Haltepunkte - Norbert Roth - E-Book

Haltepunkte E-Book

Norbert Roth

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Beschreibung

Sie bezeichnete sich einst als »Logikschäfchen«, er findet das »Kreuz Jesu einfach nicht logisch«. Aus einem Facebook-Schlagabtausch zwischen Beatrice von Weizsäcker und Norbert Roth wird eine tiefe Freundschaft. Zwei Jahre später ist Roth der Erste, den Weizsäcker anruft, als ihr Bruder in Berlin ermordet worden ist – und sie fragt sich: »Wo ist eigentlich dieser Gott?«  In »Haltepunkte« schreiben die Juristin und der Theologe und Pfarrer über die Orte, an denen sie Gott neu und anders erfahren haben: Berlin, Jerusalem, Heiligenkreuz, St. Ottilien und nicht zuletzt München, auch auf dem Oktoberfest. Es geht um Leid, Glück, Stille, Sehnsucht, Schuld und Tod, aber auch Themen wie Sterbehilfe und Konfessionsunterschiede. Ein Buch über die Gottsuche im Lärm und in der Stille.

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Was du begreifst, ist nicht Gott.

Augustinus

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Emojis: Betende Hände: Seljan Gurbanova / shutterstock; Smileys: Popicon / shutterstock

Fotos: © privat

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN E-Book 978-3-451-82475-3

ISBN Print 978-3-451-03677-4

Inhalt

München

Wie alles begann

Gott ist unlogisch

Dreh- und Engelpunkt

Stadt der Engel

Berlin

Mord und Totschlag

Sterblichkeit

Jerusalem

Ein Abend in der Grabeskirche

Rotz und Wasser

Rom

gnadenlos gnädig

St. Peter steht noch

Lutherische Reliquien

Der Esel

Kloster

ora et labora

Stille

Wenn die Glocken Ruhe bringen

München

Haltepunkte

Oktoberfest

Oh mein Jesus

Dank

Quellen und Literatur

München

Wie alles begann

Eigentlich ist Robert Menasse schuld. Sein Buch »Die Hauptstadt«. Ein kurzer Abschnitt daraus, gepostet von Beatrice von Weizsäcker am 28. Oktober 2017. Auf Facebook. Norbert Roth kommentierte. Das war der erste Kontakt. Und der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Norbert Roth

Gott ist unlogisch

Der Schlüssel hatte schon die Temperatur meiner Hände angenommen. Mit ihm spielte ich, während der Hausmeister mir, ohne Punkt und Komma redend, alle Räume erklärte. Die Zacken des Bartes am Schlüssel zog ich unter den Nägeln hindurch. Immer wieder. Und überflog flüchtig die Wände, den Boden, die Decke im Flur. Ich besah die Küche, das Bad, die Toilette. Das Zickzack des Parketts schien wie ein Spiegel meines Inneren. Rauf und Runter, willkürlich verlegt und heute etwas stumpf. Eine hohe, hallige Wohnung, im Herzen der Stadt. Vor der Haustür Kastanien, mit Wiese und Bänken. Und direkt gegenüber ein backsteinroter, grünspanig bedachter Kirchturm. Ganz spitz. Mit goldenem Doppelkreuz oben und einer riesigen Uhr. Die II scheint verblasst mit den Jahren. Schaut aus wie abgewetzt, herausgefallen oder gestohlen – aus der Zeit.

Wenige Tage zuvor war ich gewählt worden, zum Pfarrer einer Kirchengemeinde in München. Die erste richtige Stelle nach Studium, Lehr- und Wanderjahren. Ich wurde berufen, mit allem, was dazu gehört. Eben auch diese Pfarrwohnung. Heute war ich das erste Mal drin. Es roch noch nach Farbe, Silikon und Staub. Ich könne dem Maler nachträglich Bescheid geben, ließ der Hausmeister mich wissen, wenn ich eine Wand anders gestrichen haben wollte. Nicht nur in weiß. Ochsenblutrot ist bis heute die Wand hinterm weißen Klavier. Im Wohnzimmer eine Seite taubenblau.

Alles dreht sich, alles kreist

Es ging alles sehr schnell. Es war, als ob ich eben noch in einem Karussell gesessen hätte, das sich schneller und schneller drehte, und ich den Moment verpasst hatte, rechtzeitig abzusteigen. Nachdem es mich rausgeschleudert hatte, befand ich mich dort, wo ich jetzt war.

Ein Großstadtpfarrer! – Gott pflegt einen seltsamen Führungsstil. Denn geplant hatte ich das nicht. Leicht benommen, musste ich mich neu orientieren. Und fand mich in dieser fremden Wohnung wieder, meinem künftigen Zuhause. Als wir im leeren Kinderzimmer standen, schlug die Turmuhr mit der abgewetzten Zwei, dreiviertel wasweißich. Der Hausmeister erzählte von neu eingebauten Schallschutzfenstern und Denkmalschutzdingen. »Ach ja? Aha. Soso ...« Und ich merkte, dass der Schwindel blieb. Als wäre ich ins nächste Karussell gesetzt worden. Diesmal mit der Zuckerwatte einer gewonnenen Wahl in der Hand. Alles drehte sich, alles kreiste. Und ich hatte nicht mal die Chance, es von außen genau zu betrachten. So versuchte ich, mit den Augen eines der Gefährte zu fassen: War das ein Ross, eine Kutsche, ein Feuerwehrauto? Wollte sehen: Was erwartet mich? Aber es wirbelte alles, sodass ich nur bunte Streifen sah, wie man sie sieht, wenn etwas an einem vorbeieilt. Man steht und weiß, da passiert etwas, aber ich kann nur zuschauen.

Manchmal kommen Veränderungen schleichend. Ein anderes Mal ändert sich Alles von heute auf morgen und man kommt mit dem Denken kaum nach. Die Seele erst recht nicht. Ach, die Seele! Die humpelt dem Leben sowieso hinterher. Immer braucht sie länger. Braucht ihre Zeit, bis sie sich gewöhnt. An einen neuen Menschen, an einen neuen Ort. Sie dunkelt langsamer nach und hellt sich verzögert auf – wie ein Foto im Entwicklungsbad. Ich glaube, das liegt dran, dass Gefühle Vertrauen brauchen. Man zeigt nicht jedem Angst und Unsicherheiten. Man zeigt Abneigung nicht – man ist ja seriös. Und Zuneigung macht anfangs sowieso nur nervös.

