Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Auftakt zu einer spannungsgeladenen Taschenbuchreihe zum Xbox-Hit! Kaum ein anderes Spiel für die Xbox-Konsole von Microsoft konnte die Fans so begeistern wie das epische Science Fiction Spektakel HALO - der legendäre Kampf der Menschheit auf einer mysteriösen Ringwelt gegen übermächtige Aliens aus einer anderen Galaxis. Jetzt gibt es zum ersten Mal die gesamte Hintergrundgeschichte des intergalaktischen Krieges als Taschenbuch. Wie konnte es zu dem erbarmungslosen Schlagabtausch kommen? Hier ist die Antwort!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 466
Veröffentlichungsjahr: 2009
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Translation copyright © 2009 by Microsoft Corporation. All Rights Reserved. This translation published by arrangement with Ballantine Books, a division of Random House, Inc.
Amerikanische Originalausgabe: „HALO: The Fall of Reach“ by Eric Nylund published by The Ballantine Publishing Group. Bungie, Halo, Xbox, the Xbox and Microsoft Logos are either registered trademarks or trademarks of Microsoft Corporation in the United States and/or other countries. Used under license. © 2001 Microsoft Corporation. All Rights Reserved.
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s).
Übersetzung: Claudia Kern Lektorat: Manfred Weinland Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest
DANKSAGUNGEN
Für herausragenden Mut und Einsatzwillen während Feindbeschuss werden die folgenden Personen ausgezeichnet:
Eric S. Trautmann erfüllte mehr als nur seine Pflicht, indem er Hintergrundmaterial besorgte, lektorierte, darauf achtete, dass ich die Realität im Auge behielt und mich ständig mit Koffein und Aufmunterung versorgte.
Bungie für die Herstellung eines hervorragenden Spiels und besonderer Dank an: Jason Jones, Alex Seropian, John Howard und Lorraine McLees.
Die wunderbaren taktischen Einsatzkräfte bei der Microsoft Franchise Development Group: Nancy Figatner, Brannon Boren und Doug Zartman.
Das Einsatzkommando der Microsoft User Experience: Keith Cirillo, Jo Tyo and Matt Whiting.
Den Truppen bei Ballantine/Del Rey: Caron Harris, David Stevenson, Steve Palmer, Crystal Velasquez – und vor allem Steve Saffel.
PROLOG
0500 Stunden, 12. Februar 2535 (militärischer Kalender)
Lambda-Serpentis-System, Operationsgebiet Jericho VII
„Kontakt. Alle Teams in Bereitschaft. Feindkontakt. Meine Position …“
Der Chief wusste, dass es vermutlich mehr als hundert von ihnen gab – die Bewegungsmelder schlugen ununterbrochen an. Er wollte sie jedoch selbst sehen; sein Training hatte ihm diese Lektion deutlich vermittelt: „Maschinen können sich irren. Augen nicht.“
Die vier Spartaner, aus denen sich Team Blau zusammensetzte, gaben ihm Deckung. Sie verhielten sich vollkommen still und bewegungslos in ihrer MJOLNIR-Kampfpanzerung. Jemand hatte einmal behauptet, sie sähen in dieser Hightech-Rüstung wie griechische Kriegsgötter aus … aber seine Spartaner waren effizienter und skrupelloser als es Homers Sagengestalten je gewesen sein konnten.
Er schickte die Aufklärungssonde nach oben, über die drei Meter hohe Felskante hinweg. Nachdem sie ihre Einsatzkoordinaten erreicht hatte, stellte der Chief die Verbindung zwischen ihr und seinem Helmdisplay her.
Auf der anderen Seite sah er ein Tal mit erodierten Felswänden und einem Fluss, der sich hindurchschlängelte. An seinem Ufer lagerten, so weit er blicken konnte, die Grunts.
Die Allianz benutzte diese robusten Außerirdischen als Kanonenfutter. Sie waren rund einen Meter groß und trugen gepanzerte Umweltanzüge, deren Mikrokosmen den Verhältnissen auf ihrem eisigen Heimatplaneten entsprachen. Die Grunts erinnerten den Chief an zweibeinige Hunde, und das nicht nur ihres Aussehens wegen. Auch ihre Sprache, die selbst mit der neuen Übersetzungs-Software wie eine seltsame Mischung aus hohem Quietschen, gutturalem Bellen und aggressivem Knurren klang, weckte diese Assoziation. Ihre Intelligenz übertraf die von Hunden ebenfalls nicht sonderlich. Aber was ihnen an Gehirnleistung fehlte, machten sie durch Zähigkeit wett. Er hatte gesehen, wie sie sich ihren Feinden entgegenwarfen, bis der Boden mit ihren Leichen übersät … und ihren Gegnern die Munition ausgegangen war.
Die Grunts waren ungewöhnlich gut ausgerüstet. Nadelwaffen, Plasmapistolen – ja, sie verfügten sogar über vier stationäre Plasmawerfer, die zum Problem werden konnten.
Ein weiteres Problem war: es gab mindestens tausend von den Kerlen.
Die Operation hatte ohne Schwierigkeiten begonnen. Aufgabe von Team Blau war es, die Rückendeckung der Allianz aus der Reserve zu locken, damit Team Rot in der entstehenden Verwirrung durch ihre Reihen schlüpfen konnte, um anschließend eine taktische HAVOK-Nuklearwaffe zu positionieren. Das nächste Allianz-Schiff, das landete, seine Schilde abschaltete und Truppen entlud, würde eine feine 30-Megatonnen-Überraschung erleben.
Der Chief trat einen Schritt von der Felswand zurück. Über einen sicheren COM-Kanal leitete er die taktischen Informationen an sein Team weiter.
„Wir sind zu viert“, flüsterte Blau-Zwei durch die Verbindung. „Und da sind tausend von ihnen? Hm, die Chancen stehen schlecht für die kleinen Kerle.“
„Blau-Zwei“, sagte der Chief. „Du schnappst dir die Jackhammer-Werfer. Schalte die Kanonen aus und mach den Rest mürbe. Blau-Drei und -Fünf, ihr folgt mir nach oben – wir kümmern uns um den großen Rest. Blau-Vier, du bereitest einen Willkommensgruß vor. Verstanden?“
Vier blaue Lichter blitzten in seinem Helmdisplay, als das Team seine Weisungen bestätigte.
„Auf mein Zeichen …“ Der Chief duckte sich und atmete tief durch. „… los!“
Blau-Zwei sprang elegant über den Felsen – drei Meter nach oben. Es gab nicht das geringste Geräusch als eine halbe Tonne Gewicht, bestehend aus MJOLNIR-Panzerung und Spartaner, auf dem Sandstein landete.
Sie griff nach einem Werfer und lief am Felsgrat entlang – sie war die schnellste Spartanerin im Team des Chiefs. Er war sicher, dass die Grunts nicht in der Lage sein würden, sie in den drei Sekunden, in denen sie sichtbar war, anzupeilen. Innerhalb kürzester Zeit entlud Blau-Zwei die beiden Jackhammer, ließ einen Werfer fallen und feuerte die anderen Raketen im gleichen Tempo ab. Die Sprengköpfe erreichten die Stellungen der Grunts und detonierten. Eine der festmontierten Waffen kippte, wurde von der Explosion herumgerissen, und der Soldat, der sie bedienen sollte, stürzte zu Boden.
Sie schleuderte den Werfer zur Seite, sprang nach unten, machte eine Rolle und kam wieder auf die Beine, nur um so rasch sie konnte zu ihrer Rückzugsposition zu sprinten.
Der Chief, Blau-Drei und Blau-Fünf sprangen auf die Felsspitze. Der Chief schaltete auf Infrarot, um durch die Wolken aus Staub und Abgasen blicken zu können und beobachtete, wie die zweite Salve der Jackhammer ihr Ziel fand. Weitere Explosionen aus Blitz und Donner dezimierten die vorderen Reihen der Grunts und – noch wichtiger – verwandelten die restlichen Plasmakanonen in rauchende Trümmerhaufen.
Der Chief und die anderen eröffneten das Feuer mit ihren vollautomatischen MA5B-Sturmgewehren – ein Sperrfeuer aus fünfzehn Schuss pro Sekunde. Panzerbrechende Munition bohrte sich in die Außerirdischen, zerriss ihre Umweltanzüge und entzündete die Methantanks, die sie trugen. Flammen zogen sich in wilden Bögen hinter den verwundeten Grunts her, als diese in ihrer Verwirrung und ihrem Schmerz zu rennen begannen.
Schließlich begriffen die Grunts, was geschah und woher der Angriff kam. Sie gruppierten sich neu und griffen in Massen an. Vibrationen wie von einem Erdbeben erschütterten den Boden und brachten den porösen Stein unter dem Chief zum Erzittern.
Die drei Spartaner leerten ihre Magazine und wechselten zu Schredder-Munition. Sie feuerten in die Woge der Wesen, die ihnen entgegenbrandete. Reihe um Reihe fiel. Die, die noch standen, trampelten einfach über ihre gefallenen Kameraden hinweg.
Nadelgeschosse wurden von der Panzerung des Chiefs abgelenkt und explodierten, als sie auf den Boden aufschlugen. Er sah das Blitzen eines Plasmastrahls, trat zur Seite und hörte die Luft knistern – dort, wo er gerade noch gestanden hatte.
