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Warum ist Hannah Arendt heute die meistzitierte Philosophin und politische Theoretikerin? In ihrem Leben wie ihrem Werk wollte Arendt immer „ganz gegenwärtig“ sein und stellte sich der eigenen Zeit mit ihren dramatischen Umbrüchen und Abgründen. Der Ideenhistoriker und Arendt- Biograf Thomas Meyer folgt in diesem Band den Lebensstationen der Philosophin von Königsberg über Paris bis nach New York und verknüpft sie eng mit Arendts Schriften. Äußerst konzise stellt er ihre wichtigsten Werke vor und erschließt sie als Kommentare zur Zeitgeschichte. Es ist diese Gegenwärtigkeit, die Hannah Arendt für die ZeitgenossInnen des 21. Jahrhunderts so attraktiv macht.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Thomas Meyer
HANNAH ARENDT
Die Denkerin des 20. Jahrhunderts
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
I. Die Denkerin des 20. Jahrhunderts
II. Herkunft, Studium, erste Schriften (1906–1933)
Königsberg
Marburg
Heidelberg
Der Liebesbegriff bei Augustin
Frankfurt/Berlin
Rahel Varnhagen
III. Exil (1933–1954)
Paris – Jugend-Aliyah – Rettung (1933–1941)
Die ersten Jahre in den USA (1941–1954)
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
Zur Entstehung
The Origins of Totalitarianism
Die deutsche Fassung und die Kritiker
IV. Etablierung (1955–1970)
Die Pendlerin – Freundschaften
Die Lessing-Rede
Vita activa oder Vom tätigen Leben
Zur Entstehung
Arbeiten, Herstellen, Handeln
Über die Revolution
Chicago
Eichmann in Jerusalem
V. Ausklang (1971–1975)
Macht und Gewalt
Life of the Mind
Anhang
Zeittafel
Literaturverzeichnis
Nachlass
Studienausgabe
Weitere Schriften Hannah Arendts
Briefwechsel
Bibliografie
Biografien, Einführungen, Sammelbände, Überblicksdarstellungen
Forschungsliteratur
Bildnachweis
Personenregister
Zum Buch
Vita
Impressum
Als im Oktober 1981 die New York University anlässlich von Hannah Arendts 75. Geburtstag eine dreitägige internationale Fachtagung abhielt, war das öffentliche Interesse enorm. Mehr als 500 Besucher täglich zählte die New York Times im Schimmel Auditorium. Im Jahr darauf erschien die Biografie Hannah Arendts von ihrer Schülerin Elisabeth Young-Bruehl, deren Untertitel rasch zu einer stehenden Redewendung wurde: «For Love of the World».
Mit der Konferenz und der Biografie «Aus Liebe zur Welt» begann das öffentliche Nachleben der politischen Theoretikerin und Philosophin Hannah Arendt, die am 14. Oktober 1906 in Linden bei Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 an einem Herzinfarkt in New York verstorben war. Seitdem gibt es einen nicht abreißenden Strom von Artikeln, Büchern, Filmen, Radio-Features und Theaterstücken über sie. In allen geisteswissenschaftlichen Fächern und auf allen Kontinenten diskutiert man über Arendts Ideen und Thesen. Es reicht, die «Banalität des Bösen», das «Denken ohne Geländer» oder die «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» zu erwähnen, und nahezu jeder weiß, wer und was gemeint ist.
Ideen und Thesen gehören nach Arendt aber nicht zu einem luftleeren Raum der Theorie, sondern müssen sich an der jeweiligen Gegenwart bewähren. Und so waren es häufig ihre Überlegungen, mit denen man den Fall der Berliner Mauer vom 9. auf den 10. November 1989, die terroristischen Anschläge am 11. September 2001 und den sich anschließenden Krieg der Vereinigten Staaten gegen den Irak, Donald Trumps Wahl zum 45. Präsidenten der USA 2016 oder den mit Russlands Angriff im Februar 2022 eskalierenden Krieg gegen die Ukraine zu verstehen suchte. Arendts Analysen und Diagnosen wurden und werden dabei wie selbstverständlich von ExpertInnen zitiert, als sei Arendt eine Zeitgenossin und als seien ihre Überlegungen für unsere Gegenwart geschrieben.
