Happy Hour in der Hölle - Tad Williams - E-Book

Happy Hour in der Hölle E-Book

Tad Williams

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Beschreibung

Der 2. Band der Bobby Dollar Reihe jetzt in broschierter Ausgabe Mein Name ist Bobby Dollar oder auch Doloriel, und natürlich ist die Hölle nicht gerade der angenehmste Aufenthalt für einen Engel. Wir sind dort unten nicht besonders beliebt, nicht mal die sogenannten ›gefallenen‹. Aber es gibt Leute, die halten dort unten meine Freundin Caz fest …« Bobby Dollar, Engel und Anwalt der verlorenen Seelen, macht sich auf in die Hölle, um einen Auftrag seines Mentors im Himmel zu erledigen. Vor allem aber will er die faszinierende Gräfin Casimira von Coldhands wiedersehen – und sie aus der Hölle hinausschmuggeln. Das ist ein äußert schwieriges Unterfangen, da sein Widersacher einer der mächtigsten Teufel der Unterwelt ist: der Großfürst Eligor. Er hasst Bobby ohnehin und es wäre ihm das größte Vergnügen, ihm seine unsterbliche Seele aus dem Körper zu reißen. Oder ihm alle mörderischen Kreaturen der Hölle auf den Hals zu jagen.

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Seitenzahl: 767

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Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse Paperback

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Happy Hour in Hell«

im Verlag DAW Books, Inc., New York

© 2013 by Tad Williams

Für die deutsche Ausgabe

© 2014 / 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: © Birgit Gitschier, Augsburg;

Illustration © Kerem Beyit

Abbildung (Feder) © Photos.com (Tribalium)

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94966-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10735-7

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Printausgabe.

WIDMUNG

Der erste Bobby-Dollar-Band war meinem lieben Freund David Pierce gewidmet. SeitDave uns verlassen hat, sind noch andere gegangen, die mir viel bedeutet haben– Jeff Kaye, Peggy Ford und IainBanks, um nur einige zu nennen.

Ich bin froh, dass Dave so tolle Gesellschaft hat, aber es macht mich sehr traurig, dass sie alle nicht noch ein bisschen länger mit uns hier herumhängen konnten.

INHALT

Prolog

1 Kopfkissengeflüster

2 Fünf zornige Engel

3 Rückkehr

4 Das Messer im Gewand

5 Anruf bei einem Eber

6 Hin

7 Freigesetzt

8 Alte Freunde

9 Ektoplasmisch voll dabei

10 Ein milder, grauhaariger Mann

11 Wahre Namen

12 Ein Engel in meinem Ohr

13 Gob

14 Sünder zu verkaufen

15 Riprash

16 Aus der Mitte entspringt ein dreckiger Fluss

17 Haus Grabesschlund

18 Ein Dunkel wie der Tod

19 Abwärts

20 Block

21 Endstation

22 Die reizende Lady Zinc

23 Eine lange Nacht in der Oper

24 Kein Verlass

25 Vom Regen in die Traufe

26 Unsterblich

27 Die Kanzlei

28 Das ertrunkene Mädchen

29 Der Atem des Himmels

30 Ein anderes Universum

31 Kernige Jungs

32 Emporgehoben

33 Der Konferenzraum

34 Es

35 Höllenhunde

36 Irgendwie bekannt

37 Wasser hat keine Balken

38 In Ketten

39 Chaussee der Isolation

40 Der Grauwald

41 Schmerzreport

42 Dieses lausige T-Shirt

43 Mr. Johnson und ich

44 Im Kofferraum

45 Arbeitsplatzbeschaffung

46 Der witzigste Rassist, den ich kenne

47 Ungelogen

48 Auxilium post factum

Epilog: Die Schneekönigin

PROLOG

Es gibt nun mal Momente im Leben – oder in meinem Fall: im Jenseitsleben –, in denen man sich unwillkürlich fragt, Was zum Teufel tue ich hier? Bei mir sind es zwar mehr als bei den meisten Leuten (im Schnitt zwei pro Woche), aber so einer war noch nie darunter. Ich war nämlich gerade im Begriff, in die Hölle zu marschieren. Freiwillig.

Mein Name ist Bobby Dollar oder manchmal auch Doloriel, je nachdem, in welcher Gesellschaft ich mich gerade bewege. An diesen hässlichen Ort hier war ich per Fahrstuhl gelangt – eine lange, lange Abwärtsfahrt, von der ich Ihnen vielleicht irgendwann erzähle. Zudem befand ich mich auch noch in einem Körper, der nicht meiner war, und alles, was ich an Information über mein Ziel besaß, war das, was mir ein aus dem Ruder gelaufener weiblicher Schutzengel direkt ins Gedächtnis geflüstert hatte, während ich schlief. Viel Brauchbares hatte ich dabei nicht übermittelt bekommen. Ja, das meiste ließ sich in dem simplen Satz zusammenfassen: »Du ahnst ja gar nicht, wie schlimm es dort ist.«

Und jetzt stand ich hier, unmittelbar außerhalb der Hölle, am diesseitigen Ende der Neronischen Brücke, eigentlich ein gesichtsloser, flacher Steinstreifen, der sich über ein so tiefes Loch spannte, dass es, wären wir auf der guten alten Erde gewesen, wahrscheinlich bis zur anderen Seite des Planeten durchgegangen wäre. Aber die Hölle ist nicht die gute alte Erde, und dieses Loch hier war nicht bodenlos – o nein. Denn auf dem Grund, so unfassbar viele Meilen unter mir im Dunkeln, passierten die wirklich schlimmen Sachen. Das sagten mir die schwach heraufdringenden Schreie. Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, wie laut diese armen Leute schreien mussten, damit man sie aus so weiter Entfernung hörte. Und was genau dort mit ihnen gemacht wurde, damit sie so laut schrien. Schon stellte ich Fragen, auf die ich gar keine Antwort wollte.

Nur für den Fall, dass Ihnen das alles noch nicht bizarr genug ist, hier noch ein interessantes Faktum: Ich bin ein Engel. Ich war also nicht nur auf dem Weg an den schlimmsten Ort, an dem man überhaupt landen kann, ich ging auch noch als feindlicher Spion dorthin. Ach ja, und ich ging hin, um etwas zu stehlen, und zwar einem der grausamsten und mächtigsten Dämonen aller Zeiten, Eligor dem Reiter, Großfürst der Hölle.

Was ich Eligor stehlen wollte? Meine Freundin Caz. Sie ist auch ein Dämon, und sie gehört ihm.

Oh, und wenn ich sage, ich bin ein Engel, meine ich keinen geflügelten Racheengel mit einem Flammenschwert, um es gegen die Feinde zu schwingen. Nein, ich bin einer von der Sorte von Engeln, die auf der Erde leben, sich die meiste Zeit für Menschen ausgeben und Seelen in der Stunde des Gerichts als Fürsprecher dienen. Mit anderen Worten, ich bin im Grund Anwalt, Pflichtverteidiger. Also noch mal zusammengefasst: Was ich an Information in diese Situation mitbrachte, reichte gerade, um zu wissen, dass ich ziemlich aufgeschmissen war: Ich gegen einen Großfürsten der Hölle, und noch dazu ein Heimspiel für ihn – tolle Ausgangsbasis, oder?

Ich befand mich definitiv im größten geschlossenen Raum, den ich je gesehen hatte – den wohl irgendwer je gesehen hatte. All die mittelalterlichen Maler, die sich diesen Ort ausgemalt hatten, selbst die phantasievollsten, hatten zu eng gedacht. Zu beiden Seiten erstreckte sich eine zerklüftete Steinwand, die sich senkrecht emporzog, weiter, als der Blick reichte. Sie schien minimal gekrümmt, als ob diese riesige Höhle der Zylinder eines monströsen Motorkolbens wäre. Angeblich war dort vor mir, jenseits der Brücke, eine zweite Steinwand, der Kolben in diesem Riesenzylinder und mein Ziel: jener endlose Turm, der die Hölle ist. Die Brücke selbst war schmaler als meine Armspanne, nur etwa eineinhalb Meter breit. Eigentlich ja ausreichend, nur dass unter dem schmalen Steg nichts war als Leere – eine Kluft, die unfassbar weit hinabreichte und von der ich nichts sehen konnte als gerade so viel flackerndes Höllenlicht, dass mir klar war, wie tief ich beim geringsten Fehltritt fallen würde.

Glauben Sie mir, wie jedes vernünftige Wesen wäre ich überall lieber gewesen als hier, aber wie ich noch erläutern werde, hatte ich eine Menge Mühen auf mich genommen, um auch nur so weit zu kommen. Ich hatte in Erfahrung gebracht, wie man hierher gelangen konnte, hatte einen Eingang gefunden, den zu bewachen in Vergessenheit geraten war, und ich trug sogar einen funkelnagelneuen Dämonenkörper (weil ich nur so in der Hölle sicher reisen konnte). Ich mochte ja ein ungebetener Gast sein, aber ich hatte einiges für diesen Trip bezahlt.

Als ich mich der Brücke näherte, holte ich noch mal tief Luft – Luft, voll mit schwefligem Rauch und dem schwachen, aber unverkennbaren Geruch von bratendem Fleisch. Ein Stein fiel vor meinem Fuß in den Abgrund. Ich wartete nicht auf ein Aufschlaggeräusch, weil das nicht viel Sinn gehabt hätte. Man kann etwas Beängstigendes nur soundso lange hinausschieben, bevor einen aller Mut verlässt, und ich wusste, es war sowieso noch längst nicht das Schlimmste, was mich erwartete. Selbst wenn ich es schaffte, über diese streichholzdünne Brücke zu kommen und mich in die Hölle einzuschleichen, waren dort lauter Kreaturen, die Engel schlichtweg hassten – Engel im Allgemeinen und mich im Besonderen.