„Eintreffende Luftunterstützung der Allianz“, meldete Blau-Vier über die COM-Verbindung. „ETA ist in zwei Minuten, Chief.“
„Verstanden“, sagte er. „Blau-Drei und -Fünf: Haltet das Feuer für fünf Sekunden und fallt dann zurück. Los!“
Ihre Statusanzeigen blinkten einmal und bestätigten den Befehl.
Die Grunts waren noch drei Meter von der Felswand entfernt. Der Chief warf zwei Granaten. Er, Blau-Drei und Blau-Fünf traten rückwärts über den Rand, landeten, drehten sich um und rannten los.
Zwei dumpfe Schläge erschütterten den Boden. Das Winseln und Bellen der sich nähernden Grunts übertönte selbst den Lärm der explodierenden Granaten mühelos.
Der Chief und sein Team stürmten den fünfhundert Meter langen Sandsteinhügel in gerade einmal 32 Sekunden hinauf. Der Hügel endete plötzlich vor einem Abgrund, der zweihundert Meter tief abfiel und in den Ozean mündete.
Blau-Viers Stimme knackte im COM-Kanal. „Willkommensgruß bereit, Chief. Wartet nur noch auf Ihr Kommando.“
Die Grunts sahen aus wie ein lebender Teppich aus stahlblauer Haut, Klauen und Chromwaffen. Einige erklommen den Hügel auf allen vieren. Sie bellten und heulten, gierten nach dem Blut der Spartaner.
„Heiße sie willkommen“, sagte der Chief zu Blau-Vier.
Der Hügel explodierte, Wolken aus pulversiertem Sandstein, Feuer und Rauch wurden in den Himmel geschleudert.
Die Spartaner hatten hier schon bei Tagesbeginn Unmengen von Lotus-Antipanzerminen vergraben.
Sand und kleine Metallstücke schlugen gegen den Helm des Chiefs. Er und sein Team eröffneten erneut das Feuer, streckten die Grunts nieder, die überlebt hatten und jetzt versuchten, wieder auf die Beine zu kommen.
Sein Bewegungsmelder blinkte warnend. Hoch oben näherten sich auf zwei Uhr Objekte mit einer Geschwindigkeit von mehr als hundert Stundenkilometern.
Fünf Banshee-Flieger der Allianz tauchten über den Felsen auf.
„Neuer Feindkontakt. Alle Teams: Feuer frei!“, brüllte der Chief.
Ohne zu zögern nahmen die Spartaner die außerirdischen Maschinen aufs Korn. Die meisten ihrer Kugeln prallten von der chitinartigen Panzerung der Maschinen ab – es bedurfte schon einer gehörigen Portion Glück, um eine der Antigravkapseln am Ende der breiten, einen Meter langen „Flügel“ zu treffen.
Der Beschuss lenkte die Aufmerksamkeit der Außerirdischen auf sie. Feuerlanzen stachen aus den Waffenschlitzen der Banshees.
Der Chief warf sich zur Seite und kam mit einer Rolle auf die Füße. Wo er gerade noch gestanden hatte, explodierte der Sandstein. Geschmolzenes Glas spritzte über die Spartaner hinweg.
Die Banshees zogen kreischend über ihre Köpfe und leiteten mit einer scharfen Kurve den nächsten Angriff ein.
„Blau-Drei, Blau-Fünf: Theta-Manöver!“, rief der Chief.
Blau-Drei und -Fünf streckten die Daumen hoch.
Sie formierten sich am Rand der Klippe und klinkten sich in Stahlkabel ein, die an der gesamten Felswand entlang liefen.
„Hast du die Fugasses mit Feuer oder Schrapnellen gefüllt?“, fragte der Chief.
„Mit beidem“, antwortete Blau-Drei.
„Gut.“ Der Chief griff nach dem Impulsgeber für den Zündmechanismus. „Gib mir Deckung.“
Die Fugasses waren nicht zum Einsatz gegen ein fliegendes Ziel entwickelt, die Spartaner hatten sie nur aufgeboten, um die Grunts aufzureiben. Im Feld musste man jedoch improvisieren. Ein weiterer Bestandteil ihres Trainings: Anpassung oder Tod.
Die Banshees bildeten ein fliegendes V und rasten so tief auf sie zu, dass sie fast den Boden berührten.
Die Spartaner eröffneten das Feuer.
Strahlen aus superheißem Plasma lösten sich aus den Banshees, fauchten durch die Luft.
Der Chief warf sich nach rechts, dann nach links. Er duckte sich. Ihre Treffsicherheit wurde besser.
Die Banshees waren noch hundert Meter entfernt, dann fünfzig. Ihre Plasmawaffen luden sich möglicherweise schnell genug für einen weiteren Schuss auf, und auf diese Entfernung konnte der Chief ihnen nicht entkommen …
Die Spartaner sprangen, pausenlos feuernd, rückwärts über die Klippe. Der Chief tat es ihnen gleich und aktivierte dabei den Fernzünder.
Die zehn Fugasses – jedes Stahlfass war mit Napalm, leeren Magazinen und Schredderhülsen gefüllt – waren nur wenige Meter vom Rand der Klippe entfernt vergraben worden. Ihre Öffnungen ragten um dreißig Grad nach oben. Als die Granaten am Boden des Fasses explodierten, verwandelten sie alles, was sich ihnen in den Weg stellte, in ein äußerst unappetitlich anzuschauendes Barbecue.
Die Spartaner prallten gegen die Felswand – die Stahlkabel, an denen sie hingen, spannten sich mit einem Ruck. Eine Welle aus Hitze und Druck schwappte über sie hinweg. Einen Herzschlag später taumelten über ihnen fünf brennende Banshees dahin und zogen, dem Ozean entgegenstürzend, schwarzen Rauch hinter sich her. Sie durchbrachen die grünen Wellen und verschwanden darunter. Die Spartaner verharrten einige Momente lang, wartend und beobachtend, die Sturmgewehre auf das Wasser gerichtet.
Es tauchten jedoch keine Überlebenden auf.
Sie seilten sich bis zum Strand ab und trafen dort auf Blau-Zwei und -Vier.
„Team Rot meldet, Mission erfolgreich beendet, Chief“, sagte Blau-Zwei. „Es sendet seinen Dank.“
„Das wird kaum das Kräftegleichgewicht herstellen“, murmelte Blau-Drei und trat in den Sand. „Nicht vergleichbar mit dem, was diese Grunts schafften, als sie die 105. Drop Jet Platoon abschlachteten. Sie sollten genauso leiden wie diese Jungs …“
Der Chief hatte dazu nichts zu sagen. Es war nicht seine Aufgabe, Rache zu üben. Er war nur hier, um Schlachten zu gewinnen – ganz gleich, um welchen Preis.
„Blau-Zwei“, sagte der Chief. „Ich brauche eine Verbindung.“
„Aye-aye.“ Sie verband ihn mit dem SATCOM-System.
„Mission erfolgreich beendet, Captain de Blanc“, meldete der Chief. „Feind neutralisiert.“
„Hervorragende Neuigkeiten“, sagte der Captain. Er seufzte und fügte hinzu: „Wir holen Sie raus, Chief.“
„Wir werden doch erst warm, Sir.“
„Ja, aber hier oben sieht es ganz anders aus. Bewegen Sie sich so schnell wie möglich zum Treffpunkt.“
„Verstanden, Sir.“ Der Chief unterbrach die Verbindung. An sein Team gewandt, sagte er: „Der Spaß ist vorbei, Spartaner. Abflug.“
Sie joggten die zehn Kilometer am Strand entlang und kehrten zu ihrem Transportschiff zurück – einem Pelikan, der nach drei Tagen harter Kämpfe verbeult und zerkratzt war. Sie stiegen ein, und die Maschinen des Schiffs sprangen an.
Blau-Zwei nahm seinen Helm ab und kratzte sich das kurzgeschorene braune Haar. „Es ist eine Schande, diesen Ort zu verlassen“, sagte sie und lehnte sich gegen das Schott. „Es sind so wenige übrig.“
Der Chief trat neben sie und sah, während sie sich in die Luft erhoben, nach draußen. Es gab endlose Felder von Palmgras, die grüne Weite des Ozeans, ein schmales Band weißer Wolken am Himmel und untergehende rote Sonnen.
„Wir werden andere Orte finden, um die wir kämpfen können“, sagte er.
„Wirklich?“, fragte sie.
Der Pelikan stieg steil durch die Atmosphäre nach oben, bis der Himmel dunkel wurde und nur noch Sterne sie umgaben.
In der Umlaufbahn befanden sich Dutzende von Fregatten, Zerstörern und zwei große Transporter. Jedes Schiff zeigte Kampfspuren und Lecks in den Außenhüllen. Alle bereiteten sich auf ein Verlassen der Umlaufbahn vor.
Sie dockten an die Backbordseite des UNSC-Zerstörers Resolute an. Obwohl sie von einer zwei Meter dicken Titanium-A-Kampfbeschichtung und einer Ansammlung modernster Waffen umgeben waren, zog der Chief es vor, mit beiden Beinen auf einem Boden zu stehen, wo es echte Schwerkraft und eine echte Atmosphäre gab – wo er die Kontrolle hatte, und wo sein Leben nicht in der Hand anonymer Piloten lag.
