Hannah Arendt und Heinrich Blücher - Barbara von Bechtolsheim - E-Book

Hannah Arendt und Heinrich Blücher E-Book

Barbara von Bechtolsheim

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Beschreibung

1936 lernen sich Hannah Arendt und Heinrich Blücher im Exil in Paris kennen. Vier Jahre später heiraten sie und finden aneinander eine geistige und menschliche Heimat.

Unterschiedlicher kann ein Ehepaar wohl kaum sein: Arendt aus bildungsbürgerlich-jüdischem Elternhaus, Studentin bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, schließlich streitbare Denkerin, die bis heute Kontroversen auslöst. Blücher hingegen aus proletarischen Verhältnissen, der als Professor der Philosophie bei Studenten und Kreativen einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Miteinander waren sie fast unzertrennlich, über dreißig Jahre lang haben sie sich Anregungen gegeben, gestritten, einander vertraut und Freundschaften mit Künstlern, Literaten und Philosophen gepflegt. Ihre Erfahrungen als Flüchtlinge und Immigranten blieben für das politische Denken und Handeln des Ehepaars Arendt-Blücher bestimmend.

Neben Briefen und Schriften des Paares bezieht Barbara von Bechtolsheim in dieser reich bebilderten Doppelbiografie Gespräche mit Zeitzeugen sowie die Vorlesungen Blüchers ein und vermittelt damit einen Eindruck von der philosophischen Werkstatt inmitten des prickelnden New York der Nachkriegsjahre bis hin zu Arendts Berichterstattung über den Eichmann-Prozess.

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Seitenzahl: 271

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Cover

Titel

Barbara von Bechtolsheim

Hannah Arendt und Heinrich Blücher

Biografie eines Paares

Insel Verlag

Impressum

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eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2023.

© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagfoto: Fred Stein, © Fred Stein Archive

eISBN 978-3-458-77642-0

www.suhrkamp.de

Widmung

Für A. Douglas Stone

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Kapitel 1. Auftakt –

»Zwischen zwei Menschen entsteht manchmal, wie selten, eine Welt.«

Kapitel 2. Die Flüchtlinge –

»Also legen wir großen Optimismus an den Tag«

Kapitel 3. Die Anfänge –

Kindheit und Jugend in Ostpreußen und Berlin

Kapitel 4. Die Liebenden –

»Die Möglichkeiten des verstehenden Herzens«

Bildteil 1

Kapitel 5. Die Handelnden –

»in der gemeinsam gegebenen Welt«

Kapitel 6. Die Denkenden –

»Denken ohne Geländer«

Kapitel 7. Liebesleben –

»Liebe ist ein Ereignis, aus dem eine Geschichte werden kann oder ein Geschick.«

Bildteil 2

Kapitel 8. Die Freunde –

»… in der Welt beheimatet durch Freundschaft …«

Walter Benjamin

Karl Jaspers

Robert Gilbert

Alfred Kazin

Helen und Kurt Wolff

Hermann Broch

Randall Jarrell

Kapitel 9. Die Veränderer –

»Die Freiheit, sich an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen«

Anmerkungen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Literaturverzeichnis

Primärquellen

Sekundärquellen

Internetquellen

Medien

Bildnachweis

Personenregister

Informationen zum Buch

Vorwort

Die Hannah-Arendt-Forschung boomt, und es mag verwegen erscheinen, der Vielzahl von Arbeiten über Hannah Arendt noch etwas hinzufügen zu wollen. Allein über ihr Buch Eichmann in Jerusalem sind mehr als tausend Publikationen erschienen. Dieses Werk hat die Diskussion über die Verantwortung für den Holocaust in Deutschland, USA und Israel angefeuert. Hannah Arendt gehört zu den einflussreichsten philosophischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Die Aktualität ihres Werkes nimmt zu, ihr Denken löst bis heute kontroverse Debatten aus. Der monumentalen Größe und der Rezeption ihres Werkes möchte ich mit meinem Buch einen Aspekt hinzufügen.

Mein Interesse gilt der philosophischen Werkstatt Hannah Arendts und ihres Ehemanns Heinrich Blücher. Über dreißig Jahre lang haben sie sich Anregungen gegeben, miteinander gestritten, einander vertraut. Der Blick gilt den Ähnlichkeiten und Unterschieden ihrer Lebenswege, ihres Bildungshintergrunds, ihres Wirkens und Denkens sowie der Dynamik ihrer Beziehung. Miteinander waren sie ein fast unzertrennliches Paar, bereichert durch die Verschiedenheit ihres Temperaments und ihrer Erfahrungen.

Als Intellektuelle war Hannah Arendt zweifellos einflussreicher als Heinrich Blücher. Sie hat das Denken der deutschen Philosophie verändert und wird bis heute weltweit rezipiert, er hat bei vielen seiner Studenten am Bard College und bei Kreativen in seiner Umgebung einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. In diesem Buch soll beleuchtet werden, wie sie sich unterstützt und beeinflusst haben und aneinander gewachsen sind, auch an Spannungen und Auseinandersetzungen. Dem Einfluss seines Denkens und seiner Persönlichkeit auf ihr Werk wurde bisher kaum Beachtung geschenkt. Hier soll ein Beitrag geleistet werden, diese Lücke zu schließen.

