Hannah - Jan Trouw - E-Book

Hannah E-Book

Jan Trouw

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Beschreibung

Die Einwohner von Greenwood blenden die mysteriöse Anstalt aus, die auf einer Insel im Mississippi River thront. Nur die kleine Hannah Soldtobury fühlt sich von diesem Ort angezogen. Sie möchte erfahren, was sich hinter den Mauern verbirgt und wer das gleichaltrige Mädchen ist, das ihr auf der anderen Flussseite regelmäßig erscheint. Und so kehrt sie Jahre später als Journalistin zurück, um das Geheimnis zu lüften. Das Überleben beginnt.

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www.jantrouw.de

Instagram: @jantrouw.writer

Erschreckend ist, dass

Drachen, Monster, Geister und Dämonen

nur erfunden sind –

der Mensch hingegen real.

-Jan Trouw-

Inhaltsverzeichnis

Videoaufzeichnung HanSol-1952-013

Die Welt ist grausam

Die Insel in Greenwood

Der Ort verändert sich

Der Mississippi

Die Journalistin

Mr. Aden

Zeugenaussage: Schuldirektor Tanner

Lincoln Memorial

Zeugenaussage: Trevor Banks

Greenwood

Üben, üben, üben

Zeugenaussage: Trevor Banks

UFO-sation

Die Komplizen

Zeugenaussage: Mr. Aden

St. Louis

Der Köder

Die Eintrittskarte

Die Fahrt ins Ungewisse

Zeugenaussage: Mr. Pukowski

Isolation

Das Erwachen

Die ersten Schritte in der neuen Welt

Der Beauty Shop

Patientenakte Hannah HS-1952-01

Patientenakte Hannah HS-1952-01

Baseball

Die erste Nacht im Trakt

Ein neuer Tag

Der Generalschlüssel

Zeugenaussage: Mr. Pukowski

Im Trakt

Gestatten, Inspektor Garnier

Greenwood

Wie geht es uns heute?

Patientenakte Hannah HS-1952-01

Priscilla

Zurück im Hotel

Der Hauptverdächtige

Zeugenaussage: Mr. Pukowski

Auf der Wache in St. Louis

Ausnüchterungszelle

Hannah: Die zweite Nacht

Kaffee?

Der Besuch

Der Anruf

Beim Sheriff

Das Tonbandgespräch

Die Brandruine

Zeugenaussage: Trevor Banks

Video HS-1952-002

Schmerz

Die Hand mit dem Lächeln

Was ist real, was nicht?

Der Empfang

Doktor Friedgeist

Ab in die Höhle

Die Lehrstunde

Betty

Beim Sheriff

Der Abgang

Incendium

Winterliches Greenwood

Videoaufzeichnung HanSol-1952-013

Ich weiß nicht, was erschreckender ist. Die Tatsache, dass Menschen zu so etwas in der Lage sind und dies auf einem Film festhalten, oder die Tatsache, dass Menschen sich solch einen Film anschauen (können).

So wie ich damals.

Das Abspielen der stummen Schwarzweißaufnahme erzeugte ein lautes und monotones Knattern, welches den leeren Vorführraum füllte.

Am Anfang stellt die Kameralinse die Schärfe ein und erfasst dabei eine junge hübsche Frau mit kurzgeschorenen Haaren und einem Klebestreifen über dem Mund. Die Achtzehnjährige sitzt in der Ecke eines kahlen Raumes, gefesselt auf einem Stuhl. Sie trägt nichts weiter als einen Slip. Ihr Körper ist mit Flecken übersäht. Ob blaue Flecken oder Blut verrät die Schwarzweißaufnahme nicht. Ihr Erscheinungsbild macht deutlich, welche Tortur sie erleidet; und zuvor erleiden musste.

Stunden.

Tage.

Hinter den Augäpfeln, die apathisch in die Kamera blicken, ist keine Regung zu erkennen.

Ein Mann in einem weißen Kittel und mit lichtem Haar taucht vor der Kameralinse auf, geht auf die junge Frau zu und gleitet mit seiner Hand über ihre glatten Beine, dann weiter bis zu ihrem Slip, um dort zu verweilen. Der Auftrag des Mannes sollte es sein, Menschen zu helfen. Doch er scheint seine Mission aus den Augen verloren zu haben. Oder er hat sich einer Neuen verschrieben. Statt ärztlicher Fürsorge spielt er seine Macht eiskalt aus.

Die gequälte Seele hinter den glasigen Augen verkriecht sich, die Augenlider fahren herunter. Wer weiß, ob die Frau bei Bewusstsein ist, wer weiß, ob sie miterlebt, was ihr gerade widerfährt.

Als der Klebestreifen vom Mund gerissen wird, zeigt sie keine Regung. Selbst wenn sie geschrien hätte, die Kamera wäre nicht in der Lage gewesen, den Schrei einzufangen. Stattdessen nur das monotone Knattern der sich abmühenden Filmrolle in meinen Ohren. Wer weiß, ob ihr überhaupt jemand zur Hilfe geeilt wäre?

Die Hemmschwelle des Schänders sinkt. Seine Hand fährt weiter über den verführerischen Körper der jungen Frau, streichelt ihr Gesicht, ihre Haare, knetet ihre festen Brüste. Dann greift er zur Schere, die mit anderen folterähnlichen Instrumenten auf einem Beistelltisch liegt, und schneidet den Slip an der Seite auf.

Seine Hand kreist zwischen den Schenkeln des Opfers hin und her. Der Kittel, der als Symbol für Lebensrettung und Genesung steht, ein Stück Stoff, den Menschen tragen, die als weiße Engel gefeiert werden, fällt zu Boden. Das bloße Berühren der Frau reicht ihm nicht mehr.

Bei Beginn der körperlichen Vereinigung schaltete ich den Film ab. Die regelmäßig vor sich hin knarrende Filmrolle blieb nach einem Klacken stehen. Ich hatte genug gesehen, unabhängig davon, was noch folgen sollte. Auf dieser Aufnahme war die Frau der Engel, dem Peiniger schutzlos ausgeliefert. Für den Mann fallen mir keine passenden Worte ein – bis heute.

