Shadowmarch. Band 2 - Tad Williams - E-Book

Shadowmarch. Band 2 E-Book

Tad Williams

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Beschreibung

Der königliche Vater in Gefangenschaft, der Feind vor den Toren und Verräter in den eigenen Reihen - das Schicksal der Südmark liegt in der Händen der Zwillinge Barrick und Briony. Auf dem Hause Eddon scheint ein Fluch zu liegen ... Eine riesige Elbenarmee überschreitet die Schattengrenze, und nichts scheint sie aufhalten zu können. Als Barrick in die Hände der heimtückischen Feinde fällt, ist Briony gezwungen, aus der Südmarkfeste zu fliehen. Ist es das Schicksal der Völker Eions, zwischen den Armeen der Elben und des Autarchen zerrieben zu werden? Gelingt es Briony, in der Fremde Unterstützung zu finden, um den Thron zurückzuerobern? Und ist Barrick der Herausforderung gewachsen, die ihn immer weiter in die Schattenlande hineinführt ...? Ein echter Tad Williams: vielschichtig erzählt und voller Spannung von der ersten bis zur letzten Seite. Seine »Otherland«-Tetralogie ist eines der großen Meisterwerke der modernen Phantastik und wurde zum Weltbestseller. Mit der »Shadowmarch«-Trilogie knüpft er an seinen ersten großen Erfolg, die Saga um den »Drachenbeinthron«, an.

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Seitenzahl: 1333

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BAND 2

DAS SPIEL

Aus dem Englischen vonCornelia Holfelder-von der Tann

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Wer gern den genauen Überblick über das Wer, Was und Wo hat, findet mehrere Karten und am Ende des Buchs ein Verzeichnis der Personen, Orte und sonstigen wichtigen Dinge.

Die Karten beruhen auf einem umfangreichen Korpus von Reiseberichten, auf nahezu unleserlichen alten Dokumenten, Transskripten mündlicher Äußerungen, gehauchten letzten Worten sterbender Eremiten sowie einem alten Kasten voller Grundbuch-Akten, der auf einem syannesischen Flohmarkt auftauchte. Ähnlich geheime Quellen und mühselige Forschungen stecken auch hinter der Erstellung des Registers. Möge der Leser weisen Gebrauch davon machen und stets bedenken, daß manch einer sein Leben gegeben oder zumindest sein Augenlicht und seine wissenschaftliche Reputation aufs Spiel gesetzt hat, um ihm diese Hilfsmittel verfügbar zu machen.

Hobbit Presse Paperback

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Shadowplay« im Verlag DAW Books New York

© 2007 by Tad Williams

Für die deutsche Ausgabe

© 2007, 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Birgit Gitschier, Augsburg

Unter Verwendung einer Illustration von Max Meinzold, München

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94957-5

E-Book: ISBN 978-3-608-10160-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Dieses Buch widme ich wie schon Shadowmarch 1 – Die Grenze unseren Kindern Connor Williams und Devon Beale.Sie sind inzwischen ein paar Jahre älter und etwas lauter, aber immer noch wunderbar. Ich zucke vor Liebe zusammen, sooft sie mir ins Ohr schreien.

Inhalt

Vorspiel

ERSTER TEIL Masken

1 Auf der Flucht

2 Der Sog der Tiefe

3 Nächtliche Geräusche

4 Der Hadar-d’in-Mozan

5 Frei

6 Skurn

7 Wider die Schakale

8 Ein unauffälliger Mann

9 Einsam in der Tiefe

10 Krummling und seine Urgroßmutter

11 Ein bisschen Arbeit

12 Zwei Yisti-Dolche

13 Botschaften

14 Gejagt

ZWEITER TEIL Fahrendes Volk

15 Das Spiegelexperiment

16 Feuer in der Nacht

17 Der Götterbastard

18 Fragen ohne Antworten

19 Stimmen im Wald

20 Ein Stück vom Haus des Mondes

21 Die Kammer der Totenwache

22 Ein Zunfttreffen

23 Die Träume der Götter

24 Drei Brüder

DRITTER TEIL Maschinen

25 Der graue Mann

26 Südwind

27 Die Schauspieler

28 Geheimnisse des schwarzen Grundes

29 Glocken

30 Das Seekräuterweib

31 Das dunkeläugige Mädchen

32 Simmilein

33 Das Brüllen des Krokodils

34 Immons Tor

35 Zeremonien

36 Das falsche Frauenzimmer

37 Stille

38 Unter dem brennenden Auge

39 Die Stadt der Roten Sonne

40 Das große Licht Nushashs

41 Die Blutsverwandte des Todes

42 Der Freund des Raben

Personen

Orte

Dinge

Dank

Vorspiel

Die älteren Frauen des Haushalts suchten schon eine Stunde vergeblich, aber die Schwester des verschwundenen Jungen wusste, wo sie nachsehen musste.

»Überraschung«, sagte sie. »Ich bin’s.«

Mit dem grauen Staub auf Hose und Samttunika und dem dreckverschmierten Gesicht sah er aus wie ein sehr trauriger Kobold. »Tante Lanna und die anderen Frauen flattern überall herum wie ein Haufen aufgescheuchter Hühner und suchen dich«, sagte sie. »Ich verstehe nicht, warum sie hier nicht geschaut haben. Merken die sich denn gar nichts?«

»Geh weg.«

»Kann nicht, Dummkopf. Baronin Simeon und zwei Zofen waren direkt hinter mir – ich hab sie den Gang entlangkommen hören.« Sie klemmte die Kerze zwischen zwei Fußbodensteine. »Wenn ich jetzt rausgehe, wissen sie, wo du steckst.« Sie grinste, zufrieden mit ihrem Trick. »Also bleibe ich hier, und du kannst mich nicht wegschicken.«

»Dann sei still.«

»Nein. Nur, wenn ich will. Ich bin eine Prinzessin, und du hast mir gar nichts zu befehlen. Das kann nur Vater.« Sie setzte sich neben ihren Bruder und sah zu den Borden hinauf, die jetzt, da die neue Küche näher bei der großen Halle erbaut worden war, kaum noch in Benutzung waren. Da standen nur ein paar angeschlagene Tontöpfe und Schüsseln und ein halbes Dutzend mit Stopfen verschlossener Krüge, deren Inhalt so alt war, dass es, wie Briony einmal erklärt hatte, selbst für Chaven von Ulos gefährlich wäre, sie zu öffnen. (Der neue Hofarzt mit seinen vielfältigen, spannenden Interessen hatte die Kinder sehr beeindruckt.) »Also, warum versteckst du dich?«

»Ich verstecke mich nicht. Ich denke nach.«

»Du lügst, Barrick Eddon. Wenn du nachdenken willst, wanderst du auf den Mauern herum oder gehst in Vaters Bibliothek oder … verkriechst dich in deinem Zimmer wie ein betender Tempelmantis. Hierher kommst du nur, wenn du dich verstecken willst.«

»Ach ja? Und woher nimmst du diese Weisheit, Strohkopf ?«

So nannte er sie oft, wenn er ärgerlich auf sie war, als ob die Tatsache, dass sie goldblondes Haar hatte, während seines fuchsrot war, irgendetwas daran änderte, dass sie Zwillinge waren. »Ich bin nun mal schlau. Komm schon, sag’s mir.« Briony wartete, wechselte dann achselzuckend das Thema. »Eine von den Enten im Festungsgraben hat ganz frisch geschlüpfte Küken. Die sind so süß. Sie machen die ganze Zeit Piep-Piep-Piep und folgen ihrer Mutter überallhin, alle hintereinander wie an einer Schnur.«

»Du und deine Enten.« Mit finsterem Blick rieb er sich den Unterarm. Seine linke Hand war eine verkrümmte Klaue.

»Tut dir der Arm weh?«

»Nein! Die Simeon ist jetzt garantiert weg – warum gehst du nicht und spielst mit deinen Enten oder Puppen oder irgendwas?«

»Weil ich mich hier nicht wegrühre, bevor du mir sagst, was los ist.« Jetzt war Briony auf vertrautem Terrain. Diese Art des Verhandelns kannte sie so in- und auswendig wie ihre Morgen- und Abendgebete oder die Geschichte von Zorias Flucht aus der Feste des grausamen Mondherrschers – ihre Lieblingsgeschichte aus dem Buch des Trigon. Es würde vielleicht eine Weile dauern, aber am Ende würde sie ihren Willen bekommen. »Erzähl.«

»Nichts ist los.« Er bettete seinen verkrüppelten Arm so vorsichtig in seinen Schoß, wie Briony es mit Lämmchen und dickbäuchigen Hundewelpen zu tun pflegte, aber sein Gesichtsausdruck war eher der eines Vaters, der ein ungewolltes, schwachsinniges Kind hält. »Schau nicht dauernd auf meine Hand.«

»Du weißt doch genau, dass du’s mir sagen wirst, Rotschopf«, frotzelte sie. »Also wozu das Geknurre?«

Die Antwort war Schweigen – ungewöhnlich in diesem Stadium des vertrauten, alten Tänzchens.