Ein Schiff war nicht Heimat.
Ein Teil des Schlachtfelds war es.
Der Chief nahm den Aufzug zur Brücke und nutzte die kurzzeitige Ruhe, um den Abschlussbericht von Team Rot auf seinem Display zu lesen. Wie vorhergesagt hatten die Spartaner der Teams Rot, Blau und Grün – die aus drei Divisionen kampferprobter UNSC-Marines bestanden – den Vormarsch der Allianz-Bodentruppen gestoppt. Die Verlustzahlen wurden noch errechnet, aber zumindest am Boden waren die außerirdischen Kräfte handlungsunfähig.
Einen Augenblick später öffneten sich die Fahrstuhltüren und er betrat das gummierte Deck. Er nahm vor Captain de Blanc Haltung an. „Sir. Melde mich wie befohlen.“
Die jüngeren Brückenoffiziere traten einen Schritt vor dem Chief zurück. Sie waren es nicht gewöhnt, einen Spartaner in voller MJOLNIR-Kampfrüstung so unmittelbar vor sich zu sehen – die meisten regulären Truppen hatten noch nie einen Spartaner gesehen. Die geisterhaft grünlich leuchtenden Panzerplatten und die mattschwarzen Schichten darunter ließen ihn wie eine Mischung aus lebendem Gladiator und hochgerüsteter Maschine erscheinen. Für die Brückenbesatzung sah er beinahe so fremd wie ein Geschöpf der Allianz aus.
Die Bildschirme zeigten die vier silbernen Monde von Jericho VII vor dem Hintergrund des Alls. Aus großer Entfernung näherte sich langsam eine Formation von Lichtern.
Der Captain winkte den Chief näher heran, während er die vermeintlichen wandernden Sterne – den Rest der Truppe – betrachtete. „Es geschieht erneut.“
„Erbitte Erlaubnis, auf der Brücke zu bleiben, Sir“, sagte der Chief. „Ich … möchte es dieses Mal sehen, Sir.“
Der Captain ließ den Kopf sinken. Er wirkte erschöpft. Mit einem gehetzt wirkenden Blick sah er den Master Chief an. „Wie Sie wünschen, Chief. Nach all dem, was Sie durchgemacht haben, um Jericho Seven zu retten, schulden wir ihnen das wohl. Wir sind allerdings nur dreißig Millionen Kilometer außerhalb des Systems, nicht halb so weit, wie ich es unter diesen Umständen gern wäre.“ Er wandte sich an den NAV-Offizier. „Kurs eins-zwei-null. Bereiten Sie unseren Austrittsvektor vor.“
Er sah wieder zum Chief. „Wir bleiben hier … aber wenn diese Bastarde auch nur in unsere Richtung blicken, springen wir sofort hier weg.“
„Verstanden, Sir. Danke.“
Die Maschinen der Resolute donnerten, dann begann sich das Schiff zu bewegen.
Drei Dutzend große Allianz-Schiffe – Zerstörer und Kreuzer – tauchten im System auf. Sie waren schlank und erinnerten eher an Haie denn an Raumschiffe. An ihren lateralen Linien leuchtete Plasma auf und regnete auf Jericho VII hinab.
Der Chief sah eine Stunde lang zu, ohne sich zu bewegen.
Die Seen, Flüsse und Ozeane des Planeten verdampften. Bis zum nächsten Tag würde auch die Atmosphäre weggebrannt sein. Die Felder und Wälder waren glatt wie Glas, wurden nur durch rotglühende Flecke unterbrochen.
Was einst ein Paradies gewesen war, wurde jetzt zur Hölle.
Seit zehn Jahren ging das so, und das riesige Netzwerk menschlicher Kolonien war wegen des gnadenlosen, unversöhnlichen Feindes bis auf eine Hand voll Stützpunkte zusammengeschrumpft. Der Chief hatte den Feind auf der Oberfläche getötet – hatte ihn erschossen, erstochen oder mit seinen eigenen Händen zerschmettert. Am Boden gewannen die Spartaner immer.
Das Problem war nur, dass die Spartaner ihren Kampf nicht ins All tragen konnten. Jeder kleine Sieg am Boden wurde zu einer verzweifelten Niederlage im Orbit.
Bald würde es keine Kolonien mehr geben, keine menschlichen Niederlassungen und keinen noch so abgelegenen Ort, an dem man sich verstecken konnte.
SEKTION I
REVEILLE
Kapitel 1
0430 Stunden, 17. August 2517 (militärischer Kalender)
Slipstream – unbekannte Koordinaten nahe des Eridanus-Sternsystems
Lieutenant Junior Grade Jacob Keyes erwachte. Ein düsteres rotes Licht erfüllte sein verschwommenes Blickfeld, und er glaubte an dem Schleim in seinen Lungen und in seiner Kehle zu ersticken.
„Setzen Sie sich auf, Lieutenant Keyes“, sagte eine körperlose männliche Stimme. „Aufsetzen. Tief durchatmen und husten, Sir. Sie müssen die Bronchialflüssigkeit loswerden.“
Lieutenant Keyes richtete sich auf und schälte sich aus dem seinem Körper angepassten Gel-Bett. Nebelfetzen schwebten aus der kryogenischen Röhre, als er ungeschickt herauskletterte. Er setzte sich auf eine Bank, die daneben stand, versuchte einzuatmen und krümmte sich zusammen. Er hustete, bis ein Schwall klarer Flüssigkeit aus seinem geöffneten Mund drang.
Er setzte sich auf und nahm den ersten langen Atemzug seit zwei Wochen. Dann leckte er über seine Lippen und musste beinahe würgen. Der Kryo-Inhalierer war so konstruiert, dass man ihn schlucken musste, um die Nährstoffe, die man im Tiefschlaf verloren hatte, zu ersetzen. Zwar wurde die Formel immer wieder geändert, aber er schmeckte trotzdem immer wie kalkhaltiger Schleim.
„Status, Toran? Werden wir angegriffen?“
„Negativ, Sir“, antwortete die Künstliche Intelligenz des Schiffes. „Status normal. Wir treten in fünfundvierzig Minuten in den Normalraum nahe des Eridanus-Systems ein.“
Lieutenant Keyes hustete erneut. „Gut. Danke, Toran.“
„Gern geschehen, Lieutenant.“
Eridanus lag an der Grenze der Äußeren Kolonien. Es war weit genug von den gängigen Handelsrouten entfernt, um für Piraten interessant zu sein … die sicherlich gerne ein diplomatisches Shuttle wie die Han kapern würden. Dieses Schiff würde in einem Raumkampf nicht lange bestehen. Es hätte eigentlich mit einer Eskorte reisen sollen. Er verstand nicht, warum man sie allein auf die Reise geschickt hatte, aber als Junior Lieutenant stellte man keinen Befehl in Frage. Vor allem dann nicht, wenn dieser Befehl vom FLEETCOM HQ auf dem Planeten Reach stammte.
Das Aufwachprotokoll sah vor, dass er den Rest der Crew zu untersuchen hatte, um sicherzustellen, dass niemand während des Weckvorgangs in Schwierigkeiten geriet. Er sah sich in der Schlafkammer um: Reihen von Stahlfächern und Duschen, eine medizinische Kapsel für Notfall-Wiederbelebung und vierzig kryogenische Röhren, die, abgesehen von einer links neben ihm, leer waren.
Die andere Person auf der Han war die zivile Spezialistin Dr. Halsey. Keyes hatte den Befehl, sie um jeden Preis zu beschützen, das Schiff zu steuern und ihr ansonsten aus dem Weg zu gehen. Ebenso gut hätte man ihn bitten können, ihre Hand zu halten. Dies war keine militärische Mission, er war nur ein Babysitter. Jemand im Flottenkommando schien seinen Namen auf eine schwarze Liste gesetzt zu haben.
Die Abdeckung von Dr. Halseys Röhre öffnete sich summend. Nebel drang hinaus, als sie sich hustend aufsetzte. Ihre bleiche Haut ließ sie im Dunst wie einen Geist erscheinen. Dunkle Locken klebten an ihrem Hals. Sie schien nicht viel älter als er zu sein, und sie war wundervoll – nicht schön, aber bemerkenswert. Für eine Zivilistin zumindest.
Ihre blauen Augen richteten sich auf den Lieutenant und musterten ihn. „Wir müssen in der Nähe von Eridanus sein“, sagte sie.
Lieutenant Keyes hätte beinahe mechanisch salutiert, unterdrückte den Reflex jedoch. „Ja, Doktor.“ Er errötete und wandte den Blick von ihrem schlanken Körper ab.
Er hatte die kryogenische Wiederbelebung Dutzende Male auf der Akademie geübt. Er hatte andere Offiziere nackt gesehen, Männer wie Frauen. Aber Dr. Halsey war eine Zivilistin. Er wusste nicht, was das Protokoll in diesem Fall vorsah.
