind.«
Minke folgte dem Professor hinaus auf die Halligwiese, während Lisa noch die Aussage von Niels aufnahm. Die anderen Mitarbeiter waren inzwischen auf den Ausgrabungsfeldern an die Arbeit gegangen und buddelten in großen rechteckigen Gruben in der dunklen Erde, in der Minke nichts Spannendes entdecken konnte.
»Also – was verstehe ich hier so viel besser als im Zelt?«, fragte sie.
Der Professor lächelte. »Lassen Sie mich mit einer Gegenfrage antworten: Sagt Ihnen der Name Everbeck etwas?«
Minke legte die Stirn in Falten. »Die Stadt, die es angeblich mal hier irgendwo an der Küste gegeben hat? Das zweite Rungholt?«
»Sehr richtig. Everbeck, eine reiche, stolze Handelsstadt im nordfriesischen Mittelalter. Sie soll, genau wie das berühmte Rungholt, während der Grote Mandränke, der Marcellusflut im Januar 1362, untergegangen sein. Der Sage nach wurden beide Städte von der Nordsee verschluckt, weil sie so stolz und eitel waren – der Zorn Gottes hat sie ereilt, so sagt man.«
»Mhm«, machte Minke. Geschichte hatte sie noch nie viel abgewinnen können. Der Professor ließ sich nicht beirren.
»Und genau um dieses Everbeck geht es bei unserem Projekt. Im letzten Jahr wurde zufällig eine alte Textquelle entdeckt, die der Archäologie bisher unbekannt war. Sie ist der fehlende Schlüssel zu der Frage, wo Everbeck lag, denn sie liefert genaue Angaben von Seemeilen. Wenn man alles berechnet – und das habe ich im letzten Semester ausgiebig mit meinen Studenten getan –, dann kommt man genau auf diesen Punkt hier. Die Midsander Halligwiese.«
Minke starrte ihn ungläubig an. »Sie glauben also«, fragte sie, »dass hier einmal Everbeck lag?«
»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich. Unsere Ausgrabungsfelder haben in den letzten Wochen Erstaunliches zutage gefördert. Kommen Sie zu meinem Vortrag, den ich in drei Tagen drüben im Gemeindezentrum halte, da erzähle ich das alles ausführlicher. Jedenfalls waren wir schon recht sicher, dass sich unsere These bewahrheiten würde. Der letzte Beweis fehlte noch – bis wir vor einigen Tagen in Grabungsfeld vier das Bernsteinpferdchen gefunden haben.«
»Was beweist das Pferd denn?«
Der Professor lächelte; offensichtlich hatte er auf diese Frage gewartet.
»Bernstein war damals sehr wertvoll, ein begehrtes Handelsgut der Nord- und Ostsee«, dozierte er. »Ein einfacher friesischer Bauer oder Fischer hätte sich so etwas niemals leisten können. Es ist Kunst – Kunst und Schmuck zugleich, also Luxus. Und Luxus leistet sich nur, wer Geld in einem gewissen Überfluss hat. Außerdem ist Luxus etwas, das in Zivilisation entsteht. Dies alles passt zu dem, was uns über Everbeck überliefert ist. Eine Stadt, reich geworden mit dem Salzsieden aus Torf und mit dem Handel über das Meer. In so einer Stadt leben Menschen, die sich ein Pferdchen aus Bernstein kaufen können, die Geld ausgeben, um sich an Kunst und Schmuck zu erfreuen, die zivilisiert sind.« Er legte eine Kunstpause ein. »Was wir hier betreiben, ist mittelalterliche Siedlungsarchäologie. Die Archäologie ist darauf angewiesen, Funde zu interpretieren, über die es keinen schriftlichen Nachweis gibt.« Seine dunklen Augen funkelten. »Dieses Bernsteinpferd ist darum für uns Archäologen ein schon beinahe so unumstößlicher Beweis, als hätten wir ein Schild gefunden wie ›Hier lag Everbeck‹. Er strich sich selbstgefällig durchs dunkle Haar. »Um auf Ihre Frage von vorhin zurückzukommen, was das Pferd wert ist: Es ist unschätzbar.«
»Wem haben Sie denn alles von der Figur erzählt?«, fragte Minke.
Der Professor stutzte. »Wie bitte?«
»Na, wenn das alles so wichtig ist, haben Sie wahrscheinlich nicht damit hinterm Berg gehalten. Das erweitert den Kreis derer, die es hätten stehlen können.«
»Sie meinen, ein Kollege war das? Nein, niemals!«
»Ich sage nur: Je mehr davon wussten, desto größer ist der Kreis der Verdächtigen.«
Der Professor wiegte den Kopf. »Ja, da haben Sie wohl recht.« Er überlegte. »Also zuallererst wissen es natürlich alle, die hier bei den Grabungen dabei sind. Ich habe es auch meinen Kollegen an der Universität gemeldet und sonst noch einigen befreundeten Archäologen. Wissen Sie, Archäologie ist Besessenheit, sage ich immer. Wir wollen alle ständig wissen, was irgendwo gefunden wurde.«
»Das heißt, theoretisch hätten sehr viele von der Figur wissen können – und auch, wo sie war.«
»Ja, theoretisch«, sagte er zögernd. »Aber das glaube ich einfach nicht. Undenkbar, dass einer der Studenten oder Kollegen dahintersteckt.«
Minke blinzelte in die Sonne. »Was machen Sie denn jetzt mit Ihrem Vortrag, wenn das Pferdchen weg ist?«
Er zuckte die Achseln. »Ach, ich hätte es dort sowieso nicht gezeigt – nur die Fotos, und die habe ich ja.«
»Gut, die schicken Sie mir bitte.«
»Gerne – per Handy? Dann bräuchte ich allerdings Ihre Nummer.« Er grinste.