Da meine Aufmerksamkeit der Begegnung der beiden in ihrer Paarbeziehung gilt, erscheint es mir stimmig, über sie weitgehend mit ihrem Vornamen zu sprechen, so wie sie sich gegenseitig in ihren Briefen anreden und wie die meisten Freunde sie angesprochen haben. Darüber hinaus ist das Buch in dem kulturellen Umfeld entstanden, in dem Arendt und Blücher die wesentliche Zeit ihres gemeinsamen Lebens verbrachten, an der Ostküste der Vereinigten Staaten, wo man sich grundsätzlich mit dem Vornamen anspricht, auch im beruflichen Kontext. Mit dieser stilistischen Entscheidung bleibt meine Hochachtung vor den mutigen, klugen, geistreichen, schöpferischen Persönlichkeiten, den Wegbereitern eines neuen, oftmals zu Kontroversen anregenden Denkens unverändert bestehen, ich fühle mich ihrer beider Lebensleistung in Respekt verpflichtet.

New Haven, August 2022

Kapitel 1

Auftakt – »Zwischen zwei Menschen entsteht manchmal, wie selten, eine Welt.«

»Liebste, ich bitte Dich: kauf' Dir den Pelz. Liebe Freundin, ich rate Dir dringend, Dir diesen Pelz zu kaufen. Liebe Frau, kaufe sofort einen Pelz …« Wenige Zeilen später wendet sich dieser Rat zum Erwerb eines winterlichen Luxusartikels assoziativ: »Eins ist sicher: in der kalten Jahreszeit kann ich Dir keine Reise mehr gestatten, denn es ist das Recht des Mannes, sich an seiner Frau zu wärmen – so sprach Jehova wahrscheinlich zu Adam.«1 Schade, dass eine solche Briefstelle nicht im Briefwechsel veröffentlicht wurde, vielleicht zu privat oder nicht der Intellektualität entsprechend, für die dieses Paar bekannt ist. Begeisterung und Sinnlichkeit kennzeichnen diese furiose Korrespondenz – immer im Wechsel mit den intellektuellen Fäden, die sie enthält.

Heinrich Blücher wirbt hier galant um die gut aussehende, gebildete und faszinierende Hannah Arendt, und er sieht in ihr schon jetzt die Grande Dame, die nicht nur gern gehört, sondern auch gern gesehen wird.

Zu Anfang besucht er sie in ihrer beengten Unterkunft in der Emigrantenmetropole Paris. Hannah Arendt hat eine besondere Ausstrahlung: Auf den Fotos der frühen Jahre sehen wir ihre ebenmäßigen Gesichtszüge, das schwarze Haar gescheitelt und zurückgebunden, ein ruhiger, konzentrierter, immer nachdenklicher Blick. Sie legt Wert auf damenhafte Kleidung. Wie ihr seit Jugendjahren bewusst ist, sieht sie jüdisch aus, und dies verleiht ihr einen gewissen Zauber. Nie sieht man sie ohne ihre Zigarette, die ihr bei allem akademischen Ernst etwas Bohèmehaftes gibt. Seit ihren Jungmädchenjahren versammelt sie die Intellektuellen um sich und steht im Mittelpunkt philosophischer Debatten. Sie setzt durchaus ihre weiblichen Reize ein, um bestimmte Gesprächspartner für sich einzunehmen.

Einer Anekdote zufolge lädt sie anfangs zum Abendessen auch ihren Hebräisch- und Jiddischlehrer Chanan Klenbort ein, um mit »Monsieur« nicht allein zu sein. Aber diese Vorsichtsmaßnahmen währen nicht lang. Sie finden aneinander eine geistig-sinnliche Faszination, die sich für die Nachwelt in den Briefen sowie in ihren Schriften erhalten hat. Er flaniert unter dem Namen Heinrich Larsen, seinem Deckdamen bei der KPD, durch die Passagen von Paris. Er hat keine Ausweispapiere bei sich und verheimlicht seine kommunistische Vergangenheit. Er trägt Anzug, Hut und Spazierstock, raucht Pfeife und später Zigarren und gibt sich dandyhaft. Seinen richtigen Namen übersetzt er ins Französische: Seine Postkarten an Hannah weisen als Absender Henri Blucher auf. Seiner selbstironisch gewählten Berufsbezeichnung »Drahtzieher« macht er alle Ehre. Konspiration und Gefahr in seiner kommunistischen Umtriebigkeit gefallen ihm – und verleihen ihm zusätzlich etwas Verführerisches. Hannah gibt ihm den Kosenamen »Monsieur«.