Lieutenant Keyes stand auf und ging zu ihr. „Kann ich Ihnen helfen, sich …“
Sie schwang ihre Beine aus der Röhre und kletterte heraus. „Mir geht es gut, Lieutenant. Säubern Sie sich, und ziehen Sie sich an.“ Sie ging an ihm vorbei auf die Duschen zu. „Beeilen Sie sich. Wir haben wichtige Dinge zu erledigen.“
Lieutenant Keyes drückte seinen Rücken durch. „Aye-aye, Ma’am.“
Diese kurze Begegnung hatte ihre Rollen und die Benimmregeln festgelegt. Auch wenn sie eine Zivilistin war, auch wenn es Lieutenant Keyes vielleicht nicht passte, so verstand er doch sehr genau, dass Dr. Halsey das Kommando hatte.
Für ein Schiff dieser Größe war auf der Brücke der Han erstaunlich viel Platz – was bedeutete, dass man sich in etwa so frei wie in einem begehbaren Kleiderschrank bewegen konnte. Ein frisch geduschter und rasierter, nun uniformierter Lieutenant Keyes zog sich in den Raum und schloss die Drucktür hinter sich. Jede Oberfläche der Brücke war von Monitoren und Instrumentenanzeigen bedeckt. Die Wand zu seiner linken bestand aus einem einzigen großen, halbrunden Bildschirm, der momentan dunkel war, weil es im Slipstream nichts im visuellen Spektrum zu sehen gab.
Hinter ihm befand sich die drehende Mittelsektion der Han, in der sich die Messe, der Aufenthaltsraum und die Schlafkammern befanden. Auf der Brücke gab es jedoch keine Schwerkraft. Das diplomatische Shuttle war auf den Komfort seiner Passagiere ausgelegt, nicht auf den seiner Besatzung.
Dr. Halsey schien das nicht zu stören. Sie saß angeschnallt auf der Couch des Navigators und trug einen weißen Overall, der zu ihrem blassen Teint passte. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem einfachen, aber eleganten Knoten gebunden. Ihre Finger tanzten über vier Tastaturen und tippten Befehle ein.
„Willkommen, Lieutenant“, sagte sie, ohne aufzusehen. „Nehmen Sie bitte an der Kommunikationsstation Platz und halten Sie die Kanäle im Auge, wenn wir den Normalraum erreichen. Sollten Sie außerhalb der Standardfrequenzen auch nur ein Flüstern hören, will ich das sofort wissen.“
Er schwebte zur Kommunikationsstation und schnallte sich an.
„Toran?“, fragte sie.
„Ich erwarte Ihre Anordnungen, Doktor“, entgegnete die KI des Schiffes.
„Gib mir die Astrogationskarten des Systems.“
„Bereit, Doktor Halsey.“
„Liegen Planeten auf einer Linie mit unserem Einfallswinkel und Eridanus Zwei? Ich möchte eine Gravitationsbeschleunigung nutzen, damit wir das System schneller durchqueren.“
„Berechnung läuft, Doktor Hal …“
„Und könnten wir Musik haben? Rachmaninovs Piano Concerto Nummer Drei, denke ich.“
„Verstanden, Doktor …“
„Und beginne einen Aufwärmzyklus für die Fusionsantriebe.“
„Ja, Dok …“
„Und beende die Drehung der mittleren Karussellsektion der Han. Wir brauchen die Energie möglicherweise anderweitig.“
„Läuft …“
Sie lehnte sich zurück. Die Musik setzte ein, und sie seufzte. „Danke, Toran.“
„Gern geschehen, Doktor Halsey. Wiedereintritt in den Normalraum in fünf Minuten, plus/minus drei Minuten.“
Lieutenant Kelsey sah Dr. Halsey bewundernd an. Er war beeindruckt – nur wenige Leute vermochten es, die KI eines Schiffs so stark zu beanspruchen, dass man eine Pause in der Reaktion bemerkte.
Sie wandte sich ihm zu. „Ja, Lieutenant? Sie haben eine Frage?“
Er riss sich zusammen und zog die Jacke seiner Uniform glatt. „Ich mache mir Gedanken über unsere Mission, Ma’am. Ich nehme an, dass wir etwas in diesem System herausfinden sollen, aber wieso mit einem Shuttle und nicht mit einer Korvette oder einer Patrouille? Und wieso sind wir nur zu zweit?“
Sie blinzelte und lächelte. „Ihre Analyse ist recht präzise, Lieutenant. Dies ist eine Erkundungsmission … in gewisser Weise. Wir sind hier, um ein Kind zu beobachten. Das Erste von vielen, hoffe ich.“
„Ein Kind?“
„Einen sechsjährigen Jungen, um genau zu sein.“ Sie winkte ab. „Es hilft vielleicht, wenn Sie diese Mission ausschließlich als eine von der UNSC finanzierte physiologische Untersuchung betrachten.“ Jede Spur eines Lächelns verschwand von ihren Lippen. „Was übrigens genau das ist, was Sie jedem erzählen werden, der danach fragt. Haben Sie das verstanden, Lieutenant?“
„Ja, Doktor.“
Keyes runzelte die Stirn, zog die Pfeife seines Großvaters aus der Tasche und drehte sie zwischen den Fingern. Er konnte sie nicht rauchen – eine Flamme an Bord eines UNSC-Schiffs zu entzünden, widersprach jeder Vorschrift – aber manchmal half es ihm beim Denken, wenn er sie einfach nur drehte oder an ihrem Mundstück kaute. Er steckte sie zurück in die Tasche und beschloss, sein Glück herauszufordern und nachzuhaken.
„Bei allem gebotenen Respekt, Doktor Halsey, dieser Raumsektor ist gefährlich.“
Sie bremsten plötzlich ab und fielen in den Normalraum zurück. Der Hauptbildschirm flackerte, dann tauchte ein Meer von Sternen auf. Die Han flog auf einen wirbelnden Gasriesen zu, der direkt vor ihr lag.
„Bereit für Schub“, meldete Dr. Halsey. „Auf mein Zeichen, Toran.“
Lieutenant Keyes zog seinen Gurt fester.
„Drei … zwei … eins. Los.“
Das Schiff erbebte und flog schneller auf den Gasriesen zu. Der Druck des Gurts legte sich auf die Brust des Lieutenants und erschwerte das Atmen. Sie beschleunigten 67 Minuten lang, während die Stürme des Gasriesen auf dem Bildschirm größer sichtbar wurden. Dann schoss die Han plötzlich nach oben und von der Oberfläche weg.
Eridanus rückte in die Mitte des Bildschirms und erfüllte die Brücke mit seinem warmen, orangefarbenen Licht.
„Schwerkraftbeschleunigung vollendet“, meldete sich Toran. „Ankunftszeit auf Eridanus beträgt zweiundvierzig Minuten und drei Sekunden.“
„Gut gemacht“, sagte Dr. Halsey. Sie löste ihren Gurt und streckte sich schwebend. „Ich hasse Kryoschlaf“, sagte sie. „Man fühlt sich danach so verkrampft.“
„Wie ich eben schon anmerkte, Doktor, dieses System ist gefährlich …“
Sie drehte sich elegant zu ihm um und stoppte ihre Bewegung, indem sie eine Hand gegen die Wand presste. „Oh ja, ich weiß, wie gefährlich dieses System ist. Es hat eine interessante Geschichte. Rebellenaufstände 2494, die zwei Jahre später vom UNSC niedergeschlagen wurden, es aber vier seiner Zerstörer kostete.“ Sie dachte einen Moment lang nach und fügte dann hinzu: „Ich glaube, das Office of Naval Intelligence hat ihre Basis im Asteroidenfeld nie gefunden. Und da es in der Nähe immer noch organisierte Überfälle und gelegentliche Piratenübergriffe gibt, könnte man – wie der Geheimdienst es sicher getan hat – darauf schließen, dass Teile der ursprünglichen Rebellenbewegung immer noch aktiv sind. Machen Sie sich darüber Gedanken?“
„Ja“, antwortete der Lieutenant. Er schluckte, sein Mund war plötzlich trocken, aber er war nicht bereit, sich von dieser Frau, einer Zivilistin, einschüchtern zu lassen. „Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass es meine Aufgabe ist, mir Gedanken über unsere Sicherheit zu machen.“
Sie wusste mehr als er über das Eridanus-System, wesentlich mehr – und sie unterhielt offenkundig Kontakte zu Geheimdienstkreisen. Keyes hatte noch nie einen ONI-Agenten gesehen, zumindest nicht bewusst. Das normale Navy-Personal hatte diese Agenten auf einen fast schon mythologischen Sockel gehoben.
Was auch immer er sonst über Dr. Halsey dachte, er würde von nun an davon ausgehen, dass sie wusste, was sie tat.
Dr. Halsey streckte sich einmal mehr und schnallte sich dann wieder auf der Navigationscouch fest. „Da wir gerade von Piraten reden“, sagte sie, ohne ihn anzusehen, „sollten Sie nicht die Kommunikationskanäle nach illegalen Signalen absuchen? Nur für den Fall, das jemand ein ungewöhnliches Interesse an einem einsamen, nicht eskortierten diplomatischen Shuttle zeigen könnte …“
Lieutenant Keyes verfluchte sich für seine kurze Pflichtvernachlässigung und begann, die Frequenzen zu scannen. Toras überprüfte ihre Identifizierungscodes.
„Alle Signale verifiziert“, meldete er. „Keine Piratensendungen entdeckt.“
Dreißig Minuten vergingen in unangenehmem Schweigen. Dr. Halsey schien es nicht zu stören, Berichte zu lesen und ihm ansonsten den Rücken zuzuwenden.