Die erwachsene Seele überwacht immer ihr Tun. Trägt ihr Herz nicht – mehr – auf der Zunge und plappert drauf los. Sondern sie verschränkt ihre Arme und legt den Kopf leicht nach links. Beobachtet die Szenen, die Menschen, die Welt und legt, je länger je mehr, eine Schablone darauf: »Tat das schon mal weh?«, »Kenn ich das nicht?«, »Was will der von mir?«, »Nein, das geht doch so nicht!« Deswegen sind junge Tage und neue Orte oft so diffus. Weil alles innerlich flüstert und man mit sich selbst Stille Post spielt. Was man sich am Morgen sagt und sich vornimmt, klingt schon am Abend anders.

Schick mich, wohin du willst

Eigentlich waren wir schon kurz davor gewesen, ins Kloster einzutreten. Und ein Teil von mir war auch schon dort. Oder jetzt: noch dort. Die Zeit, in der man sich vorzustellen und auszumalen beginnt, was man alles werden könnte, hatte bereits begonnen. Fünf Freunde und ich. Mönche im Kloster Heiligenkreuz. Sechs protestantische Zisterzienser.

Es kam anders. Gott lenkt unsere Wege, auch wenn wir hinkend gehen. Es taten sich andere Türen auf. Wie ich es eigentlich schon gewohnt war von meinem Gott, dem mein Leben gehört. »Schick mich, wohin auch immer du mich brauchen kannst!«, war mein Gebet als junger Kerl. Brannte und glühte vor Jesuseifer. Und er nahm mich beim Wort. »Doch bloß nicht in den Busch.« Ergänzte ich scheufrech. »Da will ich nicht hin, lieber Gott! Das schaff ich nicht. Aber sonst – tu, was du willst.« Und wurde erhört.

Mitten im Studium, mit 25 Jahren, malte ich mir aus, wie später meine Gemeinde gedeihen würde – gedüngt mit dem Wort und zur Liebe bereit. Ach, wie man halt träumt, wenn man so träumt von Zukunft und Wirkung. Mit 25 denkt man eh, man reißt die Welt ein. Strotzt vor Kraft und Lust und Mumm. Versteht auch den Satz nicht, dass die großen Heiligen von dem Gedanken durchdrungen waren, dass Gott sie nicht brauche. Man will das nicht verstehen, denn Gott braucht einen doch! Wenn nicht mich, ja wen denn dann? Wozu dann Berufung? Wenn’s am Ende eh wurscht ist, wer den Job übernimmt? Berufung ist doch, wenn Gott aus einem armen Fischer einen Apostel macht, aus einem, der verleugnet, jemanden, der am Ende bis in den Tod kopfüber treu bleibt. Wenn Gott aus einem, der zweifelt, einen macht, der dort hinfassen darf, wovon es seit Jahrhunderten heißt: »Durch diese Wunden sind wir geheilt.« Wenn Gott aus einem Planlosen einen Teil seiner Liebesgeschichte mit der Welt und den Menschen macht. Das ist Berufung. Wenn Gott etwas aus einem macht. So stellte ich mir mit 25 Jahren Berufung vor.

Jetzt, in dieser neuen, leeren Münchner Wohnung war ich mir da nicht mehr so sicher. Ich hatte im Laufe der Jahre feststellen müssen, dass Berufung heute mehr und mehr vom Wort Beruf geprägt ist. Stärker als vom Wörtchen Ruf. Denn auch im geistlichen Leben gibt es so etwas wie Karrieredenken, einen Drang, sich zu optimieren. Nicht nur bei den hauptamtlichen Profis im Hierarchienspiel. Nein, auch außerhalb kirchlicher Kreise.

Wir lesen die biblischen Berufungsgeschichten heute oft wie eine Art Muster und Ratgeber, um zu lernen, wie die eigene Lebensrolle am besten zu performen sei, die man im Drehbuch des Lebens zugewiesen bekam. Am besten mit Happy End, versteht sich:

Abraham und Sara: Aus zwei kinderlosen Alten werden Eltern eines erfolgreichen Jungen.

Mose: Aus einem stotternden Bauern wird eine Führungsperson, mit allen Wassern gewaschen.

David: Aus einem verträumten Hirtenjungen wird ein messianischer König.

Petrus: Aus einem Fischer wird ein Papst.

… und aus einem Mörder wird ein Heiliger: Paulus.

Ja, man kann die Berufungsgeschichten in der Bibel oder auch die Biografien der Mütter und Väter im Glauben von einem Vorher zu einem Nachher lesen. Wie beim Frisurencheck. Oder einer Nulldiät. Doch die Bibel kennt diese Art zu denken nicht. Sie denkt nicht in Evolutionen. Weder in den großen Entwicklungen noch in den kleinen. Für die Menschen der Bibel gibt es kein Upgrade fürs Meilensammlen oder für die Besten, die Schnellsten – die am meisten trainieren oder sich am leichtesten anpassen. Es gibt bei Gott kein Vorher. Kein Nachher. Es gibt immer nur Jetzt.

Zwischen Nostalgie und Purzelbaum

Jetzt standen wir im Wohnzimmer, ich richtete mich schon ein. Hier kommt die Couch hin, der Fernseher daneben, und dorthin passt die weiße Kommode. Und ich sehe meine Möbel vor dem inneren Auge, Möbel mit Kratzern und Geschichten. Was waren das früher für schöne Zeiten. Schüchtern war ich und unglaublich nett. Ich weiß nicht, ob das heute noch gilt. Und ich seh an den Möbeln die Spuren und denke: Meine Seele ist wie sie, wie eine Schallplatte gerillt. Manche Kratzer, doch die Melodie stimmt.

Die drei Jahre Frankfurt, die Wohnung war zu klein. So wurde ein Regal zersägt und verschraubt, damit es passte. Was anfangs noch schön war, verlor nach und nach. Weil ich mich verlor, auch im Wissen zu sein, wer ich bin und was ich werde. Drei Jahre spannende Arbeit im großen Freischwimmerbecken der ökumenischen Welt. Ein Job für die Einheit der Kirche. Das war okay. Aber war ich nun immer im Dienst, lieber Gott, ein Mönch ohne Kloster? Ich war zwar gerne allein, aber auch einsam. Das macht duster – das Lachen und Freuen, die Seele, den Glauben. Das war nicht mein Platz. Und Frankfurt reihte sich ein in die Schlange der Orte, die ich durchstreifte auf der Reise durchs Leben. Ich wusste, dass ich hier nicht bleibe, dass ich weitermusste und es Zeit war, meine Regale wieder ab- und an einem neuen Ort aufzubauen.