Ihre Kritiker dagegen warfen Arendt bereits zu Lebzeiten vor, dass sie gedanklich im antiken Athen oder Rom stehen geblieben sei, einer wirklichkeitsfremden Scholastik fröne und überhaupt für die realen politischen Verhältnisse, etwa für die Verletzung der Rechte von Schwarzen, den fortwährenden Kolonialismus und die Expansionsgelüste der USA, keinerlei Sensorium habe. Hatte die New York Times im Oktober 1981 doch nicht recht, als sie ihren Artikel über Arendt mit «Die Feindseligkeit schwindet» überschrieb?
Fest steht jedenfalls, dass Arendt für viele die Denkerin des 20. Jahrhunderts ist, sei es im positiven, sei es im negativen Sinne. Für ihre Weggefährten und viele spätere LeserInnen ist sie es sogar in doppelter Weise: Arendt stand in ihren Augen bei aller Liebe zu Athen, Rom und der deutschen Philosophie mit beiden Beinen in ihrer eigenen Zeit, als Denkerin, die das 20. Jahrhundert zum Gegenstand ihres Nachdenkens machte. Ihr umfangreiches Werk wurde daher als ein einziger Kommentar zur Entstehung und zu den Folgen jener epochalen Umbrüche begriffen, die in ihre Lebenszeit fielen.
Für die seit dem fünften Lebensjahr in Königsberg lebende Jüdin waren die zentralen persönlichen und politischen Erfahrungen die Machterteilung an die Nationalsozialisten 1933, die Verhaftung und Flucht nach Paris im selben Jahr, die Arbeit in der «Kinder- und Jugend-Aliyah» von 1934 bis 1939, die Internierung im französischen Lager Gurs 1940, die erneute Flucht und schließlich im Mai 1941 die Rettung von Lissabon nach New York sowie das dortige Leben während des Kalten Krieges bis zu ihrem Tod 1975. Diese Erfahrungen glich Hannah Arendt mit ihrer politischen Theorie ab. Ja, unter den bedeutenden PhilosophInnen und politischen TheoretikerInnen des 20. Jahrhunderts hat sich niemand so intensiv und auf so innovative Weise mit der eigenen Gegenwart beschäftigt wie sie. Man kann sagen, dass Arendts ganzes Denken ihrer bewussten Zeitgenossenschaft entstammt.
Wenn die folgende Darstellung von Arendts Werk sich an deren prägenden Erfahrungen orientiert, dann kann sie sich dafür auf die Denkerin selbst berufen. In dem ikonisch gewordenen ZDF-Gespräch mit dem Journalisten Günter Gaus sagte sie im September 1964 unter anderem: «Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.» Diese Äußerung fasst ihr Werk überzeugend zusammen. In der Einleitung zu der englischen Textsammlung Between Past and Future (1961) hat Arendt ihre Reflexionen zum Verhältnis zwischen Leben und Werk systematisiert. Darin dachte sie über die Frage nach, wie sich die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer Biografie darstellen lasse. Die Person, die im Zentrum der Biografie stehe, müsse vom Denken ins Handeln und vom Handeln wieder zurück ins Denken gefunden haben. Der «Aufruf», der vom Handeln ins Denken führe, so Arendt, finde in einer «seltsamen Zwischenzeit» statt, «die sich manchmal in die historische Zeit einfügt, wenn nicht nur die späteren Historiker, sondern auch die Akteure und Zeugen, die Lebenden selbst, sich einer Zeitspanne bewusst werden, die ganz bestimmt ist von Dingen, die nicht mehr sind, und von Dingen, die noch nicht sind. In der Geschichte haben diese Intervalle mehr als einmal gezeigt, dass sie den Moment der Wahrheit enthalten können.» (Arendt, Between Past and Future, 9)
Diese Bemerkungen verweisen direkt auf Arendts Lebens- und Denkweg. Denn die 1929 bei Karl Jaspers in Heidelberg promovierte Philosophin floh als Pariser Exilantin aus dem Denken in die praktische Arbeit, indem sie bei der «Kinder- und Jugend-Aliyah» anheuerte. Ab 1941 fand sie in den USA zurück ins Denken und schrieb ihr erstes Hauptwerk, die 1951 veröffentlichten Origins of Totalitarianism und die vier Jahre später erschienene deutsche Ausgabe Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Als sie sich Mitte der vierziger Jahre in leitenden Funktionen der «Jewish Cultural Reconstruction» anschloss, die sich vornehmlich der Rettung jüdischer Kultgegenstände und Bibliotheken in Europa widmete, war es keine Flucht mehr aus dem Denken, vielmehr eine bewusste Entscheidung, in die praktische Arbeit zurückzukehren, um anschließend wiederum diese Erfahrungen in ihr Denken integrieren zu können. In der Folge setzte sie ihr zweites großes Vorhaben um: die Entwicklung einer politischen Theorie und die Neubestimmung ihrer leitenden Begriffe, die sich beide dem Zweiten Weltkrieg, der Vernichtung des europäischen Judentums, dem Sowjetkommunismus und damit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu stellen hatten. Von all dem wird im Folgenden die Rede sein.
