Halo: Shadows of Reach - Ein Master-Chief-Roman - Roman zum Game - Troy Denning - E-Book
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Halo: Shadows of Reach - Ein Master-Chief-Roman - Roman zum Game E-Book

Troy Denning

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Beschreibung

Oktober 2559: Ein Jahr ist es her, seit die abtrünnige künstliche Intelligenz Cortana ein galaxisweites Ultimatum gestellt hat und nun zahlreiche Welten bedroht. Daher soll eine Einheit Spartans unter dem Kommando des Master Chiefs eine verdeckte Mission auf dem verwüsteten Planeten Reach durchführen, ihrer ehemalige Heimat und Schauplatz der katastrophalen militärischen Niederlage der Menschheit am Ende des Krieges gegen die Allianz. John-117 und sein schlagkräftiges Team haben den Auftrag, auf dem geschundenen Planeten streng geheime Forschungsdaten zu bergen, die in Dr. Catherine Halseys verlassenem Labor aufbewahrt werden – Daten, die womöglich die letzte Hoffnung der Menschheit im Kampf gegen Cortana sein könnten. Doch Reach wurde von einer mächtigen und skrupellosen außerirdischen Fraktion überrannt, die ihre eigenen Ziele verfolgt.

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Seitenzahl: 642

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HALO: MASTER-CHIEF-ROMANE

Von Troy Denning

HALO: STILLER STURM

ISBN 978-3-8332-4265-6

HALO: OBLIVION

ISBN 978-3-8332-4343-1

HALO: SHADOWS OF REACH

ISBN 978-3-8332-4415-5

Weitere Info und Titel unter www.paninibooks.de

TROY DENNING

Basierend auf dem Xbox-Videogame-Bestseller

Ins Deutsche übertragen von Andreas Kasprzak & Tobias Toneguzzo

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: »HALO: Shadows of Reach – A Master Chief Story« by Troy Denning published in the US by Gallery Books, An Imprint of Simon & Schuster Inc., New York, October 2020.

Copyright ©2020, 2023 by Microsoft Corporation. All rights reserved.

Microsoft, Halo, the Halo logo, Xbox, and the Xbox logo are trademarks of the Microsoft group of companies.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (email: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Andreas Kasprzak & Tobias Toneguzzo

Lektorat: Peter Thannisch

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDHALOM003

ISBN 978-3-7569-9984-2

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-4415-5

1. Auflage, September 2023

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

Für Elliot Courant

ANMERKUNG DES HISTORIKERS

Diese Geschichte ereignet sich im Oktober 2559, ein Jahr nach den Geschehnissen in Halo 5: Guardians, als sich die KI Cortana in die Domäne zurückzog und eine Armee von Blutsväter-Wächtern erweckte, um die interstellaren Zivilisationen im Orionarm der Milchstraße unter ihre Kontrolle zu bringen.

1. KAPITEL

02:17 Uhr, 7. Oktober 2559 (Militärkalender)

Special Delivery, Owl-Infiltrationsschiff des UNSC

Im Anflug auf den Kontinent Eposz, Planet Reach

Der Monitor an der vorderen Wand war dunkel, und er würde dunkel bleiben, bis die Hüllentemperatur des Owls weit genug fiel, um die Kameras am Bug des Schiffs einsetzen zu können. Doch das war nicht weiter schlimm. John-117 hatte während seiner vierunddreißig Jahre im aktiven Dienst auf Dutzenden verglasten Welten Einsätze durchgeführt, und er wusste, was sie erwartete: eine Decke aus silberfarbenen Wolken über einer gewaltigen Fläche aus zusammengeschmolzenem Boden; vereinzelte Ablagerungen von Staub und Schlamm, auf denen Flechten und Algen wieder Fuß gefasst hatten; Tümpel mit schwarzem Grund und spiegelglatten Rändern; spinnenartige Flusssysteme, die sich in halb leere Meere ergossen … Mehr gab es dort nicht mehr.

Inzwischen war die Allianz Vergangenheit – abgesehen von ein paar Gruppierungen, die stur an ihrem Hass auf die Menschheit oder einer verlorenen Hoffnung auf Transzendenz festhielten. Doch während des Krieges hatten die Außerirdischen einen Monsun aus heißem Plasma auf Hunderte Welten hinabregnen lassen, bis sämtliche Erde fortgebrannt und das Grundgestein geschmolzen war, bis die Ozeane verdampft waren und sich die Luft mit supraerhitzten Gasen gefüllt hatte. Jedes Lebewesen, das nicht sofort zu Asche geworden war, war an kochendem Rauch erstickt, und wenn nicht, waren ihm bei der Flucht über den brodelnden Boden die Füße zu Stümpfen zusammengeschmolzen. Und wer sich irgendwo hatte verstecken können, war früher oder später verhungert, während er über endlose Ebenen aus aschebesprenkeltem Lechatelierit geirrt war.

Nichts und niemand überlebte ein Plasmabombardement der Allianz. John wusste das.

Doch dies war Reach, der Planet, der für ihn und die anderen Spartan-IIer einem Zuhause am nächsten kam, und er wollte sehen, wie es heute hier aussah.

Er musste es sehen.

Operation: WOLFE war im Prinzip ganz simpel. Ein Abstieg zu den Ruinen der CASTLE-Basis zwei Kilometer in der Tiefe, um das Forschungsmaterial zu bergen, das Dr. Catherine Halsey brauchte, um einmal mehr die galaktische Zivilisation zu retten – diesmal vor einer abtrünnigen KI.

Cortana.

Vor zwei Jahren war sie noch Johns KI gewesen; sie hatte in seiner Mjolnir-Rüstung gelebt, durch die Schnittstelle an seinem Hinterkopf mit seinem Bewusstsein verbunden. Und sie …

Verdammt, es passierte schon wieder.

Jedes Mal, wenn ihm Cortanas Name durch den Kopf ging, musste John gegen seine eigenen Gedanken ankämpfen. Jedes Mal sah er dann vor seinem geistigen Auge, was geschehen war, und jedes Mal fragte er sich, was er anders hätte machen können. Es war keine neuronale Fehlfunktion, auch nicht hypnotische Suggestion oder etwas in der Art. Es war einfach …

Er überprüfte den Einsatzcountdown auf seinem HUD-Frontsichtdisplay.

Erwartete Ankunftszeit: siebenundzwanzig Minuten. Genug Zeit, um sich zusammenzunehmen und zu konzentrieren. John hatte bereits vor ihrem letzten gemeinsamen Kampf gewusst, dass Cortana die finale Stufe des sogenannten »KI-Kollers« erreicht hatte – einer Art Schizophrenie, die nach sieben Jahren alle KIs befiel, wenn ihr Wissen ihre Neuralmatrix sprengte. Doch weil das Schicksal der Menschheit an einem seidenen Faden hing, hatte John zugelassen, dass sich Cortana in die Kontrollsysteme eines uralten Feindschiffes einklinkte und sich opferte; nur so hatte er die verheerende Waffe zerstören können, die die Erde bedroht hatte. Der Plan war aufgegangen.

Bis Cortana von den Toten zurückgekehrt war.

Die Situation war außer Kontrolle geraten, und John hatte einige Entscheidungen getroffen, die er heute bedauerte, allen voran die, dass er Team Blau mit in die Sache hineingezogen hatte. Sie waren praktisch desertiert, um das Rätsel von Cortanas Wiedergeburt zu lösen und sie vor … nun, vor sich selbst zu retten.

Nach einem Jahr in der Domäne, einem uralten Quanteninformationsspeicher, war Cortana mit unvorstellbaren intellektuellen Fähigkeiten zurückgekehrt. Und mit einer Armee von gigantischen »Wächtern«. Sie hatte allen Welten im Orionarm der Galaxis ein Ultimatum gestellt: ihre Herrschaft akzeptieren und in Frieden leben – oder sich ihr widersetzen und die Konsequenzen tragen.

Der stellvertretende Leiter von Team Blau, Fred-104, hatte es Frieden durch Einschüchterung genannt, aber das war eine Untertreibung. Die Wächter waren so mächtig, dass sie ganze Welten in die Steinzeit zurückversetzen und Flotten aus dem Orbit fegen konnten – nicht zu vergessen die Tausenden, wenn nicht gar Hunderttausenden Opfer, wenn diese Schiffe auf Städte und Dörfer hinabstürzten. Darüber hinaus hatte Cortana eine ganze Legion von KIs der Menschen manipuliert, damit sie ihr dienten und für sie spionierten. Jetzt fand sich die interstellare Zivilisation in einem albtraumhaften Überwachungsstaat wieder, und mit jedem Tag verschlimmerte sich die Situation weiter.

John konnte nicht anders, als sich verantwortlich zu fühlen. Hätte er Cortana befohlen, sich zurückzuhalten, als ihr Zustand sich immer schneller verschlechtert hatte, wäre sie nie in die Domäne hineingezogen worden. Doch dann wäre auch die alte Blutsväter-Waffe nicht zerstört worden …

Seine Gedanken drehten sich im Kreis.

Es hatte keine perfekte Lösung gegeben, das war John klar. Er hatte in einer schrecklichen Situation versucht, die bestmögliche Entscheidung zu treffen … jedenfalls, bis er auf eigene Faust losgezogen war, gnadenlos verfolgt von seinen Vorgesetzten und einer Gruppe weiterer Spartans. Eines Tages würde er die Konsequenzen für sein eigenmächtiges Handeln tragen.

Jetzt aber hatte er erst mal eine Mission zu erfüllen.