Ich liebe das Leben. Es ist eines der Schönsten! Doch wo gehöre ich hin? Wo darf ich Liebe leben? Ich war wie gespreizt zwischen Nostalgie und Neugier, zwischen Panik und Purzelbaum. Und war froh, als die Zeit endlich verging. Doch ist so das Leben? Dass ich nur lebe im Schauen nach Drüben und Morgen? Wo das Gras grüner ist und kleiner die Sorgen. Was will ich eigentlich? Was ergibt denn Sinn? Und dann plötzlich München. Ich plante das nicht.

Die Zukunft ist wie ein leeres Zimmer. Ein halliger Raum, den man füllt. Mit sich. Man kauft ja nicht nur neu. Sondern stellt auch sein bisheriges Leben, sein Hab und sein Gut aus der Herkunft hinein – in neue, bis dahin unberührte Umstände. Ich glaube, die Leute, die sagen, dass wir in bestimmten Phasen des Lebens dazu neigen, im Modus »Wenn-dann« zu leben, haben recht. Ein Leben nach dem Motto: Wenn alles erreicht ist, der Abschluss, die Titel, das Ja-Wort und Wohlstand, dann beginnt das Leben. Dann bin ich wer. Dann hab ich was. Dann ist es bewiesen! Und dann hab ich Ruhe. Endlich. Ja, ich glaube, es stimmt. Jedenfalls für die Jugend. Was will ein Kind nicht gern älter sein, als es ist? Zeigt fünf kleine Finger und weiß, es ist drei. Das Sehnen nach vorne, weil das Altern ermöglicht, was das Kind noch nicht darf. Das Führen eines Fahrzeugs, um frei sein zu können, gehörte früher zu den wichtigsten Einschnitten. Auf dem Land. Heute ist das anders, ich weiß.

Doch so wie die Jugend sich durchhofft aufs Dann, so schwelgen die Alten im Damals-als. Damals, als die Hüfte noch heil war, die Ehe intakt. Damals, als bei Tisch noch kein Smartphone regierte und Bonn als Hauptstadt nur drei Parteien noch kannte, damals war die Welt noch in Ordnung. Was nicht stimmt, wie jeder weiß. Aber im Rückblick erscheint das Leben von damals viel leichter. Besser zu bewältigen als im Hier und im Jetzt.

Im Wenn-dann und im Damals-als liegen die Sehnsucht nach Gänze, nach Heilsein und Liebe. Nach Gott und einer Ahnung vom wirklich Besseren. Alles wird – später oder wieder – gut. Bloß jetzt ist’s grad schwierig. Doch das geht vorbei.

Tatsächlich ging es mir so, als ich im neuen Wohnzimmer stand. Das erste Mal. Und einerseits Erleichterung empfand, nicht mehr nach Frankfurt zu müssen. Und andererseits innerlich schon anfing, es zu vermissen. Was war da nur los in mir? Was will denn die Seele? Jetzt, wo ich weg war, war der Apfelwein doch nicht so schlecht? Ich traue mir selbst nicht. Gott, was war denn jetzt echt?

In Kirche und Glauben gibt’s diese zwei Seiten auch: Die Damals-als-Fraktion sehnt sich zurück in die alte Zeit. Die gute! Man verklärt die Urkirche, von der wir nur ahnen und wenig wissen. Aber ach, wäre das schön, wenn es so wäre, wie es damals war! Nur nicht wie jetzt, so wie heute. Oh mein Gott! So ein Darben.

Der Wenn-dann-Fraktion ist das zu verstaubt, sie tritt die Flucht nach vorn an. Am besten alles über Bord, was an Dogma und Ursprung im Weg steht und an ethischen Normen, die nur Abbild der Gestrigkeit von Kirche noch sind. Was da nicht alles appelliert, reflektiert und perfektioniert wird. Es scheint mir, als sei das Gestern die goldene Zeit gewesen oder nur im Morgen das klare Licht weiterer Erkenntnis zu erwarten. Aber auch in ökologischen, ökonomischen, sprachlichen und politischen Dingen drängt es sich weiter. Manchmal fürchte ich, wir meinten, wir seien angesprochen, wenn es im Vaterunser heißt: »Es komme Dein Reich.«

In vielem, was kirchlicherseits gesagt und geboten wird, wird ein klarer Weg gezeigt: Wenn wir nur alle etwas anständiger werden, die Kanten abschleifen und die Welt (wieder) rund machen, dann … Dann werden wir die Welt heilen und retten. Als ob wir nur genügend Bio-Lebensmittel, Gregorianik, Windräder, Wohlstand oder Seenotschiffe brauchen, um uns geistig zu verbessern und zu mehr Reinheit von Herz und Verstand zu gelangen. Als könnten wir darüber verfügen. Freilich, hier kann man mich missverstehen.

Wer sich für einen Moment mal in die Wiese legt und die Wolken vorbeiziehen lässt, wird verstehen, dass nicht nur im Damals-als, sondern auch im Wenn-dann eine große Versuchung liegt, der wir auch im geistlichen Leben auf den Leim zu gehen drohen. Denn einige Spielarten dieser »Frömmigkeit« von Welt- und Selbstverbesserung sind nichts weniger als ein Versuch, unser unendliches Bedürfnis nach Gott zu verbergen, unsere passive Erlösungsbedürftigkeit zu delegieren – auf andere – und die rauen Flächen des menschlichen Daseins zu glätten. An uns. Uns selbst.

Dabei sind doch diese wunden Stellen des Menschscheins, die großen und kleinen Kratzer in unserem Lack, genau das, was uns mit Gott und miteinander verbindet. Ich will die Sünde nicht heiligsprechen. Aber unsere Schuldigkeiten, unsere Narben und Misserfolge, unsere Missverständnisse und Fehler schaffen an uns doch erst die Textur, die es braucht, damit Gott und unsere Mitmenschen überhaupt etwas zu greifen haben. Und um uns wirklich lieben zu können. Denn wären wir fehlerlos, perfekt und rein, bedürften wir der Liebe nicht. Dann wären wir uns selbst genug. Ein jeder für sich. Denn wir hätten ja uns allein. Für mich. Mein Ich. Ich, ich. Ich wäre mir selbst mein Gott. Mein Schöpfer und Erhalter. Und auch zuständig dafür, mich zu richten und zu erlösen. Da darf es keine Schwäche geben. Man hat sich zu optimieren.