Die Neronische Brücke stammt aus den Zeiten des Alten Roms und heißt nach Kaiser Nero, der angeblich Lyra spielte, während Rom brannte. Nero war nicht der schlimmste Kaiser, den Rom je hatte, aber schon ein ziemlich übler Kerl, unter anderem deshalb, weil er seine Mutter ermorden ließ. Und zwar gleich zweimal.

Seine Mutter Agrippina war die Schwester eines noch übleren Kerls, von dem Sie vielleicht auch schon mal gehört haben – Caligula. Der heiratete eine andere seiner Schwestern, bumste sie aber alle. Doch trotz dieser gruseligen Sache mit ihrem Bruder wurde Agrippina, als Caligula am Ende von seinen eigenen Wachen erstochen worden war, rehabilitiert und heiratete schließlich Caligulas Nachfolger, den alten Kaiser Claudius. Irgendwie schaffte sie es, Claudius dazu zu bringen, seinen eigenen Sohn zu übergehen und stattdessen ihren Sohn aus früherer Ehe, Nero, zum Thronfolger zu ernennen. Als Nero erst einmal designierter Kaiser war, räumte sie den armen Claudius mittels eines vergifteten Pilzgerichts aus dem Weg.

Zum Dank dafür, dass ihm seine Mutter dazu verholfen hatte, der mächtigste Mann der Welt zu werden, wandte Nero sich prompt gegen sie und befahl ihre Ermordung. Zuerst versuchte er es mit einem manipulierten Boot, das auseinanderbrechen sollte, damit sie ertränke, aber Agrippina war ein zähes altes Luder und schaffte es an Land, also schickte Nero ein paar von seinen Wachen zu ihr, um sie mit dem Schwert niederzumetzeln.

Familienwerte à la Römisches Reich.

Während seiner restlichen Regierungszeit richtete Nero noch eine ganze Menge üble Sachen an – etwa haufenweise unschuldige Christen verbrennen zu lassen –, aber das war nicht der Grund dafür, dass er seinen eigenen kleinen Highway in der Hölle bekam: besagte Brücke, vor der ich jetzt stand. Nero hatte nämlich nicht ganz geschnallt, dass der Coup seiner Mutter, sich Claudius als Gatten zu angeln und ihn dazu zu bringen, Nero seinem eigenen Sohn vorzuziehen, das Resultat eines kleinen Tauschhandels war, den sie mit einem der einflussreichsten Höllenbewohner geschlossen hatte, einem mächtigen Dämon namens Ignoculi. Ignoculi und seine Höllenkumpels fanden zwar nichts dabei, dass Nero seine Mutter umbrachte – im Gegenteil, das bewunderten sie eher. Aber sie erwarteten, dass er sich an die Vereinbarung seiner Mutter mit ihnen hielt, die ihn auf den Thron gebracht hatte: Sie hatten nämlich mit Rom Großes vor. Doch Nero wollte partout nicht mitspielen. Ihm war wohl gar nicht klar, was für ein Riesenunternehmen die Hölle war; die Römer hatten da ihre eigenen religiösen Vorstellungen, Pluto, die elysischen Felder und so weiter. Es war wahrscheinlich ein bisschen wie bei diesem Filmproduzenten in Der Pate, der glaubt, Don Corleone eine Abfuhr erteilen zu können, dann aber beim Aufwachen sein Schlafzimmerdekor um einen Pferdekopf bereichert findet.

Die Hölle zu verärgern, ist keine gute Idee. Es ging rapide abwärts mit dem jungen Nero, binnen Kurzem war er entthront und auf der Flucht. Schließlich beging er Selbstmord. Doch die eigentliche Überraschung erwartete ihn erst noch.

Ignoculi war wie die meisten hohen Höllenfunktionäre extrem nachtragend und extrem gut darin, seinen Groll praktisch umzusetzen. Als Nero in der Hölle ankam, fand er einen eigens für ihn errichteten Eingang vor. Richtig, die Neronische Brücke.Tausend Dämonen in der Prunkuniform kaiserlich-römischer Wachen erwarteten ihn bereits, um ihn mit dem ganzen Pomp, den er aus dem Leben gewohnt war, über die Brücke zu geleiten. Unter Trommel- und Trompetenschall zog die ganze Prozession im Gänsemarsch über die Brücke, doch als Nero das andere Ende erreichte, löste sich sein Gefolge plötzlich in Luft auf: Da waren nur noch er und die Person, die ihn empfing – nicht Ignoculi selbst, sondern Neros verstorbene Mutter, Agrippina.

Sie muss einen ziemlich grässlichen Anblick geboten haben, zerschunden und klatschnass von Neros erstem Anschlag auf ihr Leben und blutüberströmt von den tödlichen Schwertstößen. Nero, dem jäh aufging, dass ihn kein triumphaler Empfang erwartete, wollte über die Brücke fliehen, aber dort erschien jetzt Ignoculi persönlich, ein riesiger, wabbliger Klumpen aus Augen und Zähnen, der dem Exkaiser den Fluchtweg versperrte wie eine wütende Tonne Rotz.

»Caveat imperator. Der Herrscher möge sich hüten«, soll der Dämon gesagt haben. In der Hölle gelten nämlich kalauerhafte Wortspiele als eine besonders ausgereifte Form von Folter. Agrippina packte den Sohn mit ihren blutigen Fingern und schleppte den Schreienden mit einer Kraft, die sie im Leben nie besessen hatte, durch das Tor – in die Hölle und einem ganz und gar nicht kaisergemäßen Schicksal entgegen. Und soweit ich gehört hatte, war er immer noch dort, wahrscheinlich drunten auf dem Grund bei den übrigen Schreiern.

Danach geriet die Neronische Brücke weitgehend in Vergessenheit. Sie war nur noch eine weitere stumme Erinnerung daran, warum man nie, niemals, ein hohes Tier der Hölle gegen sich aufbringen sollte – was ich bereits reichlich getan hatte. Konnte es sein, dass das Universum mir etwas sagen wollte?

Ich betrat die Brücke und ging los.

Gefühlt hatte ich stundenlang einen Fuß vor den anderen gesetzt, da bemerkte ich plötzlich, dass die Schreie, die von unten heraufdrangen, lauter wurden. Ich wollte es gern als Zeichen dafür deuten, dass ich jetzt nahe der Brückenmitte war, aber vielleicht ging ja auch einfach nur die Mittagspause dort unten zu Ende. Ich wagte einen Blick hinab, wobei ich gegen einen Schwindel ankämpfen musste, der nicht bloß physisch, sondern existentiell war. Die Flammen, die aus Rissen in der Wand des Abgrunds schlugen, sahen aus wie konzentrische Feuerringe – eine lodernde Zielscheibe.

Ledrige Flügel streiften mein Gesicht, erschreckten mich fürchterlich und machten mir jäh bewusst, wie nah an der Brückenkante ich stand. Ich trippelte vorsichtig ein Stückchen rückwärts und ging weiter in die Richtung, die nach allen vernünftigen Maßstäben die falsche war. Das geflügelte Etwas flatterte wieder auf Tuchfühlung an mir vorbei, aber das Licht war so schwach, dass ich nicht erkennen konnte, was es war. Wohl eher keine Fledermaus, denn es weinte.

Stunden und Aberstunden später waren die glosenden Zielscheibenringe noch immer quasi direkt unter mir. Klar, wenn man einen Höllen-Wallgraben überquert, der allemal so breit sein kann wie South Dakota, ist »nahe der Mitte« ziemlich relativ, aber deprimierend war es doch.

Aber ich tat es ja alles für Caz, rief ich mir in Erinnerung, für die Gräfin von Coldhands, die wunderschöne, verletzte junge Frau, die in einem unsterblichen Körper gefangen saß und zur Ewigkeit in der Hölle verdammt war. Nein, ich tat es noch nicht mal für Caz, sondern um dessentwillen, was wir zusammen erlebt hatten, um der Momente des Glücks und des Friedens willen, als ich mit ihr im Bett lag, während die infernalischen Horden die Straßen von San Judas nach mir durchkämmten. Ja, sie gehörte selbst dem Höllenadel an, und sie hatte mir mehr oder minder gesagt, dass ich aus einem bisschen Kampfpausensex zwischen Feinden eine absurde, pubertäre Liebesgeschichte machte … aber, o du lieber Gott, sie war phantastisch. Noch nie in meinem Engelsleben hatte ich solche Gefühle gekostet wie mit ihr. Und mehr noch, die Zeit mit ihr hatte mir klargemacht, dass meine Existenz bis dahin hohl und leer gewesen war. Sonst hätte ich vielleicht glauben können, dass es nur dämonisches Blendwerk war, platte Verführung, der älteste Trick aus dem Repertoire des Feindes. (Es gab noch einen Grund, warum ich nicht glaubte, dass ich einfach nur für dumm verkauft worden war; es ging da um ein silbernes Medaillon, aber davon erzähle ich Ihnen später.) Und außerdem, selbst wenn das, was ich für Caz empfand, nur auf einem Trick, auf Illusion beruhte, war daneben trotzdem alles andere egal.

Liebe. Lahme, alte Witze mal beiseite: Echte, mächtige Liebe hat auf jeden Fall eins mit der Hölle gemeinsam – sie brennt alles andere weg.

