Shadowmarch. Band 1 - Tad Williams - E-Book

Shadowmarch. Band 1 E-Book

Tad Williams

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Beschreibung

Mit »Shadowmarch« hat Tad Williams eine faszinierende Welt voller Magie und Geheimnis erschaffen. Ganz im Norden, die Türme im dichten Nebel, dräut die riesige, labyrinthische Südmarksfeste. Keiner kennt ihr Alter, und jahrhundertelang war sie fast vergessen. Doch nun kann ihre einsame Lage an der Grenze zum unheimlichen Reich der Zwielichtbewohner sie nicht länger schützen. Südmark wird bedroht. In der Nebelwelt der Zwielichtzone im Norden wie auch im Reich des machtbesessenen Autarchen im Süden sammeln sich Heere. Und ihr Ziel ist die Südmarksfeste, wo die jungen königlichen Zwillinge, da ihr Vater weit entfernt in Gefangenschaft schmachtet, die Regierungsgeschäfte übernehmen müssen; wo Ferras Vansen, Hauptmann der Königlichen Garde, sich in einer Leidenschaft verzehrt, von der jene, die er zu beschützen hat, nichts ahnen; wo Chaven, der über geheimes Wissen aus den Alten Tagen verfügt, einen magischen Spiegel hütet; und wo der Funderling Chert ein Kind findet - ein Kind, dessen Schicksal ihn ins tiefste Herz des Schattenreiches führen soll ...

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Seitenzahl: 1312

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BAND 1

DIE GRENZE

Aus dem Englischen vonCornelia Holfelder-von der Tann

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Wer gern den genauen Überblick über das Wer, Was und Wo hat, findet mehrere Karten und am Ende des Buchs ein Verzeichnis der Personen, Orte und sonstigen wichtigen Dinge.

Die Karten beruhen auf einem umfangreichen Korpus von Reiseberichten, auf nahezu unleserlichen alten Dokumenten, Transskripten mündlicher Äußerungen, gehauchten letzten Worten sterbender Eremiten sowie einem alten Kasten voller Grundbuch-Akten, der auf einem syannesischen Flohmarkt auftauchte. Ähnlich geheime Quellen und mühselige Forschungen stecken auch hinter der Erstellung des Registers. Möge der Leser weisen Gebrauch davon machen und stets bedenken, dass manch einer sein Leben gegeben oder zumindest sein Augenlicht und seine wissenschaftliche Reputation aufs Spiel gesetzt hat, um ihm diese Hilfsmittel verfügbar zu machen.

Hobbit Presse Paperback

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Shadowmarch Volume One«

im Verlag DAW Books New York

© 2004 by Tad Williams

Für die deutsche Ausgabe

© 2005, 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Birgit Gitschier, Augsburg

Unter Verwendung einer Illustration von Max Meinzold, München

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94956-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10159-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage derm Printausgabe.

Dieses Buch widme ich meinen Kindern, Connor Williams und Devon Beale, die jetzt, da ich dies schreibe, noch klein, aber schon von unglaublicher Power sind. Sie versetzen mich jeden Tag in Erstaunen.

Ich hoffe, irgendwann, wenn sie erwachsen und ihre Mutter und ich bereits in den jenseitigen Gefilden sind, wird es sie wärmen, zu wissen, wie sehr wir sie geliebt haben, und es wird ihnen ein ganz klein wenig peinlich sein, dass sie diesen Umstand so schamlos ausgenutzt haben – bezaubernde, lustige kleine Kerlchen, die sie sind.

Inhalt

Kurze Geschichte Eions

Vorspiel

ERSTER TEIL BLUT

1 Eine Lindwurmjagd

2 Ein Felsklotz im Meer

3 Ein rechter Blauquarz

4 Ein überraschender Vorschlag

5 Lieder vom Mond und den Sternen

6 Blutsbande

7 Die Schwestern vom Bienentempel

8 Das Versteck

9 Weiße Schwingen

10 Brennende Hallen

11 Die Braut des Gottkönigs

12 In Stein gebettet

ZWEITER TEIL MONDLICHT

13 Vansens Auftrag

14 Weißfeuer

15 Der Frauenpalast

16 Der Hochedle Riecher

17 Schwarze Blumen

18 Ein Gast weniger

19 Der Gottkönig

20 Im Land des Mondes

21 Die Münze des Schankknechts

22 Die Ernennung

23 Der Sommerturm

24 Leoparden und Gazellen

25 Spiegel

26 Entscheidungen

DRITTER TEIL FEUER

27 Milnersford

28 Der Abendstern

29 Der Leuchtende Mann

30 Erwachen

31 Nächtlicher Besuch

32 In dieser Welt

33 Die bleichen Wesen

34 Auf einem Feld in Marrinswalk

35 Die seidene Schnur

36 Zu Füßen des Riesen

37 Die dunkle Stadt

38 Stumm

39 Winterfest

40 Zorias Flucht

Personen

Orte

Dinge und Tiere

Dank

Kurze Geschichte Eions

Unter besonderer Betrachtung des Aufstiegs der nördlichen Markenlande

dargestellt von dem Gelehrten Finn Teodorus

nach Clemons »Geschichte unseres Kontinentes Eion und seiner Völker«

auf Geheiß des hohen Herrn Avin Brone,

Graf von Landsend, Konnetabel von Südmark,

vorgelegt am 13. Tag des Enneamene im Jahre 1316 des Heiligen Trigon.