John überprüfte erneut den Timer. Fünfundzwanzig Minuten bis zur Ankunft. Jede Menge Zeit. Als das Mutterschiff der Special Delivery – die Bucephalus, ein Prowler der Eclipse-Klasse – gestern die Oberfläche gescannt hatte, hatte sie Signale entdeckt, die auf einen begrenzten Konflikt im Arany-Becken hindeuteten. Nichts Schwerwiegendes, nur ein paar Funksprüche zwischen einer Gruppe von Menschen, die einander vor feindlichen Patrouillen warnten, ein paar Minuten später gefolgt von einem Trio von Hitzeemissionen, bei denen es sich um Plasmaeinschläge oder Raketendetonationen handeln konnte. Vermutlich waren das nicht einzelne Geschosse gewesen, aber die Instrumente der Bucephalus waren nicht genau genug, um Geschosse von kleinen und mittleren Feuerwaffen aus dem Orbit zu erfassen. Sie registrierten lediglich die Artillerie.

John war im Verlauf der Jahre stets besonders aufmerksam gewesen, wenn Reach in den Geheimdienstberichten aufgetaucht war, schließlich waren er und die anderen Spartan-IIer auf dem Planeten groß geworden. Aus diesem Grund wusste er auch, dass sich dort seit dem Plasmabombardement der Allianz nur wenig getan hatte. Nachdem das Glas abgekühlt war, hatten Schrottsammler – Menschen ebenso wie Außerirdische – Reach hin und wieder einen Besuch abgestattet. Dann, vor zwei Jahren, hatten Veteranen irgendwo auf dem Kontinent Eposz eine kleine Kolonie gegründet.

Das Arany-Becken befand sich auf Eposz, vermutlich waren die Kolonisten also auch an dem Konflikt dort unten beteiligt – Betonung auf vermutlich. Es gab keine verlässlichen Informationen. Geheimdienstberichte waren seit Cortanas Ultimatum Mangelware, und die wenigen, die John gesehen hatte, drehten sich nicht um Reach. Im Grunde könnten dort unten also zwei Teams von Schrottsammlern gegeneinander kämpfen oder verschiedene Fraktionen von Kolonisten oder … Da gab es hundert verschiedene Möglichkeiten.

Alles, was Team Blau mit Gewissheit wusste, war, wo sich dieser Kampf zutrug. Zum Glück lag ihr Missionsziel nicht im Arany-Becken. Natürlich hätte John die Sache gern überprüft und sich vergewissert, wie es den Veteranen ging. Reach war das einzige Zuhause, an das er sich erinnern konnte, und es wäre schön gewesen, zu wissen, dass es in guten Händen war.

Aber die Mission ging vor.

»Zwei Minuten.«

John blickte zu der Frau hinab, die gesprochen hatte. Crew Chief Stella Mukai saß im Notsitz unter dem dunklen Überwachungsmonitor. Sie hatte ein rundes Gesicht mit newsakischen Zügen, einen ruhigen Blick und eine gleichermaßen herzliche wie direkte Art, halb Mutterglucke, halb Drill Sergeant. Sie trug einen schwarzen Overall, wie er bei Infiltrationsmissionen von Marine-Spezialeinheiten üblich war, am Ärmel die drei Streifen eines Chief Petty Officer – was bedeutete, dass sie nur zwei Stufen unter Johns eigenem Rang eines Master Chief Petty Officer stand.

Sein HUD gab die erwartete Ankunftszeit noch immer mit fünfundzwanzig Minuten an, also fragte er: »Was ist in zwei Minuten, Chief Mukai?«

Sie deutete über ihren Kopf, und John erkannte, dass er den schwarzen Bildschirm angestarrt hatte.

»Bis die Bugkamera wieder einsatzbereit ist«, erklärte sie. »Nicht, dass wir viel sehen werden. Es ist Nacht, und bei der dichten Wolkendecke über Eposz wird die Glasoberfläche in etwa so reflektierend sein wie ein Staubnebel.«

»Schade«, kommentierte Fred-104 durch seinen Helmlautsprecher. Er saß John in dem grün beleuchteten Frachtraum gegenüber, einen überdimensionierten Haltebügel aus einer Titanlegierung über seinen Schultern, der eigens für Spartans konstruiert worden war. »Wer baut ein hochmodernes Infiltrationsschiff und vergisst, ein ordentliches Infrarotsystem zu installieren?«

Mukai zog bei der Bemerkung eine Augenbraue hoch – jeder Owl verfügte über Infrarotsysteme –, und sie warf einen schneidenden Blick in Freds Richtung. Die Special Delivery war ihr Baby, und niemand sagte ihr als Crew Chief, wie sie ihr Schiff zu leiten hatte, nicht mal ein Spartan-II in einer vierhundertfünfzig Kilo schweren GEN3-Mjolnir-Kampfrüstung.

Fred tat so, als hätte er Mukais Reaktion nicht bemerkt; stattdessen neigte er den Helm, sodass seine Gesichtsplatte zu dem dunklen Monitor hochzeigte. Keine üble Strategie: Auf diese Weise gab er Crew Chief Mukai Gelegenheit, sich zu beruhigen, ohne dass er seine eigenen Worte zurücknehmen musste. Geduldig, aber unnachgiebig. Das waren zwei der Eigenschaften, die ihn zu einem so hervorragenden Soldaten machten – auch wenn er noch immer ein wenig verärgert war. Die Reaktion des UNSC auf ihr Handeln während des Cortana-Zwischenfalls war ihm übel aufgestoßen.

Linda-058, die neben Fred saß, hielt die Gesichtsplatte auf den Boden gerichtet. Ihre Hände lagen mit den Handflächen nach oben auf ihren Schenkeln, ihr Oberkörper aufrecht, und sie schien förmlich auf ihrem Sitz zu schweben, denn sie blieb völlig bewegungslos, während der Owl bebend und ruckelnd der Oberfläche von Reach entgegenraste. John wusste, dass sie nur halb anwesend war. Ihre Aufmerksamkeit war nach innen gerichtet, auf ihren ruhigen, stillen Geist, während die Eindrücke der Außenwelt ihre Sinne kitzelten wie die Flügel einer Motte. Sie sagte oft, dass die Meditation im Kampf ihre größte Hilfe war, dass sie deswegen nie ihr Ziel verfehlte, selbst wenn ihnen der Himmel auf den Kopf fiel – oder wenn sie tagelang reglos im Dreck liegen mussten, bis sich ihr Ziel endlich zeigte. John war nicht sicher, was er davon halten sollte; er schlief meistens ein, wenn er versuchte, seine Gedanken zum Schweigen zu bringen, und er konnte nicht einfach reglos bleiben. An den Resultaten ließ sich aber nicht rütteln. Linda war die beste Scharfschützin des United Nations Space Command, kurz UNSC.

Das vierte Mitglied von Team Blau, Kelly-087, saß auf Johns Seite des Frachtraums, auf dem Platz zu seiner Linken. Ihre Hände waren um den Haltebügel vor ihren Schultern geschlossen, und ihr Kopf bewegte sich im Takt der Musik, die sie auf voller Lautstärke unter ihrem kuppelförmigen Helm hörte. Kelly hatte vor einem Jahr – nach dem Cortana-Zwischenfall – ziemlich plötzlich ihre Liebe für »Rockbands« aus dem zwanzigsten Jahrhundert entdeckt. John vermutete, dass die treibenden Rhythmen und die rebellischen Texte ihre Version einer Meditation waren, ein Mittel, um die unliebsamen Gedanken und Zweifel zu verdrängen, die vor einem Kampfeinsatz im Kopf eines jeden Soldaten herumschwirrten.

Johns Magen fühlte sich bleischwer an, als sich die Special Delivery aus ihrem Sturzflug aufrichtete und abbremste. Die Bugkamera erwachte zum Leben, und das Schwarzbild auf dem Monitor wurde durch die nächtliche Landschaft vor ihnen ersetzt.

Noch dreiundzwanzig Minuten bis zum Zielgebiet, sagte Johns HUD. Mukai starrte noch immer wütend Fred an, und Fred tat noch immer so, als würde er es nicht bemerken. Offensichtlich brauchte Johns Kamerad taktische Unterstützung.

»Chief Mukai, Spartan-104 wollte lediglich einen Vorschlag machen«, sagte er. »Können wir die Infrarotsysteme einsetzen? Es wäre hilfreich, wenn wir sehen, was da unten los ist.«

»Ach, das war ein Vorschlag?« Sie spießte Fred weiter mit ihrem Blick auf. »Komisch. Alles, was ich gehört habe, war ein Besserwisser, der sich für besonders witzig hält.«

Jetzt wandte Fred sich doch zu Mukai herum. »Tut mir leid, Chief. Nächstes Mal drücke ich mich klarer aus.«

Mukai nickte. »Besser wäre es … Sir.«

In eng zusammengeschweißten Sondereinsatzteams waren Dienstränge nicht so wichtig wie Effektivität und Zusammenhalt; indem sie auf Freds Vorschlag einging, nahm Mukai gleichzeitig sein Friedensangebot an. John war stolz darauf, wie er die Situation entschärft hatte. Sollten den Spartans je die Feinde ausgehen, könnte er sich ja vielleicht zum Diplomatenkorps versetzen lassen.

Friedensverhandlungen führen oder so.

Mukai sagte etwas in ihr Headset, und ein zweiter Monitor füllte sich mit Farben: ein fleckiges blaues Feld, das langsam zum unteren Bildschirmrand hinabwanderte, während die Special Delivery über den polaren Schneefeldern tiefer ging. Sie näherten sich dem grünen Kreis von Big Crater Bay, einer Bucht, deren südlicher Rand von der indigoblauen Sichel eines Schlammstrandes gesäumt wurde. Auf einer Seite erstreckte sich das Meer, auf der anderen das endlose, orangefarbene Glasland von Eposz.

Das Glasland wurde noch immer orange angezeigt, weil das Lechatelierit von oben nach unten abkühlte; seine Oberfläche verhärtete sich zu einer glasartigen Decke, was verhinderte, dass weitere Hitze an die Luft abgegeben wurde. Das Gestein darunter konnte darum ein ganzes Jahr lang geschmolzen bleiben, und oft war es selbst nach einem Jahrzehnt noch so heiß, dass man es nicht mit bloßer Hand berühren konnte. Der Strand war entstanden, weil die Flüssigkeit, die das Plasmabombardement der Allianz verdampft hatte, nur teilweise in die Ozeane zurückgekehrt war; der Rest hing noch immer in Nebel- und Wolkenschwaden in der Atmosphäre oder war in den riesigen Seen und Aschesümpfen unter den Glasfeldern gefangen.