Sie versuchte es weiter, aber er schwieg stur. Briony wurde mittlerweile richtig wütend auf ihn, weil er sich einfach nicht zum Reden bringen lassen wollte, aber vor allem verdutzte es sie. Vor acht Jahren um dieselbe Stunde geboren, hatten sie ihr ganzes bisheriges Leben gemeinsam verbracht, aber noch nie hatte sie ihn so aufgewühlt gesehen, außer mitten in der Nacht, wenn er, wie es so oft passierte, schreiend aus bösen Träumen hochfuhr.

»Na gut«, sagte er schließlich. »Wenn du mich nicht in Ruhe lässt, musst du schwören, dass du’s nicht weitersagst.«

»Ich? Schwören? Du gemeiner Kerl! Ich habe noch nie irgendwas verraten!« Und das stimmte. Sie hatten beide schon mehrfach Strafen für etwas auf sich genommen, was der andere Zwilling getan hatte, ohne sich gegenseitig zu verpetzen. Es war ein Pakt zwischen ihnen, so unverbrüchlich und selbstverständlich, dass sie noch nie darüber gesprochen hatten.

Aber der Junge blieb hartnäckig. Ein unglückliches Grinsen im blassen Gesicht, wartete er, dass der Zorn seiner Schwester verrauchte. Schließlich gab sie nach: Prinzipien hatten nun mal ihre Grenzen, und jetzt war sie einfach schrecklich neugierig. »Meinetwegen, du gemeiner Kerl. Was verlangst du von mir? Wobei soll ich schwören?«

»Einen Blutschwur. Es muss ein Blutschwur sein.«

»Bei den Häuptern der Götter, bist du verrückt?« Der ungehörige Ausdruck trieb ihr die Röte ins Gesicht, und sie sah sich erschrocken um, obwohl natürlich außer ihnen niemand in der Vorratskammer war. »Blut? Was denn für Blut?«

Barrick zog einen Dolch aus seinem geschlitzten Ärmel. Er hielt den gestreckten Zeigefinger vor sich und schnitt sich, fast ohne zusammenzuzucken, in die Fingerkuppe. Entsetzt und fasziniert zugleich starrte Briony hin.

»Du sollst doch kein Messer bei dir tragen außer bei öffentlichen Zeremonien«, sagte sie. Shaso, der Waffenmeister, hatte es verboten, weil er fürchtete, Brionys hitzköpfiger Bruder könnte sich selbst oder jemand anderen verletzen.

»Ach? Und was soll ich tun, wenn mich jemand töten will und keine Wachen in der Nähe sind? Ich bin schließlich ein Prinz. Soll ich einfach nur mit dem Handschuh nach dem Angreifer klatschen und ihm sagen, er soll verschwinden?«

»Keiner will dich töten.« Sie sah zu, wie ein Blutstropfen hervorquoll und in die Gelenkfalte seines Fingers lief. »Warum sollte dich jemand töten wollen?«

Er schüttelte den Kopf und seufzte ob ihrer Naivität. »Willst du einfach nur da herumsitzen und warten, dass ich verblute?«

Sie starrte ihn an. »Ich soll das auch machen? Nur damit du mir ein blödes Geheimnis verrätst?«

»Na gut.« Er saugte das Blut weg und wischte sich den Finger am Ärmel ab. »Dann sag ich’s dir eben nicht. Geh weg und lass mich in Ruhe.«

»Sei nicht so garstig.« Sie musterte ihn und sah, dass er nicht einlenken würde – er konnte so stur sein wie ein krummer Nagel. »Meinetwegen, ich mach’s.«

Er zögerte. Ganz offensichtlich widerstrebte es ihm, so unmännlich zu handeln und seiner Schwester den Dolch zu geben; schließlich ließ er ihn sich aber doch aus der Hand nehmen. Sie hielt die scharfe Schneide eine ganze Weile über ihren Zeigefinger, biss sich auf die Unterlippe.

»Mach schon!«

Als sie der Aufforderung nicht augenblicklich nachkam, schnellte sein gesunder Arm vor, packte ihre Hand und drückte ihren Finger gegen die Dolchschneide. Der Schnitt war nicht tief: Als sie im Schimpfen innehielt, war der schlimmste Schmerz schon vorbei. Eine rote Perle erschien auf ihrer Fingerspitze. Barrick nahm ihre Hand, jetzt viel sanfter, und legte seinen Zeigefinger an ihren.

Es war ein seltsamer Augenblick, nicht wegen des Gefühls selbst, das nicht anders war, als es sich eben anfühlt, wenn man einen frisch verletzten Finger an dem von jemand anderem reibt und etwas Blut zwischen den geriffelten Fingerkuppen verschmiert. Nein, das Seltsame war das Glühen in Barricks Augen, der begierige Blick, mit dem er auf dieses bisschen Rot starrte, der Blick von jemandem, der etwas viel Aufregenderes beobachtet, Liebesspiele oder eine Hinrichtung, Nacktheit oder Tod.

Er blickte auf. »Schau mich nicht so an. Schwörst du, nie zu verraten, was ich dir erzähle? Und dass die Götter dich fürchterlich strafen sollen, wenn du’s doch tust?«

»Barrick! Wie kannst du so was sagen. Ich verrate niemandem was, das weißt du doch.«

»Wir haben unser Blut vermengt. Jetzt kannst du’s dir nicht mehr anders überlegen.«

Sie schüttelte den Kopf. Nur ein Junge konnte glauben, dass eine Zeremonie mit Messern und Schnitten in Fingerkuppen ein stärkeres Band stiftete als das gemeinsame Heranwachsen im warmen Dunkel des Mutterleibs. »Ich überlege es mir nicht anders.« Sie hielt inne und suchte nach Worten, um ihm die Unverbrüchlichkeit ihrer Treue zu vermitteln. »Das weißt du doch, oder?«

»Gut. Dann zeig ich’s dir.«

Er stand auf und kletterte zum Erstaunen seiner Schwester auf einen Holzblock, der, solange sie beide denken konnten und noch viel länger, als Tritthocker in der Vorratskammer gedient hatte, und tastete dann auf einem der oberen Borde herum, bis er schließlich etwas hervorzog, das in Putzlappen eingewickelt war. Er nahm es herunter, setzte sich wieder hin und umfasste das Bündel so vorsichtig, als enthielte es etwas Lebendiges und möglicherweise Gefährliches. Das Mädchen erstarrte zwischen den Impulsen, sich hinzubeugen und ängstlich zurückzuweichen. Als Barrick den fleckigen Stoff auseinandergefaltet hatte, musterte sie den Inhalt verblüfft.

»Eine Statue«, sagte sie schließlich fast schon enttäuscht. Die Statue war etwa so groß wie eins der Eichhörnchen im Palastgarten, wenn es aufrecht saß, aber das war auch die einzige Ähnlichkeit mit etwas Alltäglichem: Die Figur, deren Gesicht eine Kapuze fast ganz verhüllte, war aus Wolkensplitterkristall, an manchen Stellen grauweiß und trüb wie milchiges Eis, an anderen so klar und leuchtend wie farbiges Glas, in Tönen von hellstem Blau bis zum Rosa von Fleisch oder verwässertem Blut. Die kräftige, gedrungene Gestalt hielt einen Hirtenstab, und auf ihrer Schulter saß wie ein zweiter Kopf eine Eule. »Das ist Kernios.« Sie hatte die Figur schon mal irgendwo gesehen und streckte die Hand aus, um sie zu berühren.