Im Jahrtausend vor unserem gegenwärtigen Zeitalter des Trigonats wurde Geschichte allein in den alten Königreichen Xands geschrieben, jenes südlichen Kontinents, der die erste Heimstatt der Zivilisation war. Die Xander wussten nur wenig über ihre nördlichen Nachbarn, die Bewohner unseres Weltteils Eion, da sich dessen Inneres zumeist hinter unpassierbaren Bergen und dichten Wäldern verbarg. Die Südländer trieben lediglich mit einigen hellhäutigen wilden Küstenbewohnern Handel und besaßen so gut wie keine Kenntnisse über jenes geheimnisvolle Zwielichtvolk, das mit gelehrtem Namen »Qar« hieß und über ganz Eion verstreut lebte, vor allem aber im äußersten Norden unseres Kontinents, wo es bis heute existiert.

Als sich über die Generationen der xandische Handel mit Eion ausweitete, erlebte auch Hierosol, der größte unter den neuen Handelshäfen an der eionischen Küste, ein stetes Wachstum, bis es schließlich mit Abstand die einwohnerreichste Stadt des gesamten nördlichen Weltteils war. Zwei Jahrhunderte vor Beginn der gesegneten Ära des Trigon konnte es Hierosol an Größe und kultureller Verfeinerung bereits mit vielen der dekadenten Hauptstädte des südlichen Kontinentes aufnehmen.

Zunächst war Hierosol eine Stadt mit vielerlei Göttern und vielerlei konkurrierenden Priesterschaften, und Glaubensstreitigkeiten und Götterrivalitäten wurden oft durch Verleumdung, Brandstiftung und blutige Straßenkämpfe ausgetragen. Dann jedoch schlossen die Anhänger der drei mächtigsten Gottheiten – die da waren: Perin, Herr des Himmels, Erivor, Herr der Wasser, und Kernios, Herr der schwarzen Erde – einen Pakt. Dieses Trigon, das Bündnis der drei Götter und ihrer Anhänger, erhob sich schon bald über alle anderen Priesterschaften und deren Tempel. Sein oberster Priester nannte sich fortan Trigonarch, und er und seine Nachfolger wurden die mächtigsten Glaubensfürsten in ganz Eion.

Jetzt, da reiche Warenströme durch seine Häfen flossen, da sein Heer und seine Flotte immer größer wurden und die Glaubensautorität sich in den Händen des Trigonats konsolidierte, wurde Hierosol zur beherrschenden Macht nicht allein Eions, sondern, da die Reiche des südlichen Kontinents Xand unaufhaltsam in Dekadenz versanken, der gesamten bekannten Welt. Die Vormachtstellung Hierosols währte fast sechshundert Jahre, bis das Imperium schließlich unter seiner eigenen Last zusammenbrach und den Raubzügen, die in Wellen von der krakischen Halbinsel und dem südlichen Kontinent hereinbrachen, anheimfiel.

Aus der Asche des hierosolinischen Reichs erhoben sich jüngere Königreiche im Herzland Eions. Syan überflügelte alle anderen, vereinnahmte im neunten Jahrhundert sogar das Trigonat selbst und verlegte die Trigonarchie samt ihrer hohen Priesterschaft von Hierosol nach Tessis, wo sie bis heute residiert. Syan wurde für ganz Eion zum Zentrum der Mode und Gelehrsamkeit und ist in vielerlei Hinsicht noch heute die führende Macht unseres Kontinents, doch seine Nachbarn haben den Mantel des syannesischen Imperiums längst abgeschüttelt.

Seit vorgeschichtlichen Zeiten teilen die Menschen Eions ihre Lande mit den sonderbaren, heidnischen Qar, im Volksmund auch »das Zwielichtvolk«, »die Zwielichtler«, »das stille Volk« oder, häufiger noch, »das Elbenvolk« genannt. Wenn auch die Sage von einer riesigen Qar-Siedlung im Norden Eions geht, einer düsteren, uralten Stadt von üblem Ruf, so lebten die Qar doch zunächst in ganz Eion, wenngleich nie in solcher Dichte wie die Menschen und vorwiegend in abgeschiedenen ländlichen Gegenden. Als sich die Menschen immer weiter über Eion verbreiteten, zogen sich viele Qar in die Hügel und Berge und dichten Wälder zurück. Mancherorts blieben sie aber auch und lebten sogar in Frieden mit den Menschen. Das wechselseitige Vertrauen war jedoch gering, und der unausgesprochene Nichtangriffspakt zwischen den beiden Völkern, der fast das gesamte erste Jahrtausend des Trigonats währte, beruhte vor allem auf der geringen Zahl der Zwielichtler und ihrer abgeschiedenen Lebensweise.

