Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Los Angeles, die Stadt des Entertainments und der Skandale, hat schon alles gesehen. Die Stadt kann nichts mehr schockieren. Eigentlich. Denn mit dem gastierenden Zirkus von Ron Simon hat niemand gerechnet. Auch nicht mit den bizarren Todesfällen, die mit den Zirkusplakaten in Verbindung gebracht werden. Die Plakattheoretiker sind davon überzeugt, dass die Zirkuscrew diese als Portale benutzt, um die Opfer unbemerkt zu töten. Und auch die Tierschützer und Medien drängen sich dem Zirkus auf.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 214
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
www.jantrouw.de Instagram: @jantrouw.writer
Hurra, hurra, der Zirkus ist da, kommt her und sagt allen Bescheid.
-Jan Trouw-
Randolph & Mortimer
Hereinspaziert
Die Ankunft
Hallo, Officer!
Peters Apartment
L.A. bei Nacht
Thomas
Feierabend für heute
Morning Show
Dunkles Herz
Lester
Laura
Morning Show
Ron Simon
Deal oder No Deal?
Marta Morosow
Sue
Der Einlass
Die Eröffnungsshow
Ein neuer Morgen
Mr. Big
Morning Show
The Show Goes On
Tagesprogramm
André Renoir
Ryu Nakamura
Morning Show
Grand Park
Amelie Bergen
Alle lieben Clowns, oder?
Michael Muller
Let Me Entertain You
Ich brauche Abwechslung
Showtime
Feierabend für heute?
Die Kinovorstellung
Watson
Besuch am frühen Morgen
Martas große Chance
Der Abend der Abende
Möge die Show beginnen!
Spannung liegt in der Luft
Tiger
Marta in Action
Was nun?
Im Zirkuszelt
Alles hat ein Ende
Mr. Mullers Rendezvous
Nachtschicht
Was bleibt …
Beim Erklingen der fröhlichen Zirkusmusik denkt man an lustige Clowns. An Elefanten, die Männchen machen. An Akrobaten, die in schwindelerregender Höhe durch die Lüfte fliegen. An Schlangenmenschen, die sich verbiegen, verknoten und in kleine Kisten quetschen. An Tiger, die durch brennende Ringe springen. An einen Magier, der seine Assistentin in drei Teile sägt. Und an einen gut gelaunten Zirkusdirektor.
Jene Zirkusmusik ertönte heute Mitternacht in den Straßen von Downtown Los Angeles. Sie war mehrere Blocks weit zu hören und näherte sich dem Pershing Square. Ein öffentlicher Park inmitten der Hochhausschluchten, der wie ein Betonspielplatz für Erwachsene wirkte, oder wie das Freiluftkunstwerk eines drogenabhängigen Künstlers.
„Hörst du das?“, fragte Randolph, der auf der Parkbank saß und versuchte, die Musik zu orten. Bei ihrem Erklingen hatte er das Bier von den Lippen genommen und ein zerknittertes Foto aus seiner abgenutzten Jacke hervorgeholt. Von sich als kleiner Junge, zusammen mit seinen Eltern, als die Welt noch in Ordnung war. Zumindest ließ die Momentaufnahme dies vermuten.
„Was soll ich hören?“, erwiderte Mortimer, der sich zwischen den Palmen erleichterte. Der Alkohol drückte auf seine Blase. Sein Mitstreiter und er hatten über den Tag so einige Flaschen leer getrunken. Es war der hauptsächliche Zeitvertreib der beiden Männer, die auf der Straße lebten. Mortimer war sozusagen Randolphs neue Familie.
„Na, die wunderbare Zirkusmusik“, sagte Randolph verwundert und stellte die Bierflasche neben dem verschmutzten Schlafsack und seinem wenigen Hab und Gut ab, das er noch besaß.
„Welche Zirkusmusik? Bist du schon so besoffen?“, rief Mortimer zurück. Seine Blase wollte sich einfach nicht leeren. „Ich höre nichts. Rein gar nichts!“
„Ich schon, aber die Bäume und Büsche versperren mir die Sicht. Ich bin gleich wieder da.“
Zugegeben, Randolph war angetrunken, aber er war sich sicher, noch zu wissen, was real war, und was Einbildung.