Johanna Arendt, so der Name in ihren Papieren, wurde am 14. Oktober 1906 in Linden bei Hannover geboren. Ihre Eltern, Martha Arendt geborene Cohn und Paul Arendt, stammten beide aus Königsberg und kannten sich von Kindesbeinen an. Der Vater, seit seiner Jugend Sozialdemokrat, gehörte zum Freundeskreis von Joseph Bloch, der ab 1895 bei der neugegründeten Zeitschrift Der sozialistische Akademiker mitarbeitete und sie ab 1897 in alleiniger Verantwortung als Sozialistische Monatshefte herausgab. Paul Arendt engagierte sich anfangs bei der Zeitschrift, konzentrierte sich dann aber auf sein Studium der Elektrotechnik in Königsberg und Berlin, das er zügig als Ingenieur abschloss. Bei einer Spezialfabrik für elektronische Großgeräte und Heizungsanlagen in Linden stieg er rasch zum Oberingenieur mit Prokura auf. Martha Cohn und er wurden während dieser Zeit ein Paar und heirateten 1902 in Königsberg.
Mutter und Kind: Martha Arendt geb. Cohn mit ihrer sechsjährigen Tochter Johanna, genannt Hannah
Kurz nach Hannah Arendts Geburt erkrankte Paul so schwer, dass eine Fortsetzung seiner Arbeit unmöglich wurde. Die Familie zog daher 1911 nach Königsberg. Zwei Jahre später starb Paul, im selben Jahr wie sein Vater Max Arendt, Hannahs Großvater. Der observante, patriotische und antizionistische Max hatte die Grundlage für die gutsituierten Verhältnisse gelegt, in denen die junge Hannah aufwuchs. Denn er hatte die Geschäfte seines Vaters Aron Arndt (sic!), der in den späten 1840er Jahren nach Königsberg übersiedelt war, weiter ausgebaut und war zugleich in der Stadtgesellschaft wie in jüdischen Einrichtungen politisch aktiv gewesen. Wenn die Arendts auch nicht zu den ältesten jüdischen Familien Königsbergs gehörten, so doch zu denen, die man spätestens seit den 1870er Jahren kannte, über die die Zeitungen berichteten und die Teil der aufstrebenden bürgerlichen Stadtgesellschaft waren.
Der doppelte Verlust dürfte die Schülerin Hannah Arendt geprägt haben. Es folgten mehrere Schulwechsel, einer davon vermutlich wegen antisemitischer Attacken seitens eines Lehrers. Ostern 1924 legte Hannah Arendt als Externe das Abitur an einem protestantisch-humanistischen Jungengymnasium ab. Kurz darauf verließ sie Königsberg Richtung Marburg.
Als sich Arendt im Sommersemester 1924 in Marburg immatrikulierte, war sie bereits einmal an einer Universität eingeschrieben gewesen: Im Jahr zuvor hatte sie ein Semester in Berlin bei dem katholischen Theologen Romano Guardini gehört und bei dem Gräzisten Richard Harder ihre Altgriechisch-Kenntnisse erweitert. Dass sie nach dem Abitur nach Marburg ging, hatte mit ihrem Freundeskreis zu tun, aus dem sie über einen Philosophen wahre Wunderdinge hörte: einen Revolutionär, der, wenn auch nicht immer nachvollziehbar, die Philosophie aus den Sackgassen der bloßen Gelehrsamkeit führen wolle. Es war Martin Heidegger, der, von Freiburg kommend, seit 1923 in Marburg lehrte und dort rasch einen großen Kreis von alten und neuen SchülerInnen um sich versammeln konnte. Über Neulektüren von Platon, Aristoteles, mittelalterlichen Autoren wie Augustin und Thomas von Aquin, aber auch neuzeitlichen Denkern wie Martin Luther, Leibniz und Kant versuchte Heidegger, die angeblich verlorengegangene ontologisch-metaphysische Grundlegung der Philosophie wiederzugewinnen.