Seit Stunden vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, hypnotisiert durch das Schattengeflacker, brauchte ich übermäßig lange, um zu kapieren, dass das dunkle Etwas da vor mir auf der Brücke nicht einfach ein weiterer Schatten oder ein Fleck vor meinen Augen war. Ich verlangsamte meinen Schritt und kniff die Augen zusammen: Meine träumerische Halbwachheit zersprang in Scherben. Was erwartete mich da? Hatte Eligor herausgefunden, dass ich kam, und mir einen Empfang bereitet – mir so was entgegengeschickt wie den gehörnten babylonischen Albtraum, dem ich in San Judas mit knapper Not entronnen war? Das Einzige, was dieses Monster gestoppt hatte, war ein kostbares silbernes Schmuckstück gewesen, Caz’ Medaillon, aber diesmal hatte ich nichts Derartiges bei mir. Mein neuer Dämonenkörper war nackt, und ich hatte keine Pistole. Ich hatte noch nicht mal einen Stock.

Im Näherkommen sah ich, dass sich das Etwas auf allen vieren fortbewegte wie ein Tier. Noch etwas näher, und ich sah, dass es von mir weg krabbelte – mein erstes erleichtertes Aufatmen, seit ich diese verdammte Brücke betreten hatte. Aber Mama Dollars Kleiner ist kein Idiot, jedenfalls kein eklatanter, also ging ich noch langsamer, um das einsame Krabbelwesen zunächst mal inspizieren zu können.

Es war entfernt menschenförmig, aber ein abstoßender Anblick, wie ein blindes, plumpes Insekt. Die Hände waren fingerlose Klumpen, der Körper deformiert, und selbst für diese düstere Umgebung reflektierte es extrem wenig Licht: Es wirkte weniger wie etwas Handfestes als vielmehr wie ein Schmierfleck auf der Oberfläche der Realität. Ich war jetzt direkt hinter ihm, aber es schien mich gar nicht zu bemerken, kroch immer noch dahin wie ein verkrüppelter Büßer, so schleppend, als wäre jede Bewegung unsagbar mühselig. Es kam so langsam voran, dass ich mich fragte, wie lange es wohl schon auf dieser Brücke war.

Ich wollte es nicht überholen, nicht auf diesem schmalen Steg. Dass es lahm und dumm wirkte, hieß noch lange nicht, dass es mich nicht angreifen würde. Ich erwog, einfach drüberzuspringen, hatte aber Angst auszurutschen.

»Was machen Sie da?«, fragte ich. »Sind Sie verletzt?«

Der plötzliche Klang meiner rauhen neuen Dämonenstimme erschreckte mich selbst, aber das krabbelnde Etwas schien gar nichts zu hören. Ich versuchte es noch mal.

»Ich muss an Ihnen vorbei.«

Nichts. Wenn das krabbelnde Etwas nicht taub war, stellte es sich zumindest taub.

Frustriert bückte ich mich schließlich und zog an seinem Bein, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, aber das menschenförmige Ding war so spröde wie ein Baiser. Das Bein brach blättrig ab, sodass da unterhalb des Knies nichts mehr war. Vor Schreck ließ ich das Stück Bein, das ich in Händen hielt, fallen. Es zersprang in Stücke, von denen etliche über den Brückenrand schlidderten und im Dunkel verschwanden. Das Etwas hielt endlich lange genug im Krabbeln inne, um sich zu mir umzudrehen, und ich sah kurz ein graues Gesicht mit leeren Augenhöhlen und einem ebenso leeren Mundloch, das vor Überraschung oder Entsetzen weit offenstand. Dann, als hätte es der Verlust des Beins aus der Balance gebracht, neigte sich das Etwas zur Seite und kippte lautlos von der Brücke.

Erschüttert stieg ich über die fettig-blättrigen Beintrümmer hinweg und ging weiter.

Was für eine Horrorkreatur dieses bröselige Ding auch gewesen sein mochte, die einzige ihrer Art jedenfalls nicht. Wenig später stieß ich auf das nächste graue Etwas, noch so einen menschenförmigen Klumpen, der den immer noch nicht sichtbaren Mauern der Hölle entgegenkrabbelte. Diesmal versuchte ich das Ding sachte zu stupsen, um es auf mich aufmerksam zu machen. Es schien so fragil wie Meeresgischt; es auch nur mit der Fingerspitze anzutippen, reichte schon, dass mir ganz mulmig wurde. Wie konnte etwas so Substanzloses irgendeine Form bewahren, geschweige denn so blind entschlossen vorwärts krabbeln?

Aber das hier ist die Hölle, machte ich mir klar, oder jedenfalls einer ihrerVororte. Hier galten keine normalen Gesetze.

Ich stupste es wieder. Wie sein Vorgänger drehte es sich um, griff aber mit den unförmigen Händen nach mir. Vor Angst und Abscheu wich ich einen Schritt zurück und trat nach ihm, traf es genau ins Hinterteil. Mit einem leisen Knirschen zerbrach die ganze Kreatur in mehrere große Stücke. Ich watete durch die Trümmer, obwohl sie noch träge zappelten, und kickte einige in den Abgrund. Ich blieb nicht stehen, um ihnen nachzuschauen.

Während weitere Stunden vergingen oder zumindest anderswo vergangen wären, traf ich immer wieder auf diese scheußlichen Dinger. Ich hatte es aufgegeben, mit ihnen kommunizieren zu wollen, kickte sie einfach kaputt und marschierte durch die zappelnden Bruchstücke. Als ich mehrere zertrümmert hatte, bemerkte ich auf meiner Haut einen Geruch, wie die Spuren von Flüssiganzünder in Grillasche. Die Kreaturen waren so langsam und tumb wie halbtote Termiten und auf eine Art widerlich, die ich gar nicht erklären kann. Ich wollte jede einzelne zu Pulver zermalmen und atomweise im gähnenden Nichts des Abgrunds verteilen. Ja, ich war auf bestem Weg, das bisschen Verstand, das ich noch hatte, zu verlieren.

Was mich rettete, war erstaunlicherweise die Hölle selbst. Nachdem ich mich durch ein ganzes Rudel dieser grässlichen Dinger gekämpft und ein regelrechtes Gestöber von ascheartigen Fragmenten erzeugt hatte, beugte ich mich in die Wolke aufgewirbelter Flocken und erkannte plötzlich, dass die Brücke sich vor mir nicht mehr im Unendlichen verlor. Sie hatte ein Ende, woran ich bisher nur geglaubt hatte, weil mir nichts anderes übrigblieb. Jetzt sah ich es vor mir: eine Wand aus rissigem schwarzem Stein und darin ein gigantisches rostiges Eisentor, so hoch wie ein Wolkenkratzer. Doch zwischen mir und diesem Tor krabbelten immer noch Tausende dieser grauen, tumben Dinger.

Ich wette, etliche von Ihnen können sich nicht vorstellen, was denn so schrecklich daran sein soll, sich durch Wesen hindurchkämpfen zu müssen, die keinerlei Widerstand leisten, die unter jeder Berührung zerfallen wie Asche im Kamin. Sehen Sie’s mal so: Es mochte zwar nichts mehr übrig sein als die grobe Form, ähnlich wie bei den Toten von Pompei, die in der Asche des Vesuvausbruchs konserviert wurden, aber diese Dinger waren doch alle mal Menschen gewesen.

Auf dem letzten Brückenstück ging mir nämlich endlich auf, was diese Wesen waren. Keine verdammten Seelen – was ja schon schlimm genug gewesen wäre. Das hier waren keine Gefangenen der Hölle, sie versuchten ja nicht hinauszugelangen, sie wollten rein. Es waren Seelen, die zum Fegefeuer verurteilt worden waren, die Essenzen zahlloser Menschenleben – Menschenleben, die verpfuscht, aber nicht irreparabel schlecht gewesen waren. Und aus irgendeinem Grund wurden diese Dinger, diese ehemaligen Männer und Frauen, so von Selbsthass verzehrt, dass sie ewig auf den Ort zukrabbelten, wo sie ihrem Gefühl nach hingehörten.

Ich hätte Mitleid mit ihnen haben sollen, doch die Erkenntnis, was es mit ihnen auf sich hatte, machte es nur noch schlimmer. Als ich mich den Mauern der Hölle näherte, schwärmten die Dinger regelrecht vor mir her, wie Insekten, die eine heiße Glühbirne umschwirren, getrieben von einem Selbstzerstörungsdrang, den ich nicht verstand. Ich war zu erschöpft, um etwas zu sagen, aber innerlich schrie ich. Ich drosch und kickte mich durch die klumpige Masse, bis alles, was ich war und je gewesen war, sich in eine einzige Raserei aus fettigen Flocken und wirbelndem, nach Kerosin riechendem Staub aufgelöst hatte, bis ich nicht mehr wusste, wo ich war, und schon gar nicht, wo die Brücke war, das Einzige zwischen mir und dem Nichts. Die Tatsache, dass ich nicht abgestürzt bin, ist mir für alle Zukunft Beweis genug, dass jemand oder etwas Größeres als ich mein Überleben wollte.

Ächzend und keuchend blieb ich stehen, um Luft zu holen, und merkte jäh, dass sich vor mir jetzt nur noch das mächtige, rostige Tor und nackter schwarzer Stein befanden: Ich stand im Schattendunkel vor dem Eingang. Die Krabbler schwärmten jetzt hinter mir heran, auf die Brücke verbannt wie durch einen unsichtbaren Zaun. Diese jämmerlichen Dinger gehörten nicht in die Hölle, sie glaubten es nur. Sie würden keinen Einlass erhalten.