„Dann warte bitte so lange, bis ich mit dem Pinkeln fertig bin, sonst passt niemand auf unsere Sachen auf. Jemand könnte es klauen. Und wenn die Cops dich an den Treppenstufen sehen, schmeißen die uns vom Platz. Dann müssen wir uns einen neuen Schlafplatz suchen!“
Überall an den Parkeingängen hingen Hinweisschilder, die einem sagten, dass man dort keinen Alkohol trinken durfte. Das Kampieren, das Zumüllen und Hunde ohne Leine waren ebenfalls untersagt. Das hinderte die Obdachlosen jedoch nicht daran, dort regelmäßig zu übernachten. Wo sollten sie sonst auch hin? Sie waren nirgendwo erwünscht. Und solange sie keinen Ärger machten, und sich niemand über sie beschwerte, schauten die Cops meist weg. Auf dem Pershing Square saßen die Obdachlosen wie in einer Quarantänezone zusammen, und die Menschen konnten den Park umgehen.
„Randolph?“
Stille.
„Randolph!? Verflucht! Der ist schlimmer als ein kleines Kind! Hier wird keine Musik gespielt. Die hört er doch nur in seinem Kopf. Das kommt vom Alkohol“, fluchte Mortimer und presste den restlichen Urin aus sich heraus. Er wollte schnellstmöglich zu den unbeaufsichtigten Sachen zurückkehren. Auch wenn Obdachlose vermeintlich nichts Kostbares besaßen, in deren Augen konnte eine abgewrackte Jacke, eine löchrige Decke oder ein stumpfes Messer wertvoll sein.
Als Mortimer sein bestes Stück in die Hose mit zerfleddertem Bund einpackte, war sein kleiner Freund noch nicht ganz fertig, und ein paar Tropfen fielen in die Buxe.
So ein Mist.
Randolph erreichte indes die Kreuzung South Hill und 6th Street und horchte in die Richtung, aus der er die Zirkusmusik vernahm. Sie schien nur wenige Meter entfernt zu sein. In wenigen Sekunden würde er ihre Quelle erblicken.
Und dann war es so weit. Sehr zur Freude von Randolph. Seine Augen funkelten wie die eines Kleinkindes.
Die Musik ertönte aus den Boxen eines Werbetrucks, auf dessen Ladefläche ein über zwei Meter hoher, beidseitig plakatierter Werbeträger stand. Die Plakate zeigten zu den Bürgersteigen, um die Aufmerksamkeit der dort wandelnden Seelen zu erreichen und diese zu einem Zirkusbesuch zu bewegen. Ein Tiger und ein Löwe waren darauf abgebildet, und so lebensecht, dass man glaubte, sie seien von einer Fotokamera lebendig eingefangen worden.
Der Werbetruck, dessen dunkelgetönten Scheiben einen Einblick in das Führerhaus verwehrten, blieb neben dem Obdachlosen stehen. Der Truck schien nur für Randolph zu halten, denn für das Fahrzeug gab es keinen Grund, zu stoppen. Die Ampeln waren abgeschaltet, und die Straßenkreuzung leer.
Randolph klatschte mit den Händen. Sein offener Mund ließ Laute der Freude entweichen. Dass er sich zu diesem Zeitpunkt allein auf der Straße befand, dass weder Mensch noch vorbeifahrende Fahrzeuge zugegen waren, bemerkte er nicht. Er schwelgte in den schönsten Erinnerungen aus seiner eher traurigen Kindheit. Als Kind hatte er beide Eltern verloren, seine Mutter an einer Überdosis Heroin, seinen Vater an einer Leberzirrhose. Aber der Zirkusbesuch mit seinem Betreuer und den anderen Kindern aus dem Kinderheim war das Beste, was ihm in seinem trostlosen Leben widerfahren war.
Die Menschen vom Zirkus waren immer so fröhlich. Sie grinsten und sie lachten. Das Leben in der Manege schien die pure Lebensfreude zu sein. Lustige Clowns, hübsche Artisten und glückliche Tiere. Wie Seelöwen etwa, die auf ihren Nasen große Bälle balancierten. Und dann diese fröhliche Musik. Was für ein Spaß. Was für eine wunderbare heile Welt, in der er zu gern gelebt hätte. Stattdessen ging es nach der Vorstellung zurück ins Kinderheim. Es folgten ein vorzeitiger Schulabbruch, eine frühe Alkoholabhängigkeit und eine verkorkste Ehe. Am Ende landete er auf der Straße.