»Nicht!« Barrick zog die Figur weg und schlug den Stoff wieder darum. »Sie … sie ist böse.«

»Wie meinst du das?«

»Ich weiß nicht. Ich … ich hasse sie.«

Sie sah ihn neugierig an, dann fiel es ihr plötzlich wieder ein. »Oh, nein! Barrick, ist das … ist das die Statue aus der Erivorkapelle? Die, wegen der sich Vater Timoid so aufgeregt hat, als sie plötzlich weg war?«

»Als jemand sie gestohlen hatte. Das hat er immer wieder gesagt.« Röte stieg Barrick ins Gesicht, ein harter Kontrast zu seiner Blässe. »Er hatte recht.«

»Zoria bewahre uns, hast du …?« Er sagte nichts, aber das war Antwort genug. »Oh, Barrick, warum?«

»Ich weiß nicht. Ich sag doch, ich hasse sie. Ich hasse es, wie sie aussieht, so blind und stumm. Als ob sie einfach nur … denkt. Und wartet. Und ich spüre es immer, aber am schlimmsten ist es, wenn ich in der Kapelle bin. Spürst du’s denn nicht?«

»Was?«

»Es … ich weiß nicht. Es ist heiß. Macht mir ein heißes Gefühl im Kopf. Nein, das ist nicht richtig. Ich kann’s nicht sagen. Aber ich hasse das Ding.« Sein kleines Gesicht war jetzt wieder grimmig entschlossen, blass und ernst. »Ich werfe es in den Festungsgraben.«

»Das kannst du nicht machen! Die Statue ist wertvoll. Sie ist schon so lange in unserer Familie, seit … Ewigkeiten.«

»Mir egal. Jetzt wird sie nicht mehr in unserer Familie sein. Ich kann’s nicht mal ertragen, sie anzuschauen.« Er starrte Briony an. »Denk dran, du hast es versprochen, also kannst du’s keinem sagen. Du hast einen Schwur geleistet – einen Blutschwur.«

»Natürlich sag ich’s keinem. Aber ich bin trotzdem der Meinung, dass du es nicht tun solltest.«

Er schüttelte den Kopf. »Mir egal. Und du kannst mich nicht davon abhalten.«

Sie seufzte. »Ich weiß. Keiner kann dich von irgendwas abhalten, Rotschopf, und sei es noch so was Dummes. Ich wollte ja nur sagen, du solltest sie besser nicht in den Graben werfen.«

Er starrte unter grimmig zusammengezogenen Brauen hervor. »Warum?«

»Weil sie den manchmal ablassen. Weißt du nicht mehr, wie sie’s vorletzten Sommer getan haben und dabei auf die Gebeine dieser ertrunkenen Frau gestoßen sind?«

Er nickte langsam. »Merolanna wollte uns nicht hinlassen – als ob wir noch Babys wären! Ich war ja so wütend.« Er schien sie jetzt erstmals als echte Komplizin zu betrachten und nicht mehr als Gegnerin. »Das heißt, wenn ich die Statue in den Graben werfe, wird man sie eines Tages finden. Und wieder in die Kapelle stellen.«

»Genau.« Sie überlegte. »Du solltest sie ins Meer werfen. Von der äußeren Mauer, hinter der Ostlagune. Dort geht das Wasser direkt bis an die Mauer.«

»Aber wie soll ich das machen, ohne dass es die Wachen mitkriegen?«

»Ich kann dir sagen wie, aber du musst mir was versprechen.«

»Was?«

»Versprich’s einfach.«

Er schaute misstrauisch, aber offenbar hatte sie seine Neugier geweckt. »Meinetwegen, ich versprech’s. Also, wie kann ich sie von der Mauer werfen, ohne dass es die Wachen sehen?«

»Ich gehe mit. Wir sagen, wir wollen dort rauf, um die Möwen zu zählen oder so was. Die halten uns doch sowieso alle für Kinder – sie werden gar nicht weiter drauf achten, was wir tun.«

»Wir sind doch auch Kinder. Aber was nützt es, wenn du mitgehst? Runterwerfen kann ich sie auch allein.« Er blickte kurz auf seine verkrümmte linke Hand. »Bis ins Wasser kriege ich sie leicht. Sie ist nicht so schwer.«

»Es nützt was, weil ich hinfallen werde, sobald wir dort oben sind. Du wirst direkt vor mir sein, und die Wachen werden stehen bleiben und sich um mich kümmern – sie werden schreckliche Angst haben, dass ich mir ein Bein gebrochen hätte oder so was. Und dann trittst du einfach an die Mauerbrüstung und … tust es.«

Er sah sie voller Bewunderung an. »Du bist wirklich schlau, Strohkopf.«

»Und du brauchst jemanden wie mich, der dafür sorgt, dass du keinen Ärger kriegst, Rotschopf. Also, jetzt zu deinem Versprechen.«

»Nämlich?«

»Ich will, dass du bei unserem Blutspakt schwörst, das nächste Mal, wenn du so was vorhast, wie eine wertvolle Statue aus der Kapelle zu stehlen, erst mal mit mir zu reden.«

»Ich bin nicht dein kleiner Bruder …!«

»Schwör’s. Oder der Schwur, den ich geleistet habe, gilt nicht mehr.«

»Ach, na gut. Ich schwör’s.« Er lächelte leise. »Jetzt ist mir schon wohler.«

»Mir nicht. Denk doch nur mal an all die Bediensteten, die durchsucht und sogar geschlagen wurden, als Vater Timoid die Statue gesucht hat. Sie konnten doch nichts dafür!«

»Das ist doch immer so. Sie sind es gewohnt.« Aber wenigstens hatte er den Anstand, ein bisschen bekümmert dreinzuschauen.

»Und was ist mit Kernios? Wie wird der es wohl finden, wenn seine Statue zuerst gestohlen und dann ins Meer geworfen wird?«

Barricks Gesicht verschloss sich wieder. »Das ist mir egal. Er ist mein Feind.«

»Barrick! Sprich nicht so über die Götter!«

Er zuckte die Achseln. »Gehen wir. Die Simeon hat die Suche inzwischen bestimmt aufgegeben. Wir kommen später noch mal hierher und holen die Statue. Wir können sie ja morgen zur äußeren Mauer bringen.« Er stand auf und streckte dann die gesunde Hand seiner Schwester hin, die mit ihren langen Röcken kämpfte. »Wir sollten uns das Blut von den Händen waschen, bevor wir in den Palast zurückgehen, sonst wollen sie bestimmt wissen, wo wir waren.«

»So viel Blut ist es doch nicht.«

»Genug, dass sie fragen werden. Sie stellen nun mal schrecklich gern Fragen – und Blut fällt jedem auf.«

Briony öffnete die Tür der Vorratskammer, und so leise wie Geister schlüpften sie in den Gang hinaus. Im Thronsaal herrschte ebenfalls eine seltsame Stille – Grabesstille, als ob das riesige, alte Gemäuer die Luft angehalten hätte, um den flüsternden Stimmen in der Vorratskammer zu lauschen.

ERSTER TEILMasken

1 Auf der Flucht

Wenn, wie viele der Tiefen Stimmen glauben, das Dunkel ebenso etwas ist wie das Licht, was kam dann als erstes nach dem Nichts – das Dunkel oder das Licht?

Die Gesänge der ältesten Stimmen behaupten, dass da ohne einen Hörenden kein erstes Wort sein könne: dass das Dunkel war, ehe das Licht wurde. Die einsame Leere gebar das Licht der Liebe, und danach schufen sie alles, was sein würde – das Gute und das Schlechte, das Lebendige und das Unbelebte, das Gefundene und das Verlorene.

Einhundert Grundsteine, Buch der Trauer

Es war ein schrecklicher Traum. Der junge Dichter Matty Kettelsmit trug eine Trauerode für Barrick vor, lauter hochtrabenden Quatsch über die liebenden Arme Kernios’ und den warmen Schoß der Erde, aber Briony sah mit Entsetzen, wie der Sarg ihres Zwillingsbruders wackelte und bebte. Etwas darin wollte heraus, und der alte Hofnarr Puzzle mühte sich, den Sarg zuzuhalten. Er umklammerte ihn mit der ganzen Kraft seiner dürren Arme, während der hölzerne Kasten unter ihm zitterte und der Deckel knackte und ächzte.

Lasst ihn raus, wollte sie schreien, konnte aber nicht – ihr Schleier war so dicht und lag so eng an, dass sie nichts herausbrachte. Sein Arm, sein verkrüppelter Arm! Was musste er für Schmerzen leiden, ihr armer, toter Barrick, wenn er in dieser Enge so heftig kämpfte.

Andere Anwesende, Höflinge und königliche Garden, halfen dem Hofnarren, den Deckel niederzudrücken. Dann trugen sie den Sarg hastig aus der Kapelle. Briony eilte hinterher, doch statt in die Sonne des grasbewachsenen Friedhofs führte der Ausgang der Kapelle direkt in ein Labyrinth von dunklen, steinernen Gängen. In ihren sperrigen Trauerkleidern konnte Briony mit dem eiligen Trauerzug nicht Schritt halten und verlor ihn rasch aus den Augen; bald hörte sie nur noch das erstickte Keuchen ihres geliebten Zwillingsbruders, der dort gefangen im Sarg lag, aber auch diese letzten Laute wurden immer schwächer …

Mit rasendem Herzen fuhr Briony hoch und fand sich in eiskaltem Dunkel, aus dem ferne Sterne glitzerten. Das Boot schaukelte unter ihr, und die Ruder quietschten leise in ihren Halterungen, während Ena, das Skimmermädchen, mit der mühelosen Geschmeidigkeit eines spielenden Otters die Ruderblätter durchs Wasser zog.

Nur ein Traum! Zoria sei Preis und Dank! Dann lebt Barrick also noch – ich wüsste es, wenn nicht. Doch obwohl der Rest des schrecklichen Albtraums dahingeschmolzen war wie Nebel, war das raue, mühsame Atmen immer noch da. Sie drehte sich um und sah Shaso dan-Heza hinter sich im Boot lehnen, die Augen geschlossen, die Zähne zusammengebissen und gebleckt, sodass sie in seinem dunklen Gesicht vom Sternenlicht schimmerten. In seiner Kehle rasselte es; der alte Tuanikrieger schien dem Tod nahe.