Paris 1936, Exil und Heimat für die jüdischen Intellektuellen nach ihrer Flucht aus Deutschland, solange sie hier geduldet werden. Logieren in billigen Hotels, Flanieren durch die Passagen der Metropole. Die habe sich – so Hannah Arendt in ihrem Essay über Walter Benjamin2, den sie Benji nennt und mit dem sie und Heinrich gern Schach spielen – »mit einer Selbstverständlichkeit ohnegleichen seit Mitte des vorigen Jahrhunderts allen Heimatlosen als zweite Heimat angeboten. Weder die ausgesprochene Fremdenfeindlichkeit der Bewohner noch die ausgeklügelten Schikanen der einheimischen Fremdenpolizei haben daran je etwas zu ändern vermocht.«3 Die jungen Liebenden genießen das neue Zuhause, oder besser die Zwischenstation, als »ein großzügig gebautes und geplantes Interieur in freier Luft, über dem das Himmelsdach sinnfälligste Realität wird«.4 Die Wohnverhältnisse sind bescheiden, nichts Dauerhaftes, so dass die Stadt Paris einen romantischen Raum fürs Spazieren, Philosophieren und Flirten bieten muss. »In Paris fühlt sich der Fremde heimisch, weil man diese Stadt bewohnen kann wie sonst nur die eigenen vier Wände. Und wie man eine Wohnung nicht dadurch bewohnt und wohnlich macht, dass man sie benutzt – zum Schlafen, Essen, Arbeiten –, sondern dadurch, dass man sich in ihr aufhält, so bewohnt man eine Stadt dadurch, dass man es sich leistet, ziel- und zwecklos durch sie zu flanieren, wobei der Aufenthalt durch die zahllosen Cafés gesichert ist, welche die Straßen flankieren und an denen das Leben der Stadt, die Flut der Passanten, vorbeizieht.«5 Rückblickend vergleicht sie diese Kulisse ihrer jungen Beziehung mit dem späteren gemeinsamen amerikanischen Exil: »In der Öde amerikanischer Vororte oder auch den Wohnbezirken der Großstädte, wo das gesamte Straßenleben sich auf der Fahrbahn bewegt und man auf den zu Fußsteigen zusammengeschmolzenen Trottoirs oft kilometerweit nicht einem Menschen begegnet, hat man das genaue Gegenteil von Paris vor Augen.«6 In diesem frühlingshaften Paris lernen sie sich kennen, und zwar in einem Café in der Rue Soufflot, in dem der Philosoph Walter Benjamin gern weilt. Dessen Wohnung in der Rue Dombasle 10, Rive Gauche, unweit von Hannah Arendts wechselnden Hotelzimmern, entwickelt sich zum Treffpunkt namhafter Emigranten, die sich hier in ihrer jeweiligen Exilerfahrung eine geistige Heimat einrichten. Zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen bildet sich ein Freundeskreis, in dessen Mittelpunkt bald das junge Paar steht. Französische Politik, deutsche Philosophie und Literatur sind ihre Themen. In der Rückschau wird der langjährige Freund Hans Jonas, den Hannah seit 1924 aus ihrer Marburger Studienzeit kennt, in seiner Trauerrede ihr »Genie der Freundschaft« würdigen. Zu den Freunden gehören der bereits erwähnte Chanan Klenbort, der ebenfalls aus Berlin emigrierte Psychoanalytiker Fritz Fränkel, dem wir zusammen mit Heinrich noch begegnen werden, der Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit, der ebenfalls wegen ihm drohender Verhaftung nach Paris emigriert ist, sowie der aus kommunistischen Berliner Kreisen mit Heinrich befreundete Maler Carl Heidenreich, der wegen seiner als entartet deklarierten Kunst und seiner kommunistischen Aktivitäten zur Flucht gezwungen wurde. In diesem jüdisch-marxistisch-philosophisch geprägten Raum der Begegnungen übt man sich im Dialog, jener für Arendt und Blücher so zentralen und wegweisenden Art des Denkens. Man bemüht sich, gemeinsam zu verstehen, wie es geschehen konnte, dass alle Tradition an ein Ende gekommen zu sein scheint.

Dass Hannah Arendt und Heinrich Blücher so schnell zueinanderfinden, mag erstaunen, denn sosehr sie sich in dem Bedürfnis nach geistiger Auseinandersetzung und Unabhängigkeit einig sind, so verschieden ist doch ihre Herkunft: sie die brillante Philosophin aus gutbürgerlichem jüdischem Hause, die sich nicht als Philosophin verstehen mag und mit ihren siebenundzwanzig Jahren einige Lebenserfahrung besitzt, und der vierunddreißigjährige Mann der Tat, der ein deutscher Philosoph hatte werden wollen und durch die verpasste Chance einer Revolution ernüchtert ist. Doch genau an dieser Stelle ergänzen sich die Theoretikerin und der Praktiker in ihrem Anliegen, sich auseinanderzusetzen und aktiv am Weltgeschehen zu beteiligen. Im Zwiegespräch entfaltet sich ein poetisches Denken, das tatsächlich paradigmatisch Neues eröffnet. Sie müssen einander aufmerksam zugehört haben, so wie sie auch in ihren Briefen immer gegenseitig auf die Gedanken und Berichte des anderen eingehen. Freunde berichten, dass sie gerade das kontroverse Diskutieren genießen konnten, sie kamen ja von sehr verschiedenen Standpunkten zusammen, aber diese Wortgefechte gehörten wohl zur wachsenden Leidenschaft und befeuerten diese noch.

Beim Flanieren durch die Passagen von Paris lassen sie sich von endlosen Gesprächen beflügeln und begründen ihre produktive intellektuelle Werkstatt, in der sich ein gewisser Alltag einspielt. Es gibt auch das Glück der Selbstverständlichkeit, die Rücksicht auf jeweils unterschiedliche Bedürfnisse, Zeiten am Schreibtisch und Zeiten im Sessel. Wenn Hannah morgens bei reichlich Kaffee und einem ausgedehnten Frühstück ihrer gewöhnlich melancholischen Stimmung nachhängt, ehe sie dem Tag gewachsen ist, hat er gelegentlich keine Lust mehr auf diese düstere Laune und verzieht sich wieder ins Bett, um ein Schläfchen zu halten.