Jetzt war es wieder soweit. Das Plakat auf dem Werbetruck sagte ihm, dass ein Zirkus in die Stadt kam. Man versprach ihm Die größte Show auf Erden.
Randolph malte sich aus, wie er am Rande der Manege saß und die Show genoss, wie damals als Kind. Doch dann holte ihn der Blick des Tigers ins Hier und Jetzt zurück. Für einen Moment dachte er, das Tier starre ihn an.
Bestimmt nur eine optische Täuschung. Ein Trick der Werbemacher, dachte er.
Um seine Theorie zu untermauern, ging er so nahe heran, bis seine Nasenspitze das Plakat berührte. Die Zirkusmusik schallte aus den Boxen und brachte sein Trommelfell fast zum Platzen, sein Herz sprang aus dem eigenen Rhythmus, und dennoch glaubte er, ein tiefes Fauchen vernommen zu haben. Vorsichtshalber, um sein Glück nicht herauszufordern, entfernte er sich einen Schritt vom Werbetruck, seine Augen weit geöffnet.
Wieder ein Fauchen.
Jetzt lauter.
Und als Randolph glaubte, den warmen Atem der Raubkatze zu spüren, löste sich der Kopf des Tigers vom Plakat. Eine Pfote schlug nach ihm, er konnte gerade noch ausweichen. Bei seinem besoffenen Zustand kam dies einem Wunder gleich, aber die aufkommende Angst hatte den Alkoholpegel derartig schnell gesenkt, dass seine Reflexe zu solch einer Reaktion in der Lage gewesen waren.
Das ist nicht real!
Das ist der Alkohol.
Die Augen auf das Tier gerichtet, kehrte Randolph in einer langsamen Rückwärtsbewegung zu den Treppenstufen zurück, über die er zuvor freudestrahlend hinuntergeeilt war und Mortimer beim Pinkeln allein gelassen hatte. Doch nun regierte in ihm die Furcht. Seine Unterhose füllte sich mit Urin.
Die Großkatze sprang aus dem Plakat und folgte ihm.
Randolph fragte sich, ob noch jemand den Tiger sah. Das Tier war nicht zu übersehen. Er blickte nach links, er blickte nach rechts, aber er war allein. Ganz allein. Keine vorbeifahrenden Fahrzeuge. Keine Menschen. Niemand, der sich am Rande des Pershing Square aufhielt. Für eine Millionenmetropole wie Los Angeles sehr ungewöhnlich. Genauso ungewöhnlich, wie das gegenwärtige Ereignis vor ihm.
Er stolperte über die erste Treppenstufe und landete mit dem Hintern auf dem Boden, doch von Schmerzen keine Spur. Der Adrenalinspiegel war zu hoch.
„HILFE! HILFE! MORTIMER! HILFE! HIER IST EIN TIGER!“, schrie er, aber Mortimer schwieg. Und auch niemand sonst ließ sich blicken. Niemand kam, um ihn zu retten.
Mortimer, wo bist du?
Der Tiger ging auf Randolph zu und blieb zwischen dessen Füßen stehen. Das Tier brüllte und fauchte.
Ruhig bleiben.
Bloß keine schnellen Bewegungen.
„Verschwinde, geh weg, bitte!“, flehte Randolph, doch die Raubkatze dachte nicht daran, wegzugehen. Sie drückte ihre Vordertatzen auf seinen Brustkorb. Ihre Zähne kamen seinem Gesicht bedrohlich nah.
„HIIILLLFEEE!“, schrie Randolph.
Ein höllischer Schmerz in seiner Brust. Die Krallen arbeiteten sich tief in seinen Körper hinein und wühlten sich durch die Eingeweide. Bevor der Tiger mit einem tödlichen Biss seinen Hals durchbohrte, brach Randolph bewusstlos zusammen.
■
„Randolph?!“
Nachdem er die Palmen mit seinem bierhaltigen Urin gedüngt hatte, war Mortimer zur Parkbank zurückgeeilt. Ihr Hab und Gut war noch da, Randolph fehlte.
Dieser leichtsinnige Schwachkopf. Jetzt ist er tatsächlich der Musik in seinem Kopf gefolgt.
Dann hörte er seinen Kumpel schreien: „HILFE! HILFE! MORTIMER! HILFE! HIER IST EIN TIGER!“
Dem Geschrei folgend, entdeckte er ihn regungslos auf der untersten Treppenstufe. Passanten eilten heran. Jeder wollte wissen, was passiert war, aber niemand fasste den leblos liegenden Mann von der Straße an.
