Happy Place - Emily Henry - E-Book
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Happy Place E-Book

Emily Henry

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Beschreibung

Eine zweite Chance für die Liebe. Die neue große RomCom von Bestsellerautorin Emily Henry - voller Charme, Witz und großen Gefühlen Harriet und Wyn sind schon seit dem College das perfekte Paar, das sagt jeder, der die beiden kennt. In Wahrheit aber hat sich das ehemalige Traumpaar schon vor sechs Monaten getrennt – nur haben sie noch niemandem davon erzählt. So kommt es, dass sie sich nun trotzdem gemeinsam in der Hütte in Maine wiederfinden, die schon seit Jahren das Ausflugsziel ihrer Clique ist. Eine einwöchige Auszeit mit gutem Essen, schönen Erinnerungen, Seeluft und der Hochzeit ihrer besten Freunde steht ihnen bevor – und obendrein müssen sie sich auch noch ein Bett teilen. Da die Hütte zum Verkauf steht, ist es das letzte Mal, dass sie alle hier zusammenkommen, und Harriet und Wyn bringen es nicht übers Herz, ausgerechnet jetzt ihren Freunden den Urlaub  zu vermiesen. Deshalb beschließen sie, ihre Trennung weiter zu verschweigen. Denn wie schwer kann es schon sein, nach so vielen gemeinsamen Jahren noch eine weitere Woche die Verliebten zu spielen? Der funkelnde neue Bestseller über Liebe & Freundschaft von Emily Henry, der Nummer-1-New-York-Times-, Sunday-Times- &  SPIEGEL-Bestseller-Autorin »Magisch, entzückend und absolut einzigartig. Emily Henrys Bücher sind ein Geschenk an die Welt. Jedes neue Buch mochte ich noch lieber als das vorangegangene. Was wird ihr nächster Roman wohl mit mir anstellen!« Ali Hazelwood

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Seitenzahl: 556

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Emily Henry

Happy Place

Urlaub mit dem Ex

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Katharina Naumann

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Harriet und Wyn sind schon seit dem College das perfekte Paar, das sagt jeder, der die beiden kennt. In Wahrheit aber hat sich das ehemalige Traumpaar schon vor sechs Monaten getrennt – nur haben sie noch niemandem davon erzählt.

Als sie zu der Hochzeit ihrer besten Freunde eingeladen werden, bringen die beiden es nicht übers Herz, ausgerechnet jetzt ihren Freunden die Feier zu vermiesen. Deshalb beschließen sie, ihre Trennung weiter zu verschweigen. Denn wie schwer kann es schon sein, nach so vielen gemeinsamen Jahren eine weitere Woche ein Bett zu teilen und verliebt zu spielen?

Die neue große RomCom von Bestsellerautorin Emily Henry – voller Charme, Witz und großen Gefühlen

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

Danksagung

Leseprobe »Funny Story«

Für Noosha, die mir die Sicherheit gibt, ich zu sein, und auf die Frage »Warum nicht?« regelmäßig mit »Weil ich nicht möchte« antwortet. Ich liebe dich, immer.

1

Happy Place

Knott’s Harbor, Maine

Ein Cottage an der felsigen Küste, mit Kieferndielen voller Astlöcher und Fenstern, die fast immer offen stehen. Der Geruch nach Immergrün und Salzwasser, weiße Leinenvorhänge, die sich träge in der Brise blähen. Das Gurgeln der Kaffeemaschine und der erste Atemzug kalter Meerluft, als wir mit dampfenden Bechern auf die mit Steinplatten ausgelegte Terrasse treten.

Meine Freundinnen: die elfenhafte Sabrina mit dem honigblonden Haar und die magere Cleo mit ihrem winzigen silbernen Nasenring und den an den Spitzen gefärbten Box Braids. Meine beiden Lieblingsmenschen auf der ganzen Welt, seit unserem ersten Studienjahr im Mattingly College.

Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir uns vorher nicht kannten, dass ein spießiger Wohnungsausschuss in Vermont uns drei zusammengeführt hat. Die wichtigsten Freundschaften meines Lebens entstanden durch die Entscheidung Fremder, durch Zufall. Früher haben wir immer Witze darüber gemacht, dass unser Zusammenleben ein vom Staat gefördertes Experiment sein müsse. Denn von außen betrachtet passten wir überhaupt nicht zusammen.

Sabrina war eine in Manhattan geborene und aufgewachsene Erbin, die sich kleidete wie Audrey Hepburn und deren Bücherregale mit Stephen King vollgestopft waren.

Cleo, die Tochter eines halb berühmten Musikproduzenten und einer absolut berühmten Essayistin, hatte ihre Kindheit in New Orleans verbracht. Sie tauchte in mit Farbe bekleckerten Overalls und uralten Doc Martens in Mattingly auf.

Und ich, ein Mädchen aus dem Süden Indianas, die Tochter eines Lehrers und einer Zahnarzthelferin. Mich hatte es nach Mattingly verschlagen, weil die winzige, renommierte Uni, berühmt für ihren Fachbereich Freie Künste, mir die beste finanzielle Unterstützung gab, und das war nun mal wichtig für eine angehende Medizinstudentin, die plante, das nächste Jahrzehnt an der Uni zu verbringen.

Am Ende unseres ersten gemeinsamen Abends saßen wir mit Sabrina auf ihrem Bett und schauten auf ihrem Laptop Clueless, während wir einen ausgewogenen Mix aus Popcorn und Weingummi-Würmern verspeisten. Am Ende der nächsten Woche hatte sie T-Shirts für uns alle machen lassen, inspiriert durch unseren allerersten Insider.

Auf Sabrinas T-Shirt stand: Jungfrau, die nicht fahren kann.

Auf meinem stand: Jungfrau, die nicht fahren kann.

Auf Cleos stand: Keine Jungfrau, aber eine exzellente Fahrerin. Wir trugen die T-Shirts die ganze Zeit, nur nicht außerhalb des Studierendenwohnheims. Ich liebte unser schimmliges Zimmer in dem weitläufigen weißen Schindelgebäude. Ich liebte es, mit den beiden durch die Wälder und Felder rund um den Campus zu wandern, liebte den ersten Herbsttag, wenn wir unsere Hausaufgaben bei offenem Fenster machten, würzigen Chai oder entkoffeinierten Kaffee mit Ahornsirup trinken konnten und miterlebten, wie die Blätter vertrockneten und schließlich von den Bäumen fielen. Ich liebte das Nacktbild von mir und Sabrina, das Cleo für ihr Figurenzeichnen-Projekt angefertigt hatte. Sie hatte es über unsere Tür gehängt, sodass es das Letzte war, was wir auf unserem Weg hinaus sahen. Zu beiden Seiten davon klebten die Polaroids, die wir auf Partys und Picknicks und in den Cafés der Stadt von uns gemacht hatten.

Ich liebte es, wenn Cleos Braids mit dem neongrünen Haargummi zusammengehalten wurden, liebte es, wenn ihre Kleider nach Terpentin rochen – denn das bedeutete, dass sie gemalt hatte. Ich liebte es, wie Sabrina den Kopf zurückwarf und gackernd lachte, wenn sie etwas besonders Erschreckendes las, und wie sie ihre Grace-Kelly-Slipper von sich schleuderte, sodass sie gegen das Fußende ihres Bettes prallten. Ich liebte es, über meinen Biologielehrbüchern zu brüten, bis meine Textmarker leer waren, weil mir absolut alles so wichtig erschien, und wie ich dann in meinen Pausen, wenn ich stecken blieb, das Zimmer gründlich putzte.

Irgendwann brachen wir immer das Schweigen und kicherten über die Textnachrichten von Cleos angehender neuen Freundin, oder wir kreischten und spähten durch die Finger auf den Bildschirm, wenn wieder einer der Slasher-Filme lief, die Sabrina so mochte. Wir waren laut. Vorher war ich nie laut gewesen. Ich bin in einem stillen Haus aufgewachsen, in dem nur geschrien wurde, wenn meine Schwester mit einem fragwürdigen neuen Piercing oder einer neuen Liebe nach Hause kam, oder mit beidem. Das Schreien wich dann jedes Mal einer noch viel tieferen Stille, und so bemühte ich mich immer, die Stimmung in eine andere Richtung zu lenken, weil ich die Stille hasste. Jede Sekunde davon erschien mir als Bedrohung.