Von ihrer politischen Arbeit lässt Hannah sich nicht ablenken und reist kurz nach dem Kennenlernen im August 1936 zum Jüdischen Weltkongress nach Genf. Heinrich bleibt indessen im regnerischen Paris und schreibt ihr sehnsuchtsvolle Briefe. Ihren wiederholten Reisen haben wir die umfangreiche Korrespondenz zu verdanken, in der sich das Miteinander-Denken entfaltet. Auch die Gefühle der beiden zueinander dokumentieren die Briefe jener ersten Wochen. »Liebster, ich glaub', ich liebe Dich. Im Ernst. Und sehe langsam, sehr langsam ein, dass es gegen die Liebe keine Gründe geben sollte. / Wenn ich nur nicht so verflucht gute Gründe hätte …«7, schreibt sie ihm aus Genf, wo sie sich seit etwa zwei Wochen aufhält. Ein paar Tage später fügt sie hinzu »Dass ich Dich liebe – das hast Du schon in Paris gewusst, wie ich es wusste. Wenn ich es nicht sagte, so weil ich Angst hatte vor den Konsequenzen. Und was ich heute dazu sagen kann, ist nur: Wir wollen es versuchen – um unserer Liebe willen. Ob ich Deine Frau sein kann, sein werde, weiß ich nicht. Meine Zweifel sind nicht weggepustet. Auch nicht die Tatsache, dass ich verheiratet bin …«8 Noch ist Hannah mit ihrem ersten Ehemann, Günther Stern, verheiratet, auch wenn sich die Beziehung auseinandergelebt hat und er im Juni 1936 in die USA emigriert ist. Auf die Reise nach Genf hat Heinrich Hannah einen Band mit Gedichten von Goethe mitgegeben, so dass sie sich beide auf jenen Dichter beziehen können, der sich in Liebesdingen auskannte. Offenbar hat Heinrich schon bemerkt, dass Hannah sich in ihrem Denken und in ihren Entscheidungen gern von der Literatur führen – und verführen – lässt. Spontan, humorvoll, unmittelbar und explizit mündlich ist der Stil der Korrespondenz, gelegentlich werden Goethe oder Herder zitiert, dann geht es wieder um die gemeinsamen Freunde und natürlich um das Zeitgeschehen, um die Juden, um die Kultur.

Auch im folgenden Sommer hält Hannah sich wieder in der Schweiz auf, indessen zählt er die Tage ihrer Abwesenheit und kämpft um sie, bis sie irgendwann merkt, dass ihr etwas fehlt, wenn seine Briefe nicht eintreffen. Endlich versichert sie dem ungeduldig auf sie und ihre Post wartenden Heinrich: »Und als ich Dich dann traf, da hatte ich endlich keine Angst mehr – … Immer noch scheint es mir unglaubhaft, dass ich beides habe kriegen können, die ›große Liebe‹ und die Identität mit der eigenen Person. Und habe doch das eine erst, seit ich auch das andere habe. Weiß aber nun endlich auch, was Glück eigentlich ist.«9 Irgendwie scheint diese vernunftgesteuerte Frau selbst noch nicht zu glauben, dass sie ihm vertrauen kann. Seine Antworten sind oftmals eloquente Episteln, gelegentlich in tadellosem Französisch, in denen er seine politisch-philosophischen Gedanken ausbreitet, und es ist kaum nachzuvollziehen, dass er immer wieder behauptet, er könne nicht schreiben. Vor allem wirbt er zärtlich, erotisch, spielerisch um sie: »Mein Wunderbares, Schönes, Liebliches, meine Freude, mein Stolz, mein Garten aller meiner Lust«10, beginnt er und versichert sie seines Begehrens und seiner Liebe, die, wie er sagt, auch ihn habe zu sich selber kommen lassen. Die gegenseitigen Liebesbezeugungen werden durch nüchterne Tatsachen nicht vermindert. Hannahs Scheidung von Günther Stern ist seit dem 26. August 1937 rechtskräftig, Heinrich ist noch gebunden, theoretisch zumindest, aber er hält seine privaten Dinge im Dunkeln. Als sie schließlich von den beiden Ehen erfährt, die er ihr verheimlicht hat, bewahrt sie die Contenance. Seine kurze Ehe mit Lieselotte Ostwald und die pragmatische Ehe mit der in Lettland geborenen Natascha Jefroikyn, die so die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt, nimmt sie gelassen zur Kenntnis. Dass er aus einem proletarischen Umfeld stammt, ist für sie nur deshalb ein Thema, weil er sich als ambitionierter Geisteswissenschaftler im Widerspruch zu seiner Herkunft sieht. In einem Brief Arendts an Karl Jaspers klingt das so: »Mein Mann heißt Heinrich Blücher – schriftliche Beschreibung unmöglich. Er hat während des Krieges hier teils für die Armee, teils für Universitäten und teils als broadcaster gearbeitet auf Grund seiner militärwissenschaftlichen Kenntnisse. Mit Beendigung des Krieges ist er aus all diesen mehr oder minder offiziellen Dingen herausgegangen und arbeitet augenblicklich im economic research für Privatfirmen. Er stammt aus einer Berliner Arbeiterfamilie, hat in Berlin Geschichte unter Delbrück studiert, war dann Redakteur eines Nachrichtendienstes und hat sich verschiedentlich politisch betätigt.«11 Auch hier also die Betonung auf dem Arbeitermilieu, dem Blücher, und durch ihn vermittelt Hannah, sich ideell zugehörig fühlt. Er ist kein jüdischer Intellektueller, und dies passt zu Hannah Arendt insofern, als sie keinesfalls »respectable« sein will, also, um keinen Preis elitär, oder gar aus ihren Überzeugungen eine Karriere machen möchte. Die Beziehung zwischen den beiden ungleichen Partnern ist gerade durch beider Unabhängigkeit von ihrem sozialen und ethnischen Hintergrund geprägt. Diese Distanzierung von der Herkunft und die Zugehörigkeit zu einem intellektuellen Milieu ist ein gemeinsamer Nenner – selbst wenn sich die Eheleute später wiederum über die New Yorker Intellektuellen mokieren werden.