Und Bobby Dollar? Mit mir verhielt es sich offenbar anders. Keine Wachen, nichts, was mich davon abhielt, die Hölle zu betreten, außer dem gesunden Menschenverstand, den ich längst abgegeben hatte. Nach Höllenmaßstäben hatten sie mir praktisch die Willkommensmatte hingelegt. Aber ich verrate wohl nicht zu viel, wenn ich sage, dass es sich als weitaus schwieriger erweisen sollte, wieder hinauszukommen.

1 KOPFKISSENGEFLÜSTER

Wir hatten eigentlich nur eine gemeinsame Nacht gehabt. Und von der ist mir jeder einzelne Moment im Gedächtnis geblieben.

»Und wie ist es so, in der Hölle zu leben?«

»Oh, es ist toll. Wir trinken den ganzen Tag Ice Cream Soda, spielen Poolbillard, rauchen Zigarren und verwandeln uns nie, niemals in Esel.«

»Das klingt eher wie die Vergnügungsinsel aus Pinocchio.«

»Mist. Ertappt.«

»Komm schon, war eine ernsthafte Frage.«

»Aber vielleicht will ich sie ja nicht beantworten, Flügelknabe. Istdas ernsthaft genug?«

Wir lagen beide nackt in Caz’ geheimem Unterschlupf und hatten uns gerade zum ersten Mal (na ja, strenggenommen zum ersten, zweiten und zweieinhalbten Mal) geliebt. Ihr Kopf lag auf meiner Brust, und ihre Beine umklammerten meinen Oberschenkel wie die Schalen einer Riesenmuschel. Ich streichelte ihr Haar, so hellgolden, dass es nur in direktem Sonnenlicht nicht weiß wirkte.

»So schlimm?«

»Oh, du schöner, dummer Mann, du hast ja keine Ahnung.« Sie stützte sich auf einen Ellbogen, um mir ins Gesicht schauen zu können. Sie war so hinreißend, dass ich prompt vergaß, worüber wir gerade geredet hatten, und nur dalag und sie anstarrte, als hätte ich einen Gehirnschaden. Den ich ja wohl nach normalen Maßstäben auch haben musste, denn warum würde ich mich sonst mit einem Werkzeug Satans nackt im Bett tummeln? »Nicht einfach nur schlimm«, erklärte sie mir. »Schlimmer, als du’s dir je vorstellen könntest.«

Ich fragte mich wieder, wie irgendjemand, selbst die Höllenprominenz, dieser strahlenden Schönheit etwas antun könnte. Die offizielle Version war, dass sie ein Gesicht hätte wie ein Renaissanceengel, wunderschön, fein, voller erhabener Gedanken. In Wahrheit aber sah sie aus wie das Inbild der unschuldig-sündhaften Absolventin eines sehr, sehr teuren Mädcheninternats, die gerade ihr Abschlusszeugnis in Empfang genommen hatte. Wenn ich nicht sicher gewusst hätte, dass Caz schon auf der Welt war, bevor Kolumbus in See stach, hätte ich nach all dem, was wir gerade getan hatten, schwere Schuldgefühle gehabt. Ich hatte immer mehr das Gefühl, diese Frau wirklich zu lieben, aber natürlich war sie gar keine Frau, und sie kam aus der Hölle. Überlegen Sie mal kurz, dann werden Sie wohl verstehen, warum ich nicht allzu genau über unsere Situation nachdenken wollte.

»Entschuldige. Ich hätte nicht davon anfangen sollen …«

»Nein! Nein, sei froh und dankbar, dass du’s nicht weißt, Bobby. Und so soll es auch bleiben. Ich will nicht, dass du je erfährst, wie es dort ist.« Und plötzlich umarmte sie mich so fest, dass ich einen Moment lang dachte, sie versuche, irgendwie durch mich hindurchzukriechen und auf der anderen Seite wieder herauszukommen. Ihrkleiner, fester Körper schien das Realste und gleichzeitig Verletzlichste auf der ganzen Welt.

»Ich lasse dich nicht dorthin zurück«, sagte ich.

Ich hielt es für ein Lachen. Erst später wurde mir klar, dass die Laute etwas anderes gewesen waren, etwas längst nicht so Simples. Ihre Beine umklammerten meinen Schenkel wieder fester; ich fühlte, wie sie sich feucht an mich presste. »Klar, Bobby«, sagte sie. »Wir gehen nie wieder zurück, keiner von uns beiden. Wir bleiben bis in alle Ewigkeit hier und trinken Ice Cream Soda. Also küss mich, du Blödmann von einem Engel.«

Kennen Sie die Situation, dass jemand, den Sie geliebt haben, gestorben ist? All die Gefühle, die immer noch da sind, aber derjenige ist einfach weg? Das trägt man immer mit sich herum, in jedem einzelnen Augenblick – was man demjenigen alles sagen wollte und nicht gesagt hat, wie dumm man war, wie sehr man denjenigen vermisst. Es fühlt sich an, als ob man sich gegen eine zusammenbrechende Wand stemmt, als ob man wie der Held in einem Film wartet, bis alle in Sicherheit sind, aber schon weiß, dass man selbst nicht davonkommen wird. Dass einen das Gewicht am Ende erdrücken wird.

Kennen Sie die Situation, dass Sie von jemandem verlassen worden sind und diese Person Ihnen vorher noch gesagt hat, sie hätte Sie nie geliebt? Ihnen gesagt hat, Sie seien ein Verlierer, das Ganze sei reine Zeitverschwendung gewesen, etwas, das sie von vornherein hätte vermeiden sollen? Auch das trägt man mit sich herum, aber es ist kein übermächtiges Gewicht, sondern eher wie eine schreckliche Verbrennung, bei der die verschmorten Nervenenden in einem permanenten schrillen Alarmzustand sind, ein Schmerz, der sich gelegentlich zu einem bitteren Ziehen abschwächt, dann aber ohne Vorwarnung wieder zu unerträglicher Pein aufflammt.

Und noch eins. Kennen Sie die Situation, dass Ihnen jemand das gestohlen hat, was Ihnen am meisten bedeutet? Und Ihnen dabei noch ins Gesicht gelacht hat? Und dass Ihnen nichts geblieben ist als hilflose Wut?

Okay, dann stellen Sie sich jetzt mal vor, dass mir alle drei Dinge auf einmal passiert sind und es immer um dieselbe Frau ging.

Ihr Name war Caz, eigentlich Casimira, auch die Gräfin von Coldhands genannt, ein hochrangiger weiblicher Dämon und so ziemlich das elektrisierendste Geschöpf, das ich je getroffen hatte. Als wir uns begegneten, standen wir auf verfeindeten Seiten im uralten Konflikt zwischen Himmel und Hölle. Wir wurden ein Liebespaar, was, wie wir beide wussten, extrem dumm und gefährlich war. Aber etwas zog uns zueinander hin, obwohl das eine ziemlich weichgespülte, jugendfreie Formulierung ist. Wir hatten Funken erzeugt, ach was, ein ganzes loderndes Feuer, und es loderte noch immer in mir, lange, nachdem sie verschwunden war. An manchen Tagen fühlte es sich an, als würde es mich zu einem Häuflein Asche verbrennen.

Caz gehörte Eligor, einem Großfürsten der Hölle. Nach unserer Affäre, unserem Abenteuer, oder wie auch immer Sie es nennen wollen, ging sie zu ihm zurück. Sie versuchte mir sogar weiszumachen, ich hätte ihr nie etwas bedeutet, aber das nahm ich ihr nicht ab. Ich war mir sicher, dass sie etwas für mich empfand, denn wenn nicht, war ich total schief gewickelt. So schief gewickelt, als behauptete ich, oben sei unten, Schwarz sei Weiß und die Erde doch eine Scheibe.

Sie mögen das dumm nennen, aber ich wollte es einfach nicht glauben. Konnte es nicht. Außerdem hatte ich noch einen handfesteren Grund, davon auszugehen, dass ihr doch etwas an mir lag. Keine Bange, darauf komme ich gleich.

Jedenfalls hasste mich Eligor jetzt, weil ich mich an seinem »Eigentum« vergriffen hatte (okay, auch noch aus ein paar anderen Gründen: Ich hatte auf seine Sekretärin geschossen, seinen Bodyguard dazu gebracht, sich von einem Monster fressen zu lassen, und war ihm überhaupt gründlich in die Quere gekommen). Das Machtgefälle zwischen uns war absurd: Er gehörte dem Höllenhochadel an, ich war ein kleiner Himmelsdiener, der bei seinen Vorgesetzten nicht gerade im besten Ruf stand. Warum also war ich nicht tot? Weil ich die Feder hatte – eine goldene Feder aus dem Flügel eines wichtigen Engels, Unterpfand bei einem heimlichen Deal zwischen Großfürst Eligor und ebendiesem Engel, dessen Identität ich noch nicht kannte. Eligor wollte garantiert nicht, dass das mit der Feder publik wurde, und solange ich sie an einem sicheren Ort versteckt hielt, war ich mir sicher, dass er mich in Ruhe ließ. Andererseits hatte Eligor Caz, und er hatte sie wieder in die Hölle gebracht, wo ich nicht an sie herankam. Patt. Jedenfalls dachte ich das, als die ganze Sache begann. Wie sich herausstellen sollte, hatte ich mein Gedankengebäude auf äußerst wacklige Hypothesen gegründet.