Regungslos in die Leere starrend, saß ich eine Zeit lang auf dem Stuhl. Erschreckend zu wissen, zu was der Mensch in der Lage ist, denn der Film war kein Spielfilm, sondern eine Aufzeichnung aus einer Anstalt in Illinois. Der Name der jungen Frau: Hannah Soldtobury.

Ich nahm die Filmrolle heraus und packte sie in einen amtlich nummerierten Karton, in dem sich weitere Beweismittel befanden. Das Durchsichten dieser war erdrückend: Hannahs Patientenakte, Videoaufzeichnungen, auf denen sie misshandelt wurde, Tonbandaufzeichnungen mit Gesprächen zwischen dem Doktor und ihr sowie Aussagen von Augenzeugen. Während dieser Zeit habe ich einiges über Hannah erfahren.

Obwohl der Fall mittlerweile abgeschlossen und der Karton mit dem Beweismaterial im Archivkeller gelandet ist, wird mich der Fall bis an mein Lebensende begleiten. Ich kann das Geschehene nicht vergessen.

Es ist erschreckend, festzustellen, wie grausam ein Mensch sein kann, wenn er sich sicher fühlt. Wenn er davon ausgeht, unbestraft davon zu kommen. Für mich ist der Mensch das grausamste Wesen, das ich kenne. Wer glaubt, dass der Mensch sich zu einem Wesen der Vernunft entwickelt, indem die Gesellschaft ihm ein Korsett aus Werten und Normen überstülpt, der irrt. Nichts kann seine inneren Triebe austreiben und in Schach halten. Der Mensch ist egoistisch. Er manipuliert die Umwelt zu seinen Gunsten, er gestaltet sie nach seinen Wünschen.

Manchmal wünsche ich mir, dass Monster, Drachen, Geister und Dämonen real sind, und der Mensch nur eine erfundene Bestie.

Wer kann schon sagen, was der Wahrheit entspricht und was angedichtet wurde. Niemand kann bis heute sagen, was die junge Hannah dazu angetrieben hat, sich in diese bizarre Welt zu begeben. Eine Welt, die ein Mensch unter normalen Umständen meidet. Niemand würde solch einen Ort freiwillig aufsuchen.

Es gibt so viele Vermutungen, Möglichkeiten und Spekulationen über Hannahs Beweggründe, denen es allen an fundamentaler Beweiskraft mangelt. Dabei lassen sich solche bizarren Phänomene durchaus in der Natur beobachten.

Wie Wildlachse in Kanada und Alaska etwa. Sie schlüpfen in den klaren und sauerstoffreichen Flüssen und Seen – meist in bergigen Regionen – und wandern flussabwärts Richtung Meer. Im fortpflanzungsfähigen Alter kehren sie zu ihrer Geburtsstätte zurück. Der Weg flussaufwärts ist oft steil; und der eine oder andere Wasserfall stellt sich ihnen in den Weg. Schwimmen ist hier unmöglich, daher springen die Lachse den Fluss hinauf. Einige von ihnen schaffen den anstrengenden und kräftezehrenden Weg jedoch nicht. Sie sterben vor Erschöpfung oder springen unbeabsichtigt in die Tatzen, Pfoten, Krallen, Mäuler und Schnäbel der auf sie wartenden Bären, Wölfe und Seeadler.

Müde und abgekämpft gelangen die Überlebenden an ihr Ziel. Und obwohl sie in ihren letzten Atemzügen liegen, beginnen sie zu laichen. Dann sterben auch sie. Sie machen Platz für die nächste Generation, die in ihre Fußstapfen treten, oder besser gesagt, in ihren Flossenspuren schwimmen wird. Ein wiederkehrender Kreislauf.

Wie Lachse folgen viele Tiere ihren Trieben. Auch wenn sie realisieren, dass das, was sie machen, kräftezehrend ist, wie etwa Trauer, Reproduktion oder lange Wanderungen, so setzen sie sich diesem Stress aus. Sie vernachlässigen die Nahrungsaufnahme, schlafen kaum – oder gar nicht – und verlassen sogar den Schutz der Herde. Für den Erhalt der eigenen Spezies geben sie ihr Leben auf.

So auch der Mensch. Auch er ist in der Lage, sich selbst zu belügen und zu richten, indem er seinen eigenen Untergang ansteuert. Aber nicht zur Aufrechterhaltung der Menschheit, sondern, weil bei ihm oder ihr mindestens eine Schraube nachjustiert werden müsste.

Wir sind alle Kapitäne unserer eigenen Schiffe.

So auch Hannah.

Mit ihren achtzehn Jahren stand sie in ihrer vollen Blüte. Ihre makellose Haut und ihre langen schlanken Beine waren seidig zart. Die glattgebügelten blonden Haare verdeckten ihre schmalen Schultern. Ihr perfekt symmetrisches Gesicht glich dem eines Engels. Die Augen funkelten in einem hypnotisierenden Diamantengrün. Sie war wie von einem anderen Stern, von einem leidenschaftlichen Künstler erschaffen. Und weil sie so schön war, lagen die Menschen ihr zu Füßen. Sie hätte alles machen können, und alles werden können. Die Welt stand ihr offen.

Und dennoch …

Angehörige, die etwas über Hannah erzählen konnten, gab es nur wenige, und diese kannten Hannah nur flüchtig. Einige Augenzeugen konnten oder wollten sich nicht äußern. Vermutlich aus Angst, ihre Aussagen könnten als Geständnis gewertet und gegen sie verwendet werden.

Der Journalist Trevor Banks, der Hannah sehr gut kannte, sprach hingegen offen darüber und schrieb die Geschichte in einem Buch nieder, und zwar so, wie das Ereignis seiner Meinung nach stattgefunden haben soll.