Mit dem Nahen des Jahrs 1000 kam der Große Tod, eine schreckliche Pest, die zuerst in den südlichen Seehäfen auftrat, sich dann aber über das ganze Land ausbreitete und großes Elend brachte. Die Krankheit tötete binnen Tagen, und nur wenige, die mit ihr in Berührung kamen, überlebten. Bauern ließen ihre Felder im Stich, Eltern ihre Kinder. Heilkundige weigerten sich, den Todkranken beizustehen, und selbst die Priester des Kernios waren nicht länger bereit, Zeremonien für die Toten abzuhalten. Am Ende des ersten Pestjahrs hieß es, ein Viertel aller Bewohner der südlichen Städte Eions sei der Seuche erlegen, und als die Geißel mit dem warmen Frühlingswetter wiederkehrte und noch mehr Menschen dahinraffte, glaubten viele das Ende der Welt gekommen. Das Trigon und seine Priester erklärten, die Seuche sei die Strafe für den Unglauben der Menschen, aber die meisten Leute bezichtigten zunächst Fremde und vor allem Südländer, die Brunnen vergiftet zu haben. Bald jedoch wurden näherliegende Schuldige ausgemacht – die Qar. Vielerorts galten die geheimnisvollen Zwielichtler ohnehin schon als Unholde, daher griff die Idee, dass die Pest ihr böses Werk sei, unter den verängstigten Menschen rasch um sich.

Die Angehörigen des Elbenvolks wurden erschlagen, wo immer man sie fand, ganze Stämme gefangen genommen und vernichtet. Die Raserei erfasste ganz Eion, angeführt von Kämpferscharen, die sich »Säuberer« nannten und sich zum Ziel gesetzt hatten, die Qar auszurotten, wenngleich in Zweifel steht, ob sie nicht mehr Menschen als Elben töteten, denn viele Menschendörfer, in denen ohnehin bereits der Große Tod gewütet hatte, wurden von Säuberern niedergebrannt, all jenen zur Mahnung, die sich womöglich ihrer »heiligen Mission« in den Weg zu stellen trachteten.

Die verbliebenen Zwielichtler flohen nordwärts, sammelten sich dann aber zu einer Abwehrschlacht bei einer Qar-Siedlung namens Kaltgraumoor, keinen Tagesmarsch vom heutigen Südmark, wo ich jetzt diese Chronik verfasse. (»Kaltgrau« war, wenngleich eine zutreffende Beschreibung des Kampfplatzes, doch offenbar eine Verballhornung von Qul Girah, was, laut Clemon, in der Sprache des Elfenvolks »Ort des Wachsenden« bedeutet, wobei mir die Quellen, auf die er dies gründet, nicht bekannt sind.) Es war eine furchtbare Schlacht, aber die Qar wurden geschlagen, nicht zuletzt dank der Ankunft eines Heeres, das von Anglin geführt wurde, dem Herrscher des Inselreichs Connord, der ein entfernter Verwandter der syannesischen Königsfamilie war. Die Zwielichtler wurden gänzlich aus den Menschenlanden vertrieben, hinauf in die trostlosen, dicht bewaldeten Regionen des Nordens.

Neben Tausenden, deren Namen weniger berühmt sind, fiel auch König Karal von Syan in der Schlacht bei Kaltgraumoor, doch sein Sohn, der ihm als Lander III. auf den Thron nachfolgte und später als »Lander der Gute« oder »Lander Elbenbanner« berühmt werden sollte, gab Anglin die nördlichen Grenzlande zum Lehen, auf dass er und seine Nachkommen fortan als Vorposten gegen die Qar die Grenze der Menschenwelt hüteten. So wurde Anglin von Connord der erste Markenkönig.

Nach Kaltgraumoor erlebte der Norden ein vergleichsweise friedliches Jahrhundert, wenngleich die Grauen Scharen, Söldnertruppen, die in den wirren Zeiten nach dem Großen Tod und dem Zusammenbruch des syannesischen Reiches an Zulauf gewonnen hatten, eine große Gefahr blieben. Diese gesetzlosen Ritter verdingten sich bei verschiedensten Despoten, um deren Nachbarn zu unterwerfen, oder aber sie suchten sich wehrlosere Opfer, indem sie Lösegeld für entführte Edelleute erpressten und raubend und mordend über die Bauern herfielen.

Anglins Nachkommen hatten das Grenzland in vier Marken aufgeteilt – die Nordmark, die Südmark, die Ostmark und die Westmark, die jedoch alle der Krone des Königreichs Südmark unterstanden –, und sie und ihre Blutsverwandten regierten diese Markenlande in weitgehender Harmonie. Doch dann, im Jahr 1103 des Trigonats, brach plötzlich und ohne Vorwarnung ein Qar-Heer von Norden über die Marken herein. Anglins Nachkommen kämpften erbittert, wurden aber aus dem größten Teil ihres Gebietes vertrieben und bis an die südliche Grenze zurückgedrängt. Nur der Beistand der kleinen Fürstentümer jenseits der Grenze (bekannt als »die Neun«) ermöglichte es den Markenländern, die Qar aufzuhalten, während sie auf Hilfe aus den großen südlichen Königreichen warteten – Hilfe, die quälend lange auf sich warten ließ. Es heißt, in diesen schrecklichen Kämpfen sei unter den Nordleuten erstmals ein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl – und ein gewisses Misstrauen gegen die südlichen Reiche – erwachsen.