Lieutenant Keyes räusperte sich schließlich. „Darf ich offen sprechen, Doktor?“
„Sie benötigen meine Erlaubnis nicht“, sagte sie. „Natürlich können Sie offen reden. Das haben Sie bisher ja auch ganz gut hingekriegt.“
Unter normalen Umständen und unter normalen Offizieren wäre diese letzte Bemerkung abwertend oder ablehnend zu verstehen gewesen, aber er ging nicht darauf ein. Normale militärische Verhaltensweisen und -regeln schienen bei diesem Flug außer Kraft gesetzt zu sein.
„Sie sagten, Sie seien hier, um ein Kind zu observieren.“ Er schüttelte zweifelnd den Kopf. „Wenn das Ganze nur die Tarnung für eine echte militärische Geheimoperation sein sollte, gibt es Offiziere, die dafür wesentlich besser qualifiziert wären. Ich habe erst vor sieben Wochen auf der UNSC OCS graduiert. Meine Befehle überstellten mich zur Magellan, aber diese Order wurde aufgehoben. Ma’am?“
Sie drehte sich um und betrachtete ihn aus frostblauen Augen. „Fahren Sie fort, Lieutenant.“
Er griff nach seiner Pfeife, unterdrückte die Bewegung jedoch im Ansatz. Sie hätte das wohl für eine alberne Angewohnheit gehalten.
„Wenn dies eine geheimdienstliche Mission ist“, sagte er, „weiß ich ehrlich gesagt nicht, weshalb ausgerechnet ich mit von der Partie bin.“
Sie beugte sich nach vorne. „Dann, Lieutenant, werde ich ebenso offen sprechen.“
Etwas tief in Lieutenant Keyes wusste, dass er es bereuen würde, das zu erfahren, was Dr. Halsey nun sagen würde. Er ignorierte das Gefühl. Er wollte die Wahrheit kennen lernen.
„Sprechen Sie weiter, Doktor.“
Ihr knappes Lächeln kehrte zurück. „Sie sind hier, weil sich Vice Admiral Stanforth, Leiter von Sektion Drei des UNSC-Militärgeheimdienstes weigerte, mir dieses Shuttle ohne mindestens einen UNSC-Offizier an Bord zu überlassen – obwohl er so gut wie ich weiß, dass ich dieses Ding hier sehr gut selbst fliegen könnte. Also suchte ich mir einen UNSC-Offizier aus – Sie.“ Sie tippte sich mit dem Finger nachdenklich gegen die Unterlippe and fügte hinzu: „Sie müssen wissen, dass ich Ihre Akte gelesen habe, Lieutenant. Die ganze Akte.“
„Ich weiß nicht …“
„Sie wissen, wovon ich rede.“ Sie rollte mit den Augen. „Sie lügen schlecht, Lieutenant. Beleidigen Sie mich nicht durch einen weiteren Versuch.“
Lieutenant Keyes schluckte. „Aber warum ich? Vor allem … wenn Sie meine Akte kennen?“
„Ich habe Sie gerade wegen Ihrer Akte ausgesucht – wegen des Zwischenfalls in Ihrem zweiten Jahr an der OCS. Vierzehn Kadetten getötet. Sie wurden verwundet und verbrachten zwei Monate in der Rekonvaleszenz. Plasmaverbrennungen sollen besonders schmerzhaft sein, hört man.“
Er rieb sich nervös die Hände. „Ja.“
„Der verantwortliche Lieutenant war Ihr kommandierender Offizier bei diesem Übungsmanöver. Sie haben sich geweigert, gegen ihn auszusagen, trotz der erdrückenden Beweislast, die gegen ihn sprach und den Aussagen der anderen Offiziere … selbst seiner Freunde.“
„Ja.“
„Die anderen berichteten dem Ausschuss von dem Geheimnis, das der Lieutenant ihnen anvertraut hatte – dass er eine neue Theorie testen wollte, um die Sprünge durch den Slipstream genauer ausführen zu können. Er irrte sich, und alle haben für seinen Enthusiasmus und seine schlechten mathematischen Kenntnisse büßen müssen.“
Lieutenant Keyes betrachtete seine Hände und hatte das Gefühl, nach innen zu stürzen. Dr. Halseys Stimme klang weit entfernt. „Ja.“
„Trotz des wachsenden Drucks haben Sie nie ausgesagt. Man hat Ihnen mit Degradierung gedroht, mit einer Anklage wegen Befehlsverweigerung und Ungehorsam, sogar mit dem Ausschluss aus der Navy. Die anderen Offiziersanwärter haben jedoch ausgesagt und lieferten dem Ausschuss genügend Beweise, um Ihren kommandierenden Offizier vor ein Kriegsgericht zu stellen. Sie erhielten einen Aktenvermerk, alle anderen Anklagepunkte wurden fallen gelassen.“
Er sagte nichts. Sein Kopf war geneigt.
„Deshalb sind Sie hier, Lieutenant, weil Sie über eine Fähigkeit verfügen, die beim Militär äußerst selten ist: Sie können ein Geheimnis bewahren.“ Sie atmete tief durch und fügte hinzu: „Sie müssen vielleicht einige Geheimnisse bewahren, wenn diese Mission zu Ende gegangen ist.“
Er sah auf. Ihr Blick war seltsam. Sah er Mitleid? Das überraschte ihn so sehr, dass er rasch zur Seite schaute. Aber er hatte sich seit dem Verlassen der OCS nicht mehr so gut gefühlt. Jemand vertraute ihm wieder.
„Ich denke“, sagte sie, „dass Sie lieber auf der Magellan wären, um an der Front zu kämpfen und zu sterben.“
„Ganz und gar nicht, ich …“ Er erkannte die Lüge, als er sie aussprechen wollte. Deshalb unterbrach und korrigierte er sich. „Ja. Das UNSC braucht jeden Mann und jede Frau zum Schutz der Äußeren Kolonien. Bei den ganzen Überfällen und Aufständen ist es ein Wunder, dass nicht alles auseinander fällt.“
„So ist es, Lieutenant. Seit wir die Schwerkraft verlassen haben, bekämpfen wir einander um jeden Kubikzentimeter Vakuum – vom Mars zu den Monden des Jupiter, hin zu den Massakern im Hydra-System und weiter zu den hundert lokalen Scharmützeln in den Äußeren Kolonien. Immer droht auch noch der letzte Zusammenhalt auseinander zu brechen. Deshalb sind wir hier.“
„Um ein Kind zu beobachten“, sagte er. „Welchen Unterschied könnte ein Kind ausmachen?“
Sie hob eine Augenbraue. „Dieses Kind kann für das UNSC nützlicher sein als eine Flotte von Zerstörern, tausend Lieutenants – oder sogar ich. Dieses Kind könnte das Zünglein an der Waage sein, das wir brauchen.“
„Wir erreichen Eridanus Zwei“, informierte Toran sie.
„Programmiere einen Kurs zum Luxor-Raumhafen“, befahl Dr. Halsey. „Lieutenant Keyes, bereiten Sie die Landung vor.“
Kapitel 2
1130 Stunden, 17. August 2517 (militärischer Kalender)
Eridanus-Sternsystem, Eridanus 2, Elysium City
Die orangefarbene Sonne loderte feurig über dem Spielplatz der Grunderziehungseinrichtung Nr. 119 in Elysium City. Dr. Halsey und Lieutenant Keyes standen im Halbschatten einer Zeltplane und beobachten die schreienden und spielenden Kinder, die sich gegenseitig verfolgten, auf Stahlgerüste kletterten und Gravobälle über die Spielfelder warfen.
Lieutenant Keyes fühlte sich sichtlich unwohl in ziviler Kleidung. Er trug einen weiten grauen Anzug und ein weißes Hemd ohne Krawatte. Dr. Halsey fand seine plötzliche Unbeholfenheit charmant.
Als er sich darüber beschwerte, dass seine Kleidung zu weit und zu schlampig wirkte, hätte sie beinahe gelacht. Er war durch und durch Soldat. Sogar ohne Uniform stand er so gerade, als müsse er ständig Haltung annehmen. „Es ist schön hier“, sagte sie. „Diese Kolonie weiß nicht, wie gut es ihr geht. Ländlicher Lebensstil. Keine Verschmutzung. Keine Überbevölkerung. Klimakontrolliertes Wetter.“
Der Lieutenant grunzte zustimmend, während er versuchte eine Falte in seiner Seidenjacke zu glätten.
„Entspannen Sie sich“, sagte sie. „Wir sind angeblich Eltern, die nach einer Schule für ihr kleines Mädchen suchen.“ Sie legte ihren Arm um seinen und war überrascht, dass es dem Lieutenant tatsächlich gelang, noch strammer zu stehen.
Sie seufzte und löste sich von ihm, öffnete ihre Handtasche und nahm einen handtellergroßen Gegenstand heraus. Sie rückte die Krempe ihres breiten Strohhuts zurecht, um den Bildschirm vor der Mittagssonne zu schützen. Mit einem Fingerdruck griff sie auf die Datei zu, die sie über ihr Zielobjekt angelegt hatte.