Offenbar gibt es auch Auszeiten. 1937 hält sich das junge Paar auf der Insel Porquerolles vor der französischen Mittelmeerküste auf. Per Postkarte informiert sie Walter Benjamin vertrauensvoll über den paradiesischen Ort, an dem sie mit Heinrich weilt wie Adam und Eva. Selbstironisch und mit einem gewissen Understatement lädt sie den Freund mit präziser Reisebeschreibung ein, sie auf der Insel zu besuchen. Sie unterzeichnet noch mit Hannah Stern, aber sieht sich mit Heinrich als das Liebespaar schlechthin, inmitten romantischer Genüsse.12 Dass sie Jahre später tatsächlich mit Heinrich einen neuen Baum der Erkenntnis pflanzen würde, kann sie noch nicht absehen.

Beide müssen sich um ihren Lebensunterhalt kümmern, und dabei sind sie erfinderisch. Seit ihrer Emigration ist Hannah Arendt eingeschriebenes Mitglied der World Zionist Organization und tritt mit Vorträgen für deren Ziele an die Öffentlichkeit. Noch ehe sie ein Paar sind, muss Heinrich sie bei einem dieser Vorträge erlebt haben und sehr von ihr beeindruckt gewesen sein.

Hannah findet eine finanziell einträgliche Arbeit als Privatsekretärin im Hause Rothschild, nachdem sie kühn behauptet hat, sie habe Bürokenntnisse. Die Baronesse Germaine de Rothschild gehört zu den erfolgreichen jüdischen Aufsteigern, die Hannah Arendt gerade unsympathisch sind, aber als Studium einer Variante des Judentums und nicht zuletzt als Möglichkeit, Geld zu verdienen, akzeptiert sie dieses Umfeld.

Als sie Heinrich kennenlernt, ist Hannah Generalsekretärin des Pariser Büros der Jugend-Aliyah, einer 1933 in Berlin gegründeten jüdischen Organisation, die Kinder und Jugendliche aus ganz Europa in Palästina in Sicherheit bringt und die jungen Leute auf die Immigration vorbereitet. Zuvor hat sie sich ganz ähnlich bei Agriculture et Artisanat für junge zukünftige Palästina-Emigranten eingesetzt. Für die Jugend-Aliyah begleitet sie 1935 eine Jugendgruppe über Marseille und von dort mit dem Schiff nach Palästina. In den Kibbuzim, die sie besichtigt, sammelt sie Eindrücke, die ihre Vorsicht gegenüber dem Zionismus bestärken, dennoch fühlt sie sich in den drei Monaten dort heimisch. Durch ihr Engagement bei den beiden jüdischen Organisationen hat sie in Frankreich eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung erwirkt. Die deutsche Staatsbürgerschaft wird ihr 1937 aberkannt. Heinrich hat keinerlei Papiere und verdient als staatenloser Fremder illegal mit Unterricht in Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte etwas Geld und nutzt die Zeit, um sich mit der französischen Geschichte vertraut zu machen. Dr. Fränkel hat einen kleinen Auftrag für ihn, als sich eine seiner neurotischen Patientinnen mit den traditionellen tiefenpsychologischen Gesprächen nicht kurieren lässt und auch auf Medikamente und Hypnose nicht anspricht. Sie will ihr Bett nicht verlassen. Heinrich hat eine zündende Idee. Er bringt Kerosin und ein paar Putzlumpen mit, setzt sie in Brand, und eine Stichflamme scheucht die Frau aus dem Bett. Heute würde man eine solche Maßnahme vielleicht der Provokativen Therapie zuordnen. Jedenfalls hat Heinrich gelernt, dass einfache Dinge entscheidende Veränderungen bewirken können.

Paris ist zu diesem Zeitpunkt keine romantische Kulisse für eine unbeschwerte Liebesbeziehung. In der Metropole herrscht infolge der Weltwirtschaftskrise extreme Arbeitslosigkeit, was wiederum zu großer Fremdenfeindlichkeit führt. 1936 kommt der sozialistische Front Populaire an die Macht. Premierminister wird Léon Blum, der erste Jude in diesem Amt. 1942 wird er als Kopf des Widerstands an die deutschen Besatzer ausgeliefert, überlebt das Konzentrationslager Buchenwald und wird 1946 erneut zum Premierminister gewählt.