Natürlich! Auch hier gilt nicht schwarz oder weiß, Licht oder Schatten. Es sind Skizzen, Stile, Schattierungen. Aber eines lässt sich nicht verhehlen: Wir wären gern anders, als wir sind. Und wenn’s ich nicht bin, der’s verbockt, dann sind’s halt die anderen. Es bleibt noch nachzudenken über Unschuld und Schuld. Über Klage und Anklage und das Verhängnis, in das es uns zerrt. Und weil das so ist, drängt’s uns hin zum idealen Selbst. Autonom und frei. Ein Selbst, das recht tut und niemanden scheut. Aber dass das nicht stimmt, spürt auch jeder gleich. Daher plagt uns die Distanz zwischen Ideal und Wirklichkeit. Weil wir ahnen, wie wir wirklich sind. Selbst.

Leben, Version eins bis drei

Woher kommt es, dass in meinem Kopf diese andere Version von mir existiert? Eine Version, die freundlich ist und langmütig, liebevoll und frei von Ambitionen. Eine Version, die alle Mängel des Charakters überwunden hat. Witzig, charmant und organisiert ist, fließend Englisch und Französisch und Ivrit spricht, keine Wunden mehr an Körper und Seele hat. Diese Version rastet beim Autofahren nie aus, hat keine Angst vor Konflikten oder dem Tod, hat zwei Gemeinden und ein Kloster gegründet, mindestens. Die Einheit der Kirche mit geschafft, ein Haus gebaut, drei Kinder gezeugt, spielt Klavier wie ein Gott und kann Hölderlin rezitieren. Hach! Ja, diese andere Version ist im Grunde nicht wie ich und aus irgendeinem Grund denke ich, dass ich mit genug Anstrengung mehr diese Version sein könnte und halt weniger ich.

Ob das Ende Zwanzig mein Motiv war, das Kloster zu suchen? Heiligenkreuz. Ich weiß es nicht. Die Regel Benedikts sagt: »Such allein Gott nur – dann komm!« Alle anderen Gründe soll der Abt klug erkennen und fragen, ob das oder dies, was auch immer es ist, eine Lebensentscheidung wirklich trägt. Zisterzienser: »Der einzige Grund, Gott zu lieben, ist Gott selbst.« Wie Bernhard von Clairvaux es lehrt. Jedenfalls wäre das mit dem Kinderzeugen dann wieder eine andere Version von mir. Ach, wie ich’s auch drehe und wende, es wird niemals ganz gerade. Ich komm an kein Ende.

Wenn ich ehrlich bin, sehne ich mich manchmal nach der Version von mir, die ganz verschwunden in Kapuze, Kukulle und Kloster genau das nicht mehr denken und nicht mehr kämpfen muss. Schweigend verborgen, geworden zum Nichts. Ein zweckfreies Leben und Beten. Doch sofort springt die Sucht an, dann doch etwas zu gelten. Ich könnte im Kloster ja Bücher schreiben, übers Schweigen und Beten. Natürlich zurückgezogen, des Zugriffs beraubt. Aber doch relevant, bekannt und gebraucht. Die Version Nummer drei. Ich seh schon, ich werde nicht frei. Als wohnte ich einer Satire-Show bei. Scharfsinnig entlarvender Spott über mich und alle meine Versionen.

Ob es das ist, was man Anfechtung nennt, was mich emotional und geistlich in die Zange nimmt? Jedenfalls werde ich, ach – zum Glück, ehrlicher mit mir und der Welt durch diese kleinen Leiden. Und sofort zeigt der Komparativ an: Ich komme da niemals heraus. Denn unsere Zeit, unsere Kultur und unsere Kirche sind ohne diese Vorstellung der Selbstverbesserung nicht zu denken. Wir sind gezwungen, in Evolutionen zu denken. Von unten nach oben. Von böse zu gut. Es gibt immer eine Version von uns, die auf jeden Fall überlegen und besser ist. Und weil Evolution und Gott sich gedanklich widersprechen, außer es ist alles ein stetes Fressen auf Erden und: auch im Himmel!, trauen wir Mechanismen mehr zu als Wundern. Strengen uns an und entwerfen uns selbst als zukünftiges Ich.

Was für eine Last wir da tragen. Immer mit diesem Unterschied leben zu müssen und daran zu leiden. Dass ich nicht der bin, der ich gern wäre und den die anderen gern hätten. Diese Kluft zwischen idealem Ich und dem wirklichen Ich. Zwischen idealem Einkommen und tatsächlichem Lohn. Zwischen Idealgewicht und der Zahl auf der Waage. Zwischen idealer Beziehung und täglichem Drama.

Die Tyrannei dieses Raumes zwischen Sollselbst und Ist, zwischen meiner Ideal-Version und der Wirklichkeit nennt die Bibel Gesetz. So lehrt es Martin Luther. Dieses fiese Gefühl, verurteilt zu sein – sich zu fühlen wie ein Mönch, der seinen Gott heimlich hasst, weil er sich zutiefst getäuscht fühlt, beraubt und betrogen um die Freuden des Lebens. Oder verurteilt wie die Eltern, die versuchen, den Spagat zu schaffen zwischen Beruf und Familie und es niemandem recht machen können. Oder einem Streetworker, der nicht in die Augen des Junkies schauen kann, den er berät, weil es ihn anwidert, wie vergeblich sich sein Tun oder Lassen anfühlen kann. Sie alle wissen, was das Gesetz anrichten kann. Die Anklage, nie genug zu sein. Sie alle wissen, wie grausam sich die Distanz zwischen unserem idealen Selbst und dem wirklichen Selbst anfühlen kann.

Gottes unlogisches Ja

Mittlerweile sind wir im Esszimmer angekommen. Es ist der letzte Raum – glaube ich. Ich weiß es nicht. Es sind gefühlt schon zwei Stunden. Wir besichtigten davor schon die Küche, das Bad, den Minibalkon. Eine kleine Flucht in den Hinterhof raus, mit Blick auf Praxen, Büros und fünf Etagen Parkhaus. Das Esszimmer liegt auf der anderen Seite, geht wieder nach vorne raus und hat große Fenster. Draußen streckt sich die kleine Grünfläche von rechts nach links, weiß blühende Kastanien und der spitze, grünrote Turm gegenüber. Keine 100 Meter weg. Mit dem goldenen Doppelkreuz, das mir erneut auffällt.