Ein roter Punkt tauchte auf dem Monitor auf und schwoll vor dem Ring der Big Crater Bay zu einem kleinen Kreis an. Die Hitzesignatur befand sich im nördlichen Teil der Bucht, ungefähr dort, wo sich einmal das Babd-Catha-Eisschelf befunden hatte. Es gab noch immer jede Menge geothermaler Aktivität auf Reach, rein theoretisch wäre es also möglich, dass es sich nur um einen Geysir oder einen kleinen Vulkan handelte, der ausgebrochen war, gerade als die Special Delivery darüber hinwegflog.

Aber John glaubte nicht an solche Zufälle.

Kelly hörte auf, mit dem Kopf zu wippen, und legte ihre blasenförmige Gesichtsplatte schräg. »Die Piloten sehen diese Bilder doch auch«, sagte sie. »Oder?«

Mukai reckte den Hals, um den Monitor zu betrachten. »Natürlich.« Der Punkt wuchs weiter, dann teilte er sich in fünf kleinere Punkte auf, die ihrerseits anschwollen. Mukais Augen weiteten sich, und sie blickte zu Kelly hinüber. »Im Cockpit ist sicher schon der Alarm losgegangen.«

Anstatt die Piloten durch die Bitte um einen Bericht abzulenken, holte John das Kampfinformationssystem der Special Delivery auf sein HUD, und nun sah er die fünf Kontakte als fliegende Dreiecke in einer gestaffelten Diamantformation – diese Konfiguration war seit dem Beginn der orbitalen Kriegsführung die bevorzugte Wahl von Aufklärungseinheiten. Jedes der fünf Symbole war mit der Beschriftung MS31 versehen.

»Seraphs«, sagte er. »Bautyp Morsam.«

»Und das sind gute Neuigkeiten?«, fragte Fred.

Die Seraphs hatten zu den widerstandsfähigsten Weltraumjägern der Allianz gehört, und man fand sie in den Flotten diverser außerirdischer Splittergruppen, von Kig-Yar-Piraten über die Verbannten bis hin zu den Dienern der Ewigen Wahrheit. Beim Einsatz in der Atmosphäre waren sie nicht unbedingt elegant, aber sie waren schnell, mit Energieschilden ausgestattet und schwer bewaffnet.

»Immerhin sind es keine Phaetons«, sagte Mukai.

Fred warf ihr einen Blick zu. »Sie sind ja ein richtiger Sonnenschein.«

Phaetons waren Blutväter-Weltraumjäger, die vor hunderttausend Jahren entwickelt worden und technologisch trotzdem allem überlegen waren, was das UNSC zu bieten hatte. Sie bestanden aus Blöcken sich selbst zusammensetzender intelligenter Materie und waren vielleicht nicht so robust wie Seraphs, dafür aber mit Langstrecken-Massekanonen und selbstlenkenden Impulsraketen ausgestattet. Außerdem konnten sie sich über kurze Entfernungen teleportieren, um Feindbeschuss auszuweichen. Aber das Schlimmste an diesen Maschinen war, dass sie für gewöhnlich mit einem von Cortanas Wächtern verbunden waren. Darum konnte man keinen Kampf riskieren, wenn Phaetons in der Nähe waren; die einzige Option bestand darin, sich zurückzuziehen und zu beten, dass man unversehrt entkommen konnte.

Die Hitzesignaturen wuchsen weiter auf dem Monitor heran. Die Spartans hassten diesen Teil ihrer Missionen – hilflose Passagiere zu sein, deren Schicksal in den Händen anderer lag. Aber einen Owl zu fliegen, war eine Kunst für sich, und Major Van Houte ein viel besserer Pilot als irgendeiner von ihnen. Er hatte schon unter erheblich schlimmeren Bedingungen erfolgreiche Infiltrationen durchgeführt.

Trotzdem waren da fünf Seraphs unter ihnen, und sie wussten augenscheinlich, dass die Special Delivery hier war.

»Entspannen Sie sich, Spartans«, sagte Mukai. »Diese Seraphs wissen vielleicht, dass wir hier sind, aber nicht, wo wir sind. Das ist ein großer Unterschied.«

»Danke«, brummte Fred. »Jetzt fühle ich mich schon viel besser.«

»Als hätten wir unser Ziel je ohne Zwischenfall erreicht«, entgegnete Kelly.

Das stimme nicht ganz. John erinnerte sich an eine Mission vor neun Jahren, auf dem Höhepunkt des Allianzkrieges, als sie auf dem Eismond Umagena gelandet waren, um den Aufständischen und Verräter Hector Nyeto dingfest zu machen. Zugegeben, Nyeto war nicht dort gewesen, aber der Anflug war reibungslos verlaufen. Die Tatsache, dass er sich so klar daran erinnern konnte, sprach aber für Kellys Argument; solchen Einzelfällen standen Dutzende Einsätze gegenüber, die aus dem Ruder gelaufen waren.

Er wartete weiter auf die Einschläge von Plasmageschossen.

Die Special Delivery hatte den Orbit über Reachs nördlichem Pol verlassen, weil die eisigen Temperaturen garantierten, dass es dort keine Siedler gab, die den Flammenschweif sehen oder den unvermeidlichen Schallknall hören könnten, wenn der Owl durch die oberen Schichten der Atmosphäre raste. Der Plan sah vor, dass das Schiff von Über- auf Unterschallgeschwindigkeit abbremsen sollte, während es südlich über die Reste des Babd-Catha-Eisschelfs hinwegflog. Leider hatten die Seraphs auf der Nordseite der Bucht gelauert; von dieser Position aus hatten sie den Lärm und die Flammen über dem Eisschelf mühelos entdeckt.

Aber der Owl näherte sich rasend schnell der Bucht – John konnte bereits erste Details auf dem Monitor ausmachen –, und die Seraphs mussten noch immer fünfzehn Kilometer aufsteigen, ehe sie Abfanghöhe erreicht hätten. Bis dahin könnte der Owl bereits auf der anderen Seite der Bucht auf Unterschallgeschwindigkeit abgebremst haben. Dann wären sie nur noch ein Geist in der Dunkelheit.

Oder zumindest hoffte John das. Der Owl war gebaut, um unbemerkt umherzuschleichen, nicht um zu kämpfen. Er verfügte lediglich über sechs Argent-V-Raketen und eine ausfahrbare 370-mm-Autokanone an der Nase, mehr nicht. Das reichte vielleicht, um eine feindliche Bodeneinheit aus einer Landezone zu verscheuchen, aber gegen gepanzerte Abfangjäger wie die Seraphs bestand ihre einzige Hoffnung darin, auszuweichen und unterzutauchen.

Die Seraph-Symbole auf Johns HUD begannen, zu einem breiten Kreis auszufächern, damit sie den Feuerschweif der Special Delivery triangulieren konnten. Es war ein törichtes Manöver, denn bis sie einen Vektor ermittelt hätten, wäre der Vorsprung des Owls viel zu groß, um ihn noch …

Es sei denn, die Seraphs waren gar nicht diejenigen, die sie abfangen sollten.

John suchte am oberen Rand des Monitors nach den roten Hitzesignaturen näher kommender Schiffe. Die blauen Flecken der polaren Schneefelder waren inzwischen dem grünen Kreis von Big Crater Bay gewichen, und entlang des oberen Kraterrands war ein schmaler, orangefarbener Streifen Glasland zu sehen. Weitere Signaturen konnte John aber nirgends entdecken – zumindest keine, die groß genug waren, um von der Bugkamera der Special Delivery aufgeschnappt zu werden.

Die Stimme des Co-Piloten, First Lieutenant Maks Chapov, meldete sich über die Bordsprechanlage. »Master Chief, wie schlimm wäre es, wenn wir Ihr Ausgrabungsgerät über Bord werfen?«

John blickte zum hinteren Teil des Frachtraums hinüber, wo die Ausrüstung von Team Blau auf dem Deck festgeschnallt war. Ihre beiden Ausgrabungsmaschinen – ein Bohrfahrzeug und ein Fahrlader mit einer zwei Kiloliter großen Schaufel – waren gerade mal vier Meter lang und zwei Meter breit. Aber sie wurden durch kompakte TME-Reaktoren (toroidale magnetische Einschlussfusion) betrieben und waren mit einem extrem belastbaren hydrostatischen Getriebe ausgestattet, weswegen sie so schwer waren wie ein ausgewachsener Truppentransporter. Falls die Special Delivery Ausweichmanöver durchführen musste, wäre sie mit dieser Last in etwa so wendig wie eine Rettungskapsel.

»Warum sollten wir sie über Bord werfen?«, fragte John.

»Major Van Houte gefällt nicht, was die Seraphs hinter uns treiben«, antwortete Chapov.

Er war zur Crew der Special Delivery versetzt worden, weil die Massekanone eines Phaetons den vorigen Co-Piloten erwischt hatte. Davor war Maks Chapov ein Fliegerass im Jägerkorps gewesen, und sein außergewöhnliches Geschick und seine blitzschnellen Reflexe ergänzten sich perfekt mit Eznik Van Houtes langjähriger Erfahrung und seinem schier unerschöpflichen Fundus an Tricks und Listen. Oder zumindest hatte der Captain der UNSC Infinity, Thomas Lasky, das Zweiergespann auf diese Weise angepriesen. John hatte aber eher das Gefühl, dass Lasky versuchte, die Aggressivität des jungen Piloten durch die Abgebrühtheit des alten Veteranen auszugleichen.