Nur der grimme Winter jenes Jahres erlaubte es den Menschen, die Qar in den Markenlanden in Schach zu halten. Im Frühling trafen dann endlich Heere aus Syan, Jellon und dem Stadtstaat Krace ein. Obwohl die Menschen den Zwielichtlern zahlenmäßig weit überlegen waren, wogte der Kampf im Norden lange Jahre hin und her. Als die Markenlande und ihre Verbündeten die Eindringlinge im Jahr 1107 endlich entscheidend schlugen und in ihre eigenen Gebiete zurückzutreiben suchten, um die Gefahr ein für alle Mal zu bannen, beschworen die zurückweichenden Zwielichtler einen Nebelwall herauf, der zwar die Menschen nicht gänzlich abzuhalten vermochte, aber doch jeden, der ihn passierte, verwirrte und verhexte. Nachdem mehrere bewaffnete Trupps verschwunden und nur einige wenige dem Wahnsinn verfallene Überlebende zurückgekehrt waren, gaben die Bündnisheere der Sterblichen auf und erklärten den Nebelwall, den sie die Schattengrenze nannten, zur neuen Grenze der Menschenlande.

Die Feste Südmark wurde vom Trigonarchen selbst wiedergeweiht – die Qar hatten sie während des Krieges als Bastion genutzt –, aber die Schattengrenze zerschnitt jetzt die Markenlande, und die gesamte Nordmark sowie große Teile der Ost- und Westmark lagen jetzt auf der anderen Seite. Doch obwohl ihre nördlichen Lehenslande und Burgen verloren waren, lebte Anglins Blutslinie fort: in seinem Urgroßneffen Kellick Eddon, dessen Tapferkeit im Kampf gegen das Elbenvolk jetzt schon Legende war. Als die angrenzenden »Neun« sich zusammenschlossen und dem neuen König von Südmark Gefolgschaft schworen (nicht zuletzt um des Schutzes vor den raubgierigen Grauen Scharen willen, die im Chaos nach dem Krieg gegen die Qar neu erstarkten), war der König der Markenlande wieder der mächtigste Herrscher im Norden Eions.

Die Gegenwart

aus persönlicher Sicht des Finn Teodorus und ohne Berufung auf

den seligen Magister Clemon von Anverrin

Heute, im Jahr 1316 des Trigon, dreihundert Jahre nach Kaltgraumoor und zwei Jahrhunderte nach dem Verlust der nördlichen Markenlande und der Erschaffung des Nebelwalls, hat sich der Norden kaum verändert. Die Schattengrenze ist geblieben und markiert aufs wirksamste das Ende der bekannten Welt – selbst Schiffe, die in nördlichen Gewässern vom Kurs abkommen, kehren kaum je zurück. Südmark aber wurde von da an im Volksmund auch Shadowmarch oder Schattenmark genannt, und dieser Name hat sich hartnäckig gehalten.

Syan hat die Macht über sein einstiges Imperium fast völlig eingebüßt und ist jetzt nur noch das einflussreichste unter mehreren großen Königreichen im Herzland Eions, aber es gibt andere Bedrohungen. Die Macht des Autarchen, des Gottkönigs von Xis auf dem südlichen Kontinent, wächst beständig. Zum ersten Mal seit beinahe tausend Jahren kontrollieren die Xander Teile des nördlichen Kontinents. Viele Länder an den südlichsten Küsten Eions zollen dem Autarchen bereits Tribut oder werden von Herrschern regiert, die seine Marionetten sind.

Das ruhmreiche Haus Eddon herrscht bis heute in Südmark, und unser Markenkönigreich ist die einzig echte Macht im Norden – Brenland und Settland sind, wie allgemein bekannt, kleine, bäuerliche, in sich gekehrte Länder –, doch die Nachfahren des großen Markenkönigs und ihre treuen Gefolgsleute erfüllt bereits die Sorge, wie weit der Arm des Autarchen noch nach Eion hineinlangen und welches Unheil das für uns bedeuten wird – wie das unselige Schicksal unseres geliebten Monarchen, König Olin, zeigt. Wir können nur beten, dass er unversehrt zu uns zurückkehrt.

Dies ist meine Chronik, auf Euer Geheiß verfasst, Herr. Ich hoffe, Ihr seid zufrieden.

(unterzeichnet) Finn Teodorus

Gelehrter und getreuer Untertan Seiner Majestät Olin Eddon

Vorspiel

Komm, Träumer, komm fort. Bald wirst du Zeuge von Dingen werden, die nur Schläfer und Zauberkundige sehen. Besteige den Wind und lass dich von ihm tragen – ja, er ist ein schnelles und furchterregendes Ross, aber vor dir liegen Meilen und Abermeilen, und die Nacht ist kurz.