Oh. Ich greife schon wieder vor. Es passierte nämlich eine ganze Menge, ehe ich auch nur von der Neronischen Brücke hörte, also sollte ich wohl das eine oder andere erzählen, bevor wir wieder in die Hölle zurückkehren.

Die jüngste Episode des permanenten Wahnsinns, der mein Jenseitsleben ist, begann mit etwas, das normale Leute ein Mitarbeitergespräch nennen würden. Nur dass normale Leute dafür nicht vor eine Gruppe stinksaurer Himmelsmächte zitiert werden, die eine unsterbliche Seele buchstäblich mit einem einzigen Wort vernichten können. So was müssen nicht mal die armen Schweine, die für Trump arbeiten, über sich ergehen lassen.

2 FÜNF ZORNIGE ENGEL

Ich war in den Himmel beordert worden, genauer gesagt, ins Anaktoron, den riesigen Ratssaal, in dem ich schon mal gewesen war, eine architektonische Unmöglichkeit mit wolkenhohen Decken, einem schwebenden Tisch aus schwarzem Stein und einem Fluss, der mitten durch den Fußboden fließt. Mein Erzengel Temuel (so was wie mein Betreuer) brachte mich in das gewaltige Gebäude und zog sich dann diskret zurück. Jenseits des schwarzen Tischs schwebten – als ob jemand einen Kronleuchter weggerissen hätte und die Kerzenflammen in der Luft hängengeblieben wären – die Ephoren, das fünfköpfige Gremium, das mich der Befragung unterziehen würde.

»Gott liebt Sie, Engel Doloriel«, erklärte die hauchzarte weiße Flamme, die Terentia war. »Dieses Ephorat heißt Sie willkommen.« Wie beim ersten Mal, als ich vor ihnen gestanden hatte, schien Terentia die Wortführerin zu sein, obwohl ich wusste, dass Karael, der Kriegerengel neben ihr, etwa so hoch stand, wie man in der Hierarchie der Dritten Sphäre (zuständig für alle Belange der Erde und ihrer Bewohner) nur kommen kann. Neben ihm schwebte Chamuel, ein von innen leuchtender Nebel, und neben Chamuel wiederum Anaita, eine kindhafte Präsenz, die jedoch, wie ich aus leidvoller Erfahrung wusste, genauso kalt und formell sein konnte wie Terentia. Ganz außen war Raziel, ein Wesen aus schummrig rotem Licht, das weder männlich noch weiblich war. Diese wichtigen Engel waren allesamt Fürstentümer, Richter über die Toten und die Lebenden. Einen höheren Rang gibt es bei den Engeln unserer Sphäre nicht.

Ich erwiderte Terentias Gruß und versuchte, nicht so dreinzuschauen, als wartete ich auf die Augenbinde und die letzte Zigarette. »Womit kann ich Ihnen dienen, hohe Ephoren?«

»Mit der Wahrheit«, sagte Chamuel fast freundlich. »Es sind gewichtige Angelegenheiten, in die Sie da verwickelt wurden, Doloriel. Gefährliche Angelegenheiten. Und wir wünschen, das alles aus Ihrem Mund zu hören.«

Ach ja? Was weißt du denn von Mündern?, dachte ich, da Chamuels Gestalt etwa so klar umrissen war wie eine Regenwolke. Da ich aber nicht völlig blöd bin, neigte ich nur den Kopf. »Natürlich.«

Und so fragten die Ephoren, und ich antwortete. Ich versuchte, so weit wie möglich die Wahrheit zu sagen (das macht es leichter, den Überblick über die Lügen zu behalten), aber es gab einfach zu viele Dinge, die ich mich nicht zu erwähnen traute, zu viele Himmelsgesetze, über die ich hinweggetrampelt war, als ich versucht hatte, dem ganzen Schlamassel auf den Grund zu kommen. Sie wussten, dass ich von Caz Informationen erhalten hatte, aber was sonst noch zwischen uns gewesen war, wussten sie eindeutig nicht, was gut war, weil Fraternisieren mit dem Feind im Engelsbusiness mit Sicherheit ein Kapitalverbrechen war und ich noch um einiges übers Fraternisieren hinausgegangen war. Und sie wussten auch, dass mein Freund und Partner Sam Riley alias Anwaltsengel Sammariel heimlich für eine Gruppe gearbeitet hatte, die dem Himmel und der Hölle Seelen vor der Nase wegstahl und ihnen einen »Dritten Weg« bot, den beide Parteien in diesem uralten Kampf schleunigst aus der Welt schaffen wollten. Und sie wussten ferner, dass Sam entkommen war, hatten aber zum Glück nicht herausgefunden, dass er nur deshalb entkommen war, weil ich ihn hatte entkommen lassen. (Sie wussten auch nicht, dass er mir angeboten hatte, mich in die frischkreierte Jenseitswelt des Dritten Wegs mitzunehmen, worüber ich immer noch manchmal nachdachte.)

Wie ich vermutlich schon sagte: Ich hatte mich vorher noch nie hingestellt und den Himmel schlichtweg angelogen. Ich hatte natürlich den einen oder anderen unengelhaften Gedanken für mich behalten, aber ich hatte immer wahrheitsgemäß gesagt, was ich tat und mit wem ich es tat. Doch die letzten zwei, drei Monate hatten das von Grund auf verändert: Die Wahrheit war keine Option mehr. Wenn meine Bosse herausfänden, was ich getan hatte, würde ich zu den grässlichsten Höllenstrafen verurteilt werden, oder aber, wenn ich Glück hatte, würde nur mein Gedächtnis gelöscht, und ich dürfte wieder von vorn anfangen, als ein weiteres kleines Engelsküken, das lernt, sein Gewand sauber zu halten und Hosianna zu singen. Also log ich und log immer weiter.

»… Und der Rest, na ja, das steht alles in meinem Bericht.«

»Den wir mit Interesse zur Kenntnis genommen haben«, sagte Terentia. »Aber wir haben Sie herbestellt, damit Sie uns noch einmal mündlich von Ihren Erlebnissen erzählen und vielleicht mit unserer Hilfe Details hinzufügen können, die in Ihrem Bericht versehentlich ausgelassen wurden.«

Wie könnte irgendjemand solcher Fürsorge widerstehen? »Na ja, wie ich schon sagte, als mich das Monster in dem Vergnügungspark angriff, nutzte Engel Sammariel diese Ablenkung zur Flucht. Wohin er lief, habe ich nicht gesehen. Als der Ghallu endlich tot war, war Sammariel spurlos verschwunden.« (Der Kampf zwischen mir und dem monströsen uralten Dämon – bei dem mich dieser beinah verschlungen hätte – hatte stattgefunden, das konnte ich beschwören. Was nicht ganz der Wahrheit entsprach, war der Oh-Sam-ist-weg-Teil.)

Raziels dunkles Licht wurde für einen Moment noch dunkler, wie das Licht in dem Moment, wenn ein Gewitter losbricht. »Aber Sie und Engel Haraheliel waren doch zusammen, als die Kreatur der Hölle tot oder so gut wie tot war. Er sagt, er sei von einer der Todeszuckungen dieser Kreatur getroffen worden und habe dadurch das Bewusstsein verloren, doch unmittelbar zuvor habe er Sammariel zur Rede gestellt. Diese Widersprüche verwirren uns.«

Die hochgestellten Engel schwiegen, aber ich hatte das beunruhigende Gefühl, dass über meinem Kopf Äußerungen hin und her flogen, dass da ein Gespräch stattfand, das ich nicht hören konnte, das aber über mein Schicksal bestimmen würde, ob es mir gefiel oder nicht. Haraheliel war der wahre Engelsname des Anwaltsazubis (und Spions unserer Oberen) Clarence, und die Aussagen des Jungen mit meinen erfundenen Erinnerungen übereinzubringen, war eine meiner schwierigeren Aufgaben.

»Es tut mir leid, Ephorus«, sagte ich schnell. »Natürlich haben Sie recht. Mit ›Angriff‹ meinte ich die letzten Zuckungen der Kreatur. Ich dachte, sie sei tot. Sie lag eine ganze Weile reglos da, aber dann schlug sie Engel Haraheliel mit einem Bein bewusstlos und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Ich schoss ihr meine letzten Kugeln in den Leib, und schließlich rührte sie sich nicht mehr.« Ich betete – hübsche Ironie, oder? –, dass ich die Details richtig in Erinnerung hatte, jedenfalls die Details der Version, die ich der himmlischen Befragungskommission geliefert hatte. Ich hatte meinen Bericht und den von Clarence tagelang studiert, so fleißig wie ein panischer Erstsemesterstudent vor den Abschlussklausuren. Ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis, aber hier im Anaktoron zu stehen, würde selbst Einstein dazu bringen, mit den Fingern an seiner Unterlippe herumzugrabbeln und bblbblbbl zu machen. »Und als ich dann aufschaute, war Engel Haraheliel bewusstlos, und Sam – Engel Sammariel – war weg.« Ich war in Versuchung, weiterzuplappern, noch mal all die wichtigen Punkte hervorzuheben, klappte aber den Mund fest zu und wartete ab. Wieder das schreckliche, nervenzerrüttende Schweigen. Nur einen Moment lang, aber im Himmel kann einem ein Moment buchstäblich wie Stunden erscheinen.