Nummer 117 hatte all die genetischen Eigenschaften, nach denen sie in ihrer ursprünglichen Studie gesucht hatte. Er war so perfekt für ihr Projekt geeignet, wie man es sich nur wünschen konnte. Aber Dr. Halsey wusste, dass sie mehr als nur theoretische Perfektion benötigte, damit dieses Projekt funktionierte. Menschen waren mehr als die Summe ihrer Gene. Es gab Umweltfaktoren, Mutationen, erlernte Ethik und hundert andere Faktoren, deretwegen man diesen Kandidaten für ungeeignet erklären konnte.
Das Bild in ihrer Datei zeigte einen typischen sechsjährigen Jungen. Er hatte lockiges braunes Haar und ein Grinsen auf den Lippen, das eine Lücke zwischen seinen Vorderzähnen enthüllte. Ein paar Sommersprossen waren auf seinen Wangen zu sehen. Gut, die Übereinstimmungen bestätigten seine Identität.
„Unser Objekt.“ Als sie dem Lieutenant den Bildschirm zeigte, bemerkte sie, dass das Bild bereits vier Monate alt war. Wusste ONI denn nicht, wie schnell sich diese Kinder veränderten? Schlampige Arbeit. Sie nahm sich vor, ab jetzt regelmäßig nach neuen Bildern zu fragen, bis Phase Drei angelaufen war.
„Ist er das?“, flüsterte der Lieutenant.
Dr. Halsey sah auf.
Der Lieutenant nickte in Richtung eines grasbewachsenen Hügels am Rand des Spielplatzes. Die Spitze des Hügels bestand aus purem Sand, ohne jede Vegetation. Ein Dutzend Jungen schubsten und stießen sich gegenseitig. Sie sprangen sich an, rollten den Abhang hinab, standen auf, liefen wieder nach oben und wiederholten den Vorgang.
„Herrscher des Hügels“, bemerkte Dr. Halsey.
Ein Junge stand ganz oben. Er blockierte, schubste und überwältigte alle anderen Kinder mühelos.
Dr. Halsey richtete ihren Minicomputer auf ihn und zeichnete den Zwischenfall für eine spätere Untersuchung auf. Sie zoomte das Studienobjekt heran, um es besser betrachten zu können. Der Junge lächelte und zeigte die gleiche kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Sie fror das Bild ein und verglich es mit dem Bild in ihren Daten.
„Das ist unser Junge.“
Er war mehr als eine Handbreit größer als die anderen Kinder und – wenn seine Leistung im Spiel gezählt werden konnte – stärker als sie. Ein anderer Junge sprang ihn von hinten an. Nummer 117 warf ihn so mühelos ab, als sei er ein Spielzeug und stieß ihn lachend den Abhang hinab.
Dr. Halsey hatte ein Exemplar mit perfekten körperlichen Proportionen und atemberaubendem Intellekt erwartet. Tatsächlich war das Objekt schnell und stark, aber auch dreckig und unhöflich.
Sie wusste, dass sie in diesen Feldstudien einige unrealistische und subjektive Annahmen korrigieren musste. Was hatte sie auch erwartet? Er war ein sechsjähriger Junge – voller Leben und unkontrollierten Gefühlen und so vorhersehbar wie der Wind.
Drei Jungen taten sich gegen ihn zusammen. Zwei griffen nach seinen Beinen und einer legte die Arme um seine Brust. Sie alle rollten den Hügel herab. Nummer 117 trat und schlug und biss seine Angreifer, bis sie losließen und von ihm wegliefen. Er erhob sich und stieg den Hügel wieder hinauf. Dabei stieß er einen weiteren Jungen zur Seite und rief, er sei der Herrscher.
„Er wirkt“, sagte der Lieutenant, „sehr … hm … lebhaft.“
„Ja“, antwortete Dr. Halsey. „Wir werden vielleicht etwas mit ihm anfangen können.“
Sie warf einen Blick über den Spielplatz. Der einzige Erwachsene half gerade einem kleinen Mädchen auf, das hingefallen war und sich den Ellenbogen aufgeschlagen hatte. Sie gingen auf das Erste-Hilfe-Büro zu.
„Bleiben Sie hier und behalten Sie mich im Auge“, sagte sie und reichte ihm den Minicomputer. „Ich sehe ihn mir genauer an.“
Der Lieutenant wollte etwas sagen, aber Dr. Halsey ging bereits, lief dann sogar über die bunten Felder des Spielplatzes. Eine Brise verfing sich in ihrem Kleid und sie musste den Saum mit einer Hand festhalten, während sie die andere auf die Krempe ihres Strohhuts legte. Sie wurde langsamer und blieb vier Meter vor dem Hügel stehen.
Die Kinder unterbrachen ihr Spiel und drehten sich um.
„Du kriegst Ärger“, sagte ein Junge und schubste Nummer 117. Der stieß ihn zurück und sah Dr. Halsey direkt in die Augen. Die anderen Kinder sahen weg; einige lächelten peinlich berührt, andere zogen sich langsam zurück.
Ihr Objekt blieb jedoch trotzig stehen. Entweder war er sicher, dass sie ihn nicht bestrafen würde, oder er hatte einfach keine Angst. Sie sah, dass er einen blauen Fleck auf der Wange hatte. Der Stoff an den Knien seiner Hose war zerrissen und seine Lippe aufgeplatzt.
Dr. Halsey ging drei Schritte näher heran. Mehrere Kinder traten instinktiv drei Schritte zurück.
„Kann ich bitte mit dir reden?“, fragte sie und behielt ihr Objekt im Auge.
Er unterbrach den Blickkontakt erst jetzt, hob die Schultern und kletterte den Hügel herab. Die anderen Kinder kicherten und machten schadenfrohe Geräusche. Eines warf einen Kieselstein nach ihm. Nummer 117 ignorierte sie.
Dr. Halsey führte ihn zum Rand eines Sandkastens und blieb stehen.
„Wie ist dein Name?“, fragte sie.
„Ich bin John“, sagte er. Der Junge streckte die Hand aus.
Dr. Halsey hatte keinen körperlichen Kontakt erwartet. Der Vater des Objekts musste ihm diese Geste beigebracht haben; vielleicht imitierte der Junge aber auch, was er gesehen hatte.
Sie ergriff seine Hand und war überrascht, wie viel Stärke in den kleinen Fingern steckte. „Es freut mich, dich kennen zu lernen.“ Sie ging in die Knie, um auf einer Höhe mit ihm zu sein. „Ich wollte dich fragen, was du eben getan hast.“
„Ich habe gewonnen“, sagte er.
Dr. Halsey lächelte. Er hatte keine Angst … und sie bezweifelte, dass es ihm schwer gefallen wäre, sie ebenfalls von dem Hügel zu stoßen.
„Du magst Spiele“, sagte sie. „Ich mag sie auch.“
Er seufzte. „Ja, aber letzte Woche musste ich Schach spielen. Das war schnell langweilig. Man gewinnt zu leicht.“ Er holte rasch Atem. „Oder können wir Gravoball spielen? Ich darf nicht mehr Gravoball spielen, aber vielleicht lassen sie mich, wenn du ihnen sagst, das sei in Ordnung.“
„Ich möchte, dass du ein anderes Spiel ausprobierst“, sagte sie ihm. „Sieh her.“
Sie griff in ihre Tasche und nahm eine Metallscheibe heraus. Sie drehte sie, und die Scheibe glitzerte in der Sonne. „Menschen benutzten solche Münzen vor langer Zeit als Währung. Damals war die Erde, der einzige Planet, auf dem wir lebten.“
Sein Blick fixierte das Objekt. Er griff danach.
Dr. Halsey zog die Münze weg und drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger. „Jede Seite ist anders, siehst du das? Auf der einen ist das Gesicht eines Mannes mit langen Haaren. Auf der anderen ist ein Vogel, den man Adler nennt. Er hält …“
„Pfeile“, sagte John.
„Ja, Gut.“ Seine Augen mussten außergewöhnlich gut sein, wenn er solche Details auf diese Entfernung erkennen konnte. „Wir benutzen die Münze in unserem Spiel. Wenn du gewinnst, kannst du sie behalten.“
John nahm seinen Blick von der Münze und sah erneut zu ihr. Er kniff die Augen zusammen und sagte: „Okay. Ich gewinne aber immer. Deshalb darf ich kein Gravoball mehr spielen.“
„Das kann ich mir denken.“
„Was ist das für ein Spiel?“
„Es ist ganz leicht. Ich werfe die Münze so wie jetzt.“ Sie drehte ihr Handgelenk und katapultierte die Münze mit dem Daumen in die Luft. Sie drehte sich rasch und landete im Sand. „Das nächste Mal möchte ich jedoch, dass du mir bevor sie landet sagst, ob das Gesicht des Manns oder der Adler mit den Pfeilen oben liegen wird.“
„Verstanden.“ John spannte sich an und beugte die Knie. Sein Blick schien sich weder auf sie, noch auf die Münze zu konzentrieren.
Dr. Halsey nahm den Vierteldollar auf. „Bereit?“
John nickte knapp.
Sie warf die Münze und achtete darauf, dass sie sich möglichst oft im Flug drehte.
Johns Augen folgten ihr mit diesem merkwürdig entfernten Blick. Er sah zu, wie sie nach oben flog und dann dem Boden entgegen fiel. Seine Hand griff danach und pflückte den Vierteldollar aus der Luft.