»Shaso? Könnt Ihr sprechen?« Als er nicht antwortete, packte Briony das Skimmermädchen an der schmalen, festen Schulter. »Er ist krank, verfluchtes Geschöpf! Hörst du’s denn nicht?«

»Natürlich höre ich ihn, Herrin.« Die Stimme des Mädchens war überraschend hart. »Glaubt Ihr, ich wäre taub?«

»Tu was! Er stirbt!«

»Was soll ich denn tun, Prinzessin Briony? Ich habe seine Wunden gereinigt und verbunden, ehe wir das Haus meines Vaters verlassen haben, und ich habe ihm gutes Seekraut als Arznei gegeben, aber er fiebert immer noch. Er braucht Ruhe und ein warmes Feuer, und vielleicht würde ihm nicht mal das helfen.«

»Dann müssen wir an Land! Wie weit noch bis zur Küste von Marrinswalk?«

»Noch mal die halbe Nacht, Herrin, mindestens. Deshalb fahre ich ja wieder zurück.«

»Zurück? Hast du den Verstand verloren? Wir sind auf der Flucht vor Mördern! Die Burg ist jetzt in den Händen meiner Feinde!«

»Ja, und die Feinde werden Euch hören, Herrin, wenn Ihr so laut schreit.«

Briony konnte das Gesicht unter der Umhangkapuze kaum erkennen, aber sie merkte auch so, dass das Mädchen sich über sie lustig machte. Dennoch, in einem jedenfalls hatte Ena recht: »Gut, ich werde leiser reden – und du wirst dich klar und deutlich ausdrücken! Was hast du vor? Wir können nicht auf die Burg zurück. Dort wäre Shaso der Tod sicher, da könnten wir ihn ebenso gut hier und jetzt ins Wasser werfen. Und mich würden sie auch töten.«

»Ich weiß, Herrin. Ich hab ja nicht gesagt, dass ich Euch wieder zur Burg zurückbringe. Ich hab nur gesagt, ich rudere wieder zurück. Wir brauchen so schnell wie möglich ein Dach überm Kopf und ein Feuer. Ich bringe Euch an eine Stelle in der Bucht, östlich der Burg – Skean Egye-Var heißt sie bei meinem Volk – ›Erivors Schulter‹ in Eurer Sprache.«

»Erivors Schulter? So einen Ort gibt es nicht …!«

»Doch, und da steht ein Haus – ein Haus, das Eurer Familie gehört.«

»Es gibt keinen solchen Ort!« Einen Moment lang war Briony so wütend und entsetzt bei der Vorstellung, dass Shaso in ihren Armen sterben würde, dass sie das Mädchen beinahe geschlagen hätte. Dann begriff sie plötzlich. »M’Helansfels! Du meinst das Jagdhaus auf dem M’Helansfels.«

»Ja. Und da vorn ist es.« Das Skimmermädchen hielt die Ruder still und zeigte auf eine dunkle Erhebung am nahen Horizont. »Preis sei denen in der Tiefe, da scheint niemand zu sein.«

»Da hat auch niemand zu sein – wir waren diesen Sommer nicht dort, jetzt, wo Vater weg ist und überhaupt. Kannst du dort anlegen?«

»Ja, Herrin, wenn Ihr mich drüber nachdenken lasst, was ich tue. Um diese Nachtzeit, kurz vor dem Morgen, ist die Strömung stark.«

In bangem Schweigen saß Briony da, während das Skimmermädchen die Ruder so geschickt bewegte, als wären sie Fortsätze ihrer Arme, und das bockende Boot in einem quälend langsamen Bogen um die Insel steuerte, auf der Suche nach der Einfahrt zwischen den Felsen.

Sonst war Briony immer auf der königlichen Bark hierher gelangt, hatte hoch überm Wasser an der Reling gestanden, während die Seeleute des Königs an Bord hin und her geeilt waren, um dafür zu sorgen, dass die Einfahrt glatt verlief. Deshalb war ihr bisher nie aufgefallen, wie schwierig dieses Manöver war. Jetzt, da die Felsen über ihr dräuten wie Riesen und die Wellen Enas kleines Boot auf und ab tanzen ließen, als wäre es nur ein Schaumflöckchen auf einem Eimer mit schwappendem Putzwasser, umklammerte sie in stummer Furcht mit einer Hand das Dollbord und mit der anderen eine Falte des dicken, groben Hemds, das die Skimmer Shaso gegeben hatten, im Bemühen, den alten Mann aufrecht zu halten.

Als es gerade so aussah, als hätte sich das Skimmermädchen verschätzt, als würde ihr Boot zermalmt werden wie Vogelknochen zwischen den Kiefern eines Wolfs, tauchten die Ruder energisch ins dunkle Wasser, und sie glitten am Muschelbewuchs eines Felsens vorbei, so dicht, dass Briony schnell die Hand wegziehen musste, um ihre Finger zu retten. Der hölzerne Rumpf schrappte ganz leicht den Fels entlang, sodass ein kurzes Zittern durch das Boot lief, dann waren sie vorbei und in der vergleichsweise ruhigen Einfahrt angelangt.

»Du hast es geschafft!«

Ena nickte bemüht gelassen, während sie sie durch die Einfahrt zu dem Schwimmsteg ruderte, der an der Felswand festgekettet war. Wenige Meter entfernt, auf der Seeseite, wüteten die Wellen wie ein erzürntes Raubtier, dem die Beute entgangen war, aber hier ging nur eine sanfte Dünung. Als das Boot festgemacht war, schafften sie es irgendwie, Shasos schwere, schlaffe Gestalt die kurze Leiter hinauf und auf den salzverkrusteten Steg zu hieven.

Ena sank neben Shaso in die Knie. »Ich muss mich ausruhen … nur ein bisschen …«, sagte sie mit hängendem Kopf.

Briony dachte, welche Strapaze es für das Skimmermädchen gewesen sein musste, so viele Stunden zu rudern, um sie von der Burg hierher in diesen sicheren kleinen Hafen zu bringen. »Ich war roh und undankbar«, sagte sie zu Ena. »Bitte verzeih mir. Ohne deine Hilfe wären Shaso und ich längst tot.«

Ena sagte nichts, nickte aber. Möglich, dass sie in der Tiefe ihrer Kapuze leise lächelte, aber es war so dunkel, dass Briony es nicht genau erkennen konnte.

»Während ihr beide euch ausruht, gehe ich hinauf ins Jagdhaus und sehe nach, was ich finden kann. Bleibt hier.« Briony breitete ihren Mantel über Shaso und erklomm dann die Stufen, die in den Fels gehauen waren. Sie waren zwar schlüpfrig von Gischt und Nachttau, aber breit und so vertraut, dass Briony sie im Schlaf hätte hinaufsteigen können. Zum ersten Mal schöpfte sie wieder Hoffnung. Sie kannte diesen Ort gut und wusste um seine Annehmlichkeiten. Sie hatte sich schon damit abgefunden gehabt, die erste Nacht ihrer Flucht in einer Höhle am Strand von Marrinswalk oder im Gesträuch auf der Leeseite einer Felsklippe zu verbringen – hier würde sie immerhin ein Bett vorfinden.

Das Jagdhaus auf dem M’Helansfels war für eine von Brionys Vorfahrinnen, Ealga Flaxenhaar, erbaut worden – eine Liebesgabe ihres Gatten, König Aduan, sagten die einen, ein Gefängnis, meinten andere. Wie auch immer, das war nur noch ein verblassendes Stück Familienmythos, da die Hauptpersonen schon über hundert Jahre tot waren. In Brionys Kindheit hatten die Eddons jeden Sommer mindestens ein Tagzehnt auf der Insel verbracht, aber manchmal waren sie auch wesentlich länger geblieben, weil ihr Vater Olin die Ruhe und Abgeschiedenheit so geschätzt hatte. Außerdem hatte es ihm gefallen, dass er hier einen wesentlich kleineren Hofstaat um sich hatte, oft nur Avin Brone als einzigen Ratgeber, ein Dutzend Bedienstete und ein unumgängliches Minimum an Garden, und dass er nur wenige Besucher zu empfangen brauchte. Als Kinder hatten Briony und Barrick (wie zweifellos viele andere Königskinder vor ihnen) einen schmalen, schwer zu begehenden Pfad hinunter zu einer Strandwiese entdeckt und es genossen, ein Plätzchen für sich allein zu haben, wo sie ganze Nachmittage ohne Wachen und sonstige Erwachsene zubringen konnten. Für Kinder, die praktisch immer von Bediensteten, Soldaten und Höflingen umgeben waren, war die Strandwiese ein Paradies gewesen und das Sommerjagdhaus ein Ort, mit dem sich fast nur schöne Erlebnisse verbanden.