Ein Freund schenkte mir vor Jahren einen Tisch. Ein Unikat. Er hatte ihn selbst geschreinert und lackiert, doch für mein altes Leben war er viel zu groß. In Frankfurt und Maxhütte passt er nicht in die Wohnung. In diesem Raum würde er endlich seinen Platz finden. Hier passte er rein. Ich schaute durchs Fenster: die Straße, die Bäume, die Bänke, das Grün. Dann zog es meinen Blick nach oben. Was für eine Kirche das sei, wollte ich wissen. Ach, die sei katholisch, er würde nachschauen müssen, es fiel ihm gerade nicht ein. Sie sei aber sehr schön und er möge das Kreuz. Er ist »fast orthodox«, sagte er, das Kreuz mit den zwei Querbalken erinnere ihn an daheim.

Orthodox. Katholisch. Und lutherisch ich. Wie klein und zersplittert sind wir doch! In Gruppen zerteilt. Wir meinen oft, dass wir das, was wir sind, sind, weil wir selbst es so wollten. Doch das glaube ich nicht. Nicht mehr. Ich glaube: Wir sind alles erst geworden. Nicht selbst so gemacht, sondern geprägt und geformt. Denn das braucht ja Zeit, braucht manchmal auch eine Krise, die erschüttert. Wir müssen selbst werden wollen, was wir schon sind. Christ werden, auch wenn wir es schon sind.

Das gilt auch für die Kirche. Sie wähnt sich auf ewig gesetzt. Sie muss neu lernen, Kirche zu werden, auch wenn sie es schon ist. Sich ehrlich befragen, ob die Form denn noch passt. Ob es Zeit für eine Rückformung ist, eine Reformation. Passt der alte Tisch noch immer oder ist es Zeit, den Tisch abzubeizen?

Was einst die Reformation auslöste, war die Tatsache, dass Luther, während er sich auf ewig verloren fühlte, im Muss zwischen dem Soll und dem Haben, bei Paulus las: Alle haben gesündigt und entbehren der Herrlichkeit Gottes. Alle! Da ist keine und keiner gerecht. Schon gar nicht die, die sich selbst so wähnten. Es ist nie zu schaffen – so bin nicht nur ich es, der sich nach Genugtuung und einem fairen Gericht sehnt. Es sind alle. Alle, die tasten und hoffen und bangen und sich Wege und Brücken suchen, um ans Ziel zu gelangen. Das Ziel ist der Frieden. Mit sich und der Welt. Mit Gott und den anderen, damit nichts mehr zerbricht, was uns trägt und uns hält, was leuchtet und das Gesicht wärmt.

Was die Kirche so lange gelehrt hat und leider heute oft immer noch lehrt – nämlich, dass wir durch die Füllung der Leere in uns eine Brücke über die Lücke zwischen dem idealen Selbst und unserem wirklichen Selbst schlagen könnten – ist zerstörerisch. Denn wir füllen das Loch mit allem, was geht. Wir strengen uns an und schaufeln das Loch mühsam zu, um hinüberzugelangen. Zum himmlischen Ich! Wenn das mal geschafft ist, dann ist Frieden erreicht. Dann wird die Welt wieder heil und ich bin nichts schuldig mehr, niemandem nichts. Denn ich habe ja geackert, gemahnt und gemacht. Wenn es dann geschafft ist – und bis dahin schaffe ich das schon selbst, das wäre doch gelacht.

Da ist es wieder, diese Wenn-dann-Logik. Auch sie ist Gesetz: »Wenn du alle Regeln in der Bibel befolgst, dann wird Gott dich lieben und du wirst glücklich sein. Wenn du dich 20 Kilo runterhungerst, dann wirst du schön sein und wert, geliebt zu werden und begehrt. Wenn du kein Auto mehr kaufst und nie wieder Fleisch, dann gehörst du zu den Guten und den Rettern der Welt. Wenn du jeden Tag Bibel liest und auch richtig wählst, dann bist du erweckt und erkennst die verborgenen Zusammenhänge der Welt. Wenn du nie wieder auch nur einen dunklen Gedanken mehr hast, rassistisch, sexistisch oder homophob, dann wirst du hochwürdig sein, andere Leute zu lehren, sich weg von Rassismus, Sexismus und Homophobie zu bekehren. Das Gesetz stellt immer Bedingungen. Wenn, dann! Und letztlich ist niemand da, der es perfekt machen kann. Sagt Paulus. So ist Gesetz. Es ist niemals genug. Zu tun gibt es immer. Es ist niemand gerecht.

Das Gesetz kann niemals retten. Das will es auch nicht, denn es funktioniert nach den Regeln der Logik. Und auch die Erfüllung des offenen Anspruches des Gesetzes vermag dies nicht zu tun. Denn unter dem Gesetz gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder Stolz oder Verzweiflung. Entweder macht es uns – ganz gleich, ob offensichtlich oder heimlich – stolz auf unsere Fähigkeit und unser Tun und Leisten im Vergleich mit anderen, oder wir verzweifeln an unserer Trägheit und der Unfähigkeit, alles perfekt zu machen. So oder so, es bindet und macht nicht frei. Es vermag nicht zu lösen. Und ich spreche hier nicht vom Recht. Das muss es geben und Normen ja auch. Um das Zusammenleben zu steuern und eine Richtschnur zu haben, wie das Miteinander gelingt. Aber das ist etwas anderes. Wie auch das Evangelium etwas anderes ist als die Erfüllung des christlichen Gesetzes.

Paulus sagt das im Römerbrief so: Wir sind jetzt durch Gottes Gnade gerecht. Aber ich lerne auch von ihm: Gnade ist nichts Weichliches. Herablassend oder jovial. Nein, Gnade ist eine ernste Sache. Es ist die unbeirrbare Zuwendung Gottes an uns Menschen. Wir sind durch diese Zuwendung, die persönlich im Glauben wirksam wird, gerettet, befreit und erlöst. Ja! Wovon? Vom Tod und all seinen Fratzen. Hier schon und auch drüben, im ewigen Licht. Das lernte Luther und er ging in den Streit. Um leuchten zu lassen, was Gott für uns tat, und nicht das, was wir tun, die wir feilschen und sammeln, um uns zu rühmen und selber zu feiern.

Das Evangelium von Jesus, dem Christus, ist kein Wenn-dann-Satz.

Das Evangelium ist kein Damals-als-Satz.

Das Evangelium ist die Geschichte Gottes mit uns, seinen Kindern.