Mortimer kniete sich zu Randolph hinunter und prüfte dessen Puls; dieser war niedrig und schwach. Instinktiv begann er mit der Ersten Hilfe.
Hat er eine Alkoholvergiftung?
Ist es sein Herz?
„Komm schon Junge, atme!“
Mortimer drückte seine Hände auf Randolphs Brustkorb.
„Rufen Sie einen Rettungswagen, bitte!“, flehte er die Leute um sich herum an, doch die Schaulustigen zückten ihre Smartphones nur, um das Ganze zu filmen oder zu fotografieren und die Aufnahmen in den sozialen Netzwerken zu teilen. Niemand tätigte den Notruf.
„Atme, Randolph, atme!“
Dann erblickte er einen herannahenden Streifenwagen, rannte auf diesen zu und wäre fast auf die Motorhaube gefallen, wenn das Vehikel nicht abrupt gestoppt hätte.
Der Officer wollte den Penner wegen dessen Kamikazeaktion anpflaumen, er hatte das Fenster dafür bereits heruntergefahren, aber als er den anderen Obdachlosen an den Treppenstufen liegen sah, verpuffte der Ärger. Stattdessen rief er sein verinnerlichtes Handlungsprotokoll ab. Er aktivierte das Warnlicht und die Einsatzleuchten, während sein Kollege über die Zentrale einen Krankenwagen anforderte. Dann gingen sie zu Randolph. Mit Handschuhen, die sie eigens dafür anzogen, untersuchten sie den Mann.
Tot.
Definitiv tot.
Dies bestätigten auch die später eintreffenden Sanitäter. Es gab keine äußeren Hinweise, die auf die Todesursache schließen ließen. Erst die folgende Obduktion ergab die Diagnose Herzversagen. Niemand ahnte oder wusste, dass der tote Obdachlose von einem Tiger angegriffen und getötet worden war. Randolphs Leichnam hatte weder eine Bisswunde am Hals, noch irgendwelche Kratzspuren von einer Raubkatze auf dem Brustkorb. Der Körper zeigte keine Spuren eines Angriffs. Nur Randolph allein wusste, wer ihn umgebracht hatte, aber er konnte es niemandem mehr sagen.
Hereinspaziert, hereinspaziert.
Treten Sie näher.
Erleben Sie Die größte Show auf Erden. Ein buntes und abwechslungsreiches Programm erwartet Sie. Ein Feuerwerk der Sinne. Fantastische Tierdressuren und einzigartige Darbietungen unserer Artisten. Lassen Sie sich von der Wahrsagerin Madame Madusa Ihre Zukunft vorhersagen. Bewundern Sie die Illusionen und Magie des großen Rossini. Staunen Sie über Rufus, den stärksten Mann des Universums. Und erleben Sie, wie die Schlangenfrau Mai-Lin ihre Körperteile in jede beliebige Richtung verbiegt.
Oder wollen Sie lieber lachen? Dann werden Sie von den lustigen Clowns Bill und Phil total begeistert sein.
Das besondere Highlight unserer Show jedoch sind Sie.
Ja, Sie haben richtig gehört.
In jeder Show wird einer von Ihnen, liebe Zirkusbesucher und -besucherinnen, als Special Guest eingeladen. Der oder die Auserwählte bekommt in der Manege ein ganz besonderes Erlebnis serviert. Danach wird nichts mehr so sein wie zuvor.
Glauben Sie mir.
Wenn ich Sie also auf der Straße anspreche und als Special Guest einlade, so lehnen Sie nicht ab. Das wäre doch zu schade. Sie würden es bereuen.
Hereinspaziert, hereinspaziert.
Treten Sie näher.
Erleben Sie Die größte Show auf Erden.
Wenn Sie mein Zelt nicht freudestrahlend betreten, so werden Sie es freudestrahlend verlassen.
Versprochen.
Hurra, hurra, der Zirkus ist da,
kommt her und sagt allen Bescheid.