Höher als ein Vogel fliegst du dahin, über die dürren Lande des südlichen Kontinents Xand, über den gewaltigen Tempelpalast des Autarchen, der sich Meile um Meile die steinernen Kanäle des großen Xis entlang zieht. Du hältst nicht inne – nicht sterblichen Königen gilt heute dein Interesse, nicht einmal dem mächtigsten von allen. Du fliegst vielmehr über den Ozean zum nördlichen Kontinent Eion, über das zeitlose Hierosol, einst Zentrum der Welt, jetzt aber Spielzeug von Räubern und Kriegsherren, doch auch hier säumst du nicht. Du willst weiter, saust über Fürstentümer hinweg, die bereits den Legionen des Autarchen tributpflichtig sind, und über andere, die es noch nicht sind, aber bald sein werden.

Jenseits der himmelhohen Berge, die den Südteil Eions vom Rest abgrenzen, jenseits der weglosen Wälder nördlich der Berge, erreichst du die grünen Lande der Freien Königreiche und schwingst dich tief über Felder und Fluren, über das blühende Herzland des mächtigen Syan (das einst noch viel mächtiger war), über weite Äcker und vielbereiste Straßen, über den bröckelnden Stein alter Adelssitze und weiter bis in die Marken, die an das graue Land jenseits der Schattengrenze stoßen und die nördlichsten noch von Menschen bewohnten Gefilde sind.

An der Schwelle zu jenen verlorenen, nicht zur Menschenwelt gehörigen Regionen des Nordens, im Königreich Südmark, steht hoch über einer weiten Bucht eine alte Burg, eine Feste, ringsum geschützt von Wasser, so würdevoll und schweigend wie eine Königin, die ihren königlichen Gemahl überlebt hat. Sie ist von prächtigen Türmen gekrönt, und die Dächer der niedrigeren Gebäude bilden ihren kunstvollen Flickenrock. Ein schmaler Dammweg zieht sich von der Burg zum Festland wie eine Schleppe, fächert sich dann auf zum Festlandsteil der Stadt, der in den Hügelfalten und am Buchtufer liegt. Die alte Festung ist jetzt Wohnstatt von Menschen, wirkt aber dennoch zuweilen wie etwas anderes, etwas, das sich an diese Sterblichen gewöhnt hat und sich sogar herablässt, ihnen Schutz zu gewähren, sie aber nicht wirklich liebt. Dennoch fehlt es ihr nicht an Schönheit, dieser imposanten Stätte mit ihren stolzen, windgezausten Fahnen und ihren sonnenlichtgefleckten Straßen. Doch obwohl diese Felsenburg der letzte helle und einladende Ort ist, den du siehst, ehe du in das Land der Stille und des Nebels gelangst, und obwohl das, was du dort in Kürze sehen wirst, finstere Folgen für diesen Ort haben wird, endet deine Reise nicht hier in Südmark – noch nicht. Heute ruft es dich anderswohin.

Du suchst den Spiegelbildzwilling dieser Burg, weit droben im Norden, die mächtige Festung der unsterblichen Qar.

Und jetzt, so plötzlich, als trätest du über eine Schwelle, bist du in deren Zwielichtland. Und obgleich die Feste Südmark, nur einen kurzen Ritt hinter dir, jenseits der Schattengrenze, noch von heller Nachmittagssonne beschienen ist, liegt diesseits des nebligen Grenzwalls alles in ewiger Abendstille. Die Wiesen sind hoch und dunkel, das Gras glänzt von Tau. Tief über den Hals des Windes gebeugt, bemerkst du, dass die Straßen unter dir so bleich wie Aalfleisch schimmern und ein kompliziertes Muster zu bilden scheinen, als ob ein Gott sein geheimes Tagebuch in den nebelverhangenen Erdboden geschrieben hätte. Du fliegst hoch über sturmwolkenverhüllte Berge hinweg und über Wälder, so weit wie Königreiche. Im Dunkel unter den Bäumen glühen Augen, und Stimmen wispern durch leere Schluchten.

Und jetzt endlich erblickst du dein Ziel, hoch und rein und stolz am Ufer eines dunklen Binnenmeers. Wenn die Südmarksfeste schon etwas Anderweltliches hatte, scheint an dieser Festung kaum etwas von deiner Welt: eine Million Millionen Steine sind hier aufeinandergetürmt, Onyx auf Jaspis, Obsidian auf Schiefer, und obgleich diesen Türmen eine raffinierte Symmetrie innewohnt, ist es doch eine Art von Symmetrie, die Sterblichen auf den Magen schlägt.