Das Evangelium stellt klar, dass Gott sich nicht abwendet, auch wenn wir gegen unsere Geschöpflichkeit rebellieren und darauf bestehen, Richter und Erlöser – kurz: Gott – für uns selbst zu sein. Gott wendet sich auch nicht ab angesichts des menschlichen Misstrauens, das ihn zu unserem heimlichen Gegner macht, weil er uns ja irgendetwas vorenthalten könnte. Er wendet sich nicht ab und versucht, uns zu überzeugen, indem er in Jesus selbst menschlich wird. Das zeigt, wer und wie Gott wirklich ist. Gott lässt sich nicht abschrecken von der Feindseligkeit, die ihm entgegenschlägt, weil die Menschen an ihrem Wenn-dann-Versprechen festhalten wollen. Wie damals zu Jesu Zeiten, als die Menschen überzeugt waren: »Wenn die Römer erst mal aus dem Land gejagt sind – dann kommt das Reich Gottes.« Er ging sogar so weit, dass er die Konsequenz dieser Wenn-danns auf sich nimmt: »Wenn wir diesen Jesus erst mal beiseitegeschafft haben, dann sind wir wieder Herr im Ring.«

Und er spielt das tödliche Spiel mit, bis zum Ende, bis zum Schachmatt, wenn der König fällt. Und als er am Kreuz hing, das wir zimmerten, nicht mit gleicher Münze zurückzahlte und nicht sagte: »Wenn die Menschheit sich selbst erst mal ausgerottet hat, dann kann die Schöpfung sich erholen.« Nein! Um Verzeihung betet er. Um Nachsicht für uns. Weil wir nie wissen, was wir tun. Einst nicht und auch heute nicht.

Gott wendet sich nicht ab, obwohl wir alle sündigen und immer wieder fallen und uns in uns verkrümmt haben und vergessen wollen, es leugnen, dass wir zu Gott gehören, und keiner unserer Erfolge dies garantiert und keiner unserer Misserfolge dies zerstört. Gott rettet, er verurteilt nicht. Diese Wahrheit macht frei. Weil es bisher niemand jemals geschafft hat, sein ideales Selbst zu werden. Es bleibt eine Fata Morgana von Wasser auf Wüstensand, für das wir unsere ganze Energie aufbringen, um zu versuchen, den Durst nach Leben zu stillen, und es nichts bringt, außer, dass wir noch mehr Durst haben werden. Und verzweifeln. Und hassen.

Der Gott, der den Durst löscht, sagt Ja zu dir selbst. Ganz wirklich. Dein Ideal braucht er nicht. Denn das Ideal braucht auch ihn nicht. Den Gott, der heilt. Das Ich, zu dem Gott eine Beziehung aufbaut, ist dein wirkliches Ich, nicht das, was du musst oder sollst.

Gott wartet nicht, bis ich dünner bin oder vegan. Bis ich die Bibel draufhabe und makellos bin, bis ich mich selbst lieben kann. Das ideale Selbst ist nicht real. Ich bin. Du bist. Sie ist. Er auch und auch es. In all dem, was nicht stimmt und schräg ist und wehtut und stinkt. Das bin ich! Und obwohl ich bin, was ich bin, bin ich geliebt und genannt. Gerufen zu folgen, zu stillen den Durst. Nach Leben, nach Geltung, nach Wirkung und Sinn. Ein Sünder. Oh ja. Von oben bis unten, ganz und gar, durch und durch. Und auch ich bin ein Heiliger. Ich glaub es noch nicht. Ganz. Gott braucht mich nicht. Das weiß ich inzwischen. Und doch ruft er mich. Er sagt Ja. Gott sagt, ganz gleich wo wir sind und wie wir sind – das bedingungslose Ja.

Danach sehnt sich meine Seele. Danach verzehrt sich die ganze Welt. Nach diesem bedingungslosen, völlig unlogischen Ja – in und über dem Leben. Ich auch. Und so lang ich denken kann, haben Menschen zu mir Ja gesagt. Ein liebevolles Ja. Ja! Aber immer mit Bedingungen: Wenn du der Tante Helga artig die Hand gibst, dann bist du ein braver Junge. Wenn du gute Noten nach Hause bringst, dann bist du ein guter Schüler, wenn du das macht – dann – immer nur DANN.

Und auf einmal steht man vor einem Gott, der sagt: »Nein! Nicht wenn dann – sondern so wie du bist und da wo du bist, sag ich ein bedingungsloses Ja.«

»Aber Herr, du kennst …«

»Ich kenn dich besser als du selbst.«

»Aber weißt du, Herr, all die Abgründe. All meine Macken, Kratzer und Schrammen.«

»Ich kenn das alles.«

»Ich genüge den Geboten nicht.«

»Weiß ich.«

»Den Ansprüchen der Bergpredigt schon gar nicht.«

»Weiß ich.«

»Kennst du die Abgründe und die Perversionen in mir, die ich zu verbergen suche, Herr?«

»Kenn ich alles.«

»Und dazu sagst du Ja?«

»Und dazu sage ich Ja! Ich sag nicht ›gut‹, nein, aber ich sage Ja!«

Gewiss, das bedingungslose Ja der Liebe Gottes führt nicht in ein Weiterso. Als wäre die Gnade nur billiges Blech. Sie kostete alles. Das Leben. Den Tod. So führt diese Liebe dahin, dass sich im Leben was ändert. Es ist Gott, der verwandelt. Denn man kann Menschen mit Appellen und Geboten bestenfalls dressieren. Verwandeln kann man Menschen damit nicht. Ein Mensch wird verwandelt, wenn er unter die wärmende Liebe dieses göttlichen Ja kommt, wenn einer hören darf: »Du musst nicht mehr, niemand zwingt dich mehr und wenn dir alles misslingt: Ich stehe zu dir.« Dann wandelt sich Leben.

Ein Tisch mit viel Platz

Dies alles habe ich schon manchmal begriffen. In Kopf und Gemüt, im Leben an sich. Dass Gottes Ja ohne »Wenn«, ohne »Dann« steht. Und schon gar nicht mit »Aber«. Dass in den finstersten Stunden sein Licht glimmt und bleibt und in den größten Freuden er sich ausgelassen mitfreut. Dankbar. Total. Und doch mit viel Sehnsucht. Nach Einheit, nach Ganzsein, nach Fülle und Frieden. An einem Tisch gemeinsam zu essen, zu trinken, das Leben zu feiern. Die Bibel darauf. Das stell ich mir vor, im leeren Esszimmerraum, in dem bald mein Tisch stehen würde. Der große, schwere, geschenkt für viele.