Bereits Tage zuvor hatten die Plakate die Ankunft des Zirkus angekündigt, doch Zirkusdirektor Ron Simon wusste, dass er die Aufmerksamkeit seiner potentiellen Besucher nicht durch das bloße Aufhängen von passiven Werbemitteln gewann. Oh, nein! Deshalb fuhr seit Tagen zusätzlich ein Werbetruck mit einem doppelseitigen Plakat auf der Ladefläche durch Los Angeles und beschallte die Straßen mit Zirkusmusik. Aber auch das reichte ihm nicht, denn der Zirkusdirektor war ein Genie in Sachen Aufmerksamkeitsgewinnung. So war auch der Ort, an dem der Zirkus gastieren sollte, nicht zufällig gewählt (Sie werden noch erfahren, um welchen Ort es sich handelt). Was für ein Geniestreich seinerseits. Und der Weg dorthin diente ebenfalls dazu, die Aufmerksamkeit der auf den Straßen wandelnden Seelen zu gewinnen.
Der Zirkus erreichte gegen Mittag die Union Station, wo die Zirkuswagen sodann von den flachen Zugwaggons rollten und den heißen Asphalt von Los Angeles unter den Rädern zu spüren bekamen. Für die bevorstehende Fahrt wurden die Seitenverkleidungen der Tierwagen hochgeklappt, damit die Passanten die Tiere von allen Seiten bestaunen konnten.
Wie lang der Konvoi letztendlich war, wusste Ron Simon nicht. Für ihn kam es auf den Inhalt an, denn, um Die größte Show auf Erden zu sein, bedurfte es eben viel. Es waren unzählige Wagen. Quasi ein Zoo auf Rädern. Wie einst auf der Arche Noah hatte der Zirkusdirektor etliche Tierarten dabei: Tiger, Löwen, Affen, Elefanten, Kamele, Papageien, Kalifornische Seelöwen, Mustangs, Zebras, Lamas, Kängurus, Hausschweine, Nashörner, Nilpferde, einen Strauß, einen Gorilla, und, und, und; und darüber hinaus noch einige Tiere mehr. Und dann waren da noch – neben der attraktiven Assistentin Shauna – die Clowns Bill und Phil, die Wahrsagerin Madame Madusa, der große Magier und Illusionist Rossini, den nichts erschütternden Kampfkoloss Rufus, die Schlangenfrau Mai-Lin, die akrobatischen Zwillingsbrüder Wraight sowie weitere Artisten, Akrobaten, Jongleure und Helfer, die den Zirkus in Gang hielten.
Zirkusdirektor Ron Simon war gekleidet, wie man sich einen Zirkusdirektor vorstellte: schwarzer Zylinder, gestylter Bart, roter Frack mit goldenen Knöpfen und Kordeln, eine schwarze Hose und die dazu passenden Stiefel. Und er hatte einen Stock bei sich, mit einer leeren Glaskugel als Knauf am oberen Ende, die wie ein Gefäß aussah. Der Zirkusdirektor stand auf der Ladefläche eines Pick-up-Trucks, an der Spitze des Konvois.
Obwohl noch nicht alle Zirkuswagen vom Zug gerollt waren, musste sich die Kolonne allmählich in Bewegung setzen, denn auf der Rampe hatte sich ein Stau gebildet. Und kaum war dieser aufgelöst, folgten die Nächsten. Ron Simons Zirkus brachte den Verkehr in Los Angeles zum Erliegen. Dabei litt Los Angeles auch so schon unter den niemals endenden Verstopfungen. Als Pendler verbrachte man sehr viel Zeit auf dem Asphalt, der Verkehr kroch generell nur sehr langsam voran; und nun das.
Die Entfernung zwischen der Union Station und dem Ziel betrug gerade einmal zwei Meilen, doch auf der kürzesten Strecke gab es nicht genügend Passanten. Also beschloss Ron Simon, eine Parade daraus zu machen und legte einen kleinen Umweg ein. Er hatte alle Zeit der Welt.
Es ging nach Downtown. Um die Mittagszeit war dort entsprechend viel los. Ideal, um allen zu sagen, dass der Zirkus in der Stadt war.
Hurra, hurra, der Zirkus ist da,
kommt her und sagt allen Bescheid.
Und in der Tat, es zog sämtliche Leute an die zahlreichen Fenster der Bürogebäude und Wolkenkratzer. Andere verließen die Cafés und Läden, um zu begreifen, was sie soeben sahen.
Zwei Artisten mit vogelartigen Pestarztmasken und schwarzen Vogelfedern am Körper stolzierten auf Riesenstelzen. Langsam. Stets darauf bedacht, auf niemanden unter sich zu treten.