Jetzt fand Briony es sehr seltsam, bei Nacht allein die Eingangstreppe hinaufzugehen. Das vertraute Haus, aus dessen sämtlichen Fenstern warmes Licht hätte strahlen müssen, lag in so völligem Dunkel, dass sie kaum die Umrisse vor dem Himmel ausmachen konnte. Wie schon so oft in diesem Jahr und vor allem in den letzten Wochen war wieder ein geliebter Teil ihres Lebens aus den Fugen geraten, ein weiteres Stück Erinnerung von den Feinden der Eddons gestohlen und entstellt worden.

Sie sah wieder Hendon Tollys spöttisches Gesicht vor sich, seine Belustigung angesichts ihrer Hilflosigkeit, als er ihr erklärte, wie er den Thron an sich zu reißen gedachte, und kalte Wut packte sie. Du bist vielleicht nicht der einzig Schuldige an dem, was meiner Familie widerfahren ist, du elender Gronefeld-Schurke, aber du bist derjenige, den ich kenne und dessen ich habhaft werden kann. In diesem Moment fühlte sie sich so kalt und hart wie der Fels der Bucht. Nicht jetzt – aber eines Tages. Und wenn dieser Tag da ist, werde ich dir das Herz herausreißen, wie du es mit meinem getan hast. Nur dass deines hinterher nicht mehr schlagen wird.

Sie versuchte es gar nicht erst an der schweren Vordertür, weil sie wusste, dass die verschlossen war. Sie ging vielmehr herum zum Kücheneingang, der einen schadhaften Riegel hatte, den man losrütteln konnte. Wie erwartet brauchte sie nur ein paarmal ordentlich zu rütteln, und schon ging die Tür auf, aber drinnen war es stockfinster. Noch nie war Briony hier gewesen, ohne dass zumindest ein paar Lampen vor sich hingeglüht hatten, aber jetzt war die Küche so lichtlos wie eine Höhle, und zuerst brachte sie es einfach nicht über sich, hineinzugehen. Nur der Gedanke an Shaso, der auf dem eiskalten Steg lag, leidend, vielleicht schon halb tot, trieb sie schließlich durch die Türöffnung.

Monatelang in einer Kerkerzelle eingesperrt, und alles nur wegen mir – mir und Barrick. Sie runzelte die Stirn. Na ja, und ein bisschen auch wegen seiner eigenen Halsstarrigkeit.

Sie schaffte es, sich zum Herd zu tasten, wenn auch nicht ohne eine Reihe unerfreulicher Begegnungen mit Spinnweben. Etwas huschte durchs Dunkel – nur Mäuse, beruhigte sie sich. Nach einigem Suchen und etlichen weiteren Spinnweben fand sie schließlich das Flintfeuerzeug in seiner Nische im gemauerten Kamin und daneben eine Handvoll ölgetränkter Späne. Mit etwas Mühe gelang es ihr, einen Funken zu schlagen, und wenig später züngelte ein Flämmchen aus den Spänen, was ihr den Mut gab, weiter zu tasten, einen Stapel von spillerigem Anfeuerholz umzustoßen und ein paar kleinere Reiser auf das Feuerchen zu werfen, damit es zu etwas Brauchbarem heranwuchs. Sie erwog, auch im Kamin der Haupthalle Feuer zu machen. Es gab ihr einen Stich, als sie an ihren verschollenen Vater dachte, der es immer als seine ureigenste Aufgabe angesehen hatte, dieses Feuer zu entzünden. Aber sie wusste, es wäre töricht, Feuerschein aus den Fenstern auf der Vorderseite des Hauses fallen zu lassen, der Seite, die der Südmarksburg zugewandt war. Briony glaubte zwar nicht, dass jemand den Lichtschimmer ohne Fernrohr sehen konnte, nicht mal von den Burgmauern aus, aber wenn es eine Nacht gab, in der zu befürchten war, dass Hendon Tolly und seine Männer mit Fernrohren auf den Mauern standen und ins Dunkel hinausspähten, dann war es diese. Die Küche würde als Zuflucht genügen müssen.

Die Vorderseite des Sommerhauses war immer noch unvertraut dunkel, als sie den steilen Pfad wieder hinabstieg, aber allein schon das Wissen, dass in der Küche jetzt ein Feuer brannte, gab dem ganzen Ort etwas Freundlicheres, und außerdem hielt sie jetzt eine abgeschirmte Laterne in der Hand, sodass sie sehen konnte, wohin sie die Füße setzte.

Also haben wir den ersten Tag schon mal überlebt – es sei denn, jemand hat das Boot gesehen, und sie sind hinter uns her. Ängstlich blickte sie zur Burg hinüber: Da waren zwar Lichter, die sich auf den Mauern bewegten, aber keinerlei Anzeichen für irgendwelche Verfolger auf dem Wasser. Und wenn jemand kam, um den M’Helansfels abzusuchen, ehe sie und Shaso wieder aufbrechen konnten? Nun ja, sie kannte die Insel und ihre Verstecke so gut wie sonst kaum jemand. Was tue ich da?, schalt sie sich. Ich sollte die Götter nicht versuchen, indem ich so etwas auch nur denke …

Shaso konnte zwar ein paar Schritte gehen, aber die beiden jungen Frauen mussten doch alle Kraft aufwenden, um ihn die Treppe hinaufzubugsieren. Es war ein Zeichen dafür, wie schwach er war, dass er nicht einmal protestierte.

Drinnen fand Briony Wolldecken, um den alten Mann einzuwickeln. Dann setzte sie ihn in einen Winkel beim Herd, in Kissen gelehnt, die sie aus dem überreichlich ausgestatteten Wohnzimmer, dem sogenannten Rückzugsgemach der Königin, geholt hatte. Ena war bereits dabei, die wenigen Hinterlassenschaften in den Schränken zu durchstöbern, in der Hoffnung, den Proviant, den sie aus dem Haus ihres Vaters in der Skimmerlagune mitgebracht hatte, aufstocken zu können. Aber Briony wusste, dass da nichts Essbares war. Ihr Mahl würde wieder aus Dörrfisch bestehen.

Dörrfisch war wesentlich besser als hungern, ermahnte sie sich. Aber da Briony Eddon noch nie im Leben gehungert hatte, war das ein abstrakter Trost.

Nachdem sie ihm ein, zwei Schlucke Fischsuppe eingeflößt hatten, gab Shaso eindeutig zu verstehen, dass er selbst zu essen gedachte. Obwohl er immer noch zu schwach und zu krank zum Sprechen war, schaffte er es, immerhin so viel Suppe zu sich zu nehmen, dass Briony zum ersten Mal wieder Hoffnung schöpfte, der alte Mann würde die Nacht doch überleben. Jetzt spürte sie ihre eigene Erschöpfung. Sie schob ihre Schale von sich und stierte darauf, kaum noch in der Lage, den Kopf hochzuhalten.

»Ihr seid müde, Hoheit«, sagte Ena. Briony konnte die Mimik des Mädchens nicht so leicht deuten, glaubte aber, Freundlichkeit und eine erstaunliche Kraft und Ruhe in Enas Zügen zu erkennen. Sie schämte sich ein bisschen für ihre eigene Schwäche. »Geht, sucht Euch ein Bett. Ich werde mich um Shaso-na kümmern, bis er einschläft«, sagte das Skimmermädchen.

»Aber du bist doch selbst müde. Du hast die ganze Nacht gerudert!«

»Damit bin ich aufgewachsen, wie mit dem Schwimmen und Netzeflicken. Ich habe schon schwerer gearbeitet – und aus weniger wichtigem Grund.«

Briony musterte das Mädchen, die riesigen, runden, dunklen Augen und die brauenlose, hohe Stirn, so glänzend wie Speckstein. War Ena hübsch? Schwer zu sagen, so vieles an ihr war ungewöhnlich, aber angesichts ihres wachen Blicks und ihrer kräftigen, ebenmäßigen Züge vermutete Briony, dass Ena unter ihresgleichen als hübsch galt.

»Na gut«, gab sie schließlich nach. »Das ist sehr nett von dir. Ich nehme eine Kerze und lasse dir die Lampe hier. Bettzeug ist in der Truhe in der Halle – ich lege dir und Shaso etwas heraus.«

»Er schläft wohl besser gleich hier«, sagte Ena leise, vielleicht, um Shaso die Schmach zu ersparen, sie über sich reden zu hören wie über ein Kind. »Das dürfte bequem genug sein.«

»Wenn das hier vorbei ist und die Tollys am Galgen verfaulen, werden die Eddons ihre Freunde nicht vergessen.« Das Skimmermädchen zeigte keine Reaktion, also beschloss Briony, sich klarer auszudrücken. »Ihr werdet belohnt werden, dein Vater und du.«

Jetzt lächelte Ena unverkennbar, ja, es sah sogar so aus, als verkniffe sie sich das Lachen, was Briony sehr verwirrte, aber das Skimmermädchen sagte nur: »Danke, Hoheit. Es ist Ehrensache für mich, zu tun, was ich kann.«

Verblüfft, aber zu müde, um darüber nachzudenken, tastete sich Briony ins nächste Schlafgemach, schlug die staubige Decke auf und streckte sich aus. Erst als der Schlaf sie hinabzog, fiel ihr wieder ein, dass das hier immer Kendricks Zimmer gewesen war.