»Noch etwas erstaunt mich, Engel Doloriel«, sagte Anaita mit ihrer sanften, kindlichen Stimme. »Wie kommt es, dass Sie eine Kreatur der Alten Nacht mit nichts als Silberkugeln zu besiegen vermochten? Es nimmt doch wunder, dass ein so mächtiger Feind so leicht zu vernichten sein soll wie jemand vom gegnerischen Fußvolk.«

Weil das Silber, das ich dem Monstrum am Ende in den Leib gejagt hatte, nicht einfach irgendwelches Silber gewesen war. Es war etwas, das mir Caz geschenkt hatte, ein kleines Silbermedaillon, das einzige und darum so wertvolle Erinnerungsstück aus ihrem Leben als Menschenfrau. Und sie hatte mir das Medaillon aus Liebe geschenkt, da war ich mir ganz sicher. Dass ein Monster aus den Tiefen der Zeit, das alle anderen Silbergeschosse nur mit einem Lachen quittiert hatte, an diesem fragilen bisschen Silber gestorben war, war wohl der Hauptgrund, warum ich nicht glaubte, das zwischen Caz und mir sei nichts als ein infernalischer Verführungstrick gewesen. Aber das konnte ich den Ephoren ebenso wenig sagen, wie ich hätte behaupten können, Gott selbst sei in einem Feuerwagen herabgefahren und habe den Ghallu unter seinen Rädern zermalmt.

»Das weiß ich immer noch nicht«, sagte ich so demütig, wie ich irgend konnte. »Ich habe im Lauf von etwa zwei Stunden eine ganze Menge Silberkugeln auf ihn abgefeuert. Am Ende … schienen ihn die Kräfte zu verlassen.« Was gelogen war. Bis ich Caz’ Medaillon einsetzte, hatte das Ding die Silberkugeln weggesteckt wie Schnipsgummigeschosse. »Vielleicht … äh …« Wenn ich geatmet hätte, hätte ich erst mal innegehalten und ganz tief Luft geholt, weil ich keine überzeugende Antwort wusste und einfach nur Angst hatte. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Man sollte einen Engel des Herrn nie unterschätzen«, sagte Karael plötzlich. Er sagte es auf normale Art, sodass ich es hören konnte, aber es war eindeutig an seine Mitephoren gerichtet. »Engel Doloriel wurde in der Counterstrike-Einheit Lyra ausgebildet, um den Feinden des Himmels zu wehren, und diese Engel sind mit die tapferste und härteste Truppe, die wir besitzen. Ich habe etliche Male Seite an Seite mit unseren Counterstrike-Einheiten gekämpft. Wenn jemand eine Kreatur so altbösen Ursprungs zu töten vermag, dann ist es ein Counterstrike-Veteran. Nicht wahr, Doloriel?«

Ich hätte ihn küssen können, ehrlich. Ich hätte die Arme um seine feurige, herrliche Schrecklichkeit schlingen und ihm einen Schmatz auf die Wange drücken können. »Wir … wir tun unser Bestes, Sir. Wir tun immer unser Bestes.«

»Genau. Doloriel war ein Harfenmann.« Er sagte das Wort so, dass es wie ein Donnergrollen durch den großen Ratssaal zu hallen schien. »Eine jener mutigen Seelen, die die Mauern des Himmels selbst verteidigen – auch wenn es denjenigen, deren Schutz sie gewährleisten, nicht immer bewusst ist. Das heißt etwas.«

Versuchte mir Karael aus der Bredouille zu helfen, weil er es einfach nicht verknusen konnte, dass das himmlische Äquivalent eines Ex-Soldaten von Zivilisten heruntergeputzt wurde? Oder lief da noch etwas anderes? Shit, was für eine Frage. Im Himmel läuft immer noch etwas anderes.

»Gewiss, edler Karael«, sagte Terentia, ebenfalls so, dass ich es hören konnte. »Aber dieser Engel hat doch die Lyra verlassen oder nicht?«

Ich hatte keine Ahnung, was da lief, und das machte mir wieder schreckliche Angst. Warum debattierten die hohen Tiere vor mir, einem einfachen Fußsoldaten? Das ergab doch keinen Sinn.

»Doloriel hat die Counterstrike-Einheit verlassen, weil er im Kampf gegen die Kräfte der Hölle schwer verwundet worden war.« Karael klang fast schon defensiv.

»Und jetzt dient er dem Höchsten als einer seiner heiligen Fürsprecher«, sagte das geschlechtslose Engelwesen Raziel mit einer Stimme wie leise Musik. »Als Anwalt, der die Seelen der Schutzwürdigen gegen den Lug und Trug der Hölle verteidigt.«

»Mag sein«, erwiderte Anaita. »Aber es war doch einer von ebenjenen Anwälten, der mit Kräften der Gegenseite konspirierte, um ebenjenen verderbten Dritten Weg zu erschaffen, der diese ganze Krise überhaupt erst verursacht hat. Und wenn auch außer Frage steht, dass Engel Doloriel ein tapferer Kämpfer war und ein tüchtiger Anwalt ist, kann doch wohl niemand bestreiten, dass er … Probleme förmlich anzuziehen scheint.«

»Tatsache ist«, sagte Raziel langsam, »dass es, seit ich die Anwaltschaft erschaffen habe, Momente gab, ich denen ich mir die Frage gestellt habe, ob wir von den Auserkorenen zu viel verlangen, wenn wir sie wieder Erdenkörper annehmen lassen und sie all den Versuchungen und Nöten aussetzen, mit denen die Lebenden auf Erden tagtäglich konfrontiert sind.«

Sie sprachen wieder lautlos miteinander, was wohl ganz gut so war – wahrscheinlich gaffte ich so blöde, als hätte jemand eine Flasche auf meinem Kopf zerdeppert. Raziel hatte die Anwaltschaft erschaffen? Das hatte ich noch nie gehört. Ja, ich hatte überhaupt noch nichts gehört, was darauf hindeutete, dass wir unsere Existenz irgendetwas anderem verdankten als einem Gebot des Höchsten selbst. Wie wichtig waren diese fünf Engel? Und warum verwandten sie so viel Zeit auf den kleinen Bobby Dollar?

Dann kam mir ein Gedanke, schlich sich an wie Nebel und jagte ein Frösteln durch meine nicht-körperliche Form. Hier lief etwas, das weit über ein Tatsachenfeststellungsmeeting hinausging, ja selbst über ein Meeting wegen etwas für diese hohen Engel so Wichtigem wie den Abtrünnigen des Dritten Wegs. Sam hatte mir erzählt, dass er von einem vermummten Engel angeworben worden sei, der sich Kephas nannte. Alles an ihm hätte auf eine Art von Macht hingedeutet, die die gemeiner Himmelsdiener weit überstieg, nicht zuletzt der Gotteshandschuh, den er Sam gegeben hatte, ein Werkzeug oder was es auch war, durch das Sam so viele erstaunliche Dinge tun konnte. War Kephas, der Revolutionär hinter dem Dritten Weg, womöglich ein hoher Engel wie diese Ephoren? Oder – noch verrückter und beunruhigender – war Kephas einer dieser Furchterregenden Fünf?

Die Spiele, die im Himmel gespielt werden, sind unglaublich subtil, aber trotzdem tödlich – nein, schlimmer als tödlich, weil das Los des Verlierers eine Ewigkeit im Feuerbad ist. Wo war ich da hineingeraten? Und wie sollte ich es vermeiden, ein Bobby-farbener Fleck im Mahlwerk himmlischer Politik zu werden?

»Engel Doloriel«, sagte Terentia und brach damit so plötzlich in meine Gedanken ein, dass ich vor Schreck fast aufgekreischt hätte. Ich bin froh, es nicht getan zu haben, Engel kreischen normalerweise nicht.

»Ja, Ephora?«

»Wir müssen über das nachdenken, was Sie uns erzählt haben. Wir werden wieder mit Ihnen sprechen. Halten Sie sich für eine Einbestellung bereit.«

Und plötzlich verschwand alles, die feurigen Ephoren und die schimmernde Pracht des Anaktoron-Ratssaals, und ich war wieder im Bett in meinem jämmerlichen Apartment, befand mich wieder in meinem jämmerlichen, fröstelnden Menschenkörper. Draußen war es noch dunkel, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich nicht mehr einschlafen würde.

3 RÜCKKEHR

Ich kann nur soundso lange auf vier Wände starren, ohne ein bisschen verrückt zu werden. Am Morgen nach meiner Befragung war es noch schlimmer als sonst, weil mein gesamter Besitz nach wie vor in Kartons auf dem Fußboden meiner neuen Wohnung lagerte und die kärgliche Anzahl dieser Kartons mich ins Grübeln darüber brachte, wie wenig ich als Beweis meiner Existenz auffahren konnte. Ein ergebener Diener Gottes wäre wahrscheinlich stolz auf eine dermaßen mönchische Lebensführung gewesen (so man denn eine Kiste mit Jazz- und Blues-CDs und zwei, drei Kartons mit Hot-Rod-Magazinen und dem einen oder anderen Playboy oder Penthouse »mönchisch« nennen konnte), aber mich deprimierte sie nur. Wäre ich ein glücklicher kleiner Engel gewesen, der sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als das Werk des Himmels zu verrichten, hätte ich es wahrscheinlich anders gesehen, aber ich hatte immer schon das Gefühl gehabt, dass mein Jenseitsleben doch noch ein bisschen mehr beinhalten müsste. Jetzt, da ich jeden Morgen mit einem Caz-förmigen Loch in mir aufwachte, wusste ich, was da fehlte, aber das hieß nicht, dass ich es je bekommen würde.