Wer weiß schon, wie es sich tatsächlich zugetragen hat. Ich mache Mr. Banks keinen Vorwurf. Es war seine Art, mit der Geschichte umzugehen und sie zu verarbeiten. Zugegeben, er hat mit seinem Buch viel Geld gemacht. Hannahs Schicksal bedeutete seinen Aufstieg als Journalist und Autor. Er wurde in den Staaten schlagartig bekannt. Für die Offenlegung wurde er aber auch von vielen kritisiert; besonders für die intimen Details. Von ihm stammen also die meisten Informationen.

Und natürlich von mir. Auch ich bin ein Bestandteil dieser Story.

Wer ich bin?

Oh, verzeihen Sie mir bitte meine Manieren. Ich verliere mich allzu oft in meinen Gedankengängen, dass ich mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Mr. Garnier, Inspektor Garnier, und ich habe in diesem Fall ermittelt.

Wenn Sie mögen, erzähle ich Ihnen die Geschichte von Hannah Soldtobury, aber bitte seien Sie gnädig mit meiner sprunghaften Erzählweise. Ich bemühe mich, nicht abzuschweifen oder allzu große Gedankensprünge zu machen. Außerdem hoffe ich, dass der Mix aus Zeugenaussagen, Videoaufzeichnungen und Auszüge aus Mr. Banks Buch Sie nicht irritieren. Die vorliegende Erzählung ist wie ein Teppich, der aus verschiedenen Einzelteilen zusammengeflickt wurde. Oder wie ein bedürftig zusammengeklebtes, mosaikartiges Gebilde.

Wo beginne ich denn am besten? Ah ja, ich weiß schon ...

Die Welt ist grausam

Hannah kam in Jahre 1934 zur Welt. Beinahe jeder dritte Amerikaner war arbeitslos; und die Regierung bemühte sich, den gewaltigen Schaden zu reparieren, den der große Bankencrash 1929 verursacht hatte. Sie mussten das Vertrauen der Wähler wiedergewinnen.

Doch es wurde nicht besser. Auf internationaler Ebene führten die jahrelangen, oft undurchsichtigen und wechselhaften Bündnisse zwischen den Nationen zu einem weltweiten Zerfleischen. Der Zweite Weltkrieg brach aus. Von Amerika über Europa bis nach Asien blitzte es am Himmel. Bomben fielen aus Flugzeugen. Menschen wurden verschleppt, vergewaltigt, vergast, verbrannt und erschossen. Ein Krieg, der die geballte Grausamkeit des Menschen zeigte und zugleich offenbarte, dass der Mensch aus all den vergangenen Kriegen zuvor nichts gelernt hatte – und wohl auch nie lernen würde.

Hannah war noch zu jung, um die komplexen und ambivalenten Zusammenhänge der Menschheit zu verstehen, doch sie begriff sehr früh, wie grausam Menschen untereinander sein konnten. Selbst im Alltag, fernab von Krieg und Terror. Das musste sie als kleines Mädchen am eigenen Leib erfahren. Sie lernte, dass selbst die nettesten Menschen eine Gefahr darstellen und ihr wehtun konnten. Sehr weh sogar. Danach war Hannahs Welt nicht mehr dieselbe. Die körperlichen Narben mochten irgendwann verheilt sein, nicht jedoch die seelischen. Und das Schicksal ließ nicht nach. Statt Hannah nach dem grausamen Ereignis zu verschonen, zeigte das Schicksal ihr immer wieder sein schreckliches und grausames Gesicht. Es schien, als ob das Schicksal Gefallen daran fand, Hannah zu quälen.

Die Insel in Greenwood

1941. Nach einem Sonntagsgebet verließen die siebenjährige Hannah und ihre Großmutter die Kirche von Greenwood. Sie gingen händchenhaltend die Hauptstraße hinunter, direkt am Mississippi River entlang.

Großmutter fiel das Gehen mit der steifen und schmerzenden Hüfte schwer, und plötzlich spürte sie einen Ruck in ihrem Arm, der von ihrer Hand aus blitzartig nach oben schoss. Hannah war aus unerklärlichen Gründen abrupt stehen geblieben. Was auch immer das siebenjährige Mädchen sah und bestaunte, Großmutter sah es nicht.

Bereits sehr früh, im Grundschulalter, fühlte Hannah sich von diesem einen Ort stark angezogen. So, als ob er nach ihr verlangte. Als ob er danach strebte, sie zu sich zu holen. Um jeden Preis. Wenn sie bei ihren Großeltern zu Besuch war, versuchte der Ort sich jedes Mal in ihr jungfräuliches und wissbegieriges Gehirn zu brennen. Er wollte sich in ihren Erinnerungen und Gedanken festigen.

Mit Erfolg.

Das Verlangen, den Ort einmal von innen zu sehen, blieb in ihr all die Jahre bestehen. Egal, wo sie sich später in ihrem Leben aufhielt, und egal, was sie machte.

Der Ort lag auf einer kleinen Insel, unweit vom Haus ihrer Großeltern in Greenwood, Illinois. Eine kleine verschlafene Gemeinde mit wenigen hundert Einwohnern, umringt von einem großen, dichten Wald; genau an der Stelle, an der der Illinois River im Mississippi River mündete und sich in diesem auflöste. Auf der Insel lebten besondere Menschen, zu denen die Öffentlichkeit keinen Zugang hatte; und auch nicht haben wollte.

Hannah konnte die Insel von der Hauptstraße als auch vom Haus ihrer Großeltern aus sehen. Auf der Insel stand ein furchteinflößendes Gebäude. Mit dem Turm in der Mitte und den beiden seitlich anhängenden Trakten wirkte es wie eine riesige Fledermaus mit aufgespannten Flügeln, eingesperrt hinter einem drei Meter hohen Stacheldrahtzaun.

Der regelmäßig auftauchende Nebel stieg auch an diesem Tag auf und tanzte wie eine Ansammlung verlorener Seelen langsam um die architektonische Fledermaus herum.