»Sie versuchen nicht, uns abzufangen«, fuhr Chapov fort. »Der Major glaubt, dass weitere Schiffe vor uns sein könnten.«

»Da könnte er recht haben«, sagte John. »Was hat das mit meiner Ausrüstung zu tun?«

»Falls wir es mit einer Staffel Abfangjäger zur tun bekommen, brauche ich ein leichtes Schiff, um uns aus der Gefahrenzone zu bringen.«

»Haben wir irgendwelche Hinweise darauf, was der Feind plant?«, fragte John. »Oder wer es ist?«

»Ein paar Langstrecken-Funksignale«, klärte Chapov ihn auf. »Auf Jiralhanae.«

»Nicht gut«, murmelte Fred.

Nur zwei der großen Allianz-Splittergruppen wurden von Jiralhanae dominiert – einer hünenhaften primatenähnlichen Spezies, die zu den wildesten und brutalsten Kriegern der Allianz gehört hatte. Zum einen war da die Armee religiöser Eiferer, die sich die Hüter der Einen Freiheit getauft hatten, zum anderen eine Horde von Söldnern und Plünderern, die einfach nur die Verbannten genannt wurden. Beide Gruppen stellten eine ernst zu nehmende Bedrohung dar, und beide setzten sie auf die traditionellen Rudel-Angriffstaktiken der Jiralhanae, was ihre Flieger zum Albtraum jedes UNSC-Jägergeschwaders machte.

»Ganz und gar nicht gut«, sagte Chapov. »Und das ist noch nicht alles. Die Seraphs hinter uns sind von den Koordinaten der SWORD-Basis gestartet.«

Fred stöhnte, Kelly senkte den Helm, und sogar Linda unterbrach lange genug ihre Meditation, um zum Monitor nach vorne zu blicken. Die Hüter und die Verbannten waren beide besessene Sammler von Blutsväter-Artefakten, und vor einigen Jahren war tief im Eis nahe der SWORD-Basis ein Blutsväterschiff entdeckt worden. Als Reach fiel, hatte das UNSC versucht, sowohl das Schiff als auch den Stützpunkt zu zerstören, aber wegen des Plasmabombardements der Allianz hatte sich niemand vergewissern können, ob wirklich alles in seine Atome zerlegt worden war. Sollte ein Teil des Blutsväterschiffes intakt geblieben sein, hätte das erklärt, warum die Jiralhanae hier waren.

Es erklärte aber nicht, warum die ehemaligen Allianzkrieger nur ihren Flugvektor triangulierten, anstatt sie abzufangen.

Johns Blick wanderte weiter zwischen dem Monitor und dem Kampfinformationssystem auf seinem HUD hin und her, aber eine zweite Staffel von Jägern, die ihnen über der Big Crater Bay mit Abfanggeschwindigkeit entgegenkam, war weder hier noch dort zu sehen. Das war natürlich keine Garantie – wenn man unbemerkt eine Landezone anfliegen wollte, konnte man nicht auf orbitale Überwachungssatelliten zurückgreifen, weil der Datenstrom die Anwesenheit des Infiltrationsschiffs verraten hätte, in manchen Fällen sogar seine genaue Position. Deswegen war die Special Delivery auf ihre eigenen Instrumente angewiesen, die lediglich Bedrohungen unterhalb des Horizonts erfassen konnten.

John erinnerte sich nicht mehr an die mathematische Formel, mit der man die Entfernung zum Horizont berechnete, aber zum Glück hatte er ja den Bordcomputer seiner Mjolnir-Rüstung, der direkt mit einem Neuralimplantat in seinem Hinterkopf verbunden war. Kaum dass die Frage in seinem Kopf Gestalt angenommen hatte, hatte der Computer die Antwort bereits berechnet und sie auf seinem HUD eingeblendet. Früher hatte Cortana das getan – seine Fragen beantwortet, bevor er sie überhaupt stellen konnte.

ERFASSUNGSGRENZE 489 KILOMETER

HÖHE 15 305 METER

MINDESTZEITRAUM FÜR ABFANGMANÖVER

2:24 MINUTEN/SEKUNDEN

(BEI DIREKTEM KONFRONTATIONSKURS MIT MACH 5)

Mach 5 war die Maximalgeschwindigkeit, bei der ein Abfangjäger noch auf die Ausweichmanöver seines Ziels reagieren konnte, insofern sah John keinen Grund, die Parameter infrage zu stellen, die der Computer gewählt hatte. Falls ein feindliches Schiff am Horizont auftauchen sollte, hätte die Special Delivery also zweieinhalb Minuten, um Ausweichmanöver einzuleiten, vermutlich sogar länger – die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Schiffe direkt aufeinander zuflogen, war relativ gering. Natürlich wäre das trotzdem nicht viel Zeit, aber die Spartans sollten nur maximal halb so lange brauchen, um im Notfall die Ausgrabungsfahrzeuge über Bord zu werfen.

Chapovs Frage kam also ein wenig verfrüht.

»Lieutenant Chapov«, sagte John, »verschweigen Sie uns etwas?«

»Ich verstehe nicht, Master Chief.«

»Sie waren bei der Missionsbesprechung«, erklärte John. »Sie wissen, dass das Forschungsmaterial, das wir bergen sollen, in Dr. Halseys Labor unter der CASTLE-Basis versteckt ist.«

»Ja, daran erinnere ich mich.«

»Und erinnern Sie sich auch, dass sich über der CASTLE-Basis eine riesige Geröllgrube befindet?«

In der Rangfolge stand ein Lieutenant über einem Master Chief, genau genommen machte John sich also des Ungehorsams schuldig, indem er Chapovs Antwort auf diese Weise hinterfragte. Aber Respekt musste man sich in einer militärischen Einheit verdienen, und das galt insbesondere für Spezialeinheiten. Hier wurde erwartet, dass Neuzugänge den altgedienten Mitgliedern den Respekt zollten, der ihnen gebührte. Und nach drei Jahrzehnten voller Kampfeinsätze gegen die gefährlichsten Feinde der Menschheit hatte John sich das Recht verdient, genauso mit einem jungen Co-Piloten zu sprechen, wie er es für richtig hielt.

Davon abgesehen befand sich die CASTLE-Basis zwei Kilometer unter dem, was einmal der Berg Menachite gewesen war – und was sich nach dem Angriff der Allianz in ein zehn Kilometer großes Trümmerfeld verwandelt hatte. Der Erfolg ihrer Mission hing also davon ab, dass sie möglichst einfach und schnell an Dr. Halseys Forschungsmaterial herankamen … und natürlich davon, dass diese geheimnisvollen Schätze noch intakt waren. Aber Halsey hatte John versichert, dass der Bunker widerstandsfähig genug war, um selbst dem Einsturz der CASTLE-Basis standzuhalten, und sie irrte sich nur selten.

Vor allem, wenn die Leben ihrer Spartans auf dem Spiel standen.

Nach einer kurzen Pause sagte Chapov: »Ich erinnere mich.«

»Warum wollen Sie dann, dass wir unsere Ausrüstung über Bord werfen?«, fragte John. »Erwarten Sie, dass Team Blau den Eingang zur CASTLE-Basis mit bloßen Händen freilegt?«

»Noch habe ich ja nicht gesagt, dass Sie Ihr Ausgrabungsgerät über Bord werfen sollen«, entgegnete Chapov unbeeindruckt.

»Noch?«, wiederholte John. Er wusste, dass er innerhalb des UNSC einen legendären Status innehatte, und ihm gefiel, dass Chapov trotzdem auf seinem Standpunkt beharrte. Das hieß aber nicht, dass er den Jungen mit Samthandschuhen anpacken würde. »Lieutenant, begreifen Sie, worum es hier geht? Dr. Halsey braucht das Forschungsmaterial aus ihrem Labor, um Cortana aufzuhalten. Diese Mission abzubrechen, ist keine Option.«

»Deswegen sage ich Ihnen ja auch, dass Sie bereit sein sollen, die Maschinen abzuwerfen. Wenn wir abgeschossen werden, gräbt Team Blau nämlich gar nichts aus.«

John betrachtete erneut das Kampfinformationssystem auf seinem HUD. Vor ihnen waren noch immer keine Abfangjäger in Sicht, und die Seraphs hinter ihnen waren so weit zurückgefallen, dass sie am unteren Bildrand klebten. Mittlerweile war die Special Delivery aber auch bis auf zehntausend Meter gesunken, was bedeutete, dass sich die Entfernung bis zum Horizont auf dreihunderteinundsechzig Kilometer verringert hatte; ein feindlicher Flieger könnte inzwischen also in weniger als zwei Minuten das Feuer eröffnen, nachdem sie ihn entdeckt hatten.

Noch war das genug Zeit.

»Lieutenant Chapov, was verschweigen Sie?«, fragte John erneut. »Und weichen Sie diesmal bitte nicht meiner Frage aus.«

»Da gibt es nichts zu sagen«, erklärte Chapov. »Wir haben einfach ein ungutes Gefühl, das ist alles.«

»Schön, dass ich da nicht die Einzige bin«, warf Kelly ein. »Wenn diese Seraphs unseren Kurs verfolgen, muss es jemand anderen geben, der uns abfangen soll.«

»Genau«, pflichtete Chapov ihr bei. »Noch können wir sie vielleicht nicht sehen, aber die Funksprüche, die wir vorhin aufgeschnappt haben …«

»Sie befürchten, dass sich Abfangjäger vom Arany-Becken aus nähern könnten«, begriff John. Dieses gewaltige Becken lag im Tiefland östlich des Highland-Gebirges, welches den Menachite und die CASTLE-Basis beherbergte, und ihr geplanter Anflugvektor führte genau daran vorbei.

»Es ist eine Möglichkeit«, meldete sich nun Van Houte zu Wort. Die Lautsprecher des Owls ließen seine Stimme kratzig und spröde klingen. »Aber wir sollten damit fertigwerden.«

»Sollten? Oder werden?« John wusste nicht, ob es überhaupt möglich wäre, den Eingang zur CASTLE-Basis mit bloßen Händen auszugraben, aber in einem Punkt hatte Chapov recht: Wenn sie die Landezone nicht erreichten, wäre die Mission ohnehin schon gescheitert.