Hier wie auch in Deutschland gewinnen die extremen rechtsgerichteten Gruppen bedenklich an Einfluss, in Frankreich werden sie unter dem Vichy-Regime eine große Rolle spielen. Darüber können auch internationale Großereignisse nicht hinwegtäuschen, wie zum Beispiel die Olympischen Sommerspiele im neu errichteten Olympiastadion im Berliner Westend zum größeren Ruhm des Hitler-Regimes. Die empörten Bemühungen deutsch-jüdischer Emigranten, diese Zurschaustellung von Macht vor allem durch Proteste im deutschsprachigen Pariser Tageblatt zu verhindern, bleiben erfolglos. Man darf davon ausgehen, dass auch im Kreise Arendt ‌– ‌Blücher ‌– ‌Benjamin darüber debattiert wird.

Indessen bereitet man in Frankreich die Pariser Weltausstellung vor, die im Mai 1937 eröffnet und vierunddreißig Millionen Besucher anziehen wird. Hitler und Stalin nutzen das Ereignis zu Propagandazwecken, der von Albert Speer entworfene deutsche Pavillon steht dem ebenso gigantischen vis-à-vis gelegenen sowjetischen Pavillon gegenüber; zwei trutzige Bauten repräsentieren das Kräftemessen zwischen den Ideologien. Auch die Vorahnung der Katastrophe wird sichtbar: Mit dem Jahrhundertgemälde Guernica mahnt Pablo Picasso die höchsten Werte von Humanität und Zivilisation an. Walter Benjamin konstatiert bereits 1936, die Selbstentfremdung der Menschen sei zu dem Punkt gekommen, an dem sie die eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss erlebten: »So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.«13 Damit weist er auf die Parallelen hin, welche Arendt und Blücher schon jetzt ansprechen und die sie in den folgenden Jahren intensiv beschäftigen werden: Hintergründe und Ausprägungen totalitärer Regime sowie die strukturelle Vergleichbarkeit des internationalen Faschismus und der Internationale des Kommunismus.

Heinrich ist bemüht, an der Seite seiner promovierten Freundin seinem politischen Tatendrang theoretische Arbeit vorauszuschicken, doch er hat dabei immer die Praxis im Auge. So bewegen sich seine Gedanken vom Antisemitismus zum revolutionären Marxismus, zum »Kampf gegen Faschismus und Imperialismus in der ganzen Welt an der Seite der Arbeiter, Bauern und der unterdrückten Völker«.14 Schon jetzt mahnt Hannah an, es sei alles »noch etwas komplizierter«15 – hier im Hinblick auf das Judentum gemeint, aber zweifellos auch auf alle Ausführungen seines Briefes. Beide treibt jetzt zunehmend die Frage um, was in Zeiten des totalen Zusammenbruchs tradierter Ordnungen zu tun ist.

In diesen Turbulenzen kommt Hannah Arendt auf ihre »wirklich beste Freundin« zurück, die jüdische Salonnière Rahel Varnhagen von Ense, über die sie eine Biografie – mit autobiografischem Charakter – verfasst hat. Später wird sie einem Kapitel von Vita Activa als Motto ein Zitat der dänischen Autorin Karen Blixen voranstellen: »All sorrows can be borne if you put them into a story or tell a story about them.«16 Jetzt ist wieder Zeit zum Geschichtenerzählen, um die Sorgen erträglich zu machen, und sie befasst sich noch einmal mit der Lebensgeschichte ihrer Vorgängerin Rahel. Elf Kapitel hat sie noch vor der Flucht geschrieben, nun liest Walter Benjamin das unvollendete Manuskript und drängt Hannah, es fertigzustellen. Im Sommer 1938 schließt sie das Werk ab, nun unter dem Eindruck ihrer eigenen Erfahrung bei der zionistischen Organisation und der eskalierenden Judenfeindlichkeit – und somit bestärkt in ihrem Blick für die Ironie der Assimilation der Juden und alle gescheiterten Bemühungen, dazuzugehören. Wie sie im Vorwort zur Neuauflage von 1958 bemerkt, nun in den USA, wo sie, ähnlich wie Rahel, das Leben auf sich regnen lassen wird – so von Rahel von Varnhagen in ihrem Tagebuch notiert17 –, ging es ihr darum, »Rahels Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können«.18 Schon hier wird klar, dass Arendt für ihr Schreiben und Verstehen immer von der Literatur inspiriert ist, dass die Dichtung für sie eine Form des Denkens darstellt und es stets bleiben wird.

Deutlicher als Rahel Varnhagen muss Hannah Arendt erfahren, dass die Gesellschaft die assimilierten Juden nie anerkennt, ganz im Gegenteil, auch nicht im französischen Exil. In Deutschland fühlt sich Hannahs Mutter seit der Reichspogromnacht am 9. November 1938 nicht mehr sicher, so dass Hannah und Heinrich sie bei sich aufnehmen wollen. Martha Beerwald hat als junge Frau in Paris studiert, spricht fließend Französisch, und es könnte alles ganz einfach sein, doch ist die neue familiäre Situation schwierig. Das junge Paar findet eine Wohnung in der Rue de la Convention, ebenfalls im 15. Arrondissement, damit auch für die »Mutt« Platz ist. Doch Marthas erster Eindruck von Heinrich ist negativ, sie findet sein Auftreten ungehobelt und rügt seine Bequemlichkeit. Er seinerseits bringt der künftigen Schwiegermutter nur wenig Sympathie entgegen, sie ist für ihn vor allem bürgerlich und somit uninteressant. Spannungen und Unstimmigkeiten sind vorprogrammiert.