So furchteinflößend der Ort auch war, auf der Insel lebte ein Mädchen im gleichen Alter wie Hannah, welches hinter dem Zaun stand und vor dem geflügelten Monster keine Angst zu haben schien. Das Mädchen war allein. Keine anderen Kinder oder Erwachsene umgaben es. Und es trug nichts weiter als ein dünnes weißes Kleid, dessen Saum stellenweise rot befleckt war.

Hannah bekam eine Gänsehaut. Sie schaute auf ihre eigene Kleidung hinunter und stellte erleichtert fest, dass diese frei von roten Flecken war.

Sie winkte dem Mädchen zu.

Ihre Blicke kreuzten sich.

Daraufhin bewegte das Mädchen auf der Insel den Mund, ohne dabei einen Laut von sich zu geben. Als ob es nach dem Buchstaben A schnappte und es sodann wieder losließ, nur um gleich wieder danach zu schnappen. Es wiederholte zwei Silben.

HAN-NAH!

HAN-NAH!

Sagt sie meinen Namen?

Hannahs Arme kribbelten. Irgendetwas zuckte kurz und durchfuhr ihren gesamten Körper. Auch Großmutter, die noch immer Hannahs Hand hielt, spürte das Zucken.

„Alles in Ordnung?“, fragte eine männliche Stimme. Sie gehörte Sheriff Baxter, der Mitte fünfzig war. Er schaute aus dem offen stehenden Beifahrerfenster seines Streifenwagens.

Hannah stand wie hypnotisiert da. Starr. Die Insel im Fokus. Die Anwesenheit des Sheriffs hatte sie nicht registriert. Sie war in einer anderen Welt. Auch Großmutter hatte ihn nicht heranfahren gehört. Erschrocken drehte sie sich zu ihm um.

„Guten Morgen, Arthur“, sagte sie. „Alles in Ordnung, denke ich, auch wenn ich nicht weiß, was sie gerade hat.“

Die beiden Erwachsenen blickten in die gleiche Richtung wie Hannah, doch sie sahen nichts. Zumindest nichts, was so faszinierend sein konnte, dass es einen in den Bann zog. Das Gebäude stand – wie jeden Tag – auf der Insel. Und wie jeden Tag befand sich niemand auf der Außenanlage.

„Vielleicht sieht sie ein Tier?“, rätselte Großmutter.

Beide lächelten, ohne zu wissen, warum.

HAN-NAH!

HAN-NAH!

Wer ist sie? Wer ist dieses Mädchen?

Die Fledermaus erhob sich. Sie breitete ihre Flügel aus und fokussierte Hannah. „Kooomm zuuu miiir, Hannah“, flüsterte sie. „Ich weeerde michh um dichh kümmern.“

Das Tier macht mir Angst! Warum hat das Mädchen keine Angst?

Hannah riss sich von dem Ungetüm und dem Mädchen los und wandte sich ihrer Großmutter und dem Sheriff zu. Sie ließ sich nicht anmerken, was soeben geschehen war.

„Kann ich euch beide mitnehmen?“, fragte Sheriff Baxter.

„Danke, Arthur, aber das kleine Stück schaffen wir zu Fuß, ist ja nicht mehr weit.“

Der Sheriff lächelte ihnen zu, bevor er gemächlich davonfuhr.

„Grandma, was ist das für ein komisches Haus da auf der Insel?“, fragte Hannah ihre Großmutter. Das war das erste Mal, dass sie ihr Interesse für diesen Ort gegenüber anderen Menschen signalisierte.

„Da kommen Menschen hin, die ungezogen sind und nicht hören wollen“, antwortete Großmutter. „Sie können sich der Welt, in der wir leben, nicht anpassen. Also pass schön in der Schule auf und lerne. Solange du ein artiges Mädchen bist, wirst du diesen Ort nie besuchen müssen.“

Großmutters Hoffnung, mit der Beantwortung das Thema beendet zu haben, hielt nur wenige Sekunden.

„Wenn da Kinder leben“, fragte Hannah weiter, „dann ist es da drin bestimmt sicher, oder? Ich möchte gern mit dem Mädchen drüben auf der Wiese spielen. Können wir da mal rübergehen? Ich will sehen, wie es dort aussieht.“

Großmutter scannte mit zugekniffenen Augen und schwachem Augenlicht den sichtbaren Inselabschnitt ab, ohne jemanden zu entdecken. Und auch Hannah, die sich wieder der Insel widmete, stellte fest, dass das Mädchen verschwunden war. Niemand hielt sich im Freien auf.

„Was hast du bisher in deinen Schulferien gemacht?“, fragte Großmutter, um das Thema zu wechseln. Die Schmerzen beim Gehen spiegelten sich in ihrem Gesicht. „Gefällt dir die Schule?“

„Schule ist doof. Die Lehrer sagen mir ständig, was ich machen soll. Ich mag das nicht. Keiner soll mir befehlen. Ich bin doch schon groß.“

Hannah, die mit ihren Eltern in Washington, D. C., lebte, saugte die Umwelt mit all ihren Sinnen intensiv auf. Bereits im Kindergarten festigte sich ihr Wille, selbstständig zu sein. Wehe man half ihr bei etwas, dann wurde sie bockig und verkroch sich.

Großmutter stimmte das traurig. Ihr begabtes und intelligentes Enkelkind musste mit fünf Jahren eine Erfahrung machen, die seelisch und körperlich sehr schmerzhaft gewesen war. Die Erfahrung ließ das Kind schneller erwachsen werden. Die kindliche Naivität diente nur noch dem Selbstschutz. Vor der rauen und erbarmungslosen Welt der Erwachsenen, in die sie zu schnell und auf eine grausame Art und Weise geworfen worden war.

Der Ort verändert sich

Sommer 1944: Hannah war zehn.