»Es gibt keine Garantien, Master Chief«, erwiderte Van Houte, »das wissen Sie.«

»Nur zu gut«, sagte John. »Aber wenn jemand andeutet, dass ich meine Ausrüstung von Bord werfen soll, möchte ich gerne wissen, wieso.«

»Das war mein Fehler«, erklärte Van Houte. »Lieutenant Chapov ist nicht daran gewöhnt, dass sein Pilot laut nachdenkt.«

»Und?«

»Und ich sagte, dass wir Probleme kriegen könnten, wenn eine Staffel Abfangjäger aus dem Becken startet.«

John blickte zu dem großen Monitor hoch. Nur ein schmaler Streifen Wasser war noch am unteren Bildrand zu sehen, während sich die Special Delivery rasend schnell dem südlichen Rand der Big Crater Bay näherte. Eigentlich sah der Plan vor, dass der Owl unter Schallgeschwindigkeit fallen sollte, bevor er das Glasland erreichte, aber laut Kampfinformationssystem flogen sie noch immer fast mit Mach 5. Van Houte hatte den Plan offensichtlich abgeändert, um möglichst weit vor den Seraphs zu bleiben.

Doch bei dieser Geschwindigkeit würde das Schiff jede Menge Reibungshitze und Schallenergie erzeugen. Falls tatsächlich Feinde im Arany-Becken lauerten, würden sie den Owl entdecken, ganz gleich, ob die Seraphs nun seinen Vektor kannten oder nicht; sie müssten nur auf ihre Thermalscanner sehen, um Team Blau zu folgen.

»Wir brauchen sechzig Sekunden, um die Ausrüstung abzuwerfen«, erklärte John über die Bordsprechanlage. »Und bei dieser Geschwindigkeit wäre es ohnehin nicht möglich.«

»Ein wenig Vertrauen, Master Chief«, bat Van Houte. »Den ein oder anderen Trick habe ich noch im Ärmel.«

John war nicht sicher, ob er das glauben sollte, aber Chief Mukai, die auf dem Notsitz unter dem Monitor saß, blickte ihn mit schräg gelegtem Kopf an, so als könnte sie nicht glauben, dass sich der legendäre John-117 wegen ein paar Seraphs den Kopf zerbrach. Vermutlich war ihre Ruhe nur gespielt, aber er beschloss, sich ein Beispiel daran zu nehmen. Eznik Van Houte hatte ebenso lang geheime Einsätze hinter feindlichen Linien geflogen, wie John gegen die Allianz gekämpft hatte. Wenn die Zeit kam, sich wirklich Sorgen zu machen, würde er es ihnen schon sagen.

»Entschuldigen Sie, Major. Ich wollte mich nur vergewissern.«

»Kein Grund, sich zu entschuldigen«, erwiderte Van Houte. »Ich wäre auch nervös, wenn mich der Co-Pilot fragt, ob ich meine Ausrüstung über Bord werfen würde.«

»Tut mir leid, Sir.« Chapov klang eher mürrisch als entschuldigend. »Ich habe Ihr Gemurmel wohl fälschlicherweise für eine Anweisung gehalten.«

»Keine Sorge, Lieutenant. Den Unterschied lernen Sie scho…« Van Houte ließ den Satz unbeendet, und als seine Stimme wieder ertönte, war sie ein unverständliches Murmeln. »Das ist doch …«

Johns Gewicht wurde gegen seinen Haltebügel nach vorne gedrückt, als die Special Delivery abrupt den Kurs änderte. Auf dem Monitor verschwand das letzte bisschen Grün am unteren Bildrand, und die indigoblaue Sichel des südlichen Schlammstrands wanderte an der rechten Seite entlang. Der Owl flog also nach Südosten – auf das Arany-Becken zu. Das Kampfinformationssystem zeigte zudem, dass sie bis unter sechstausend Meter sanken, aber weiterhin mit Mach 5 dahinrasten.

Van Houte änderte den Plan nicht ab – er zerriss ihn und warf ihn in den Müll! John suchte auf seinem HUD nach irgendwelchen Anzeichen für ein Problem, aber da war nichts. Natürlich waren sie inzwischen nur noch fünftausendfünfhundert Meter über dem Boden, was bedeutete, dass der Erfassungsbereich der Systeme …

Er wartete auf eine erhellende Einblendung seiner Mjolnir-Rüstung. Der Computer war durch dieselbe Neuralschnittstelle mit seinem Bewusstsein verbunden, die Cortana benutzt hatte, aber er war nicht annähernd so effizient. Natürlich nicht. Seit Cortana so viele kluge KIs korrumpiert hatte, griff das UNSC nur noch auf weniger fähige, »dumme« KIs zurück. Und jemand an Bord der Infinity – vermutlich Captain Lasky persönlich – fand, dass selbst das für die Spartans zu riskant war. Obwohl der Aufbau des GEN3-Betriebssystems verhinderte, dass eine KI – selbst eine kluge – die Funktionen der Mjolnir behindern konnte, war Team Blau nur mit einer überarbeiteten Version des Bordcomputers ausgerüstet, den sie schon vor dreißig Jahren in den Prototypen ihrer Mark-IV-Rüstungen benutzt hatten.

Eine halbe Sekunde später tauchte endlich die Antwort auf dem HUD auf.

Ein Teil von ihm erwartete noch immer, ihre Stimme zu hören. Ganz gleich, wie effizient sein Computer auch sein mochte, er konnte die Leere nicht füllen, die Cortanas Abwesenheit zurückgelassen hatte. John bezweifelte, dass sich das je ändern würde.

ERFASSUNGSGRENZE 288 KILOMETER

HÖHE 5462 METER

MINDESTZEITRAUM FÜR ABFANGMANÖVER

1:24 MINUTEN/SEKUNDEN

(BEI DIREKTEM KONFRONTATIONSKURS MIT MACH 5)

Je nachdem, aus welcher Richtung ihnen Gefahr drohte, hätte Team Blau nur knapp anderthalb Minuten Zeit, um die Ausgrabungsfahrzeuge abzuwerfen. Nicht, dass das im Moment überhaupt zur Diskussion stand; falls Chief Mukai bei Mach 5 die hintere Luke öffnete, würde der Owl in Sekundenschnelle auseinandergerissen.

»Täuschkörper vorbereiten!«, befahl Van Houte.

»Bei dieser Geschwindigkeit?« Chapovs Stimme klang eine Oktave höher als normal. »Wir werden uns in unsere Einzelteile auflösen, wenn wir …«

»Wenn ich Ihre Meinung hören will, frage ich danach, Lieutenant.« Van Houte sprach so ruhig, dass es nicht mal nach einer Rüge klang. »Machen Sie einfach die Täuschkörper bereit. Ich sage Ihnen, wann Sie die Luken öffnen sollen.«

»Verstanden«, murmelte Chapov. »Täuschkörper bereit.«

Jetzt verschwand auch der blaue Strand vom Überwachungsmonitor, und das Bild wurde vom fleckigen Orange des wärmeren Lechatelierits dominiert. John sah keine Anzeichen für eine näher kommende Bedrohung, aber sie verloren schnell weiter an Höhe, wie sein HUD ihm mitteilte. Falls Van Houte nicht bald hochzog, würde es einen weiteren großen Krater im Glasland von Eposz geben.

Natürlich wäre es unklug, die Piloten mitten in einem Manöver zu stören, also blickte er stattdessen zu Mukai hinüber … und stellte fest, dass sie gelassen auf dem Notsitz saß, die Hände im Schoß gefaltet, während sie vor sich hin schmunzelte. Was immer Van Houte gerade tat, er tat es nicht zum ersten Mal.

Schließlich bemerkte Mukai Johns Blick, und ihr Lächeln wuchs in die Breite. Sie zupfte an den Sicherheitsgurten des Notsitzes, wie um sich zu vergewissern, dass sie fest genug saßen, dann deutete sie auf die vier Spartans.

»Sehen Sie nach, ob die Haltebügel eingerastet sind. Das wird ruppig.«

»Darf ich fragen, warum?« Das kam von Kelly.

»Weil es besser ist, als abgeschossen zu werden«, erwiderte Mukai. »Okay?«

»Klingt vernünftig«, befand Fred. Er stieß Linda an der Schulter an. »Aufwachen! Hast du alles gehört?«

Linda blieb reglos wie ein Berg. »Ein ruhiger Geist ist ein aufmerksamer Geist.«

»Das heißt dann wohl ja«, murmelte Fred. Er blickte durch den Frachtraum zu John herüber. »Siehst du, was da los ist?«

Um eine Überladung der Flugsysteme zu verhindern, konnte nur der Teamleiter auf die Daten aus dem Cockpit zugreifen. John konsultierte sein HUD, aber was er sah, war genauso unscheinbar wie zuvor – ihm fiel aber auf, dass die Erfassungsgrenze des Owls auf zweihundertsechzig Kilometer gefallen war.

»Nicht viel.«

»Tut mir leid, dass ich Sie so lange im Ungewissen gelassen habe«, meldete sich Van Houte über die Bordsprechanlage. »Aber wir mussten erst unsere Manöver planen.«

»Falls Sie noch immer planen«, sagte John, »wir können warten.«

»Ja, wir gehören zur Infanterie«, fügte Fred hinzu. »Wir sind es gewöhnt zu warten.«

»Nicht nötig«, erwiderte Van Houte. »Ich kann Sie aufklären, während Lieutenant Chapov die Antriebssysteme der Raketen deaktiviert.«

»Was?!«, entfuhr es dem Co-Piloten.