Der Feuerspucker nahm einen Schluck Brandmittel aus der Flasche, behielt die Flüssigkeit kurz im Mundraum und spie diese dann in kleinen Portionen gegen die brennenden Fackeln. Gewaltige Flammen schossen empor; und die Passanten jubelten.
Die beiden Clowns Bill und Phil, mit ihren roten Nasen und überdimensionalen Schuhen, flitzten ziellos auf und ab. Sie trieben Schabernack mit den Schaulustigen am Straßenrand, oder mit sich selbst, und übersahen dabei fast die rabenartigen, auf Riesenstelzen wandelnden Gestalten.
Auf der offenen Ladefläche eines Trucks machte die asiatische Schlangenfrau Mai-Lin Verrenkungen und Verbiegungen, die nicht einmal beim Yoga oder Kamasutra möglich waren.
Rufus wirbelte mit einer Langhantel herum, an deren beiden Enden die schwersten Gewichte der Welt hingen. Natürlich mit nur einer Hand.
Rossini führte den Schaulustigen am Straßenrand kleine Zauberstücke vor. Besonders die Kinder waren fasziniert.
Die Elefanten, Kamele, Zebras und der Strauß liefen wie von Zauberhand brav an der Seite ihrer Trainer. Die Schimpansen, Nashörner und der Gorilla blieben hingegen in ihren Zirkuswagen. Man wollte bei diesen Dickköpfen kein Risiko eingehen.
Die Menschenmasse wuchs. Die Bürgersteige waren in kürzester Zeit überfüllt. Es war wie bei den berühmten Paraden, die man aus vergangenen Zeiten kannte, wenn Präsidenten oder Astronauten bei wildem Konfettiregen durch Hochhausschluchten chauffiert und begeistert empfangen wurden. Doch Ron Simon war kein Präsident, und auch kein Astronaut. Niemand in Los Angeles hatte mit solch einer Parade gerechnet, denn sie war nicht angemeldet.
Die Leute zeigten auf den Konvoi und holten ihre Smartphones hervor, schossen Bilder und luden sie mit einem Kommentar in ihren Social-Network-Profilen hoch.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Da verwunderte es nicht, dass die Medien dieses Phänomen unverzüglich als Breaking News in ihre laufenden Sendungen schalteten oder über Banner am unteren Bildschirmrand einblendeten. Die ersten Übertragungswagen der Sender tauchten auf, und schon bald kreisten zwei Helikopter am Himmel. Ein Helikopter des größten Fernsehsenders der Stadt und ein Hubschrauber des Los Angeles Police Departments.
Auch April Harbor und Peter Nathan, zwei junge Studenten und Blogger der Animal Rights Association, kurz ARA, die die Haltung von Tieren in Gefangenschaft bekämpften, stießen durch Zufall auf die Parade. Während der korpulente Peter die Menschentraube behutsam und mit Bedacht passierte, um mit der Kamera an die gewünschten Motive zu gelangen (und weil er wegen seiner mangelnden Kondition schnell außer Atem geriet), war April Harbor weniger zimperlich. Die schlanke Frau, deren roten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, huschte durch die Menge und zwischen den Zirkuswagen umher, um so nah wie möglich an ihre Motive heranzukommen. Teilweise bis in die Reichweite der Klauen und Pfoten der Tiere, die weder aggressiv noch gestresst waren; was April wunderte. Zugegeben, die Tiere waren ein lautes Publikum im Zelt gewohnt, aber die gegenwärtige Parade durch Downtown war der reinste Hexenkessel.
Weitere Motive von April waren die menschlichen Attraktionen des Zirkus, die vor und auf den Wagen mit den Passanten flirteten und ihnen zuwinkten.
Shauna, die ihren Auftritt in der Menge genoss, lächelte und posierte für Aprils Kamera. Bill schnitt diverse Grimassen, und Phil drückte seine rote Nase gegen das Objektiv. Der elegant gekleidete Magier und Illusionist, der große Rossini, lächelte, als er die rothaarige Fotografin entdeckte. Er zauberte aus seinem Zylinder eine Rose hervor und überreichte sie ihr. Die jungen Zwillingsbrüder Wraight, die mit ihren 1990er-Boyband-Frisuren und den hautengen Sportoutfits wie Elitestudenten aussahen, umgarnten April. Sie nahmen sie in die Mitte und hoben sie hoch, um sie dann auf die jeweils eigene innere Schulter abzusetzen. Von dort aus knipste April sodann unaufhörlich viele Fotos, ehe die beiden Turner sie wieder sicher und unbeschadet hinunterließen.