Du landest jetzt, steigst endlich vom Wind, um durch die labyrinthischen, oft engen Gänge zu eilen, wobei du dich aber an die breitesten und bestbeleuchteten hältst: Es ist nicht gut, unvorsichtig durch Qul-na-Qar zu wandern, dieses älteste aller Bauwerke (dessen Steine, wie es heißt, vor so vielen Ewigkeiten gebrochen wurden, dass die junge Erde noch warm war), und außerdem hast du nicht viel Zeit.

Das Schattenvolk der Qar hat ein altes Sprichwort, das da, grob übersetzt, lautet: »Selbst das Buch der Trauer beginnt mit einem Wort.« Das heißt, dass auch die wichtigsten Dinge einen simplen Anfang haben, wenn man ihn manchmal auch erst viel, viel später benennen kann – einen ersten Schwertstreich, ein Saatkorn, ein nahezu lautloses Luftholen, ehe ein Lied ertönt. Deshalb hast du es jetzt so eilig: Die Abfolge von Geschehnissen, die schließlich nicht nur Südmark, sondern die gesamte Welt bis in die Grundfesten erschüttern wird, beginnt hier und jetzt, und du wirst Zeuge sein.

In den Tiefen von Qul-na-Qar liegt eine Halle. Natürlich gibt es in Qul-na-Qar viele Hallen, so viele wie Zweige an einem alten, abgestorbenen Baum – ja, selbst in einem ganzen Garten solcher Bäume –, aber selbst jene, die Qul-na-Qar nur während des unruhigen Schlafs einer schlimmen Nacht geschaut haben, wüssten, welche Halle es ist. Sie ist dein Ziel. Komm weiter. Die Zeit wird knapp.

Die Halle ist so groß, dass es eine Stunde dauern würde, sie zu durchmessen, oder jedenfalls wirkt es so. Erhellt ist sie von zahllosen Fackeln, aber auch von anderen, ungewöhnlicheren Lichtern, die wie Glühwürmchen unter dem dunklen, zum Abbild von Stechpalmenund Schwarzdornästen geschnitzten Gebälk glimmen. An beiden Längswänden reihen sich Spiegel, jedes Oval so dick mit Staub bedeckt, dass man kaum damit rechnen würde, darin auch nur den schwächsten Widerschein der Funkellichter und Fackeln zu erblicken, aber noch erstaunlicher ist, dass in dem trüben Glas auch andere, dunklere Formen erkennbar sind. Diese Schemen sind auch dann da, wenn die Halle leer ist.

Jetzt ist die Halle nicht leer, sondern voller Wesen, schöner und schauriger. Wenn du in diesem Moment über die Schattengrenze zurückversetzt würdest, auf einen der großen Märkte der südlichen Hafenstädte, und dort Menschen aus der ganzen, weiten Welt in all ihren unterschiedlichen Gestalten, Größen und Farben an einem Ort sähst, würdest du doch über ihre Einförmigkeit staunen, nachdem du die Qar in ihrer hohen, dunklen Halle versammelt gesehen hast. Manche sind so überwältigend schön wie junge Götter, so groß und wohlgestaltet wie die majestätischsten Königinnen und Könige der Menschen. Andere sind so klein wie Mäuse. Wieder andere sind Wesen aus den Albträumen Sterblicher, klauenfingrig, schlangenäugig, bedeckt mit Federn, Schuppen oder öligem Pelz. Sie füllen die Halle vom einen Ende zum anderen, gestaffelt nach komplizierten, uralten Rangordnungen, tausend verschiedene Gestalten, geeint nur durch die heftige Abneigung gegen die Menschen und, in diesem Moment, durch tiefes Schweigen.

Am Kopfende des langen, spiegelgesäumten Raums sitzen zwei Gestalten auf hohen Steinthronen. Beide sind von menschenähnlichem Aussehen, aber mit einem so übernatürlichen Einschlag, dass nicht einmal ein betrunkener Blinder sie tatsächlich für Menschen halten könnte. Beide sitzen ganz still, aber bei der einen fällt es schwer zu glauben, dass sie keine Statue aus hellem Marmor ist, so steinern wie der Stuhl, auf dem sie sitzt. Ihre Augen sind offen, aber so leer wie gemalte Puppenaugen, als ob die Seele aus dem anscheinend jungen, weißgewandeten Körper entflohen und so weit davongeflogen wäre, dass sie nicht mehr zurückfindet. Die Hände liegen in ihrem Schoß wie tote Vögel. Sie hat sich seit Jahren nicht mehr bewegt. Nur das kaum merkliche Heben und Senken der Brust in quälend langen Abständen verrät, dass sie atmet.

Ihr Gefährte ist zwei Handbreit größer als ein durchschnittlicher Sterblicher, aber das ist auch schon das Menschenhafteste an ihm. Das blasse Gesicht, das einst überwältigend schön war, ist über die Jahrhunderte so hart und scharf geworden wie ein windgeschliffener Felsgrat. Er ist immer noch von einer schrecklichen Schönheit, so gefährlich anziehend wie die Gewalt eines Sturms, der übers Meer braust. Seine Augen, da bist du dir sicher, wären so klar und tief wie der Nachthimmel, unendlich kühl und weise, aber sie verbergen sich unter einem Tuch, das am Hinterkopf geknotet und von seinem langen, mondsilbernen Haar verhangen ist.