In diesem Moment kam Lisa aus dem Zelt und bedeutete Minke, dass sie fertig war.
»Meine Assistentin gibt Ihnen die Mailadresse der Polizeistation«, sagte Minke. Sie wandte sich zum Gehen.
»Kommen Sie zu meinem Vortrag, Kommissarin?«, rief der Professor ihr nach. »Ich erwarte Sie.«
Minke drehte sich noch einmal um. Ihr Pferdeschwanz wehte im Sommerwind. »Irgendeiner wartet immer.«
Er lachte. »Ist das nicht aus Casablanca?«
»Nein. Aus Spiel mir das Lied vom Tod.«
»Ich sehe schön aus, Mutter, nicht wahr?« Das Mädchen breitete die Arme aus und drehte sich, sodass ihr weites Kleid schwang. Ihre Haare fielen lang und glänzend über den Rücken.
»Ja, Fricka.« Die ältere Frau, die auf einem weich gepolsterten Stuhl am Fenster saß, durch das das fahle Licht des Wintermorgens fiel, nickte ihrer Tochter wohlwollend zu. »Du wirst die schönste Braut sein, die Everbeck je gesehen hat.«
Das Mädchen besah sich in dem gebogenen Glasspiegel, den ihr eine Dienstmagd vorhielt. Sie lächelte. Dann wurde ihre Miene mit einem Mal besorgt. »Glaubt Ihr, mein Bräutigam wird mich auch schön finden?«
Die Mutter stand nun auf und legte ihren Stickrahmen beiseite. »Er wird sich nur noch mehr in dich verlieben.« Sie musterte zufrieden Frickas dichtes schweres Haar, ihre zarte Figur, ihre reine Haut. »Er ist ohnehin schon so schrecklich in dich verliebt, weißt du das denn nicht?«
Fricka kicherte. »Doch, Mutter.« Die ganze Stadt wusste, wie verrückt Johannes, der Sohn des Bürgermeisters, nach Fricka, der Tochter des reichsten Everbecker Kaufmanns war. Seit ihrer Verlobung hatte er jeden Tag ein Geschenk in das prächtige Haus am Heumarkt geschickt, in dem Frickas Familie lebte. Eines davon, eine silberne Fibel, mit kleinen Perlen besetzt, trug sie nun an ihrem Kleid.
»Helga, halt den Spiegel höher.« Fricka machte eine ungeduldige Geste in Richtung der Magd. »Ich will mich besser sehen können.«
Während sie sich ausgiebig betrachtete, dachte sie darüber nach, was für ein Glück sie hatte. Sie würde heute einen stattlichen Mann heiraten, der sie auf Händen trug. Sie war jung, schön und reich. Bald würde sie im Bürgermeisterhaus wohnen, direkt gegenüber der Stadtkirche. Sie würde Kinder bekommen und zu gegebener Zeit würde Johannes der nächste Bürgermeister werden. Dann würde sie, Fricka, die Erste Frau von Everbeck sein. Sie seufzte zufrieden. Und all das würde heute mit einem rauschenden Fest beginnen. Seit Wochen wurde alles vorbereitet und nun war es so weit. Der sechzehnte Januar, dachte Fricka, während sie ihr glückliches Gesicht im Spiegel betrachtete, der Tag des Heiligen Marcellus – es würde ihr Glückstag sein.
Kaum in Jüstering angekommen, schnappte Minke sich das Fahrrad. Falls der Professor recht hatte und Kunstdiebe auf Midsand am Werk gewesen waren, die nun ihre Beute nach Dänemark oder Schweden bringen wollten, musste sie schnell erfahren, ob irgendjemand – Halligbewohner, Urlaubsgäste oder jemand in Jüstering auf dem Festland – etwas beobachtet hatte. Dafür gab es nur eine verlässliche Adresse.
Während Minke losradelte, ging Lisa zurück ins Büro, um dort ihren Teil zu erledigen. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Ihr Mailprogramm zeigte eine neue Mail – der Professor hatte die Fotos der gestohlenen Figur geschickt. Lisa klickte sie an.
»Wow!« Nun verstand sie die ganze Aufregung. Das Pferdchen war wirklich ein Kunstwerk. Wer auch immer es aus dem goldbraunen klaren Bernstein geschnitzt hatte, hatte sein Handwerk verstanden. Alles an der Figur war stimmig: die Länge des Körpers, der Beine, des Halses. Das Gesicht wirkte edel, die Nüstern leicht gebläht, als würde das Pferd im nächsten Moment schnauben, und beinahe hatte man das Gefühl, die kräftigen Muskeln zu erkennen und das Trappeln der Hufe zu hören. Es war ein Schmuckstück.