Dann komm eben zurück, erklärte sie, vor Erschöpfung schon ganz benommen, ihrem toten Bruder. Komm zurück und such mich heim, lieber, lieber Kendrick – du fehlst mir so …!

Doch der Schlaf, in den sie – langsam trudelnd wie eine Feder im Brunnenschacht – sank, war nur undurchdringliches Dunkel, ohne Träume und ohne Geister.

Die Insel war in Nebel gehüllt, aber der Morgen brachte genug Licht, um das Sommerhaus auf dem M’Helansfels wieder zu einem vertrauten Ort werden zu lassen – Licht, das durch die hohen Fenster hereindrang, die große Halle in einen blaugrauen Schimmer tauchte, so sanft wie der von Perlmutt, und die Statuen der heiligen Onirai in ihren Wandnischen aussehen ließ, als erwachten sie zum Leben. Selbst die Küche schien wieder der heimelige Ort, den Briony in Erinnerung hatte. Dinge, die sie in der Nacht vor Erschöpfung gar nicht wahrgenommen hatte, der Geruch der Luft, die Schreie von Sturmtauchern und Möwen, die schweren Möbel, abgewetzt und schartig, weil Generationen von Eddon-Kindern daraus imaginäre Pferdekarawanen und Festungen erschaffen hatten, erfüllten sie jetzt mit Sehnsucht und Trauer.

Weg. Alle. Barrick. Vater. Kendrick. Sie fühlte Tränen in den Augen und wischte sie ärgerlich weg. Aber Barrick und Vater sind noch am Leben – bestimmt. Benimm dich nicht wie ein blödes Mädchen. Sie sind nicht weg, nur … woanders.

In das Heidekraut vor dem Haus geduckt, starrte sie lange und angestrengt zur Burg hinüber. Am Fuß der äußeren Mauer schienen sich ein paar Fackeln zu bewegen – Boote, die die Einfahrten und Höhlen am Ufer des Midlanfels absuchten, aber keines schien sich weiter von der Südmarksfeste entfernt zu haben. Für Briony ein Hoffnungsschimmer. Wenn sie selbst das Sommerhaus vergessen hatte, konnte es doch sein, dass die Tollys auch nicht daran denken würden, ehe sie und Shaso längst weg wären.

Wieder in der Küche, aß sie brav ihre Fischsuppe, diesmal gewürzt mit wildem Rosmarin, den Ena in dem verwucherten, herrenlosen Garten gefunden hatte. Briony wusste ja nicht, wann es wieder etwas zu essen geben würde, und sie sagte sich, dass selbst Fischsuppe ein nobles Mahl war, wenn sie ihr die Kraft gab zu überleben, damit sie Hendon Tolly eines Tages etwas Spitzes ins Herz jagen konnte.

Shaso aß ebenfalls, wenn auch nicht viel geschickter oder flinker als in der Nacht. Aber er war nicht mehr ganz so aschfahl, und sein Atem pfiff nicht mehr wie ein Blasebalg. Vor allem jedoch war, trotz der dunklen Ringe um seine eingesunkenen Augen (die ihm, wie Briony fand, etwas von einem Oniron wie Larkis oder Zakkas dem Zerlumpten oder irgendeinem anderen sonnenverbrannten, durch die Einsamkeit der Wildnis dem Wahnsinn verfallenen Propheten aus dem Buch des Trigon gaben), sein Blick wieder klar und wach – der Blick des Shaso, den sie kannte.

»Heute können wir nirgends hin.« Er nahm noch einen letzten Schluck, ehe er die leere Schale senkte. »Das wäre zu riskant.«

»Aber der Nebel verbirgt uns doch …?«

Schon lag in Shasos Gesichtsausdruck wieder viel von seinem alten Selbst: Ärger darüber, dass sie ihm widersprach, und Enttäuschung, weil sie nicht gründlich genug nachgedacht hatte. »Vielleicht hier, in der Bucht, Prinzessin. Aber was ist, wenn wir am späten Nachmittag irgendwo landen, nachdem die Sonne den Nebel längst vertrieben hat? Selbst wenn uns keine Feinde sähen – glaubt Ihr, die Fischer dort würden ein so ungewöhnliches Paar vergessen?« Er schüttelte den Kopf. »Wir sind Flüchtlinge, Hoheit. Alles, was war, ist ohne Bedeutung, wenn Ihr jetzt Euren Feinden in die Hände fallt. Wenn Ihr ergriffen werdet, wird Hendon Tolly Euch nicht vor Gericht stellen oder in den Kerker werfen, als Fanal für die, die den Eddons noch treu sind. Nein, er wird Euch töten, und niemand wird je Euren Leichnam zu Gesicht bekommen. Ein wenig Geraune, dass Ihr noch am Leben seid, wird er gern in Kauf nehmen, solange er selbst weiß, dass er Euch für immer los ist.«

Briony dachte an Hendons grinsendes Gesicht, und ihre Hände zuckten. »Wir hätten den Gronefelds ihre Titel und Ländereien längst nehmen sollen. Warum haben wir diesen ganzen Verräterhaufen nicht hingerichtet?«

»Wann denn? Wann haben sie sich je als Verräter zu erkennen gegeben, ehe es zu spät war? Schließlich war Gailon, auch wenn ich ihn nicht leiden konnte, doch offenbar ein treuer Diener der Krone und des Hauses Eddon – falls Hendon darin wenigstens die Wahrheit gesagt hat. Und über Caradon wissen wir doch auch nur, was Hendon über ihn sagt, also ist seine Schlechtigkeit ebenso wenig erwiesen wie Gailons Anständigkeit. Die Welt ist seltsam, Briony, und sie wird nur noch seltsamer werden.«

Sie sah in sein strenges, ledriges Gesicht und schämte sich, dass sie so dumm gewesen war und nicht besser über den kostbarsten Besitz ihrer Familie gewacht hatte. Was musste er von ihr denken, ihr alter Lehrer? Was musste er von ihr und ihrem Zwillingsbruder halten, jetzt, da sie den Eddon-Thron so gut wie preisgegeben hatten?

Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, schüttelte Shaso den Kopf. »Was vergangen ist, ist vergangen. Was vor uns liegt – das ist alles, was zählt. Werdet Ihr mir vertrauen? Werdet Ihr tun, was ich sage, und nur was ich sage?«

Trotz aller Fehler, die sie gemacht hatte, trotz ihres Selbstekels, sträubte sich alles in ihr. »Ich bin kein Dummerchen, Shaso. Ich bin kein Kind mehr.«

Einen Moment lang wurde sein Gesicht weicher. »Nein. Ihr seid eine prachtvolle junge Frau, Briony Eddon, und Ihr habt ein gutes Herz. Aber das ist jetzt nicht der Moment für Gutherzigkeit. Dies ist die Stunde der Hinterlist, des Verrats und des Mordens, und mit all dem habe ich viel mehr Erfahrung als Ihr. Ich bitte Euch, mir zu vertrauen.«

»Natürlich vertraue ich Euch – was meint Ihr damit?«

»Dass Ihr nichts tut, ohne mich zu fragen. Wir sind Flüchtlinge, auf die ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Wie ich schon sagte: Alles, was war – Eure Krone, die Geschichte Eurer Familie – bedeutet nichts mehr, wenn wir ergriffen werden. Ihr müsst schwören, nichts ohne meine Erlaubnis zu tun, und wenn es Euch noch so klein und unbedeutend erscheint. Bedenkt, ich habe meinen Treueid Eurem Bruder Kendrick gegenüber gehalten, auch als es mich das Leben hätte kosten können.« Er hielt inne, holte Luft und hustete leise. »Was es immer noch kann. Also will ich jetzt, dass Ihr mir dasselbe schwört.« Er fixierte sie mit seinen dunklen Augen. Diesmal war es nicht der gebieterische Blick des alten Lehrers – es lag vielmehr etwas Flehendes darin.