Er hielt die geschlossene Hand hoch. „Adler!“, rief er.
Vorsichtig ergriff sie seine Hand und öffnete die kleine Faust.
Der Vierteldollar lag auf seiner Handfläche; der Adler leuchtete im orangefarbenen Sonnenlicht.
Hatte er möglicherweise gesehen, welche Seite oben lag, als er danach griff … oder, was unwahrscheinlicher war, hatte er die Seite gewählt, die er wollte. Sie hoffte, dass der Lieutenant alles aufgezeichnet hatte. Sie hätte ihm sagen sollen, dass er den Minicomputer auf sie zu richten hatte.
John zog seine Hand zurück. „Ich kann sie behalten, richtig? Das hast du doch gesagt.“
„Ja, du kannst sie behalten, John.“ Sie lächelte ihn an und fing sich dann.
Sie hätte seinen Namen nicht verwenden sollen. Das war ein schlechtes Zeichen. Sie konnte sich den Luxus, ihre Testobjekte zu mögen, nicht leisten. Mental trat sie von ihren Gefühlen zurück. Sie musste eine professionelle Distanz einhalten. Das war wichtig, weil Nummer 117 vielleicht in einigen Monaten nicht mehr leben würde.
„Können wir noch einmal spielen?“
Dr. Halsey stand auf und trat einen Schritt zurück. „Ich hatte leider nur die eine. Ich muss jetzt gehen. Spiel weiter mit deinen Freunden.“
„Danke.“ Er lief zurück und rief den anderen Jungen zu: „Seht mal!“
Dr. Halsey ging zum Lieutenant. Die Sonne, die vom Asphalt reflektiert wurde, fühlte sich zu heiß an, und sie wollte plötzlich nicht mehr draußen sein. Sie wollte zurück ins Schiff, wo es kühl und dunkel war. Sie wollte weg von diesem Planeten.
Sie trat unter die Markise und sagte zum Lieutenant: „Sie haben das doch aufgezeichnet, oder?“
Er reichte ihr mit einem verwirrten Blick den Minicomputer. „Ja, aber was sollte das?“
Dr. Halsey überprüfte die Aufnahme und schickte zur Sicherheit eine Kopie an Toran auf der Han.
„Wir überprüfen diese Objekte auf bestimmte genetische Eigenschaften“, sagte sie. „Stärke, Geschicklichkeit, sogar Neigungen zu Aggression oder Intellekt. Aber wir können nicht alles aus der Entfernung überprüfen. Wir können Glück nicht testen.“
„Glück?“, fragte Lieutenant Keyes. „Sie glauben an Glück, Doktor?“
„Natürlich nicht“, sagte sie und winkte ab. „Aber wir ziehen hundertfünfzig Testexemplare in Betracht und haben nur Gelder und Einrichtungen für die Hälfte. Dieses Kind gehört zu den Glücklichen – entweder das, oder er ist unglaublich schnell. Wie dem auch sei, er ist angenommen.“
„Ich verstehe nicht“, sagte Lieutenant Keyes und begann mit der Pfeife in seiner Tasche zu spielen.
„Ich hoffe, das bleibt so, Lieutenant“, antwortete Dr. Halsey leise. „Um Ihretwillen hoffe ich, dass Sie nie verstehen, was wir tun.“
Sie sah ein letztes Mal zu Nummer 117 – zu John. Er rannte und lachte, hatte so viel Spaß. Einen Augenblick lang beneidete sie die Unschuld des Jungen; ihre eigene war längst vergangen. Leben oder Tod, Glück oder Pech, sie verdammte den Jungen zu großen Schmerzen und großem Leid.
Aber sie musste es tun.
Kapitel 3
2300 Stunden, 23. September, 2517 (militärischer Kalender)
Epsilon-Eridani-System, militärischer Komplex Reach, Planet Reach
Dr. Halsey stand auf einer Plattform in der Mitte des Amphitheaters. Konzentrische Ringe aus schiefergrauem Material bildeten das noch leere Auditorium. Scheinwerfer waren auf sie gerichtet und strahlten ihren weißen Laborkittel an, aber ihr war immer noch kalt.
Sie sollte sich hier sicher fühlen. Reach war einer der größten Industriestützpunkte des UNSC. Der Planet war von orbitalen Waffenbatterien, Raumdocks und einer Flotte schwerbewaffneter Schiffe umgeben. Am Boden gab es Übungsgelände für Marines und Navy-Spezialeinheiten, sowie OCS-Schulen, und zwischen ihrer unterirdischen Einrichtung und der Oberfläche lag eine dreihundert Meter dicke Stahlbeton-Schicht. Der Raum, in dem sie sich gerade befand, konnte einer Nuklearwaffe mit einer Sprengkraft von achtzig Megatonnen herkömmlichem TNT standhalten.
Warum fühlte sie sich dennoch so verletzlich?
Dr. Halsey wusste, was sie zu tun hatte. Ihre Pflicht. Der Zweck heiligte die Mittel. Die gesamte Zivilisation würde gerettet werden, was machte es da schon aus, dass eine Hand voll Menschen leiden musste? Trotzdem ekelte es sie an, wenn sie den Blick nach innen richtete und an ihre Rolle bei dem Projekt dachte.
Sie wünschte, Lieutenant Keyes wäre noch da. Er hatte sich vergangenen Monat als fähiger Assistent erwiesen. Doch er hatte angefangen, das Projekt zu verstehen – beziehungsweise die Umrisse der Wahrheit zu erkennen, worauf Dr. Halsey ihn an die Magellan überstellte und ihn als Anerkennung für seine Bemühungen zum Lieutenant befördern ließ.
„Sind Sie bereit, Doktor?“, fragte eine körperlose Frauenstimme.
„Fast, Déjà.“ Dr. Halsey seufzte. „Bitte Chief Petty Officer Mendez herein. Ich möchte, dass du und er anwesend seid, wenn ich zu ihnen spreche.“
Déjàs Hologramm entstand direkt neben Dr. Halsey. Die KI war speziell für Dr. Halseys SPARTANER-Projekt entwickelt worden. Sie sah wie eine griechische Göttin aus: barfuss, in eine Toga gehüllt, während Lichtpunkte um ihr leuchtend weißes Haar tanzten. In der linken Hand hielt sie eine Tontafel, über die ein Binärcode lief. Dr. Halsey staunte immer wieder über die Form, die die KI gewählt hatte. Jede KI suchte sich das holographische Aussehen allein aus; so waren alle einzigartig.
Eine Tür am Rand des Amphitheaters öffnete sich, und Chief Petty Officer Mendez schritt die Stufen hinunter. Er trug eine schwarze Uniform, und seine Brust war voller silberner und goldener Sterne und einem Regenbogen aus Ordensbändchen. Sein kurzgeschnittenes Haar war an den Schläfen leicht angegraut. Er war nicht sonderlich groß oder muskulös. Für einen Mann, der so viele Schlachten erlebt hatte, wirkte er vollkommen gewöhnlich … abgesehen von seinem Gang. Er bewegte sich mit einer langsamen Eleganz, als wäre die Schwerkraft nur halb so hoch. Er blieb vor Dr. Halsey stehen und wartete weitere Befehle ab.
„Hier herauf, bitte“, sagte sie und zeigte auf die Stufen zu ihrer Rechten.
Mendez stieg die Stufen zur Plattform empor und blieb entspannt neben ihr stehen.
„Haben Sie meine psychologische Analyse gelesen?“, wandte sich Déjà an Dr. Halsey.
„Ja. Sie war sehr detailliert“, sagte sie. „Danke.“
„Und?“
„Ich werde deinen Ratschlag nicht annehmen, Déjà. Ich sage ihnen die Wahrheit.“
Mendez bekundete seine Zustimmung mit einem leisen Grunzen – eine der ausführlichsten Äußerungen, die Dr. Halsey bisher von ihm gehört hatte. Mendez war einer der besten Kämpfer und Ausbilder der Marines, aber als Gesprächspartner ließ er deutliche Defizite erkennen.
„Die Wahrheit birgt Risiken“, warnte Déjà.
„Lügen ebenfalls“, antwortete Dr. Halsey. „Jede Geschichte, die wir uns zur Motivation dieser Kinder ausdenken – wenn wir behaupten, ihre Eltern seien von Piraten ermordet worden oder bei einer Seuche auf ihrem Planeten gestorben – würde sie gegen uns aufbringen, wenn sie eines Tages die Wahrheit erführen.“
„Das ist eine legitime Sorge“, gab Déjà zu und warf einen Blick auf ihre Tafel. „Dürfte ich eine selektive neurale Lähmung vorschlagen? Sie löst einen zielgerichteten Erinnerungsverlust aus, der …“
„Ein Erinnerungsverlust, der auf andere Gehirnteile übergreifen könnte. Nein“, sagte Dr. Halsey. „Selbst mit intakten Gehirnen ist das alles noch hoch gefährlich für sie.“
Sie aktivierte ihr Mikrofon. „Bringen Sie sie jetzt bitte herein.“
„Jawohl“, antwortete eine Stimme aus den Deckenlautsprechern.