Die Wahrsagerin Madame Madusa hielt eine Glaskugel in der Hand. Der lilafarbene Nebel darin wanderte schwerfällig umher. Als sie April auf sich zukommen sah, glitt sie mit ihrer Hand über die Kugel, und kleine Blitze zuckten darin auf.
Nur ein Akteur knurrte: Rufus. Dem Kampfkoloss und stärksten Mann des Universums, mit seinem gepflegten, nach oben gezwirbeltem Oberlippenbart, schmeckte die Parade überhaupt nicht. Und jetzt auch noch diese junge Rothaarige, die wild herumtanzte und Bilder von ihm knipste. April realisierte dies ziemlich schnell und suchte sich sodann ein anderes Motiv, obwohl sie sein gestreiftes Outfit, ähnlich dem eines Ringers, mit heraussprießender Brustbehaarung amüsant fand.
Sie war so mit dem Fotoschießen beschäftigt, dass sie Peter verlor. Für solch einen Fall, der aufgrund Aprils ungestümen Art regelmäßig eintrat, hatten beide die Absprache getroffen, sich später in Peters Wohnung zu treffen. Dort würden sie das gewonnene Material sichten und in ihrem gemeinsamen Blog veröffentlichen.
Hurra, hurra, der Zirkus ist da,
kommt her und sagt allen Bescheid.
Die ersten Sirenen von herannahenden Polizeiwagen waren zu hören. Der Zirkusdirektor wusste, dass das passieren würde, er hatte die Polizei mit einkalkuliert, sie kam jedoch schneller als erwartet. Er hätte gern noch einen Schwenk zum Walk of Fame gemacht, wo die Hollywood Stars ihre Sterne in den Boden versenkten, aber nun ja, er hatte, was er wollte. Er hatte die gewünschte Aufmerksamkeit erhalten.
Die Sirenen waren nur noch einen Block entfernt. Ron Simon klopfte mit dem Stock auf das Dach des Pick-up-Trucks, und der Konvoi stoppte. Gelassen erwartete er die Ankunft der Streifenwagen.
„Sind Sie für diesen Zirkus hier verantwortlich?“, fragte der Officer, nachdem er aus seinem Streifenwagen ausgestiegen war.
„Selbstverständlich, Officer“, entgegnete Ron Simon vom Pick-up-Truck herab. Er grinste über das ganze Gesicht. Als ob er nach einem Zahnarztbesuch voller Stolz seine weiße Zahnpracht präsentierte. Er scannte das Namensschild seines Gegenübers. „Officer Jones. Schön, dass Sie zu uns stoßen.“
„Ihre Parade ist nicht angemeldet!“
„Ich bin sehr spontan, wissen Sie? Und Sie sehen ja, es bereitet vielen Menschen Freude. Ich finde, darauf kommt es an.“
„Sie verstoßen gegen sämtliche Vorschriften und Gesetze. Sie blockieren den Verkehr und sorgen für Unruhe und Aufruhr.“
„Ist jemand zu Schaden gekommen? Oder gestorben?“
Officer Jones schaute irritiert, rang nach Fassung. Und als er diese wiedergefunden hatte, trat er näher an den Zirkusdirektor heran. „Wo wollen Sie eigentlich hin?“
„Dorthin“, sagte Ron Simon und zeigte dem Officer einen Behördenbescheid. „Dort werden wir unser Zelt aufschlagen. Offiziell genehmigt von der Stadt Los Angeles. Und hier die Genehmigung vom Besitzer des Grundstücks.“
Beim Anblick der Adresse verstummte Officer Jones, er musste sich ein weiteres Mal sammeln. Er dachte zunächst an einen Scherz, doch ihm war nicht zum Lachen zumute. Ohne Zweifel, der Bescheid wurde von der zuständigen Behörde ordnungsgemäß ausgestellt.