»Ihr beschämt mich, wenn Ihr mich daran erinnert, was Ihr für meine Familie getan habt, Shaso. Und Eure eigene Sturheit lasst Ihr außer Acht. Aber, ja, ich habe Euch verstanden. Ich werde auf Euch hören. Ich werde tun, was Ihr für das Beste haltet.«

»Immer? Auch wenn Ihr noch so sehr an mir zweifelt? Auch wenn ich Euch noch so wütend mache, weil ich Euch nicht immer erkläre, was ich denke?«

Ein leises Zischen ließ Briony zusammenzucken, doch dann merkte sie, dass es Ena war, die leise in sich hineinlachte, während sie den Suppentopf scheuerte. Es war demütigend, aber noch beschämender wäre es, sich weiter wie ein bockiges Kind zu verhalten. »Gut. Ich schwöre es beim grünen Blute Erivors, des Schutzpatrons unserer Familie. Reicht das?«

»Mit dem Schwören bei Egye-var solltet Ihr vorsichtig sein, Hoheit«, sagte Ena heiter. »Erst recht hier mitten im Wasser. Er hört es.«

»Wovon redest du? Wenn ich bei Erivor schwöre, ist es mir ernst.« Sie wandte sich an Shaso. »Seid Ihr jetzt zufrieden?«

Er lächelte, aber es war nur ein grimmiges Zähnezeigen, ein alter Raubtierreflex. »Ich werde mit nichts zufrieden sein, ehe Hendon Tolly tot ist und derjenige, der hinter Kendricks Ermordung steckt, ebenfalls. Aber ich nehme Euer Versprechen an.« Er zuckte zusammen, als er die Beine streckte. Briony schaute weg: Obwohl das Skimmermädchen die schlimmsten Spuren der Fußeisen verbunden hatte, war Shaso doch immer noch mit Schrammen und Blutergüssen übersät, und seine Gliedmaßen waren beängstigend mager. »Und jetzt erzählt mir, was geschehen ist – alles, woran Ihr Euch erinnert. In meine Zelle sind kaum Nachrichten gedrungen, und aus dem, was Ihr mir gestern Abend erzählt habt, bin ich nicht recht schlau geworden.«

Briony tat ihr Bestes, aber es war nicht leicht, alles zusammenzufassen, was in den Monaten passiert war, die Shaso dan-Heza im Kerker verbracht hatte, geschweige denn es verständlich wiederzugeben. Sie erzählte ihm von Barricks Fieber und von Alvin Brones Spion, der behauptete, Männer des Autarchen von Xis am Herzogssitz der Tollys in Gronefeld gesehen zu haben. Sie erzählte ihm von dem Handelszug, der offenbar von Elben überfallen worden war, von Gardehauptmann Vansens Expedition und dem Schicksal, das sie ereilt hatte, von dem vorrückenden Heer der Zwielichtler, das Südmarkstadt auf der Festlandseite der Brennsbucht eingenommen hatte, sodass nur die Burg noch unerobert war. Sie erzählte ihm sogar von dem seltsamen Schankknecht Gil und seinen Träumen, jedenfalls soweit sie sie noch in Erinnerung hatte.

Bis jetzt hatte Ena in keiner Weise zu erkennen gegeben, dass sie dieser bizarren Auflistung von Geschehnissen folgte, doch als sie hörte, was Gil über Barrick gesagt hatte, hielt sie im Spülen inne. »Das Auge des Stachelschweins? Er hat gesagt, er soll sich vor dem Auge des Stachelschweins hüten?«

»Ja, warum?«

»Die Stachelschweinfrau ist wohl diejenige unter den Alten, die den unpassendsten Namen trägt«, sagte Ena ernst. »Sie ist die Gefährtin des Todes.«

»Was heißt das?«, fragte Briony. »Und woher willst du das wissen?«

Wieder spielte das rätselhafte Lächeln um Enas Lippen, aber sie sah Briony nicht an. »Selbst wir in der Skimmerlagune wissen ein paar wichtige Dinge.«

»Genug«, sagte Shaso ärgerlich. »Den Tag über werde ich schlafen – ich will niemandem eine Last sein. Wenn die Sonne untergeht, brechen wir auf. Du, Mädchen«, sagte er zu Ena, »bringst uns an die Küste von Marrinswalk, dann ist dein Dienst beendet.«

»Nur wenn Ihr noch etwas esst, bevor wir aufbrechen«, erklärte ihm Ena. »Noch mehr Suppe – Ihr habt das, was ich Euch gegeben habe, kaum angerührt. Ich habe meinem Vater versprochen, auf Euch aufzupassen, und wenn Ihr wieder zusammenbrecht, wird er böse.«

Shaso sah sie an, als argwöhnte er, dass sie sich über ihn lustig machte. Sie blickte furchtlos zurück. »Dann werde ich eben essen«, sagte er schließlich. Briony verbrachte den größten Teil des Nachmittags damit, auf die Bucht hinauszuspähen, weil sie immer noch Angst hatte, Boote könnten sich der Insel nähern. Als es ihr schließlich zu kalt wurde, ging sie nach drinnen und wärmte sich am Feuer auf.

Um wieder zu ihrem Ausguckposten im Heidekraut zu gelangen, durchquerte sie das Sommerhaus – diesen Ort, der ihr seiner Überschaubarkeit wegen vertrauter gewesen war als die Südmarksburg. Doch jetzt erschien ihr das Haus selbst bei Tageslicht so fremd wie alles Übrige, weil sich die Welt verändert hatte, weil in einer einzigen Nacht alles Gewohnte und Alltägliche auf den Kopf gestellt worden war.

Hier, in diesem Zimmer, hat uns Vater die Geschichte von Hiliometes und dem Mantikor erzählt. Noch vor einem Tagzehnt hätte sie geschworen, dass sie sich immer ganz genau daran erinnern würde, wie es sich angefühlt hatte, gemütlich in die Decken auf dem Bett ihres Vaters gemummelt, erstmals die Geschichte vom großen Kampf des Halbgotts zu hören, aber jetzt stand sie hier, in ebendiesem Zimmer, und alles war plötzlich so verschwommen. War Kendrick auch dabei gewesen, oder hatte er schon geschlafen, weil er am nächsten Morgen in aller Frühe aufstehen wollte, um mit dem alten Nynor fischen zu gehen? Hatte da ein Feuer gebrannt, oder war es einer jener seltenen, richtig warmen Sommerabende auf dem M’Helansfels gewesen, an denen die Bediensteten angewiesen wurden, außer dem Küchenherd nichts zu beheizen? Sie erinnerte sich nur noch an die Geschichte und das übertrieben feierliche, bärtige Gesicht ihres Vaters beim Erzählen. Würde sie irgendwann auch das vergessen? Würde ihre gesamte Vergangenheit auf diese Weise verschwinden, nach und nach, wie Wagenspuren im Erdboden, wenn es regnete?

Eine Bewegung am Rand ihres Gesichtsfelds schreckte sie auf – etwas huschte die Scheuerleiste entlang. Eine Maus? Sie schlich sich zu der Ecke des Raums und scheuchte irgendein Geschöpf hinter einem Tischbein hervor, doch ehe sie erkennen konnte, was es war, verschwand es hinter einem Wandbehang. Für eine Maus war es ihr zu aufrecht erschienen – vielleicht ein Vogel, der sich ins Haus verirrt hatte? Aber Vögel hüpften doch, oder? Seltsam ängstlich zog sie den Wandbehang ab, aber da war nichts.

Eine Maus, dachte sie. Ist die Rückseite des Wandteppichs hinaufgekrabbelt und schon wieder irgendwo im Dach. Das arme Ding hat sich wahrscheinlich zu Tode erschrocken, als plötzlich jemand hier hereinkam – das Haus stand ja über ein Jahr leer.

Sie fragte sich, ob sie es wagen sollte, die Tür zu König Olins Schlafzimmerbalkon zu öffnen. Es juckte sie, zur Burg hinüberzuschauen. Vielleicht war die ja auch schon so unwirklich geworden? Aber die Vorsicht siegte. Sie ging durchs Zimmer zurück, vorbei an dem kahlen Bett. Auf allen Oberflächen lag eine dünne Staubschicht, als wäre der Raum die Gruft eines alten Propheten, wo niemand etwas zu berühren wagte. In einem normalen Jahr wären die Türen zum Lüften aufgerissen worden, während die Bediensteten eifrig fegten und wischten. Frische Blumen hätten in der Vase auf dem Schreibtisch gestanden (nur gelbes Kreuzkraut so spät im Jahr), und der Waschkrug wäre voll Wasser gewesen. Stattdessen saß ihr Vater jetzt irgendwo in einem Raum gefangen, der wahrscheinlich viel kleiner war als dieser – vielleicht nur eine finstere Zelle, wie das Kerkerloch, in dem Shaso geschmachtet hatte. Hatte Olin ein Fenster, durch das er etwas sehen konnte – oder nur dunkle Mauern und verblassende Erinnerungen an sein Zuhause?

Sie durfte gar nicht daran denken. Es gab dieser Tage so vieles, woran sie gar nicht denken durfte.