»Deaktivieren Sie die Antriebssysteme an allen sechs Raketen«, wiederholte Van Houte. »Muss ich denn wirklich alles zweimal sagen?«

»Natürlich nicht, Sir. Ich kümmere mich darum.«

»Danke, Lieutenant.« Van Houte seufzte. »Zurück zu Ihnen, Master Chief.«

»Ja, Sir?«

»Ihnen ist vielleicht aufgefallen, dass wir nicht mehr dem ursprünglichen Plan folgen.«

»Ist es in der Tat, Major«, antwortete John. »Ich nehme an, Sie haben einen guten Grund.«

»Leider ja. Als wir die Big Crater Bay überquerten, habe ich oberhalb des Horizonts die Thermalsignaturen startender Schiffe entdeckt.«

»Ah«, machte John. »Hätten wir damit nicht rechnen sollen, nachdem die Seraphs hinter uns aufgetaucht sind?«

»Aber nicht aus der Richtung von New Miskolc«, entgegnete Van Houte. »Sie wären bis auf Sichtweite heran gewesen, wenn wir unser Ziel am Berg Menachite erreicht hätten.«

»Das wäre ungünstig«, kommentierte Fred.

»An sich wäre es gar nicht so schlimm«, erwiderte Van Houte. »Aber da war noch eine zweite Gruppe von Startsignaturen.«

»Lassen Sie mich raten«, sagte John. »Aus der Richtung von Mohács?«

»Seltsamerweise nein«, antwortete Van Houte. »Sie tauchten in der Nähe des Szarvas-Aufbereitungskomplexes auf.«

»Dann wollen sie uns in die Zange nehmen«, schlussfolgerte Kelly vollkommen unbeeindruckt. »Wie stehen ihre Chancen?«

»Kommt drauf an, wie viele weitere Starts ich nicht gesehen habe«, brummte Van Houte. »Bislang haben wir Signaturen aus Richtung zweier UNSC-Einrichtungen – der SWORD-Basis und des Wiederaufbauprojekts – und aus einer Stadt, in der das UNSC garantiert mal Verwaltungsbüros hatte.«

John wusste, worauf Van Houte hinauswollte. Reach war einmal eine wichtige Hochburg des UNSC gewesen: eine Produktionsstätte für Kriegsmaterial und Standort etlicher Militärbasen. Tatsächlich waren es so viele, dass John sie nicht mal alle aufzählen konnte. Angesichts des kleinen Scharmützels im Arany-Becken klang es mehr und mehr, als würde eine Horde von Plünderern die alten UNSC-Einrichtungen des Planeten abklappern.

Einerseits war das nicht wirklich überraschend, schließlich waren während des Bombardements von Reach Unmengen an Waffen und Ausrüstung zurückgelassen worden. Andererseits warf es ein völlig neues Licht auf ihre Feinde. Die Verbannten und die Hüter der Einen Freiheit waren besessen von Blutsväter-Artefakten, aber sie scherten sich nicht um UNSC-Technologie – jedenfalls nicht so sehr, dass sie eine kontinentweite Bergungsoperation starten würden. Beide Gruppierungen bestanden größtenteils aus Außerirdischen, und Waffen der Menschen hatten keinen großen Wert für sie.

»Was ist mit dem Highland-Gebirge?«, fragte John. Die meisten Basen waren dort konzentriert, einschließlich des Militärkomplexes, wo die Spartans während ihrer Ausbildung untergebracht worden waren.

»Wäre mir in Richtung der CASTLE-Basis etwas aufgefallen, hätte ich es erwähnt«, sagte Van Houte. »Aber das will nicht viel heißen. Vielleicht habe ich im richtigen Moment nicht hingesehen. Oder vielleicht sind sie schon gestartet, als wir noch auf der anderen Seite der Bucht waren. Oder vielleicht gibt es genau an der richtigen Stelle eine Kluft in den Bergen …«

»Ich verstehe«, sagte John. »Es könnten also ein Dutzend Geschwader auf uns zukommen, und wir würden es nicht wissen.«

»Nicht gerade ein Dutzend«, relativierte Van Houte. »Aber definitiv ein paar.«

John blickte zu Fred hinüber. Er hatte nicht vor, die Mission abzubrechen – Dr. Halsey zählte darauf, dass sie die nötigen Werkzeuge bargen, um Cortanas despotischer Herrschaft ein Ende zu machen. Aber wenn die Alternative darin bestand, abgeschossen zu werden …

»Diese Sache wird ziemlich schnell ziemlich kompliziert.« Fred zog die Schultern hoch. »Aber ich bin sicher, wenn wir untertauchen, können wir sie abschütteln.«

Leider sah John keine Anzeichen dafür, dass die Special Delivery untertauchen würde. Solange sie weiterhin mit dieser Geschwindigkeit dahinrasten, konnte die Kohlenstoff-Phenol-Beschichtung des Owls die Hitze nicht schnell genug ableiten, um das Schiff auf feindlichen Sensoren zu tarnen. Im Augenblick könnte man sie selbst mit den primitivsten Wärmebildsystemen verfolgen.

Das Summen von Alarmen ertönte aus der Bordsprechanlage.

»Endlich.« Das Summen verstummte, und Van Houte begann, wieder vor sich hin zu murmeln. »Lange genug … wenn sie …«

John widerstand dem Drang, um eine verständlichere Erklärung zu bitten, und widmete sich stattdessen dem Kampfinformationssystem auf seinem HUD. Dabei sah er die Staffel Seraphs, die sich ihnen aus der Richtung des Szarvas-Aufbereitungskomplexes näherte. Zunächst war er verwirrt, weil seine Rüstung ihre Entfernung mit fünfhundertacht Kilometern bezifferte, aber dann sah er, dass die Maschinen noch immer im Steigflug waren, sicher, um den Erfassungsbereich ihrer eigenen Sensoren zu maximieren.

Das bedeutete, dass ihre Feinde auch keine orbitalen Kampfkontrollsysteme hatten. Die Seraphs waren auf ihre Bordsensoren angewiesen, um die Special Delivery zu jagen. Das hätte John unter anderen Umständen zuversichtlich gestimmt – aber nicht jetzt, wo der Owl bei Mach 5 unter viertausendfünfhundert Meter sank und eine Schallwelle hinter sich herzog, die ebenso laut war wie ein Artilleriebombardement.

»Was ist mit dem Rest?«, wisperte Van Houte. »Kommt schon, spannt mich nicht auf die …«

»Sir?«, fragte Chapov. »Sprechen Sie mit mir, Sir?«

»Fliegen Sie einen Seraph, Lieutenant?«

»Äh, nein, Sir.«

»Dann sind Sie auch nicht gemeint«, sagte Van Houte. »Was ist mit unseren Raketen?«

»Ich deaktiviere gerade das Antriebssystem der sechsten Argent.«

»Gut.« Van Houtes Stimme wurde wieder zu einem Flüstern. »Wir werden sie abwerfen, sobald …«

Einmal mehr summten die Alarme, und zwei weitere Seraph-Staffeln blinkten auf dem Kampfinformationsdisplay auf. Eine davon musste die Gruppe sein, die sie ursprünglich entdeckt hatte; sie näherte sich mit Mach 10 aus der ungefähren Richtung der SWORD-Basis. Die zweite Staffel brauste mit Mach 9 von New Miskolc heran. Und beide stießen sie aus einer Höhe von knapp zehntausend Metern herab. Wenn sie nicht meilenweit an der Special Delivery vorbeirasen wollten, würden sie bald abbremsen müssen.

»Lieutenant«, sagte Van Houte, »ist die letzte Rakete fertig?«

»N-noch nicht.« Chapov klang irritiert. »Ich habe mich beim Überbrückungscode vertippt.«

»Ganz ruhig, Junge.« Van Houte lachte. »Wir haben es nicht eilig.«

Für John sah das jedoch anders aus. Jetzt, da der Feind sie in Sensorreichweite hatte, sanken alle drei Staffeln auf Angriffshöhe herab, und durch die Bordsprechanlage konnte er die Annäherungsalarme hören, die gerade im Cockpit losplärrten.

Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Seraphs das Feuer eröffneten, und sein HUD blendete die Antwort ein.

ZEITRAUM BIS ZUR KONFRONTATION:

VORAUSSICHTLICH 83 SEKUNDEN

Das letzte Mal, als John den Mindestzeitraum für ein Abfangmanöver überprüft hatte, war beinahe dieselbe Zeit herausgekommen. Aber das war nur eine grobe Schätzung gewesen; jetzt, da die Systeme des Prowlers die genauen Positionen und Vektoren der feindlichen Jagdmaschinen erfasst hatten, konnte seine Rüstung präzisere Angaben machen. John wünschte nur, er wüsste, warum Van Houte so verdammt ruhig klang, obwohl ihnen aus drei Richtungen Abfangstaffeln entgegenkamen.

Der Annäherungsalarm quiekte erneut, und weitere Signaturen ploppten auf Johns HUD auf, diese aus Richtung des Fenyot-Beckens. Das war einer der bevorzugten Trainingsorte der Spartans gewesen, und John spürte einen unerwarteten Stich bei der Vorstellung, dass Jiralhanae das Felslabyrinth durchstreiften, in welchem er und seine Kameraden einst mit Scharfschützengewehren und Übungsgranaten monatelang Suchen und Verstecken gespielt hatten.

Unvermittelt verstummten die Alarme, und Van Houte sagte: »Bereit machen für Abrakadabra-Manöver.«

»Abrakadabra-Manöver?« Linda hatte endlich die Hände von den Schenkeln genommen und drehte ihren Helm in Richtung des Cockpits. »Davon habe ich noch nie gehört.«

»Meine eigene Erfindung«, klärte der Pilot sie auf. »Reinplatzen wie ein Feuerball, verschwinden wie ein Geist. Kein Magier könnte es besser. Chief Mukai wird Ihnen sagen, was Sie tun sollen.«

»Die Feuerluken bemannen?«, fragte Fred.