Ich sehe den großen Tisch dort schon vor meinem inneren Auge stehen und bin auf einmal sofort wieder im Kloster Heiligenkreuz. Dem Ort tiefer Sehnsucht. Nach Gott. Wesentlich. Mit dem Abt war ein Projekt angedacht, das sich leider zerschlug. Über Grenzen hinweg. Im freien Flug.

Vor gut 500 Jahren verlor sich die Einheit der Kirche im Kloster, als Luther die Klarheit des Wortes erfuhr und als elender Sünder, von Gott freigeküsst, gerecht wird und heilig und wirklich geliebt, den Mut aufbrachte, sich den alten Wenn-dann-Geschichten in den Weg zu stellen. »Wenn du genug zahlst, dann kommen die armen Seelen deiner Lieben aus dem Fegefeuer.« Nicht sofort, aber etwas schneller. Daran zerschellte die brüchige Einheit. Weil die Einsicht in Rom fehlte, dass die Wenn-dann-Predigt Menschen bindet, sie knechtet und Gott völlig verzerrt. Ihn zum Dämon macht mit reißenden Zähnen, der eher Wunden zufügt, als sie selbst doch zu tragen. Kein Jesus. Kein Heiland. Nur Richter und Quäler. Es ging um nichts weniger als um das ewige Heil. Was ist mehr wert? Die Strukturen der Macht? Oder der unendliche Frieden? Daran hat sich Europa lange und blutig aufgerieben.

Damals wie heute war und bin ich überzeugt: Heute die Einheit wiederzufinden, geht nur im Gebet. Gemeinsam an einem Tisch, an dem wir uns betend an Gott und sein Wort binden, um genau hinzuhören, was der Geist den Gemeinden sagt. Das war auch die Idee des Projekts in Heiligenkreuz gewesen: aus dem Kloster die Einheit zu stärken. Miteinander. An einem Tisch. Aus unterschiedlichen Strängen der Geschichte. Und Neues zu lernen. Es wäre fast geglückt. Lutherische Zisterzienser. Doch die Zeit war noch nicht reif. Es tat in der Seele noch lange weh. Haben wir etwas versäumt? Einen Fehler gemacht? Ich kann es bis heute nicht sagen. Es ist, wie es ist.

Nachdem sich das Projekt in Heiligenkreuz zerschlagen hatte, schrieb ich eine Bewerbung an die Gemeinde in München und war nun statt in Heiligenkreuz hier in dieser Pfarrwohnung.

Ich stand am Fenster des Esszimmers. Schaute nach drüben zu dem Kirchturm. Fragte den Hausmeister ein zweites Mal, ob er wisse, wie die Kirche heißt. Halb in Gedanken bei den Gesprächen in Heiligenkreuz wenige Tage zuvor. Mit dem Nein dort und hier nun das Ja. Das alles in mir. In Hirn und in Herz.

Es wisse es nicht, habe es leider vergessen, sagte er leise. Und wir gingen hinaus. Er ließ mir die Schlüssel gleich in der Hand. Dass ich einziehen könne, wann immer ich wolle, um meine Zimmer mit den Möbeln, den Büchern und meinem Leben zu füllen. Ich fuhr mit ihm runter. Die Garage anschauen. Dann auf die Straße. Noch ein paar Höflichkeiten austauschen. Unter den Kastanien. Der rote Turm mit dem goldenen Doppelkreuz keinen Steinwurf weit weg. Die Sonne schien. Ganz viel Licht. Auch ihm ging eins auf. Er erinnerte sich. Die Kirche – und er zeigt mit dem Finger auf den backsteinroten, spitzen Turm mit der riesigen Uhr, dem grünspanigen Dach und dem goldenen Doppelkreuz, den ich von meinem Sofa und meinem Esstisch aus jeden Tag nun sehe – heiße Heilig Kreuz. Glaubt er.

Gott ist seltsam.

Und ich ging, kurz winkend, davon.

Beatrice von Weizsäcker

Dreh- und Engelpunkt

Er schenke dir, was dein Herz begehrt, und er erfülle all dein Planen.

(Ps 20,5)

Woher soll man wissen, was richtig ist und was falsch? Welche Entscheidung gut war und welche schlecht? Ob es nicht besser gewesen wäre, jenen Weg zu wählen statt diesen? Die Wahrheit ist: Man weiß es nicht.

Als ich vor fast zwanzig Jahren nach München zog, hatte ich viele Pläne. Berufliche, private, was einen halt so antreibt, von einer Stadt in die andere zu übersiedeln. Etliches hat sich erfüllt. Anderes nicht, so ist das Leben. Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, was mich erwarten würde.

Das Leben hat mir sehr viel geschenkt, seit ich hier bin. Und sehr viel genommen. Segen empfing mich. Aber auch Unglück. Freude und Leid. Leben und Sterben. Gottesferne und Gottes Nähe. Jesus als Mensch, als Vorbild, aber nicht als Immanuel, dessen Geburt der Prophet Jesaja angekündigt hatte. (Jes 7,14) Und Jesus als Christus, der leibhaftige Sohn Gottes. Der Messias.

München ist der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens. München wurde mein Engelpunkt.

Wie viel Zweifel braucht der Mensch?

Gottes Wege sind unergründlich. Das sagt sich leicht, doch es ist wahr. Ich hatte gute Gründe, nach München zu ziehen. Was kommen würde, wusste ich nicht. Es ist gut, dass man nicht in die Zukunft schauen kann. Denn wer weiß schon, was er tun würde, wenn er es wüsste.

Vielleicht hätte ich nichts anders gemacht. Vielleicht war ich bereit, mich dem Leben zu stellen, und gewappnet, mich ihm auszusetzen. Vielleicht hatte mich Gott zur rechten Zeit in diese Stadt geführt, die mir Heimat und Zuflucht wurde, die mir Menschen schenkte, ohne die ich nicht leben will; Menschen, die mir halfen, mit Unglück zu leben und trotz des Zweifels zu glauben. Die mir nah kamen und nah blieben. Die Freunde wurden. Und Freundinnen. München hat mich gelehrt, wie gut das Leben sein kann. Und wie gut es ist.

München hat mir das Leben aber auch von seiner dunklen Seite gezeigt. In seiner Endlichkeit und seiner Unberechenbarkeit, in seiner Ungerechtigkeit und Erbarmungslosigkeit, in seiner Flüchtigkeit und seiner Härte. Natürlich war vorher nicht immer alles gut. Aber jetzt geriet mein Leben aus den Fugen. Weil zwei meiner Brüder starben, seit ich hier lebe.

»Du bist im besten Sinne fromm«, schrieb mir eine Freundin, nachdem ich wieder Fuß gefasst hatte.