Paris ist im Rückblick nicht mehr als eine Durchgangsstation, was angesichts des drohenden weltgeschichtlichen Unheils zunehmend klar wird. Als sich Hannah Arendt und Heinrich Blücher auf ihrer ersten Exilstation kennenlernen, haben sie beide dem Land ihrer Herkunft den Rücken gekehrt und stehen als Staatenlose vor einer ungewissen Zukunft. Seither bestärken sich die beiden politischen Wesen im Dialog darin, die Weltereignisse verstehen zu wollen und entsprechend zu handeln. Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie beide die Freiheit, frei zu sein, nutzen. Wie sie in diesem In-die-Welt-geworfen-Sein und bei aller Entwurzelung doch im Dialog mit der Welt und über die Welt klare Standpunkte einnehmen – und das Private öffentlich machen. Wie meistern die beiden im Miteinander die verschiedenen Stationen ihrer politischen, kulturellen und emotionalen Migration? Wie gelingt ihnen immer wieder über Entfernungen und Herausforderungen hinweg ein verbindender Dialog, der sie beide auch mit der Welt verbindet? Und wie kann es sein, dass wir noch heute in der Kunst und im Kulturdiskurs dieses Miteinander spüren, sehen und hören? Aber zuerst einmal zurück zu den Anfängen.

Kapitel 2

Die Flüchtlinge – »Also legen wir großen Optimismus an den Tag«

In den ersten Jahren ihrer Beziehung gehen Hannah Arendt und Heinrich Blücher gemeinsam durch die Hölle und schaffen es, ein neues Leben zu beginnen – Herausforderungen, die den Grundstein für eine lange und vertraute Bindung legen. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 hat beide unabhängig voneinander zur Flucht aus Deutschland gezwungen. Frankreich ist das erste Ziel, ein beliebter Fluchtweg dorthin führt über Prag. Hannah hat durch Kurt Blumenfeld, den Präsidenten der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, den Auftrag erhalten, eine aktuelle Sammlung antisemitischer Äußerungen zusammenzustellen. Sie scheint Blumenfeld deshalb dafür geeignet, weil sie nicht offiziell zu den Zionisten gehört. Ihr gefällt der Auftrag, weil sie damit der judenfeindlichen Entwicklung in Deutschland etwas Konkretes entgegensetzen und verantwortlich handeln kann. In diesem Sinne recherchiert sie in Berlin in der Preußischen Staatsbibliothek, um das Dokumentationsmaterial für den Zionistenkongress in Prag im Sommer 1933 vorzubereiten. Im Juli wird Hannahs Wohnung mit philosophischen Manuskripten und Notizbüchern durchsucht, die Polizei findet die von ihr gesammelten Zeitungsausschnitte, die wegen »Gräuelpropaganda« zu ihrer Verhaftung führen. 1964 wird sie in einem Fernsehgespräch mit Günter Gaus anekdotisch berichten, wie sie der Inhaftierung geschickt entkam – der Kriminalbeamte sei ein ahnungsloser, aber letztlich netter Kerl gewesen, er habe sie zwar festgenommen, jedoch dann wieder freigelassen.1 Für Hannah ist nun offensichtlich, dass sie als Jüdin in Deutschland nicht mehr sicher ist. Über Prag und Genf gelingt ihr im August die Flucht nach Paris, während etwa zeitgleich auch Blücher über Prag und Zürich dorthin unterwegs ist.

Am 15. März 1933 sperren SA und Polizei die Umgebung der Künstlerkolonie Wilmersdorf ab, in deren Nachbarschaft Blücher wohnt. Sie dringen über die Balkone ein und brechen die Wohnungstüren auf, Bücher und kommunistische Fahnen werden verbrannt. Blücher befürchtet nach dieser Razzia, dass er in diesem Milieu der Gewalt wegen seines kommunistischen Engagements, genauer wegen seiner aktiven Mitgliedschaft bei den »Versöhnlern«, einer umstrittenen Gruppierung innerhalb der KPD, denunziert werden könnte. Außerdem sprechen seine Ehe mit der Jüdin Natascha Jefroikyn sowie seine Zusammenarbeit mit dem jüdischen Musiker Robert Gilbert gegen ihn, insbesondere, weil er ihnen bei der Flucht behilflich war. Im Januar 1934 führt sein Fluchtweg per Eisenbahn zunächst nach Prag, seine Bibliothek mit etwa 1500 Bänden kann er mitnehmen.2 Zu den Büchern in seinem Fluchtgepäck gehören Schriften von Lenin, Engels und Stalin.3 Während er sich in Prag weiterhin mit seinen Überzeugungen auseinandersetzt und auf seinen Erfahrungen als Arbeiter beziehungsweise ehemaliges Arbeiterkind beharrt, distanziert er sich von den Versöhnlern und überlegt, wie es politisch weitergehen soll. Ein Brief an den Parteifreund »Frank«, dessen Identität ungeklärt ist, zeugt nicht nur von seiner weiterhin auf Revolution gestimmten Einstellung, sondern auch von gesundheitlicher und finanzieller Belastung: »Ich danke dir für die geldsendung. Ich bin zwar längst wieder am verhungern, habe nicht einmal geld für briefmarken …«4 Am 24. August 1934 wird er von der Polizei festgenommen und im November des Landes verwiesen. Im Februar 1935 erreicht er nach dem Umweg über Wien Paris.