Heidegger war alles andere als ein typischer Vertreter seiner Zunft, im Gegenteil. Er stammte aus kleinbürgerlichen katholischen Verhältnissen und hatte eigentlich Jesuit werden wollen. Jetzt war er Professor in Marburg, wenn auch noch kein Ordinarius, und verheiratet mit einer Protestantin. Von seinen zwei Söhnen war einer ehelich, einer nicht, wurde dann aber adoptiert. Heidegger galt als durchsetzungsfähig und willensstark, ausgestattet mit einem enormen Selbstbewusstsein. Sein Ziel war, Philosophie unabhängig vom neuen, tief verachteten demokratischen Staat zu betreiben, ganz auf die «Sachen» konzentriert. Für Heidegger war Philosophie kein Fach neben anderen, sondern ein Auftrag: die Wiedergewinnung eines ursprünglichen Verstehens der Welt und der Grundstruktur der menschlichen Existenz, die er «Dasein» nannte. Heidegger erschien nicht wenigen als ein Entschiedenheitsvertreter, der sich der Restituierung des Denkens als einziger Verpflichtung des Philosophen verschrieben hatte. Das war das Programm, dessen Entwicklung Hannah Arendt ab dem Mai 1924 in Marburg, zunächst in einer Vorlesung über Platons Sophistes, verfolgte.
Dass Arendt eine kurze Beziehung zu Heidegger hatte, die zumindest von seiner Seite keineswegs exklusiv war, ist eine Tatsache, mehr aber nicht. Bei Heidegger lernte Arendt das genaue Lesen und profitierte von seinen Auseinandersetzungen mit dem bedeutenden protestantischen Theologen Rudolf Bultmann, bei dem ihr Freund Hans Jonas studierte und schließlich auch promovierte. Jonas und die etwas älteren Hans-Georg Gadamer, Gerhard Krüger, Karl Löwith und Leo Strauss, um nur die bekanntesten Namen unter Heideggers Schülern zu nennen, versuchten in ihren Dissertationen und Habilitationen, den Gegensatz von Antike und Moderne mit dem von Philosophie und Theologie ins Gespräch zu bringen. Arendt dagegen war ganz ins Studium der klassischen Texte vertieft.
Doch es kam nicht nur auf das genaue Lesen an, die Konzentration richtete sich auf die immanente Lektüre der Texte. Nicht der Kontext, nicht die geistes- und ideengeschichtlichen Zusammenhänge, die Frage nach Vorläufern oder Nachfolgern der jeweiligen Autoren waren wichtig. Diese Kenntnisse waren die Voraussetzung, um zum Kern der Argumente vorzudringen. Die Texte der «Vergangenheit» wurden dabei zu Gesprächspartnern, mit ihnen wurde öffentlich verhandelt, ob das, was man dank ihrer verstanden hatte, zum Weiterdenken führte. Dabei galt es, die Maßstäbe der Lektüre offenzulegen. Heidegger nannte sein Verfahren «Destruktion», ein Durchstoß durch die Patina der Tradition hin zum Eigentlichen. Arendt hat sich diese Radikalität nie zu eigen gemacht. Ihre Deutungen vereinen, wie noch zu sehen sein wird, die Kenntnis der klassischen Philosophie mit der Improvisation und Provokation, die notwendig geworden waren, nachdem die Traditionen mit den modernen Totalitarismen ihre verbindend-verbindliche Autorität verloren hatten.
Heidegger wird nach 1945 wieder eine bedeutende Rolle in Arendts Leben und Werk spielen. Doch im Unterschied zu anderen Denkern wird sie keine eindeutige Position zu ihm beziehen.