Die Großeltern hingen an ihrer Heimat, aber sie merkten, dass sie den Alltag ohne fremde Hilfe nicht länger bewältigen konnten. In Greenwood gab es nur einen kleinen Laden, alles andere musste außerorts erledigt und herbeigeschafft werden. Der nächstgrößere Ort war jedoch zu weit weg und nur mit dem Auto erreichbar. Großvater, der zehn Jahre älter war als Großmutter, baute bereits körperlich und geistig ab. Schon bald würde er nicht mehr in der Lage sein, zu fahren. Und Großmutter setzte sich nicht mehr ans Steuer, nachdem sie vor ein paar Jahren einen Riesenpudel überfahren hatte, der dabei draufgegangen war. Und dann waren da noch die Instandhaltung des Hauses und die Pflege des Grundstücks.

„Wir können doch zu euch nach Washington ziehen und eine Bleibe in der Nähe suchen? Dann könnten wir euch zu Fuß erreichen“, meinte Großmutter, die gemeinsam mit Hannahs Eltern auf der Veranda hinter dem Haus saß. Von dort aus hatte man einen schönen Blick auf den Mississippi River. Großvater lag derweil im Wohnzimmer auf der Couch und schlummerte. „Mit dem Verkauf des Hauses und der Rente kämen wir in Washington über die Runden.“

Hannahs Vater nickte. Er starrte zuerst auf die Grashalme am Flussufer, die im seichten Wind wehten, und blickte dann zu Hannah, die vor der Veranda spielte.

Hannahs Mutter blieb regungslos und schwieg. Ihre gesamte Kindheit und Jugend hatte sie in Greenwood verbracht. Ein friedvoller Ort, so voller Unschuld. Zumindest früher. Bis eines Tages auf der Insel im Mississippi River diese Anstalt errichtet und in Betrieb genommen worden war. Vom ersten Tag an wussten die Bewohner des kleinen Ortes nicht, wer die Einrichtung führte und welche Funktion sie innehatte. War es eine Klinik? Ein Gefängnis? Eine Anstalt? Wurde die Einrichtung offiziell durch eine Behörde geleitet?

Nur autorisiertes Personal erhielt Zugang zur Anlage. Selbst Greenwoods Sheriff, Mr. Baxter, blieb nur die Rolle des Zaungastes. Auch ihm blieb das Treiben im Inneren verborgen.

Alle zugelassenen Fahrzeuge und Personen erreichten die Insel über eine Zugbrücke. Bewegung vor der Anlage gab es kaum, es sein denn, Krankenwagen und andere Fahrzeuge machten vor dem Gebäude Halt.

Das dort arbeitende Personal besuchte weder den kleinen Einkaufsladen noch die Bar; jene Treffpunkte der Bewohner. Und wenn jemand vom Personal auf Greenwoods Straßen umherwanderte, so wurde der Kontakt mit den Einheimischen gemieden, als sei dies verboten. Es gab keine Berührungspunkte zwischen ihnen. Als ob die Belegschaft selbst Gefangene mit Freigang waren.

Die Anlage wirkte wie ein schwarzer Fleck auf der amerikanischen Landkarte. Und schwarz waren auch die Fahrzeuge ohne Autokennzeichen, die in unregelmäßigen Abständen vor der Anlage parkten. Obwohl nichts darauf hindeutete, gingen die Bewohner davon aus, dass es Abgesandte der Regierung waren. Möglicherweise Kontrolleure, die irgendeinem Ministerium unterstellt waren und dort nach dem Rechten sahen. In medizinischen Einrichtungen, Gefängnissen und Nervenanstalten waren Kontrollen vorgeschrieben; und deren Ausführung Pflicht. Neben dem Zustand der Gebäude und der Außenanlage wurden auch die Räumlichkeiten geprüft: Büros, Behandlungsräume, sanitäre Anlagen, Küchen und Zimmer der Patienten beziehungsweise Insassen. Darüber hinaus die Qualifizierung der Angestellten und wie sie ihren Beruf ausübten. Und auch auf die Insassen wurde ein Augenmerk geworfen. Ging es denen gut? Ging es denen schlecht? War die Anlage für die individuellen und problematischen Sachverhalte und für die Krankheitsbilder funktional? Konnte den Patienten beziehungsweise Insassen geholfen werden?

Doch in einer Zeit, in der der Zweite Weltkrieg tobte und daheim auf amerikanischen Boden ein Rassenhass und Klassenkampf ausgefochten wurde, war zu fragen, ob die vorgeschriebenen Inhalte, vom Senat besiegelt und auf Papier gedruckt, von den umzusetzenden Einrichtungen auch tatsächlich umgesetzt wurden. Solange kein Patient beziehungsweise Insasse aus der Anlage floh – was in all den Jahren noch nie vorgekommen war –, hielten sich die Anwohner aus dieser Angelegenheit heraus. Sie versuchten, die Idylle ihrer kleinen Gemeinde aufrechtzuerhalten und die architektonische Fledermaus – wie Hannah das Gebäude wahrnahm – zu ignorieren. Niemand protestierte. Was auch immer auf der Insel geschah, es wurde kollektiv ausgeblendet. Es war einfach nur eine Insel mit einem Gebäude darauf.