Es ist Ynnir, der blinde König, aber die Blindheit ist nicht nur auf seiner Seite. Nur wenige Sterbliche haben ihn geschaut, und kein lebender Mensch, ob Mann oder Frau, hat ihn je außerhalb von Träumen erblickt.

Der Herrscher des Zwielichtvolkes hebt die Hand. Es war bereits still in der Halle, aber jetzt wird die Stille noch tiefer. Ynnir flüstert, aber alles im Raum hört ihn.

»Bringt das Kind.«

Vier kapuzenverhüllte, menschenähnliche Gestalten bringen eine Trage aus dem Schattendunkel hinter den Zwillingsthronen und setzen sie zu Füßen des Königs ab. Darauf liegt, zusammengekrümmt, etwas, das aussieht wie ein männliches Menschenkind; das feine, strohblonde Haar klebt in feuchten Kringeln um das schlafende Gesicht. Der König beugt sich vor, als ob er trotz seiner Blindheit das Kind betrachten und sich seine Züge einprägen wollte. Er greift in seine grauen Gewänder, die einst prächtig waren, jetzt aber sonderbar fadenscheinig und fast so staubig wie die großen Spiegel sind, und zieht einen kleinen Beutel an einer Schnur hervor, die Art Säckchen, in der ein Sterblicher vielleicht ein Amulett oder heilkräftige Kräuter um den Hals tragen würde. Ynnirs lange Finger streifen dem Knaben behutsam die Schnur über den Kopf, schieben dann den Beutel unter sein grobes Hemd, auf die schmale Kinderbrust. Dabei singt der König leise und monoton vor sich hin. Nur die letzten Worte sind laut genug, dass man sie versteht.

Bei Stern und Stein, es ist getan

Nicht Stein noch Stern vereiteln soll den Plan

Ynnir schweigt eine ganze Weile, ein Zögern, das fast schon menschlich wirkt. Doch als er dann spricht, sind seine Worte klar und bestimmt. »Bringt ihn weg.« Die vier Gestalten heben die Trage an. »Passt auf, dass euch im Sonnenland niemand sieht. Reitet schnell hin und zurück.«

Der Anführer der Vermummten neigt einmal kurz den Kopf, dann sind sie mit ihrer schlafenden Last verschwunden. Der König wendet sich kurz der blassen Frau an seiner Seite zu, fast als würde er erwarten, dass sie ihr langes Schweigen bricht. Aber sie rührt sich nicht, geschweige denn, dass sie spräche. Er wendet sich an die übrigen Anwesenden, all die begierigen Augen, die tausend gespannten Gestalten – und auch an dich, Träumer. Nichts, was die Schicksalsgöttinnen bereits gewoben haben, bleibt Ynnir verborgen.

»Es beginnt«, sagt er. Jetzt ist die Stille der Halle gebrochen. Gemurmel erfüllt den spiegelgesäumten Raum, eine Flut von Stimmen, die immer mehr anschwillt, bis sie von dem dunklen, zu Dornzweigen geschnitzten Gebälk widerhallt. Als sich schließlich lautes Singen und Rufen durch die endlosen Gänge von Qul-na-Qar ergießt, lässt sich schwer sagen, ob dieser schreckliche Lärm ein Triumph- oder ein Klagegesang ist.

Der blinde König nickt langsam. »Jetzt endlich beginnt es.«

Denk daran, Träumer, wenn du siehst, was folgen wird. Wie der blinde König sagte: Dies ist ein Beginn. Was er nicht sagte, was aber dennoch wahr ist: Das, was hier beginnt, ist das Ende der Welt.

ERSTER TEILBlut

»So wie der Jäger, der seine Schlingen legt, nicht immer weiß, was er fangen wird«, sprach der große Gott Kenios zu dem Weisen, »so mag auch der Gelehrte erkennen müssen, dass ihm seine Fragen unvorhergesehene und gefährliche Antworten eingebracht haben.«

Aus: Kompendium der bekannten Dinge, Buch des Trigon

1 Eine Lindwurmjagd

Der Weg, der sich verengt:

Unter Stein ist Erde,

Unter Erde sind Sterne, unter Sternen ist Schatten,

Unter Schatten sind alle bekannten Dinge.

Aus: Das Knochenorakel, Buch der Trauer (QAR)

Das Gebell der Hunde verlor sich bereits in den Senken, als er endlich kam. Sein Pferd war unruhig, brannte darauf, der Jagd zu folgen, aber Barrick Eddon riss am Zügel, um das tänzelnde Tier zurückzuhalten. Sein ohnehin schon blasses Gesicht wirkte jetzt vor Erschöpfung fast durchscheinend, und seine Augen glänzten fiebrig. »Reite weiter«, forderte er seine Schwester auf. »Du kannst sie noch einholen.«

Briony schüttelte den Kopf. »Ich lass dich nicht allein. Ruh dich aus, wenn du eine Pause brauchst. Dann reiten wir beide weiter.«

Er schaute mit der ganzen Verächtlichkeit eines Fünfzehnjährigen drein, wie ein Gelehrter unter Dummköpfen, ein Edelmann unter schlammfüßigen Bauern. »Ich brauche keine Pause, Strohkopf. Ich habe nur keine Lust.«

»Du bist ein elender Lügner«, beschied sie ihren Bruder sanft. Als Zwillinge waren sie sich ähnlich nah wie Liebende.