„Sie werden sich anpassen“, sagte Dr. Halsey zu Déjà, „oder sie werden es nicht – dann wären sie nicht zu unterrichten und somit für das Projekt ungeeignet. In jedem Fall will ich es aber jetzt einfach hinter mich bringen.“
Vier Doppeltüren in der obersten Reihe des Amphitheaters öffneten sich. 75 Kinder marschierten herein – ein jedes wurde von einem Trainer, einem Navy-Ausbilder in Camouflage-Uniform, begleitet.
Die Kinder hatten dunkle Ringe unter den Augen. Sie alle waren aufgenommen, rasch durch den Slipstream geschleust und erst kürzlich aus dem Kryoschlaf erweckt worden. Der Schock dieser Tortur musste ihnen schwer zu schaffen machen, erkannte Dr. Halsey. Sie fühlte einen Stich des Bedauerns.
Als sie sich gesetzt hatten, räusperte sich Dr. Halsey und begann zu sprechen: „In Übereinstimmung mit der Navy-Richtlinie 45812 werdet ihr hiermit zum UNSC-Sonderprojekt mit dem Codenamen SPARTANER II rekrutiert.“
Sie machte eine Pause. Die Worte steckten ihr in der Kehle fest. Wie sollten sie das verstehen? Sie verstand ja kaum die Rechtfertigung und die Moral hinter diesem Programm.
Sie wirkten so verwirrt. Einige wollten aufstehen und gehen, aber ihre Trainer legten ihnen autoritär die Hand auf die Schulter und hielten sie nach unten gedrückt.
Sechs Jahre alt … das konnten sie nicht verarbeiten. Und doch musste sie es ihnen so einfach erklären, dass sie es verstanden.
Dr. Halsey machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne. „Ihr seid eingezogen worden, um zu dienen“, erklärte sie. „Man wird euch ausbilden … und wir werden das Beste aus euch formen. Ihr werdet die Erde und ihre Kolonien schützen.“
Eine Hand voll Kinder saß plötzlich gerader, wirkte nicht mehr nur verängstigt, sondern auch interessiert.
Dr. Halsey entdeckte John, er trug die Nummer 117 – den ersten Jungen, den sie als geeigneten Kandidat bestätigt hatte. Er furchte verwirrt die Stirn, hörte jedoch konzentriert zu.
„Das wird jetzt schwer zu verstehen sein, aber ihr könnt nicht zu euren Eltern zurückkehren.“
Die Kinder wurden unruhig. Ihre Trainer hielten sie an den Schultern fest.
„Dieser Ort wird eure neue Heimat sein“, sagte Dr. Halsey so sanft, wie es ihr nur möglich war. „Eure Mitschüler sind jetzt eure Familie. Die Ausbildung wird schwer sein. Es liegen viele Härten auf eurem Weg, aber ich weiß, dass ihr es alle schaffen werdet.“
Patriotische Worte, aber sie klangen hohl in ihren Ohren. Sie hatte ihnen die Wahrheit sagen wollen, aber wie hätte sie das tun können?
Nicht alle würden es schaffen. „Akzeptable Verluste“, hatte ihr der Repräsentant des Navy-Geheimdiensts versichert. Nichts davon war akzeptabel.
„Ruht euch jetzt aus“, sagte Dr. Halsey zu ihnen. „Wir beginnen morgen.“
Sie wandte sich an Mendez. „Begleiten Sie die Kinder … die Kadetten zu ihrer Kaserne. Geben Sie ihnen zu essen, und bringen Sie sie zu Bett.“
„Ja, Ma’am“, sagte Mendez. „Heraustreten!“, rief er dann.
Die Kinder standen auf Drängen ihrer Trainer auf. John 117 erhob sich, hielt den Blick jedoch weiter auf Dr. Halsey gerichtet und wirkte völlig ruhig. Viele der anderen machten einen regelrecht geschockten Eindruck, bei einigen zitterten die Lippen, aber keines der Kinder weinte.
Sie waren tatsächlich die geeigneten Kandidaten für dieses Projekt. Dr. Halsey hoffte, dass sie, wenn der Tag ihrer eigentlichen Bewährung kommen würde, wenigstens halb so viel Mut aufbrachten.
„Beschäftigen Sie die Kinder ausreichend, sobald sie morgen aufwachen“, sagte sie Mendez und Déjà. „Sie sollen keine Zeit bekommen, um zu begreifen, was wir ihnen gerade angetan haben.“
SEKTION II
TRAINING
Kapitel 4
0530 Stunden, 24. September 2517 (militärischer Kalender)
Epsilon-Eridani-System, Militärkomplex Reach, Planet Reach
„Hoch, Kadett!“
John rollte sich in seinem Bett zur Seite und schlief wieder ein. Es war ihm dunkel bewusst, dass er sich nicht in seinem Zimmer befand und dass noch andere Leute anwesend waren.
Ein Schock durchzuckte ihn – von seinen nackten Füßen bis in seine Schädeldecke hinauf. Er schrie vor Überraschung auf und fiel aus dem Bett. Er schüttelte Desorientierung und Halbschlaf ab und kam auf die Füße.
„Ich sagte: hoch, Kadett! Weißt du, wo hoch ist?“
Ein Mann in einer Camouflage-Uniform blickte auf John herab. Seine Haare waren kurz rasiert und an den Schläfen grau. Seine dunklen Augen wirkten nicht menschlich – sie waren zu groß und zu schwarz und blinzelten nicht. In einer Hand trug er einen silbernen Stock, Funken sprühten heraus.
John wich zurück. Er hatte vor nichts Angst. Nur kleine Kinder hatten Angst … aber sein Körper machte instinktiv einen großen Bogen um den Gegenstand.
Dutzende anderer Männer weckten den Rest der Kinder. 74 Mädchen und Jungen schrien und sprangen aus den Betten.
„Ich bin Chief Petty Officer Mendez!“, brüllte die Gestalt neben John. „Die anderen Männer sind deine Ausbilder. Du wirst immer exakt das tun, was wir dir sagen.“
Mendez zeigte zum Ende der rechteckigen Kaserne. „Dort sind die Duschen. Ihr wascht euch jetzt und kommt dann zurück, um euch anzuziehen.“ Er öffnete die Kiste am Ende von Johns Bett und zog graue Sportkleidung heraus.
John beugte sich vor und sah, dass sein Name auf die Brust gedruckt war: JOHN-117.
„Nicht trödeln, beeil dich!“ Mendez tippte mit dem Stock zwischen Johns Schulterblätter.
Ein Blitz schoss durch Johns Oberkörper. Er fiel auf das Bett und schnappte nach Luft.
„Das ist kein Scherz! Los, los, LOS!“
John bewegte sich. Er konnte nicht einatmen, aber er rannte trotzdem und presste die Hand gegen die Brust. Als er die Dusche erreichte, gelang ihm der erste japsende Atemzug. Die anderen Kinder wirkten verängstigt und desorientiert. Sie alle zogen ihre Nachthemden aus und traten unter eine der Duschen, wo sie sich mit lauwarmem Seifenwasser und anschließend mit einem eiskalten Strahl wuschen.
Er lief zu seinem Bett und zog seine Unterwäsche, dicke Socken, die Sportkleidung und ein Paar Kampfstiefel an. Alles saß perfekt.
„Raus, Kadetten“, verkündete Mendez. „Dreifache Zeit … marsch!“
John und die anderen liefen aus der Kaserne auf einen dünnen Grasstreifen.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und am Horizont zeichnete sich ein roter Streifen ab. Das Gras war taubedeckt, feucht. Es gab Dutzende von Baracken, aber niemand sonst hielt sich draußen auf. Zwei Jets zogen brüllend über sie hinweg und schossen hoch in den Himmel. Weit entfernt hörte John ein metallisches Knacken.
Chief Petty Officer Mendez bellte: „Ihr stellt euch in fünf gleich langen Reihen auf. Fünfzehn Kadetten in jeder.“ Er wartete einige Sekunden, während sie sich verteilten. „Macht die Reihen gerade. Kannst du bis fünfzehn zählen, Kadett? Tritt drei Schritte zurück.“
John stellte sich in die zweite Reihe.
Während er die kalte Luft atmete, begann er aufzuwachen. Er fing an sich zu erinnern. Sie hatten ihn mitten in der Nacht geholt. Sie hatten ihm etwas injiziert, und er hatte lange geschlafen. Dann hatte die Frau, von der er die Münze bekommen hatte, gesagt, er könne nicht zurück und würde seine Eltern nie mehr wiedersehen …
„Ihr Hampelmänner!“, brüllte Mendez. „Macht schon! Zählt bis hundert. Fertig. Los!“ Der Offizier begann mit der Übung, und John folgte seinem Beispiel.
Ein Junge weigerte sich – für einen winzigen Moment. Ein Trainer war sofort bei ihm. Der Stock schlug in den Magen des Jungen. Das Kind krümmte sich zusammen. „Mach weiter mit der Übung, Kadett“, zischte der Trainer. Der Junge richtete sich auf und begann zu springen.
John hatte noch nie so viele Hampelmänner in seinem Leben gemacht. Seine Arme, sein Bauch und seine Beine brannten. Schweiß lief ihm über den Rücken.
„Achtundneunzig, neunundneunzig, hundert.“ Mendez machte eine Pause und atmete tief ein. „Sit-ups!“ Er ließ sich ins Gras fallen. „Zählt bis hundert. Versucht nicht zu bescheißen.“
John warf sich auf den Boden.