„Wahrscheinlich ist es wirklich das Beste“, antwortete Hannahs Mutter, während sie ihren Oberkörper nach hinten drehte und die renovierungsbedürftige Fassade des Hauses betrachtete. Es fiel ihr schwer, vorzustellen, hier nicht mehr zurückzukehren. „Irgendwie wird die Anlage auf der Insel immer unheimlicher. Wie auch ihr Einfluss auf Hannah. Ständig sieht sie dieses Mädchen auf der Insel. Die Ärzte meinen, dass es bei Kindern dazugehöre, imaginäre Freunde oder Wesen zu haben und diese als real zu empfinden. Sie dienen dazu, Eindrücke, innere Probleme, Konflikte, Ängste und Verluste zu verarbeiten. Möglicherweise hilft dieses Mädchen Hannah dabei, ihre Eindrücke und Erlebnisse zu verarbeiten. Besonders dieses eine schreckliche Ereignis. Vielleicht hört das irgendwann auf, wenn du und Paps zu uns nach Washington zieht und wir Greenwood komplett hinter uns lassen. Auch wenn ich euer Haus lieber behalten möchte.“

„Ach Kindchen“, sagte Großmutter, „Wäre, könnte und so weiter, alles nur ein Anker für einen Ort, der es nicht mehr wert ist. Wir haben uns alle verändert. Wie auch der Ort selbst. Ich denke, Washington wird uns allen guttun.“

Die spielende Hannah hatte die Unterhaltung der Erwachsenen mit angehört. Obwohl sie erst zehn Jahre alt war, spürte sie, dass die bisher fiktiven Verkaufspläne des Hauses schon bald real werden könnten. Das hieße, das kleine Mädchen, welches ihr regelmäßig auf der Insel erschien, nie wiederzusehen. Sie würde nie erfahren, wer das Mädchen war, wie es hieß, wie es lebte und was es auf der anderen Uferseite machte. Zugegeben, vor der gruseligen Fledermaus hatte Hannah schon Angst, aber vielleicht war das Tier ja nett? Zuhause in Washington hatten die Nachbarn einen Hund. Rocky hieß er. Vor dem hatte sie sich anfangs auch gefürchtet. Doch dann fand sie heraus, dass er lieb war und nur mit ihr kuscheln wollte, und mit seinem Bellen sie dazu aufforderte, das Stöckchen zu werfen. Vielleicht wollte die Fledermaus einfach nur nett zu ihr sein? Schließlich hatte das Mädchen auf der Insel auch keine Angst vor dem Flugtier.

Ist die Kreatur ihr Haustier?

Hannah hatte gelernt, dass Tiere immer direkt und ehrlich waren, selbst wenn sie bellten, fauchten oder zischten. Sie logen nicht. Menschen schon. Sie musste bereits am eigenen Leib erfahren, dass nette Menschen sehr böse sein konnten. Daher war sie schon früh daran interessiert gewesen, Menschen lesen zu lernen. Sie wollte herausbekommen, was die Augen sagten, und nicht der Mund.

Der um ihre Hüften schwingende Hula-Hoop-Reifen fiel in den Rasen, und Hannah lief zu ihrer Mutter, um sich an sie zu schmiegen.

Der Mississippi

Zwei Tage später machten sich Großvater und Großmutter mit ihrem Buick auf den Weg nach Alton, etwa fünfzehn Kilometer von Greenwood entfernt. Greenwood war kaum aus dem Rückspiegel verschwunden, da knickte Großvaters Kopf plötzlich nach hinten. Gequälte Würgelaute quetschten sich durch den Rachen und verließen seinen Mund. Wie ein frisch gefangener Fisch im Fangkorb eines Fischers schnappte er nach Luft. Seine Hände lösten sich vom Lenkrad. Der Wagen begann zu schleudern. Die Uferböschung raschelte unter den Rädern. Großmutter griff zum Steuer, versuchte, das Fahrzeug unter Kontrolle zu bekommen und abzubremsen, doch Großvaters Fuß trat das Gaspedal weiter durch. Der Buick holperte und rutschte, und der Mississippi River war nah. Viel zu nah. Der Fluss empfing sie mit harter Brust und bremste den Wagen ab. Der Buick trieb auf der Wasseroberfläche.

Großmutter kam nach kurzer Bewusstlosigkeit wieder zu sich und geriet sodann in Panik. Ihre Füße waren nass, sie standen im Wasser. Sie wollte Großvater wachrütteln, aber dieser rührte sich nicht; beim Aufprall war sein Kopf gegen das Lenkrad geknallt.

War er bewusstlos?

Oder tot?

Blut lief von seiner Schläfe den Körper hinunter und vermischte sich mit dem Wasser, welches den Innenraum weiter befüllte.

Großmutter blieb nicht viel Zeit. Sie musste einen Weg nach draußen finden. Im schlimmsten Fall für sich allein. Die Seitentür wehrte sich und blieb verschlossen. Das Seitenfenster dagegen ließ sich herunterkurbeln, doch nun drang das Wasser schneller und in noch größerer Menge hinein. Die Armee aus unendlich vielen Piratentropfen enterte den Buick und drückte ihn nach unten. Der Wagen tauchte ab, verschwand unter der Wasseroberfläche. Großmutter und Großvater ertranken hilflos im Wageninneren.

In den Tagen bis zu deren Beisetzung auf Greenwoods kleinen Friedhof, am Rand des großen, dichten Waldes, gewann die Diskussion über den Verkauf des Hauses der Großeltern an Intensität. Jetzt, wo die Großeltern nicht mehr waren.

Hannahs Vater agierte kühl und rational. Ohne eine emotionale Bindung an diesen Ort sah er in dem Haus eine unnötige Last, die an seinem Bein klebte. Und dann war da noch dieses imaginäre Mädchen, das aus Hannahs Kopf verschwinden sollte. In Washington würde seine Tochter die erfundene Freundin hoffentlich schnell vergessen und wie die anderen Mädchen in ihrem Alter zu einer normalen Frau heranwachsen. Für ihn war der Verkauf die vernünftigste Entscheidung.

Hannahs Mutter argumentierte dagegen emotional. Sie konnte und wollte ihre Wurzeln nicht aufgeben. Für sie stand das Haus für Greenwood. Und Greenwood für ihre Vergangenheit: für ihre Geburt, für ihre Eltern, für ihre Jugend und für ihre erste Liebe. Die Argumentation von Hannahs Vater, dass das Haus auch nach dem Verkauf weiterhin von außen anzuschauen sei, und dass das Grab ihrer Eltern in Greenwood einen weiteren Anlaufpunkt biete, um in Erinnerungen zu schwelgen oder an ihre Eltern zu gedenken, machte sie rasend, wühlte sie auf. Es brachte ihm eine schellende Ohrfeige ein.