Van Houte lachte laut auf. »Sehr witzig, Spartan.«

»Das war kein Witz.«

»Klang aber wie einer.« Mukai hob die Hand zum Kragen ihrer schwarzen Uniform und aktivierte das eingebaute Kühlsystem. »Wenn Sie bei diesem Tempo die Feuerluken öffnen, müssen uns die Seraphs gar nicht mehr abschießen.«

Während sie sprach, zog die Special Delivery die Nase hoch und rollte sich über den Flügel auf den Rücken, dann deaktivierte sie ihre Antriebe und stürzte wieder in die Tiefe … mit dem Heck voraus und dem Cockpit nach unten. Die hintere Luke, die nur durch eine dünne Ablativschicht geschützt wurde, bekam nun die ganze Wucht der Luftreibung zu spüren, und die Temperatur im Innern des Frachtraums schoss um fünfzig Grad in die Höhe. Das Kühlsystem im Körperanzug von Johns Mjolnir-Rüstung aktivierte sich automatisch, aber allmählich begann er, Van Houtes Plan zu verstehen.

Jeder Planet in der Galaxis wurde von einem konstanten Kometenregen bombardiert, manche groß genug, um sich in Boliden zu verwandeln, die in einem brillanten Feuerspektakel auseinanderbrachen. Falls Van Houte seinen Zaubertrick richtig timte, könnte er die Seraphs vielleicht glauben machen, dass sie nur einen solchen Feuerball verfolgt hatten. Sobald er unter Schallgeschwindigkeit gefallen war, könnte er dann die Tarnsysteme des Owls nutzen, um sich hinter einem Vorhang aus Täuschkörpern und nicht gezündeten Raketen davonzustehlen.

»Für Bremsmanöver bereit machen.« Mukai drückte einen weiteren Knopf an ihrem Kragen, und ihre Hosen blähten sich auf, als die Uniform ihre Beine und Hüften zusammenpresste, um zu verhindern, dass alles Blut in ihre untere Körperhälfte schoss.

John spannte seinen Bauch und die Beine an, dann hob er überrascht den Kopf, als der Monitor überhitzte und mit einem Funkenregen dunkel wurde. Mukais Gesicht darunter glänzte vor Schweiß, aber nur kurz, dann verdunstete die Flüssigkeit, und ihre Haut lief rot an. John linste nach hinten, an den beiden Ausgrabungsfahrzeugen vorbei zur Verladeluke des Owls, die sich von Stahlblau zu einem aschegleichen Grau verfärbt hatte. In der Mitte der Luke breitete sich ein weiß glühender Kreis über das Metall aus.

»Major, hier schmilzt gleich …«

»Sagen Sie mir etwas, was ich nicht weiß, Master Chief.«

Die letzten Worte gingen in einem Schall statischen Rauschens unter. Einen Moment später wurde John gegen die Seite seines Haltebügels geschleudert, als die Special Delivery ihre Hauptantriebe zündete und brutal abbremste. Das automatische G-Kraft-Protokoll von Johns Mjolnir wurde aktiviert, woraufhin sich die hydrostatische Gelschicht der Rüstung verhärtete, um das Blut in seinem Oberkörper und seinem Kopf zu halten.

Die Halteklammern und -ketten der Baumaschinen quietschten und knirschten, als die G-Kräfte sie auf die hintere Luke zuschoben. Winden, Haken und andere Verladeausrüstung drückten gegen die Frachtnetze, mit denen sie an der Wand befestigt waren. John warf einen Blick auf das Kampfinformationsdisplay seines HUDs und sah, dass eine Belastung von einundzwanzig G auf das Schiff wirkte. Von der vorderen Wand des Frachtraums ertönte ein lauter Knall.

»Mist!« Mukais Fluch wurde von einem metallischen Klirren und einem lang gezogenen, sonoren Grummeln begleitet. »Billiger … imberianischer … Schrott!«

Sie verstummte abrupt, und als John den Kopf drehte, wippten ihre Beine in der Luft auf und ab. Sie war noch immer an dem Notsitz festgeschnallt, aber drei der Bolzen, mit denen der Sitz am Boden befestigt war, hatten nachgegeben. Ihre Arme flogen im grünen Licht schlaff hin und her, und es war offensichtlich, dass sie das Bewusstsein verloren hatte.

Die Zahl auf Johns HUD stieg auf dreiundzwanzig G, und die Antriebe der Special Delivery heulten noch immer mit voller Leistung. Er und die anderen Spartans konnten noch fünfzehn weitere G ertragen, bevor sie in Ohnmacht fielen, aber es war ein Wunder, dass die Piloten noch bei Bewusstsein waren.

Ein weiterer Haltebolzen brach aus dem Deck los, und Mukais Notsitz neigte sich nach hinten. Noch ein paar Sekunden, dann würde sie quer durch den Frachtraum fliegen und gegen die Ausgrabungsfahrzeuge klatschen.

John streckte den Arm aus, um sie abzufangen, und Fred und Kelly taten auf ihrer Seite dasselbe, aber als sich der Notsitz schließlich losriss, war es Linda, die Mukai aus der Luft fischte und sie gegen die Brustplatte ihrer Mjolnir-Rüstung presste. Trotz ihrer kraftverstärkenden Rüstung zitterten Lindas Arme vor Anstrengung.

Van Houtes Stimme dröhnte durch die Borsprechanlage des Owls. »Täuschkörper … abwerfen.«

Auf dem Kampfinformationsdisplay sah John, dass die Special Delivery auf Mach 2,5 abgebremst hatte. Das Protokoll schrieb vor, dass sämtliche äußeren Luken über Mach 2 geschlossen bleiben mussten, aber er vermutete, dass Van Houte die tatsächliche Belastungsgrenze seines Schiffes besser kannte als irgendein Statiker.

Oder zumindest hoffte John es.

»Lieu…tenant?« Van Houtes Stimme klang gequält. Kein Wunder, das Kampfinformationsdisplay zeigte Bremskräfte von fünfundzwanzig G an. »Gott … verdammt. Wachen Sie auf …«

Das Schiff bäumte sich auf, und sein Bug ruckte von einer Seite auf die andere, während Luft in die aufgleitenden Luken blies. Van Houte hatte alle Mühe, die Kontrolle zu behalten. Ein lautes Klappern ertönte rechts von John. Er blickte hinüber und sah, dass die hinteren Räder des Bohrfahrzeugs den Bodenkontakt verloren hatten. Das Klappern stammte von den geborstenen Haken und den losgerissenen Ketten.

Egal, ob sie nun mitten in einem Manöver steckten oder nicht, er musste die Piloten warnen.

»Major …«

»Raketen abwerfen!«

Der Wind fauchte mit einer Geschwindigkeit von Tausenden Stundenkilometern in die offenen Raketenluken – die immer noch nach oben gerichtet waren –, und einmal mehr warf die Special Delivery sich hin und her. Das Bohrfahrzeug donnerte auf seine Hinterräder zurück, dann wieder in die Luft hoch.

»Antriebe abschalten!«, rief John. »Antriebe …«

Van Houte fuhr die Antriebe herunter, aber die Nase des Schiffs hatte sich wieder nach oben geneigt, und das Deck unter dem Bohrfahrzeug hob sich an. Die schwere Maschine riss sich los und donnerte gegen die hinter Luke. Der Aufprall war so heftig, dass der gesamte Owl erzitterte und die backbordseitigen Sicherungsbolzen aus der Wand gerissen wurden. Sie jaulten durch den Frachtraum, bevor sie mit einem schrillen Klirren von Lindas Rüstung abprallten. An der oberen rechten Ecke der Luke tat sich ein schwarzer Spalt auf, und einen Herzschlag später erfüllte auch schon ein ohrenbetäubendes Rauschen den Frachtraum. Der Wind griff mit einer Geschwindigkeit von zweitausend Stundenkilometern ins Innere des Schiffs und versuchte, die Spartans aus ihren Sitzen zu reißen.

Linda hielt Mukai noch immer wie ein Baby an ihre Brust gedrückt.

Das Fiepen von Alarmen füllte Johns Helm, und auf dem Kampfinformationsdisplay blinkten so viele Warnmeldungen auf, dass die Innenseite seiner Gesichtsplatte aussah wie ein Weihnachtsbaum.

»Was ist dahinten los?«, schnappte Van Houte. Der Owl neigte sich auf die Steuerbordseite, sodass der Bohrer noch einmal gegen die Luke knallte. »Es fühlt sich an, als würde ich einen Warthog fliegen – mit vier platten Reifen!«

»Die Fracht hat sich losgerissen.« John hämmerte auf den Notöffnungsmechanismus seines Haltebügels. »Richten Sie das Schiff auf.«

»Geht nicht.« Die Nase des Owls hob sich erneut. »Wir müssen jetzt abbremsen.«

Das Einzige, was die Backbordseite der Verladeluke noch an Ort und Stelle hielt, war ein hydraulischer Zylinder, und er würde dem Gewicht des Bohrfahrzeugs nicht lange standhalten. Er begann bereits nachzugeben, und der Keil aus Schwärze in der oberen rechten Ecke wurde immer breiter, je mehr sich die Luke verbog.

»Verstanden.« John drückte den Bügel über seinen Kopf hoch. »Ich werde versuchen, die Fracht zu sichern, aber die Luke ist bereits stark beschädigt.«

»Daran lässt sich nichts ändern«, entgegnete Van Houte. »Entweder wir tauchen jetzt unter, oder wir werden die Seraphs gar nicht mehr los.«

John schob sich auf das Bohrfahrzeug zu, und als er den Kopf drehte, sah er, dass der Rest von Team Blau dicht hinter ihm folgte. Nachdem sie dreißig Jahre gemeinsam gekämpft hatten, fühlte es sich manchmal an, als würden die anderen Spartans bereits wissen, was er wollte, bevor er auch nur den Mund öffnete. Er nahm einen Haken von der Wand, während Kelly die losgerissene Kette einholte. Auf der anderen Seite der Frachtplattform zog Fred ebenfalls einen neuen Haken unter dem Haltenetz hervor, während Linda die halb bewusstlose Mukai auf einem Platz festschnallte.