»Und außerdem kann sowieso niemand einen Drachen mit dem Speer töten. Wieso haben ihn denn die Wachen an der Schattengrenze durchgelassen?«

»Vielleicht ist er ja bei Nacht herübergekommen, und sie haben ihn nicht gesehen. Und es ist ja gar kein richtiger Drache, nur ein Lindwurm – viel kleiner. Shaso sagt, bei so einem reicht ein ordentlicher Knüppelhieb auf den Kopf.«

»Was wisst ihr denn von Lindwürmern, du und Shaso?«, fragte Barrick spöttisch. »Die kommen doch nicht jeden Tag über die Hügel getrottet. Das sind doch keine blöden Kühe.«

Briony nahm es als schlechtes Zeichen, dass er sich den verkrüppelten Arm rieb, ohne auch nur den Versuch zu machen, es vor ihr zu verbergen. Er wirkte noch blutleerer als sonst: die Schatten unter den Augen blau, das Fleisch so dünn, dass sein Gesicht an manchen Stellen regelrecht ausgezehrt schien. Sie fürchtete, dass er wieder geschlafwandelt war, und schon bei dem Gedanken schauderte es sie. Sie war auf der Südmarksfeste aufgewachsen, ging aber immer noch nicht gern nach Einbruch der Dunkelheit durch die hallenden, labyrinthischen Gänge.

Sie lächelte gezwungen. »Natürlich sind es keine Kühe, du Witzbold, aber der Jagdmeister hat Chaven gefragt, bevor wir losgeritten sind, weißt du nicht mehr? Und Shaso sagt, es gab hier schon einmal so ein Biest, zu Großvater Ustins Zeiten – es hat auf einem Gehöft in Landsend drei Schafe gerissen.«

»Drei Schafe! Himmel, was für ein Ungeheuer!«

Das Gekläff der Meute wurde plötzlich schriller, und beide Pferde traten jetzt nervös auf der Stelle. Jemand blies ein Horn, dessen klagender Ton kaum durch die Bäume drang.

»Sie haben etwas gesehen.« Auf einmal packte sie Angst. »Oh, barmherzige Zoria! Wenn dieses Untier den Hunden etwas tut?«

Barrick schüttelte verächtlich den Kopf, wischte sich dann eine schweißfeuchte Locke tiefroten Haars aus den Augen. »Den Hunden?«

Aber Briony hatte wirklich Angst um die Hunde – zwei von den Hetzhunden, Rack und Dado, hatte sie eigenhändig aufgezogen, und in gewisser Weise waren der Königstochter diese beiden Tiere näher als die meisten Menschen. »Ach, komm mit, Barrick, bitte! Ich reite gern langsam, aber ich lass dich nicht allein hier zurück.«

Sein spöttisches Lächeln verflog. »Selbst mit einer Hand – dir reite ich jederzeit davon.«

»Dann tu’s doch!«, rief sie lachend und sprengte den Hang hinab. Sie tat ihr Bestes, ihn aus seiner Verdrossenheit zu reißen, aber diese kalte, starre Maske kannte sie nur zu gut: Nur die Zeit und vielleicht das Jagdfieber würden ihr wieder Leben einhauchen können.

Briony sah sich um und bemerkte erleichtert, dass Barrick ihr folgte, ein schmaler Schatten auf dem grauen Pferd, ganz in Schwarz, als trüge er Trauer. Aber so kleidete sich ihr Zwillingsbruder jeden Tag.

Oh, bitte, Barrick, lieber, zorniger Barrick, verliebe dich nicht in den Tod. Sie staunte selbst über diese extravaganten inneren Worte – poetische Inbrunst erzeugte bei Briony Eddon normalerweise nur ein Gefühl, als ob es sie irgendwo juckte, wo sie sich nicht kratzen konnte –, und als sie sich geistesabwesend wieder umdrehte, hätte sie beinah eine kleine Gestalt niedergeritten, die sich gerade noch ins lange Gras werfen konnte. Ihr Herz pochte wild. Sie parierte Schneeflocke und sprang ab, sicher, dass sie um ein Haar irgendein Kätnerskind getötet hätte.

»Bist du verletzt?«

Es war ein kleiner, schon etwas ergrauter Mann, der sich aus dem strohigen Gras aufrappelte. Er ging ihr gerade bis an den Sattelgurt – ein älterer Funderling mit kurzen, aber muskulösen Armen und Beinen. Er zog den formlosen Filzhut und machte eine kleine Verbeugung. »Alles heil, edles Fräulein. Danke der gütigen Nachfrage.«

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