Einiges spricht für Prag als Zwischenstation: Die fortschrittlichen demokratischen Intellektuellen und Kulturschaffenden in der Tschechoslowakei bieten den Flüchtlingen Solidarität und Unterstützung. Auch setzen sich die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Prag für die verfolgten deutschen Emigranten ein.5 Eine Reihe von Hilfskomitees koordiniert die Flüchtlingsarbeit, gleichgültig, ob die Personen aus politischen Gründen verfolgt werden oder ob sie wegen ihres Judentums auf der Flucht sind. Für die Hilfskomitees werden Geld und Lebensnotwendiges gesammelt, und bei Kundgebungen rufen die führenden Köpfe der Kulturszene zur Unterstützung der Verfolgten auf. Zudem bieten die Prager Kaffeehäuser den Emigranten und Flüchtlingen die Möglichkeit, sich zu treffen und auszutauschen. Außerdem gibt es in Prag eine lebendige deutsche Literaturszene, man kann sich auf die Spuren von Rainer Maria Rilke und Franz Kafka begeben; auch Franz Werfel und Heinrich Mann halten sich vorübergehend hier auf.

»Der Weg nach Prag war nicht ganz ein Weg ins Exil, weil es hier ja eine Literatur gab …, die Prager deutsche Literatur.«6 So erinnert sich der 1933 nach Prag emigrierte Autor und Verleger Wieland Herzfelde. Bereits um die Jahrhundertwende 1900 war der Prager Kreis bekannt, in dem sich Franz Kafka, Max Brod und andere deutschsprachige Literaten austauschten. Die Autoren gaben sich zwar dem merkwürdigen Zauber des alten Prag hin, aber sie sprachen Tschechisch und beteiligten sich am Geistesleben. Tschechen, Deutsche und Juden waren in Prag als europäische Kulturschaffende verbunden. Dies bot gute Voraussetzungen für deutsche Buch- und Zeitschriftenverlage, die wiederum von den Hilfskomitees gefördert wurden. Wohin der Weg auch immer führte, Prag ist eine Drehscheibe für Intellektuelle, die durch Hitlers Machtergreifung ihre geistige Heimat verloren haben.

Zeitgleich mit Hannah und Heinrich geht Lisa Fittko ins Exil, sie begibt sich als politische Aktivistin nach Prag. Später werden sich die drei auf der Flucht über die Pyrenäen wiedersehen. In ihrer Autobiografie berichtet Fittko von den abendlichen Diskussionsrunden der Emigranten-Komitees, von Flugblättern und Aufrufen an das deutsche Volk sowie dem Bemühen, antifaschistische Literatur nach Deutschland zu bringen.7 Dieses geistig-politische Umfeld ist für Hannah und Heinrich ein Schritt in die richtige Richtung.

Von Prag aus erreichen beide unabhängig voneinander über die Schweiz Paris und lernen sich dort im Februar 1936 kennen. »Sieben Jahre lang spielten wir die lächerliche Rolle von Leuten, die versuchten, Franzosen zu sein, oder zumindest künftige Staatsbürger.«8 So blickt Hannah später auf diese Zeit zurück. Ganz ähnlich bemühen sich die vielen anderen jüdischen Flüchtlinge notgedrungen, sich anzupassen und ihre Identität zu verleugnen. Tausende von ihnen halten sich in Paris auf und ziehen wie Hannah und Heinrich von Hotel zu Hotel. Eine Aufenthaltsgenehmigung haben die meisten von ihnen nicht, und ohne Papiere findet sich keine Arbeit. Im Juni 1933 wird in Paris ein Verband deutscher Auswanderer in Frankreich gegründet, die Association des Emigrés Allemands en France, der soziale und geistige freundschaftliche Beziehungen stiften und die Flüchtlinge in Frankreich integrieren soll. Die Nachfolgeorganisation, die sich später nach Hannah Arendts gleichnamigem Aufsatz von 1943 We Refugees nennen wird, dokumentiert bis heute ganz im Sinne von Arendt in einem digitalen Archiv zu Flucht in Vergangenheit und Gegenwart Flüchtlingserfahrungen und bietet ein unterstützendes Netzwerk.

Im August 1936 nimmt Hannah, jung verliebt, am Jüdischen Weltkongress in Genf teil und lässt Heinrich in Paris zurück. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich im März 1938 spitzt sich die Situation der jüdischen Emigranten zu, sie haben ihre Zugehörigkeit und ihre Rechte verloren. Im Juli 1938 findet in Évian-les-Bains auf Initiative des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt eine internationale Konferenz statt, bei der Delegierte von zweiunddreißig Staaten und zahlreiche NGOs darüber beraten, wie die Flüchtlingswellen bewältigt werden können, indem die Aufnahme der aus Deutschland und Österreich Geflüchteten geregelt wird. Hannah reist im Oktober wiederum nach Genf, um sich in die Debatte um eine mögliche Rückkehr der Juden ins Ghetto einzumischen: Sie hält dies für die falsche Reaktion, weil es ein Rückzug aus der europäischen Kulturgemeinschaft wäre. Kurz danach verliert sie ihre Stelle bei der Jugend-Aliyah, da deren Zentralkomitee nach London verlegt wird. Glücklicherweise hat Hannahs Mutter beim Aufbruch in Königsberg im April 1939 Goldmünzen im Gepäck verstaut, die nun verkauft werden, um die Wohnungsmiete zu bezahlen. Diese tatkräftige Hilfe der Mutter verhindert nicht, dass die Spannungen zwischen ihr und Heinrich das Zusammenleben merklich erschweren.