Ich und fromm?

Vielleicht. Denn in München lernte ich zu glauben, trotz meiner Zweifel. Und die waren stark gewesen. Und sehr mächtig.

Ich zweifelte an dem, was mir vorher selbstverständlich erschien. Ich verzweifelte am Leben und am Sterben, ich zweifelte am Sinn und am Glauben. Ich verzweifelte am Tod und an Gott. Weil ich nicht glauben konnte, was Gott zuließ. Weil ich nicht glauben wollte, dass er es tat. Ich zweifelte an Gott und an Jesus und auch daran, dass er rettet. Dass er den Tod überwunden hat, für uns. Denn an die Auferstehung glaubte ich nicht.

Mit der Zeit erfuhr ich, dass ich nicht allein war mit meinen Zweifeln. Dass selbst versierte Theologen und Pfarrerinnen den Zweifel kennen. Aus ihrem Mund klang nicht hohl, was sie sagten, klang es nicht nach Theorie; anders als so viele Predigten, die ich hörte. Weil auch sie das Leben kannten, das Werden und das Sterben. Das Leben und den Tod.

Die wohl wichtigste Erkenntnis – und sicher die größte Erleichterung dieser Zeit – war, dass meine Glaubenskrisen kein Versagen bedeuten, kein Versagen vor Gott. Denn solange ich zweifele, ist etwas da. Wenn ich zweifele, will ich es genauer wissen. Ob es stimmt. Oder was da ist. Wenn ich nicht glauben würde, insgeheim, hätte ich keine Zweifel. Solange ich also zweifele, glaube ich. Der Zweifel ist kein Fehler. Er ist Beleg meines Glaubens.

Das war mir neu, obwohl es logisch ist und mir hätte klar sein müssen. Weil ich ein Logikmensch bin.

Je stärker meine Zweifel waren, desto größer wurde mein Bedürfnis nach Gottes Nähe und Gegenwart. Es war, als wollte ich Gott zwingen, sich mir zu zeigen. – Oder war es vielleicht umgekehrt und Gott forderte von mir, mich zu ihm zu bekennen?

Es war wie ein Zweikampf, in dem ich zu Gott rief: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest. Und Gott erwiderte: Ich lasse dich nicht los, bis du dich segnen lässt.

Als seien wir beide Jakob, irgendwie.

Im Nebel der Gebete

Bis ich nach München zog, war Beten für mich kein Thema. Beten kann man immer, dachte ich leichthin. Der Herr ist mein Hirte – der Psalm geht jederzeit. Danke für diesen guten Morgen – das ist ein wundervolles Liedgebet. Das Vaterunser rauf und runter – ist Routine. Bitten, danken, beten, im Himmel und auf Erden, fertig. Nur das mit dem Vergeben und der Herrlichkeit in Ewigkeit ist so eine Sache. Aber, egal. Es sind ja bloß Sätze und tausendfach gesprochen. Und eh man sich’s versieht, ist man beim Amen angekommen.

Warum dann noch beten?

Wozu überhaupt beten, wenn Gott mich doch kennt; wenn er meine Gedanken bereits »von fern« durchschaut, »ob ich sitze oder stehe«; wenn er sogar »schon völlig erkannt« hat, was ich sagen will, bevor es mir einfällt und »das Wort auf meiner Zunge« ist? So heißt es doch im Psalm 139! Und dann steht da auch noch: Wie kostbar sind mir deine Gedanken, Gott! Wie gewaltig ist ihre Summe! Wie soll ich das toppen? Wie kann ich da überhaupt wagen zu beten? An Gottes Gedanken komme ich ohnedies nie heran.

Doch Beten ist kein Wettbewerb. Beten ist sich öffnen. Beten ist schweigen genauso wie reden. Beten kann sehen, singen und hören sein. Beten ist auch, wenn ich nicht weiterweiß. Manchmal fängt das Beten dann erst an.

Aber das lernte ich erst in München.

Beten beginnt, wo die Routine nicht mehr hilft, weil ich zu wütend bin, um Altbekanntes nachzubeten. Erst recht, wenn sich mein Zorn auch gegen Gott richtet und ich ihn anklagen will, wie Jeremia es tat:

Du hast mich betört, o HERR, und ich ließ mich betören; du hast mich gepackt und überwältigt. Zum Gespött bin ich geworden den ganzen Tag, ein jeder verhöhnt mich. Ja, sooft ich rede, muss ich schreien, Gewalt und Unterdrückung! muss ich rufen. Denn das Wort des HERRN bringt mir den ganzen Tag nur Hohn und Spott. Sagte ich aber: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen sprechen!, so brannte in meinem Herzen ein Feuer, eingeschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es auszuhalten, vermochte es aber nicht. (Jer 20,7–8)

Solche Wutgebete kenne ich gut.

Ist das überhaupt noch ein Gebet? Ich glaube schon. Denn wenn ich so verzweifelt bin, dass ich kein Blatt mehr vor den Mund nehme, dann will ich etwas von Gott. Dann will ich, dass er zuhört und mir hilft, dass er mich sieht und ernst nimmt, wie ich bin. Weil ich ihn ernst nehme und an ihn glaube. Und weil ich weiß, dass er mir helfen kann.

Wenn ich am Boden liege, hilft er mir wieder auf. Wenn ich im Finstern bin, ist Gott mein Licht. Er ist es, der mich hinausführt ins Licht. Er. Gott allein. Nicht ich.

Weil ich es nicht kann.

München hat mich gelehrt, dass Beten auch dort beginnt, wo die Routine nicht mehr weiterhilft, weil ich zu schutzlos bin und bestenfalls noch flehen kann. Wenn meine Sorgen überhandnehmen und mir nichts bleibt, nicht einmal Altbekanntes. Wenn ich im Nebel der Gebete stochere und dort nichts finde, das zu mir passt. Wenn ich erlöst werden will von meinen Zweifeln und die Gebete, die ich kenne, mein Herz nicht mehr erreichen. Wenn ich nur noch flehen kann: »Mein Gott!« und keine anderen Worte finde. Dann setze ich auf die Hoffnung, die Papst Franziskus einmal so beschrieb:

»Komm, komm Heiliger Geist, erwärme mein Herz. Komm und lehre mich, wie man betet; lehre mich, wie man auf den Vater schaut, auf den Sohn. Lehre mich, was der Weg des Glaubens ist. Lehre mich zu lieben – und vor allem lehre mich, eine Haltung der Hoffnung zu haben.«