„Wir eskortieren Sie direkt dorthin. Den Einsatz werden wir Ihnen natürlich in Rechnung stellen, Sir!“
„Gewiss, Officer. Sie tun nur Ihre Pflicht.“
Dem breit grinsenden Zirkusdirektor war bewusst, dass die spontane Parade nicht günstig werden würde, aber in seinen Augen war sie notwendig. Die Parade diente der Aufmerksamkeitsgewinnung. Und er hatte keine finanziellen Sorgen. Er musste seinen Zirkus an keinen Megakonzern verkaufen, oder zahlungsstarke Sponsoren aufsuchen, die ihn finanziell unterstützten. Er teilte nicht die Schicksale anderer Zirkusse. Wie etwa der Zirkus Dreams-of-Art, der zusätzlich den Namen eines weltberühmten Nassrasierherstellers trug, oder der Zirkus Grandissimo, über dessen Zelt das Logo eines deutschen Automobilherstellers thronte. So etwas würde Ron Simon nie im Leben zulassen. Der Zirkus war sein Baby. Er wollte keine monetären Hilfen von außen, damit irgendwelche Gönner Mitspracherecht bekamen. Er konnte seine Kosten allein durch die Erlöse der Shows und den Nebenattraktionen rund um das Zelt decken.
Die Konkurrenz war hart (das Fernsehen, YouTube, das Kino, Online-Streaming-Dienste, Konzerte, Sportveranstaltungen, soziale Netzwerke, etc.), aber noch war er unbesorgt. Bisher hatte er für jedes Problem eine Lösung gefunden.
Auch die Proteste gegen die Tierhaltung in Zirkussen nahm er gelassen. Während viele Zirkusse dem Druck der Tierschützer nachgegeben und die Tiere aus ihren Programmen genommen hatten, unterhielt Ron Simon weiterhin einen ganzen Zoo. Solange die Zuschauer in seinen Zirkus rannten, war für ihn alles in Ordnung. Und was wäre Die größte Show auf Erden für eine Show ohne die zahlreichen Tiere?
Hurra, hurra, der Zirkus ist da,
kommt her und sagt allen Bescheid.
Der Konvoi setzte sich wieder in Bewegung; und dieses Mal gab die Polizei den Takt … äh … die Fahrtroute vor. Das störte den Zirkusdirektor jedoch nicht. Hauptsache, seine Werbetour ging weiter, und es waren noch ein paar Meilen bis zum Zielort. Bis dorthin sollte dem Zirkus die volle Aufmerksamkeit der Passanten und die der Zuschauer vor den Fernsehbildschirmen gewiss sein. Sein Zirkus würde definitiv in den Abendnachrichten und in den Zeitungsausgaben am nächsten Morgen erwähnt werden.
Ron Simon lächelte und winkte den Schaulustigen zu. Diese lächelten zurück, und er lächelte umso breiter.
Ihr gebildeten Tiere, ihr seid so naiv. Wenn ihr nur wüsstet, ihr verlorenen Seelen.
Er scannte die Menschenmenge. Er war auf der Suche nach einer geeigneten Person, die er als VIP für die Eröffnungsshow einladen konnte. Als seinen Special Guest. Es musste jemand sein, für den die Einladung eine besondere Ehre und Freude sein würde. Eine deprimierte Seele. Doch davon gab es in Los Angeles so viele.
Dann sah er sie. Eine Frau Mitte dreißig, in einem Kleid mit Blumenmuster. Sie war abgemagert, hatte splissiges Haar und Blässe im Gesicht. Sie wirkte seelisch ramponiert, doch beim Anblick der Zirkusparade leuchteten ihre Augen.
Kindheitserinnerungen.
Perfekt, dachte Ron Simon und sprang mit einer Leichtigkeit vom Pick-up-Truck herunter, der Schrittgeschwindigkeit fuhr. Der Fahrer bemerkte seinen Verlust und stoppte. Dies realisierten wiederum die vorausfahrenden Streifenwagen, und der ganze Konvoi kam zum Stehen.
Officer Jones blickte in den Rückspiegel und sah den Zirkusdirektor auf die Dame im Kleid zugehen.
„Hallo, meine Schöne“, sagte Ron Simon mit hypnotischer Stimme. „Wie heißen Sie?“
„Sue.“ Die Wangen der Frau erröteten.
„Sue“, wiederholte er, als ob er den Namen, und damit die Seele der Frau, in sich aufsog. Die Glaskugel am oberen Ende seines Stocks leuchtete kurz auf. „Passt zu Ihnen“, sagte er und schaute ihr liebevoll in die Augen. Seine Stimme hallte nun ein wenig.
„Danke, Mr.?“ Sues Knie wurden weich. Sie sackte fast zusammen.