Ich hatte mir geschworen, sie zurückzuholen, und es war mein voller Ernst gewesen. Das war es immer noch, aber meine Wut war im Laufe mehrerer Wochen etwas abgekühlt, und mir dämmerte allmählich, wie unwahrscheinlich es sein würde, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Schon deshalb, weil Caz wieder in der Hölle war, und in die Hölle spaziert man nun mal ebenso wenig ohne Reservierung wie in den Himmel. Ja, eher würde man es noch schaffen, mit einem Einkaufswagen ins Innere von Fort Knox zu marschieren und sich an den Goldbarren zu bedienen. Himmel und Hölle sind ganz schön abgelegen, sprich, mit ziemlicher Sicherheit nicht auf unserem guten, alten physischen Erdball angesiedelt. Und selbst wenn ich mich irgendwie in die Hölle einschleichen könnte, wäre da doch immer noch die Kleinigkeit, dass ich ein Engel war. Auffällig? Doch, ja, schon ein bisschen. Und nicht zu vernachlässigen war auch die Tatsache, dass Caz derzeit das unfreiwillige Eigentum von Eligor war – Eligor der Reiter, Großfürst des Hades, der bereits die Absicht bekundet hatte, mich ein, zwei Ewigkeiten lang zu peinigen, sobald er ein paar andere Dinge vom Schreibtisch hatte. Ich war mir nicht mal sicher, ob es Karael mit seinen gesamten himmlischen Heerscharen schaffen könnte, dem Großfürsten Caz wegzunehmen, was wohl deutlich macht, wie meine eigenen Chancen standen. Tatsächlich war das ganze Projekt nur eine komplizierte und schmerzhafte Art, Seelenselbstmord zu begehen.

Aber, o du mein Gott, jeden Morgen, wenn ich aufwachte und Caz nicht bei mir war, schmerzte die Sehnsucht. Und jeden Abend, wenn ich mich in diesem jämmerlichen kleinen Zimmer in der Beech Street allein ins Bett legte, dachte ich darüber nach, wie ich sie zurückholen könnte. Wobei meine Vorstellungskraft einfach keine Version zustande brachte, in der wir am Ende heil und glücklich zusammen waren.

Wie ich den Himmel kannte, würde ich von meinen Inquisitoren ein paar Tage nichts hören: Was sie dort oben reichlich haben, ist Zeit. Es hätte mich nicht überrascht, wenn sie alle fünf immer noch um diesen Konferenztisch herumschwebten, sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchten und noch nicht mal angefangen hatten, über mein Schicksal zu entscheiden. In meinem kleinen Studioapartment zu hocken und auf die Einbestellung durch den Himmel zu warten, wäre schlichtweg nicht auszuhalten gewesen, auch wenn ich nicht ohnehin schon zu melancholischen Caz-Gedanken geneigt hätte, also erfand ich ein paar dringende Erledigungen, um einen Grund zu haben, mich anzuziehen.

Ich fuhr mit dem Taxi zu Orban, dem Büchsenmacher. Vor ein paar hundert Jahren hatte er dem Sultan Kanonen für die Belagerung von Konstantinopel geliefert. Ergebnis: Sultan siegt, Konstantinopel fällt, christliches Lager ist ernsthaft sauer auf Orban. Da er weiß, dass er nie in den Himmel kommen wird, weigert er sich bis heute zu sterben. Sagt er jedenfalls, und ich sehe keinen Grund, es in Zweifel zu ziehen, zumal seine Ware mir etliche Male Haut und Seele gerettet hat.

Jedenfalls, Orban panzert auch Autos, und in seiner Garage stand immer noch mein spezialangefertigter Matador. Und obwohl ich jetzt das Geld gehabt hätte, um ihn auszulösen, sagte ich mir doch, dass ein funkelndes topasfarbenes Muskelauto wohl eher nicht das beste Gefährt für einen Mann war, der eine wachsende Kollektion von Feinden ansammelte. Was nützte es, mir eine neue Wohnung zuzulegen und dann die Karre in der Farbe von Katzenaugen davor zu parken? Nicht dass ich den Wagen abstoßen wollte – dafür hatte ich zu viel Geld, Schweiß und Zeit reingesteckt –, aber für den täglichen Gebrauch würde ich etwas anderes finden müssen. In meinem Job als Anwaltsengel bin ich viel und zu allen Tages- und Nachtzeiten unterwegs. Schließlich konnte ich nicht um drei Uhr früh an Bushaltestellen sitzen und hoffen, dass mich der Elfer noch rechtzeitig an jemandes Sterbebett bringen würde.

Orban war nicht in der Fertigungshalle, aber einer seiner Assistenten, ein bärtiger Mann, der dafür gemacht schien, einen Papagei auf der Schulter zu tragen und kielgeholt zu werden oder wie das hieß, erkannte mich und öffnete die Garage, ein langgestrecktes Gebäude einen Pier hinter der Büchsenmacherei. Die meisten Wagen, die dort drinnen standen, waren zwecks irgendwelcher Umbaumaßnahmen hergebracht worden, in der Regel, um gepanzert zu werden, aber die Eigentümer waren entweder bankrottgegangen oder hätten die Panzerung früher gebraucht, und Orban war auf den Fahrzeugen sitzengeblieben. Manche verkaufte er, vor allem die, die schon fertig gepanzert waren, und die übrigen behielt er zum Ausschlachten.

Der Typ mit dem Piratenbart kehrte an sein zweifellos irgendwelchen Vernichtungszwecken dienendes Werkstück zurück, und ich schritt die Front von Kühlern ab, wobei das Geräusch meiner Sohlen auf dem fleckigen Zementboden vom gewölbten Blechdach widerhallte. Die meisten Wagen waren Stretch- oder alte amerikanische Luxuslimousinen, die Orban nicht so leicht loswurde, weil die Drogendealer von heute Hummer und andere gepimpte SUVs bevorzugen. Einen von Orbans Klassikern, den Pontiac Bonneville, hatte der Ghallu aufgerissen wie Alufolie, deshalb brauchte ich jetzt Ersatz. Ein paar Minuten schmachtete ich einen zerkratzten, aber ansonsten intakten 1958er Biscayne an, der, ein bisschen abgeschliffen und überlackiert, mein Herz sehr froh gemacht hätte, aber er war für meine Zwecke einfach zu interessant. Da könnte ich gleich in meinem Matador durch die Gegend kutschieren. Was ich brauchte, war etwas Unauffälliges, auch wenn das jeder Faser meiner Person widerstrebte.

Ganz am Ende stand, seiner Maße und seiner gestauchten Schnauze wegen wie der Kümmerling des Wurfs wirkend, ein 1969er Nova Super Sport. Was er noch an Lack hatte, war von einem ausgeblichenen Liebesapfelrot, aber das ließ sich mit etwas weniger Auffälligem überspritzen. Er war seinerzeit wohl ein ganz schön heißer Ofen gewesen – die Super Sports hatten serienmäßig einen 5,7-Liter-8-Zylinder-Motor. Das Chassis war im Wesentlichen okay, aber das ganze Ding sah aus, als müsste es eigentlich aufgebockt vor irgendeinem Mobile Home nach und nach verrosten. Nicht schlecht für meine Zwecke.

Ich hinterließ Orban einen Zettel mit der Frage, was er für den Super Sport wolle, und ging dann von den Salt Piers über die Freeway-Überführung zu Fuß zurück, sodass ich einen ordentlichen Appetit angesammelt (und fast eine Stunde totgeschlagen) hatte, als ich im Oyster Bill’s ankam. Es war eine merkwürdige Vorstellung, womöglich nie wieder mit Sam hier zu essen – wir hatten eine Menge Zeit in diesem Lokal verbracht –, aber andererseits hatte ich das Gefühl, sein Andenken zu ehren.

Ich wusste einfach nicht, was ich von Sam und dem, was er getan hatte, halten sollte. Wenn man jemanden so lange kennt, wie ich Sam Riley alias Anwaltsengel Sammariel kannte, wenn man zusammen besoffen war, zusammen Feuergefechte bestritten hat und ein paar Dutzend Menschen hat sterben sehen, dann denkt man doch irgendwie, man hat alles am anderen mitgekriegt. Und als ich dann herausfand, dass er für den mysteriösen Engel Kephas und die Geheimoperation Dritter Weg arbeitete, dass er letztlich sein eigenes Spiel gespielt hatte, mitten auf dem Spielfeld des Himmels, vor meiner und vor jedermanns Nase … hm, ich war mir immer noch nicht sicher, wie das alles zusammenpasste. Als wir das letzte Mal miteinander geredet hatten, bevor er durch ein schimmerndes Portal in eine Landschaft entschwand, die ich noch nie gesehen hatte, da war er mir im Großen und Ganzen wie der Sam vorgekommen, mit dem ich so oft in diesem Restaurant hier beim Frühstück gesessen und nebenbei beobachtet hatte, wie die Touristen von Leuten aus dem Hafenviertel auf legale oder illegale Weise ausgenommen wurden. Aber die ganze Zeit oder zumindest die letzten zwei Jahre hatte er mir diese Dritte-Weg-Sache verschwiegen. So was bringt einen schon ins Grübeln, und nach Grübeln war mir im Moment nicht sonderlich zumute. Trotzdem, ich vermisste Sam und sein gutes altes Provinzadvokatengesicht. Ich konnte die Frage nicht verscheuchen, ob wir uns je wiedersehen würden und wie das dann wäre.