Als der Owl das nächste Mal den Bug anhob, hatten sie die Ketten an dem Bohrfahrzeug befestigt und stemmten sich mit aller Kraft gegen die Maschine. Doch die Sohlen ihrer Kampfrüstungen schlitterten über das Deck, und der Bohrer donnerte erneut gegen die Luke. Johns HUD zeigte die Geschwindigkeit der SpecialDelivery inzwischen in Stundenkilometern an, nicht länger in Mach, was bedeutete, dass sie auf Unterschallgeschwindigkeit gefallen war. Vermutlich hatte Van Houte bereits die Tarnsysteme aktiviert.

John spreizte die Beine und zog. Neben ihm ließ Kelly sich auf den Hintern fallen, damit sie ihre Füße gegen die verbogenen Halteklammern stemmen konnte, an denen das Bohrfahrzeug zuvor befestigt gewesen war. Doch als die Maschine erneut nach hinten rutschte, wurde sie zur Seite gewirbelt, und der Spalt an der Luke wuchs weiter in die Breite.

»Richten Sie … das Schiff auf«, presste John hervor.

»Geht nicht«, sagte Van Houte. »Da sind Hügel vor uns. Große Hügel.«

Die Sicherheitsbolzen auf der Steuerbordseite der Luke gaben mit einem Knall wie von einem Pistolenschuss nach. Der Wind fauchte um das Metall herum, packte es wie eine unsichtbare Faust und riss die Luke vollends auf. Das Heck des Owls sackte nach unten, seine Nase richtete sich fast senkrecht auf, und das Bohrfahrzeug raste auf die klaffende Öffnung zu. Die blockierten Reifen schlitterten über das rutschfeste Deck, als wäre es ein gefrorener See.

»Lasst los!« John gab die Kette frei, dann packte er den Kragen von Kellys Rüstung und sprang zur Steuerbordseite des Frachtraums. »Haltet euch fest!«

Er schlang den Arm durch eine Masche des Haltenetzes, und seine Mjolnir versteifte sich in dieser Position, während der Bohrer durch die Luke barst. Die Kette spannte sich …

Und das Heck der Maschine ruckte hoch, sodass es gegen das Metall über der Luke rutschte. Die Kollision bremste das Fahrzeug so weit ab, dass die Ketten nicht aus ihren Halterungen gerissen wurden. Anstatt in der dunklen Nacht zu verschwinden, baumelte der Bohrer nun über dem Abgrund. John warf einen kurzen Blick auf den Bewegungstracker seines HUDs: Fred und Linda waren auf der anderen Seite des Frachtraums, hinter dem Fahrlader, und Mukai war noch immer sicher auf Lindas Sitz festgeschnallt.

Jetzt mussten sie nur noch den Bohrer retten. Er hing halb aus der Luke und rutschte an seinen straff gespannten Halteketten hin und her, während der gnadenlose Wind versuchte, ihn loszureißen. Der beschädigte Rahmen der Luke leitete den Wind nach oben, sodass der Owl weiterhin in einem schrägen Winkel in der Luft stand, wie ein Jet im Steigflug – nur dass der Owl nicht stieg. Die Antriebe schwiegen noch immer, und jeder Versuch, sie jetzt hochzufahren, würde den Frachtraum mit heißen Abgasen füllen.

John behielt die Höhenanzeige seines HUDs im Auge. Der Owl war zweitausend Meter über dem Boden und sank rasch tiefer – was ziemlich bemerkenswert war, wenn man bedachte, dass ringsum Berggipfel zweitausendfünfhundert Meter und noch höher in den Himmel ragten. Das einzig Positive war, dass die Seraphs sie nicht zu verfolgen schienen. Aber natürlich könnte das auch nur daran liegen, dass die Berge ihre Sensorsignaturen verbargen.

»Bringen Sie uns runter«, sagte John. »Ohne Antriebe.«

»Keine Antriebe? Kein Problem.« Es war Chapov, der ihm antwortete. Der Co-Pilot schien sich erholt zu haben und steuerte nun das Schiff. »Sie haben zehn Sekunden, um sich wieder anzuschnallen.«

»Ich würde nicht rumtrödeln«, fügte Van Houte hinzu. »Lieutenant Chapov ist vielleicht ein Piloten-Ass, aber nicht mal er kann Wunder vollbringen.«

Kelly zog sich zu ihrem Sitz hoch, und John tat es ihr gleich. Auf der anderen Seite des Frachtraums folgten Fred und Linda ihrem Beispiel. Der Frachtraum des Owls war für bis zu zehn Spartans ausgelegt, es gab also noch genug freie Plätze, obwohl die bewusstlose Mukai einen besetzte.

Als Johns Haltebügel über seinen Schultern einrastete, hatten sie noch drei Sekunden.

»Bereit«, sagte er.

»Gut«, brummte Chapov.

Ein ohrenbetäubender Knall ertönte vom Heck des Schiffs: Die aufgerissene Luke schoss hoch, prallte gegen das Bohrfahrzeug und katapultierte es quer durch den Frachtraum nach vorne. John wurde so heftig gegen seinen Haltebügel geschleudert, dass sich das Metall verbog. Die Ketten, an denen der Bohrer befestigt war, spannten sich und zerbarsten, und das Fahrzeug pflügte über das Deck und bohrte sich in den Monitor an der vorderen Wand. Dann kippte es auf die Seite – direkt auf John zu.

Einen Moment lang glaubte John, die Special Delivery hätte sich auf die Seite gelegt, und riss die Hände hoch, um zu verhindern, dass die Maschine ihn und Kelly zerquetschte. Aber dann erkannte er, dass er aufrecht saß und gegen die Wand hinter ihm gedrückt wurde. Chapov hatte es wie durch ein Wunder geschafft, den beschädigten Owl auf dem Bauch zu landen, und nun schlitterten sie mit wackelndem Heck über den verglasten Boden.

»Festhalten!«

John war sicher, dass eine Klippe oder eine Schlucht vor ihnen lag. Stattdessen ertönten in rascher Folge mehrere zischende Laute, als Chapov die Lenkdüsen zündete, um das Schiff unter Kontrolle zu bringen. Den Abschluss bildete ein lang gezogenes Tschhhh!, als die Nase der Special Delivery nach unten sackte und sie mit einem letzten, knirschenden Knall zum Stillstand kamen.

Eine Sekunde lang herrschte Stille. Johns Blick auf die andere Seite des Frachtraums wurde durch den Bohrer blockiert. Vorsichtig stemmte er die Arme gegen die Maschine, bis sie wieder auf alle vier Reifen zurückfiel. Der laute Aufprall entlockte Mukai einen kurzen erschrockenen Schrei. Sie war also auch noch am Leben und sogar wieder bei Bewusstsein. Gut.

Dann meldete sich Chapovs Stimme über die Bordsprechanlage, ganz selbstsicher und entspannt.

»Ladys und Gentlemen, im Namen des Piloten und der Crew der Special Delivery heiße ich Sie auf Reach willkommen. Die Ortszeit ist zwei Uhr einundvierzig. Nehmen Sie jetzt bitte Ihre Waffen und Ihr Handgepäck und verlassen Sie schnellstmöglich das Schiff. Wir kriegen nämlich gleich Besuch.«

2. KAPITEL

02:41 Uhr, 7. Oktober 2559 (Militärkalender)

Special Delivery, Owl-Infiltrationsschiff des UNSC

Vadász Dombok, Kontinent Eposz, Planet Reach

Es war so dunkel jenseits der Luke, dass nicht mal der Nachtsichtmodus von Johns Helm genug Licht sammeln konnte, um ein klares Bild zu zeichnen. Stattdessen erschien das Terrain in Form eines grünen Gittermusters auf seiner Gesichtsplatte, wobei Schattierungen und die Dicke der Linien eine Illusion von Räumlichkeit und Oberflächentexturen erzeugten. Das Resultat erinnerte an ein impressionistisches Gemälde, ein Wechselspiel aus Licht und Schatten, demzufolge die Special Delivery ihren halsbrecherischen Flug auf einer langen, breiten Terrasse beendet hatte, ungefähr auf mittlerer Höhe eines Berghangs. Direkt hinter dem Schiff, eingerahmt von den Rändern der Verladeluke, zog sich eine schmale, schillernde Rille über den Boden – die Furche, die sie während ihrer Rutschpartie hinterlassen hatten. Links davon gähnte klaffende Schwärze, vielleicht ein tiefer Abgrund, vielleicht aber auch nur eine niedrige Schlucht.

Da noch immer jede Menge Hitzestrahlung aus dem verglasten Grund des Planeten nach oben stieg, korrigierte John den Input des Nachtsichtsystems und wechselte in den Infrarotbereich. Sofort wurde das Bild schärfer und bunter. Der Boden wurde nun durch wellige Bänder aus Orange und Rosa repräsentiert, die Luft war kühles Blau, und die Wolken über ihren Köpfen stellten eine brodelnde Masse aus Gelb und Grün dar. Die Furche, die der Owl auf der Felsterrasse hinterlassen hatte, war eine blutrot glühende Linie, angefüllt mit gezackten Scherben aus geborstenem Lechatelierit. Sie zog sich fast einen Kilometer hinter ihnen dahin.

John lehnte sich aus der Luke und spähte kurz zum Himmel hoch, um nach näher kommenden Seraphs Ausschau zu halten. Er fragte sich noch immer, ob die Jäger wohl zu den Verbannten oder den Hütern gehörten oder ob es sich um eine neue Horde von Jiralhanae-Piraten handelte, von der er noch nicht gehört hatte. Das war das Problem mit Cortanas neuer Weltordnung. Sie hielt die interstellare Zivilisation in einem eisernen Griff, und je fester sie zudrückte, desto mehr Aufständische quollen zwischen ihren Fingern hervor.

Als John keine roten Flecken über sich entdeckte, streckte er einen Arm nach hinten und deutete auf den Waffenschrank. Sein Bewegungstracker zeigte ihm, dass sich die anderen Spartans bereits dort versammelt hatten und ihre Waffen und Ausrüstung überprüften.

»Team Blau, wechselt auf Infrarotsicht – so seht ihr mehr«, wies John sie an. »Linda, du bist unsere Augen. Nimm genug Munition für das S5 mit.«