Sie wollte das Haus behalten und an Urlauber vermieten. Zwar war es hart für sie, sich vorzustellen, andere könnten in ihrem Elternhaus wohnen, in derselben Küche speisen, im selben Zimmer schlafen oder mit ihren Ärschen auf derselben Toilette sitzen wie einst ihre Familie und sie, doch sie empfand die Vermietung an Fremde weniger hart, als das Haus zu verkaufen und somit ganz zu verlieren. Sie wollte die Kontrolle über das Haus behalten. Zudem brächte die Vermietung Geld in die Kasse.

Was das imaginäre Mädchen betraf, so konnte sie ihre Tochter verstehen. Wenn Hannah ihr unter vier Augen von dem Mädchen erzählte, spielte sie mit. Sie sagte, dass sie als Mädchen auch eine Freundin gehabt hatte, die nur sie und nicht die Erwachsenen sehen konnten. Das sei normal.

Hannah wollte Greenwood nicht verlassen, nicht für immer, und stellte sich auf die Seite ihrer Mutter.

Das Mädchen auf der Insel zeigte sich an diesen Tagen regelmäßig, und bei jeder Erscheinung trug es das weiße Kleid mit den roten Flecken am Saum. Es visierte Hannah an und wiederholte immer wieder die vertrauten zwei Silben, ohne einen Ton von sich zu geben.

HAN-NAH!

HAN-NAH!

Woher kennt das Mädchen meinen Namen?

Auch die Fledermaus wollte Hannah zu sich locken, doch Hannah traute sich nicht, ihre Eltern zu bitten, das Mädchen und das Tier einmal besuchen zu dürfen.

Nach der Beisetzung der Großeltern auf dem kleinen Friedhof saßen die Angehörigen und einige Einwohner des Ortes im angrenzenden Gemeindehaus und speisten. Hannahs Vater leerte den Teller seiner Tochter, die ihr Essen nicht geschafft und es ihm mit einem unschuldigen Blick rübergeschoben hatte. Welcher Vater sagt da schon nein?

Als die Familie gegen späten Nachmittag das Kirchengelände verließ, um zum Haus der Großeltern zurückzukehren, geschah das nächste Unheil. Als ob man ohne Vorwarnung seinen Stecker aus der Steckdose gezogen hätte, brach Hannahs Vater zusammen. Noch bevor sein schlaffer Körper auf den Boden knallte, wich die Energie aus seinen Augen. Es war zu spät, einen Krankenwagen zu rufen. Zu spät, als dass Sheriff Baxter ihn zum nächsten Doktor hätte fahren können. Nach der Autopsie vermutete man eine allergische Reaktion oder eine Lebensmittelvergiftung. Sein Leichnam wurde reisefertig gemacht und in Washington beigesetzt.

Hannahs Mutter behielt das Haus der Großeltern. Mr. und Mrs. Walton, die ein paar Häuser weiter wohnten, versprachen, sich um die Vermietung und um die Wartungsangelegenheiten des Hauses zu kümmern. Gegen eine geringe Aufwandsentschädigung natürlich. Dafür, dass Hannahs Mutter nicht jedes Mal von Washington nach Greenwood fahren musste, um nach dem Rechten zu sehen.

Hannah sollte nicht mehr nach Greenwood zurückkehren – so schien es.

Vorerst.

Fernab in Washington verschwand der Ort zunehmend in den Hintergrund. Andere Eindrücke und Erfahrungen bestimmten fortan Hannahs Bewusstsein. Sie beendete die High-School als Jahrgangsbeste; sie bestand sogar mit Auszeichnung. Aber was kam danach? Damals absolvierte nur jede vierte Frau das College, was bedeutete, dass drei von vier Frauen sich auf ihre häusliche Zukunft vorbereiteten: heiraten, Familie gründen, den Haushalt verwalten und Kinder erziehen. Aber nicht Hannah. Sie wollte die weite Welt sehen. Für sie kam nur der Journalismus in Frage. Sie begann ein Volontariat bei einer Zeitung in Washington. Damit hatte sie, ohne dass es ihr bewusst war, einen wichtigen Schritt für die Rückkehr nach Greenwood gemacht, wo der Ort auf der Insel noch immer auf sie wartete. Denn trotz der Einsagungen und der lauten Geräuschkulisse der Hauptstadt flüsterte der Ort unaufhörlich auf sie ein. Er war in ihrem Gehirn nach wie vor fest verankert und spukte in ihrem Unterbewusstsein umher.

Die Journalistin

April 1952

Bevor sie das Großraumbüro der Zeitungsredaktion betrat, blieb sie in der Türschwelle stehen und wischte mit einem Taschentuch ihre Schuhe ab. Der Lärm der wütenden Schreibmaschinen drang in ihre Ohren. Die News wurden unter Zeitdruck zu Papier gebracht. Schließlich bekam nur die Zeitung die Aufmerksamkeit der Leser, die die aktuellste und brisanteste Neuigkeit zuerst verkündete.

„Von wegen Frühlingsanfang“, schimpfte Hannah, als sie an den Schreibtischen vorbei zu ihrem eigenen stolzierte. Ihre langen blonden Haare waren zu einem Dutt zusammengebunden, der ihr einen strengen Touch verlieh. „Es ist einfach nur kalt und nass.“

„Stell dich nicht so an. Es ist ein typischer Tag im April. Warum sollte es hier anders sein als anderswo?“, erwiderte ein junger, nett anzusehender Mann mit welligen braunen Haaren, dessen Kopf sich vom Schreibtisch erhob. Auf der Nase saß ein modisches Brillengestell und unter dem blauen Pullunder schaute ein weißer Hemdkragen hervor.

„So was kann nur von dir kommen, Trevor.“

Hannah setzte sich an ihren Schreibtisch; sie arbeiteten Angesicht zu Angesicht. Der Regenschirm, den sie bereits am Eingang des Gebäudes vom Regenwasser befreit hatte, landete am bollernden Heizkörper neben ihr.