Nach dem Mittagessen dachte ich mir noch ein paar Erledigungen aus: Einen Korb Dreckwäsche in die Lavanderia Michoacan bringen und bei Radio Shack ein paar Verbindungsteile holen, damit ich endlich meinen Fernseher wieder anschließen konnte. Auf dem Nachhauseweg nahm ich noch ein paar Burritos mit, um sie in der Mikrowelle aufzuwärmen, wenn ich Hunger bekäme. Die Fernsehersache war aufwändiger, als ich gedacht hatte – meine Wandbuchse war so plaziert, dass ich meinen Fernseher mitten aufs Bett hätte stellen müssen, was bedeutete, noch mal zu Radio Shack zu gehen und ein paar Meter Kabel zu besorgen. Als ich zum zweiten Mal nach Hause kam, machte ich mir einen Drink. Okay, vielleicht auch zwei. Als ich die getrunken hatte, war die Sonne untergegangen und der Fernseher die einzige Lichtquelle im Zimmer. Ich machte mir einen Burrito heiß und guckte ein Giants-Spiel gegen die Pirates in Pittsburgh, bis die Wirkung des Wodkas so weit nachgelassen hatte, dass ich anfing, die Wände anzustarren, die seltsam zusammengerückt schienen. Dieses Gefühl hatte ich zurzeit oft, was bestimmt nicht nur daran lag, dass mein neues Apartment noch kleiner war als das alte. Nach einer Weile wollte ich noch einen Drink, aber statt mir einen zu machen, stand ich auf, zog Schuhe und Jacke an und marschierte zum Compasses, wo ich wenigstens in Gesellschaft trinken würde – die altbewährte Begründung, warum man kein Alkoholiker ist. Ich wollte eigentlich nicht hin, weil ich wusste, all meine Anwaltskollegen würden mich fragen, wie die Anhörung vor dem Ephorat gelaufen war, aber die Vorstellung, in eine andere Bar zu gehen, wo ich niemanden kannte, war noch deprimierender. Und wenn ich nicht aus meinem Apartment hinauskam, würde ich mich am nächsten Morgen vollständig bekleidet und fürchterlich verkatert vor dem Fernseher wiederfinden, dem Geschnatter irgendwelcher schrecklichen Leute in einem Frühstücksfernsehmagazin ausgesetzt, was mit Sicherheit zu den Qualen der Hölle zählt. So hatte mein Tag schon ein paarmal zu oft begonnen, seit ich zugelassen hatte, dass Eligor Caz mitnahm. Also ging ich ins Compasses.

Es ist eine Engelbar – die Engelbar in Downtown San Judas. Sie liegt im ehemaligen Alhambra-Theater in der Nähe vom Beeger Square und war einmal ein Versammlungssaal der Freimaurer. Über der Eingangstür sind immer noch die Freimaurersymbole Winkel und Zirkel, und von Letzterem hat das Compasses seinen Namen. Das Lokal war kürzlich von einem sumerischen Dämon (der es auf mich abgesehen hatte) komplett verwüstet worden, aber obwohl die Wiederaufbauarbeiten noch im Gange waren, lief der Barbetrieb doch wieder mehr oder minder normal.

Im Compasses war es, wie zu erwarten, laut und voll: Da waren all die üblichen Verdächtigen – der Ganze Kaputte Chor, wie wir uns manchmal nannten. (Wir hatten es sogar mal auf Softball-Trikots drucken lassen, waren dann aber wieder aus der Lokalliga ausgestiegen, als sich herausstellte, dass man von uns erwartete, tatsächlich aufzukreuzen und Softball zu spielen.) Hinter der Bar stand Chico, wie üblich eine Kombination aus mexikanischem Motorradrocker und konfuzianischem Weisen. Er zwirbelte an seinem Schnurrbart herum, während er darüber nachdachte, welchen der falsch singenden Typen an der Bar er zuerst zum Schweigen bringen sollte. Angeführt wurden die Sänger von Jimmy the Table, einem stattlichen Burschen, der gern altmodische Gangsteranzüge trug und so aussah, als sollte er irgendwo dort draußen sein und Nathan Detroit helfen, einen Ort für seine berüchtigten illegalen Glücksspielveranstaltungen zu finden. Er winkte mir zu, als ich an ihm vorbeiging, sang aber weiter, da er gerade mitten in »Roll Me Over« war, einem Song, den zu singen immer wesentlich mehr Spaß macht, als ihn zu hören. Ich hatte zu beidem keine Lust. Ich orderte bei Chico einen Stoli und verzog mich dann in eine Sitznische ganz hinten. Ungefähr zehn Minuten bemerkte mich niemand, und ich saß einfach nur da und sah Gottes Streitern bei der Freizeitgestaltung zu. Ziemlich erschreckendes Schauspiel, muss ich sagen, aber immer für ein paar Lacher gut.

Natürlich war mir dieses Glück nicht lange vergönnt. Sweetheart, massig, glatzköpfig und ungemein engelhaft, entdeckte mich und kam anmarschiert, um mir ausführlich all die Queer-Punks und overdressten Poseure in dem Club zu schildern, wo er am Vorabend gewesen war, und mich über meinen Trip auf die andere Seite der Himmelspforte auszufragen. Und natürlich erschien nur wenige Minuten später Jung Elvis, und ich musste die ganze Geschichte noch mal erzählen oder jedenfalls die gekürzte und entschärfte Version, die ich mir für den öffentlichen Gebrauch zusammengebastelt hatte. Der Chor wusste zum allergrößten Teil nicht mal, dass Sam endgültig weg war. Offiziell war er aus irgendeinem Grund beurlaubt, und obwohl im Compasses seit seinem Verschwinden Gerüchte umherschwirrten, wusste doch, soweit ich informiert war, außer Clarence und mir niemand, was wirklich passiert war.

Später am Abend kam Monica mit Teddy Nebraska, einem Engel, den ich nicht so gut kannte, weil sein Arbeitsbezirk am anderen Ende der Stadt war und er auch meistens dort herumhing. Monica war relativ nüchtern, jedenfalls nüchtern genug, um sich daran zu erinnern, dass ich sie in letzter Zeit ganz schön hatte auflaufen lassen, und sobald sie in groben Zügen erfahren hatte, was zwischen mir und den hohen Engeltieren gelaufen war, driftete sie davon, um sich unterhaltsamere Gesellschaft zu suchen. Was sehr erleichternd war, auch wenn Teddy Nebraska in meiner Nische sitzen blieb und steif Konversation machte, bis er einen Vorwand fand, ihr zu folgen oder zumindest meiner unerquicklichen Gegenwart zu entfliehen.

Monica Naber und ich hatten mal was miteinander. Sie ist eine tolle Frau (oder vielmehr ein toller weiblicher Engel), aber seit das mit Caz lief, traute ich mich kaum noch mit ihr zu reden, nicht weil ich Monica hinterginge – wir sahen das schon immer locker –, sondern weil sie mich so gut kannte und ich eine Mordsangst hatte, sie könnte, metaphorisch gesprochen, den Geruch einer anderen Frau an mir erschnuppern. Normalerweise würde mich das ja nicht stören, viele Beziehungen, die ich hatte, waren in mein komisches Mal-ja-mal-nein-Ding mit Monica eingeflochten. Aber wenn jemand im Himmel das mit Caz herausbekäme, bliebe von mir nichts übrig als ein verkohltes Loch im Bürgersteig und ein Hauch von verfliegendem Ozon.

Ich befand, dass es ein Fehler gewesen war, mich im Compasses blicken zu lassen, statt einfach in irgendeine normale Bar zu gehen. Meine Engelkollegen wollten sozialen Kontakt, ich aber wollte in sturem, selbstmitleidigem Schweigen dasitzen, bis ich besoffen genug war, um nach Hause zu wanken. Jahrelang hatte ich meinen Job verflucht – dass ich zu den unmöglichsten Zeiten gestört wurde und quer durch San Judas rasen musste, um den Kampf um jemandes unsterbliche Seele aufzunehmen –, aber jetzt wurde mir allmählich klar, wie sehr ich ihn vermisste. Diese Beurlaubung, oder was für ein bürokratischer Schwebezustand es auch immer war, sperrte mich viel zu sehr in meinem eigenen Kopf ein. Ich brauchte Zerstreuung, aber nicht die Sorte, die darin besteht, sich mit den Problemen anderer Leute zu befassen. Ich gebe jederzeit zu, dass mir das nicht besonders liegt. Ich meine, ich mag Leute, wirklich, aber ich möchte ehrlich gesagt nicht allzu viel über sie hören müssen.

Jetzt verstehen Sie wohl so langsam, warum ich nie ein Musterengel war.

Ich hatte gerade gezahlt und war auf dem Weg zum Ausgang, als Walter Sanders reinkam. Walter sah aus, als hätte er selbst schon einiges getrunken, was nicht so häufig vorkam. Ich hatte ihn schon ganze Abende lang vor einem Bier sitzen sehen, während andere das Zeug en gros hinunterkippten. Er ist ein Engel, den ich mag, ein zurückhaltender Typ mit einem tollen, leicht sarkastischen Humor. Ich hatte mich oft gefragt, ob er in seinem Vorengelsleben Engländer war.

Er sah mich und blieb, kaum merklich schwankend, in der Tür stehen. »Bobby. Bobby D. Hatte gehofft, Sie hier zu treffen. Möchte mit Ihnen reden. Darf ich Ihnen einen Drink ausgeben?«

»Ich glaube ehrlich gesagt, Walter, ich habe schon genug getrunken. Wollte gerade gehen.«