»Hast du nicht gesagt, er habe kaum etwas gegessen?«, sagte Briony und deutete mit dem Kopf zu Shaso hinüber. Sie hielt den Proviantsack vor sich. »Der ganze Dörrfisch ist weg? Warst du das? Da waren noch drei Stücke, als ich das letzte Mal reingeschaut habe.«

Ena blickte in den Sack und sagte dann lächelnd: »Ich glaube, das war ein Geschenk.«

»Ein Geschenk? Was soll das heißen? An wen denn?«

»An das kleine Volk – die Kinder des Herrn der Lüfte.«

Briony schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ein Geschenk an die Ratten und Mäuse wohl eher. Ich habe gerade eine gesehen.« Sie glaubte nicht an diese albernen alten Geschichten, die die Köchinnen und Küchenmägde immer erzählten, wenn irgendetwas fehlte: »Oh, das war bestimmt das kleine Volk, Hoheit. Die Alten müssen es genommen haben.« Es gab ihr einen Stich ins Herz, als sie daran dachte, was Barrick zu solchen Hirngespinsten sagen würde. Sie hörte förmlich den vertrauten spöttischen Ton. Sie vermisste ihn so sehr, dass ihr die Tränen kamen.

Gleich darauf erkannte sie die Ironie der Situation: Ihr Bruder, der für das Gerede vom »kleinen Volk« nichts als Verachtung übrig gehabt hätte – sie trauerte um ihn … weil er gegen die Elben gezogen war. »Macht wohl nichts«, sagte sie zu Ena. »In Marrinswalk finden wir bestimmt etwas zu essen.«

Ena nickte. »Und vielleicht bringt uns das kleine Volk dafür ja Glück – vielleicht rufen sie Pyarin Ky’vos an, dass er uns günstige Winde schickt. Sie sind schließlich seine Lieblinge, so wie mein Volk Egye-Var gehört.«

Briony schüttelte skeptisch den Kopf, rief sich dann aber zur Ordnung. Sie, die gegen einen mörderischen Dämon gekämpft und nur mit Müh und Not überlebt hatte – wie kam sie dazu, hochmütig abzutun, was andere über die Götter sagten? Sie betete zwar jeden Tag gewissenhaft und aufrichtig zu Zoria, hatte aber nie geglaubt, dass der Himmel so aktiv ins Leben der Menschen eingriff, wie es andere zu glauben schienen. Doch im Moment konnten sie und ihre Familie jede Hilfe brauchen. »Du erinnerst mich da an etwas, Ena. Wir müssen Erivor eine Opfergabe darbringen, bevor wir gehen.«

»Ja, Herrin. Das ist gut und richtig.«

Das Mädchen billigte also, was sie sagte? Wie reizend! Briony zog eine Grimasse, wandte sich aber ab, sodass Ena es nicht sehen konnte. Zum ersten Mal schmerzte es sie, nicht mehr Prinzregentin zu sein. Eine Prinzregentin behandelten die Leute wenigstens nicht wie ein Kind oder ein dummes Ding – allein schon aus Angst! »Lass uns zuerst Shaso zum Boot bringen.«

»Ich gehe selbst, verflucht.« Der alte Mann bemühte sich, vollends aus seinem Dahindösen zu erwachen. »Ist die Sonne schon untergegangen?«

»Bald.« Er sah besser aus, dachte Briony, aber er war immer noch erschreckend dünn und offenkundig sehr schwach. Er war alt, viele Jahre älter als ihr Vater – manchmal vergaß sie das, getäuscht durch seine Stärke und seinen scharfen Verstand. Würde er sich wieder erholen, oder hatte ihn die Zeit im Kerker für immer zum Krüppel gemacht? Sie seufzte. »Wir sollten uns jetzt bereit machen. Es ist weit bis zur Küste von Marrinswalk, oder?«

Shaso nickte langsam. »Es wird die ganze Nacht dauern und wahrscheinlich noch bis in den Vormittag.«

Ena lachte. »Wenn Pyarin Ky’vos auch nur den kleinsten günstigen Wind schickt, setze ich Euch noch vor dem Morgengrauen drüben ab.«

»Aber wo dort?« Briony lag es mittlerweile fern, an dem Mädchen mit den kräftigen Armen zu zweifeln, jedenfalls, was das Rudern anging. »Wie wäre es mit Wildeklyff ? Ich kenne Tynes Gemahlin gut. Sie würde uns sicher Unterschlupf gewähren – sie ist eine brave Frau, trotz ihrer übergroßen Leidenschaft für Kleider und für Klatsch und Tratsch. Das wäre doch wohl sicherer als Marrinswalk, wo …«

Shaso gab ein tiefes, warnendes Grollen von sich, das klang, als käme es aus einer Höhle. »Habt Ihr nicht versprochen, zu tun, was ich sage?«

»Doch, das habe ich, aber …«

»Dann rudern wir nach Marrinswalk. Ich habe meine Gründe, Hoheit. Niemand aus dem Adel kann euch schützen. Wenn wir die Tollys provozieren, wird Herzog Caradon mit den Gronefelder Truppen nach Wildeklyff ziehen und Aldritchstatt bezwingen – wer sollte dort die Tollys aufhalten können, wenn Tyne mit allen seinen Männern in diesen Kampf gezogen ist, von dem Ihr spracht? Sie werden erklären, Ihr wärt eine Hochstaplerin – eine Dienstmagd, die ich gezwungen hätte, die Rolle der verschwundenen Prinzessin zu spielen – und die echte Briony sei längst tot. Versteht Ihr?«

»Ja, schon, aber …«

»Kein Aber. Im Moment zählt nur Stärke, und die Tollys haben die Oberhand. Ihr müsst tun, was ich sage, und keine Zeit mit Widerspruch vergeuden. Wir könnten uns bald schon in Situationen befinden, in denen Zögern oder kindischer Eigensinn tödlich wäre.«

»Gut, dann eben Marrinswalk.« Briony stand auf und bemühte sich, ihren Zorn im Zaum zu halten. Ruhig, ermahnte sie sich. Du hast es versprochen – und außerdem, denk dran, wie töricht du dich in der Sache mit Hendon verhalten hast. Du kannst dir jetzt keine Temperamentsausbrüche leisten. Du bist die letzte Eddon. Erschrocken korrigierte sie sich. Die letzte Eddon in Südmark. Aber nicht einmal das stimmte – jetzt waren gar keine wahren Eddons mehr auf der Südmarksburg, nur noch Anissa und ihr Kind, falls es die schreckliche erste Nacht seines Lebens überstanden hatte.

»Ich werde am Altar des Meeresgottes opfern«, sagte sie so gemessen, wie sie irgend konnte, und setzte die Maske majestätischer Unnahbarkeit auf, von der sie geglaubt hatte, sie hätte sie mit dem Rest ihres alten Lebens auf der Burg zurückgelassen. »Hilf dem Waffenmeister dan-Heza hinunter zum Boot, Ena. Ich komme nach.«

Ohne sich umzublicken, schritt sie aus der Küche.

2 Der Sog der Tiefe

Am Anfang waren die Himmel nichts als Dunkel, aber Zo kam und vertrieb das Dunkel. Zurück blieb nur Sva, die Tochter des Dunkels. Zo fand sie hübsch, und gemeinsam machten sie sich daran, zum Guten über alles zu herrschen.

Der Anbeginn der Dinge, Buch des Trigon

Trotz des rauschenden Regens, der auf die bemoosten Steine platschte und von den Bäumen troff, die sich über sie beugten wie tadelnde alte Männer, machte der Junge keinen Versuch, sich zu bedecken. Tropfen schlugen ihm gegen die Stirn und rannen ihm übers Gesicht, aber er verzog keine Miene. Bei seinem Anblick fühlte sich Ferras Vansen einsamer denn je.

Was tue ich hier? Man sollte doch meinen, keine Macht der Götter oder der Erde hätte mich je wieder in diese verrückte Gegend bringen können. Doch die verheerende Mischung aus Scham und Begehren war offensichtlich stärker gewesen als jeder Gott, denn jetzt war er wieder jenseits der Schattengrenze, in einem weglosen Wald aus sichelblättrigen Bäumen und Schlingpflanzen voller triefender, schwarzer Blüten, getrieben von der Angst, dass er, wenn er den Jungen verlor, noch mehr Leid über die Eddons bringen würde – vor allem aber über Barricks Schwester, Prinzessin Briony.

Über ihnen zuckte das fahle Glimmen verborgener Blitze, Donner grollte, und es schüttete immer heftiger. Vansen hatte genug: Auch wenn es einen weiteren Kampf mit dem erstarrten Prinzen bedeutete – heute konnten sie nicht mehr weiterreiten. Wenn sie nicht vom Blitz erschlagen würden oder sich ein tödliches Fieber holten, würden ihre Pferde blind in einen Abgrund stolpern, und sie würden auf diese Weise umkommen. Selbst Barricks seltsames, dunkles Elbenpferd mit den milchigen Augen zeigte Anzeichen von Ermattung, und Vansens eigenes Tier war kurz davor, gänzlich den Dienst zu verweigern. Kein vernünftiger Mensch würde bei solchem Wetter durch unbekanntes Gelände reiten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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