Trevor war ihr Arbeitskollege und ein guter Freund zugleich. Sie kannten sich seit der Schulzeit und bekamen glücklicherweise bei derselben Zeitung eine Ausbildungsstelle. Obwohl sein Schreibtisch im Chaos versank, verlor er nie die Orientierung. Unter all den Papierstapeln und Akten fand er stets die richtigen Unterlagen.

Zumindest befinden sich keine Essensreste oder andere widerliche Dinge darauf, dachte Hannah. Die Oberfläche ihres Schreibtisches war fast leergeräumt, und die Schreibmaschine befreite sie jeden Tag vom Staub. Sie brauchte die Ordnung, denn sie hatte genug mit ihren Gedanken zu tun, die unkontrolliert im Kopf umherschwirrten und sie nervös machten.

Auf dem so gut wie leeren Schreibtisch stach die darauf platzierte Spielzeugfigur einer Fledermaus besonders hervor. Als Trevor einmal nach dieser gefragt hatte, hatte Hannah geantwortet, dass sie Fledermäuse bewundere, da diese mit den Ohren sahen, nicht mit den Augen. Mithilfe des Echolots machten sie Unsichtbares akustisch sichtbar. Und Hannah wünschte sich, dass sie das auch könne, um die Menschen zu durchschauen. Von der Insel in Greenwood, der Fledermaus und dem kleinen Mädchen wusste Trevor nichts. Sie hatte ihm nie davon erzählt, und sie sah auch keinen Grund, dies zu tun.

Trevor lehnte sich mit seinem Stuhl nach hinten und spielte mit einem Bleistift. „Mister Aden meint, er hätte etwas Großes für uns. Er will mit uns sprechen. Es geht um unseren Beitrag für die morgige Ausgabe.“

„Hoffentlich! Wir beide sind lang genug dabei, um mehr beizutragen, als die kleinen, unbedeutenden Kaffeeklatsch-Geschichten am Rand des Lokalteils. Und das nach einem Tag Arbeit. Wir sind keine Volontäre mehr. Ich dachte, als Journalistin wäre ich in meinen Entscheidungen frei. Stattdessen bin ich abhängig von diesem … Kerl.“

„Du bist noch jung und bereits bei der größten Zeitung der Stadt tätig. Was willst du mehr? Deine Zeit kommt schon noch“, sagte Trevor. „Wenn du dich zu sehr puscht und dir zwischendurch keine Erholung gönnst, wirst du früh zusammenbrechen. Du solltest mal abschalten. Deine Mutter hat dich doch gefragt, ob du mit ihr nächstes Wochenende nach Greenwood fährst? Das würde dir sicher guttun.“

„Ich weiß.“ Die Anspannung in Hannahs Körper entwich. Ihre Schultern und Stimme lockerten sich. „Ich habe ein ungutes Gefühl, sie allein fahren zu lassen. Ich würde ja auch gern mal wieder das Grab meiner Großeltern besuchen. Seit deren Tod bin ich nicht mehr dort gewesen. Andererseits will ich beruflich vorankommen. Da bleibt nicht viel Zeit. Zum Glück ist meine Mutter nicht sauer auf mich.“

Sie starrte auf die Fledermaus, und die Figur begann zu flüstern: „Kooomm zuuu miiir, Hannah. Du siehst überarbeitet und müüüde aus. Ich werde miichh um diichh kümmern.“

Hannahs Herz pochte, sie schaute um sich, doch niemand reagierte auf die zum Leben erweckte Spielzeugfigur. Ihre Kollegen gingen wie beschäftigte Ameisen in einem Ameisenhügel ihren Arbeiten nach. Auch Trevor schien nichts bemerkt zu haben.

Dann wurde Hannah durch eine laute Stimme herausgerissen, die durch das Großraumbüro schallte.

„Miss Soldtobury, Mister Banks!“

Es war die Stimme von Mr. Aden, dem Redaktionschef.

„Kommen Sie beide in mein Büro!“

Mr. Aden

Mr. Aden war Mitte fünfzig, trug für gewöhnlich karierte Anzüge und in seinem Mundwinkel steckte meist eine Pfeife. Sein Büro war ein Glaskasten am Rand des Großraumbüros.

Trevor war während des Meetings sehr engagiert, rutschte im Stuhl hin und her, beugte sich mal nach vorn, und mal lehnte er sich zurück. Seine Arme fuchtelten wie die eines Kraken im Raum umher. Mr. Aden wies ein ähnliches Verhaltensmuster auf. Nur Hannah rutschte tiefer und tiefer den Stuhl hinunter. Sie wirkte enttäuscht. Erst am Ende des Gesprächs nickte sie ihrem Boss zu.

Jawohl, Sir.

Ich habe verstanden, Sir.

Alles klar, Sir!

Hannah schwieg, als Trevor und sie das Büro verließen, das Großraumbüro durchschritten, mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage fuhren und in Trevors Auto stiegen. Erst als sie aus dem Redaktionsgebäude herausgefahren waren und sich im dichten Straßenverkehr eingefügt hatten, brach sie ihr Schweigen.

„Dieser blöde Patriotismus. Nichts gegen unsere Armee, wir können wirklich froh sein, dermaßen gut aufgestellt zu sein, aber wieder einmal geht die Wahrheit verloren.“

Trevor schaltete und waltete sich durch die Straßen. „Betrachte es als einen ehrenvollen Beitrag für unser gelobtes Land.“

„Und was ist mit dem freien Journalismus? Wir leben doch in einem freien Land, oder? Wir haben ein Anrecht darauf.“ Sie lehnte ihren Kopf gegen die Seitenscheibe und beobachtete die Menschen auf den Fußwegen. Die ersten dünnen Sonnenstrahlen durchbrachen die Wolkendecke und ließen die nassen Straßen und Bürgersteige funkeln.