Meine besten Freundinnen brachten mir eine neue Form von Stille bei, die friedliche Stille, die entsteht, wenn man den anderen so gut kennt, dass man die Leere nicht füllen muss. Und eine neue Form von laut: Lärm als Fest, als Überfluss an Freude, am Leben zu sein, hier und jetzt.

Ich konnte mir nicht vorstellen, irgendwo anders glücklicher zu sein – oder auch nur ebenso glücklich.

Nicht, bis Sabrina uns in das Sommerhaus ihrer Familie an der Küste von Maine einlud. Nicht, bis ich Wyn kennenlernte.

2

Die Wirklichkeit

Montag

Denk an deinen Happy Place, sagt die ruhige Stimme in meinem Ohr.

Stell ihn dir vor. Glitzerndes Blau erscheint vor meinem inneren Auge.

Wie riecht es? Nach nassen Felsen, Salzwasser, Butter, die in einer Pfanne brutzelt, und nach Zitrone auf meiner Zungenspitze.

Was hörst du? Gelächter, das Klatschen von Wasser auf Haut, das Rauschen der Wellen, die sich über Sand und Steine zurückziehen.

Was spürst du? Sonnenlicht, überall. Nicht nur auf meinen nackten Schultern oder auf meinem Scheitel, sondern auch in mir, die unwiderstehliche Wärme, die entsteht, wenn man an genau dem richtigen Ort mit genau den richtigen Menschen ist.

Im Landeanflug sackt das Flugzeug in ein Luftloch.

Ich unterdrücke ein Kreischen und kralle die Fingernägel in die Armlehnen. Eigentlich bin ich keine ängstliche Flugpassagierin. Aber immer, wenn ich auf diesem speziellen Flughafen lande, in einem winzigen Flugzeug, das aussieht, als wäre es aus recycelten Limodosen und Klebeband zusammengebastelt worden, gerate ich in Panik.

Meine Meditations-App ist dummerweise gerade bei einem Abschnitt der Stille angelangt, daher wiederhole ich das Mantra für mich selbst: Denk an deinen Happy Place, Harriet.

Ich öffne die Blende meines Fensters. Die leuchtende Weite des Himmels lässt mein Herz flattern, hier muss ich mir nichts vorstellen. Es gibt einige Orte, ein paar Erinnerungen, auf die ich immer zurückgreife, um runterzukommen, aber dieser Ort steht auf der Liste ganz oben.

Vermutlich ist es psychosomatisch, aber ich kann ihn plötzlich riechen. Ich höre den Ruf der am Himmel kreisenden Möwen und spüre, wie die Meeresbrise mit meinem Haar spielt. Ich schmecke eiskaltes Bier, reife Blaubeeren.

In ein paar Minuten, nach dem längsten Jahr meines Lebens, werde ich mit meinen absoluten Lieblingsmenschen wiedervereint sein, und zwar an unserem absoluten Lieblingsort.

Die Räder des Flugzeugs rumpeln über die Landebahn. Etwas weiter hinten wird applaudiert, und ich reiße mir die Ohrhörer heraus. Meine Angst fliegt davon wie die Samen einer Pusteblume. Der grauhaarige Mann, der neben mir sitzt und den gesamten todesverachtenden Flug über geschnarcht hat, erwacht blinzelnd.

Er sieht mich unter seinen dichten weißen Augenbrauen an und knurrt: »Na, zum Hummer-Festival hier?«

»Meine besten Freunde und ich kommen jedes Jahr«, erwidere ich.

Er nickt.

»Ich habe sie seit letztem Sommer nicht mehr gesehen«, füge ich hinzu.

Er schnaubt missbilligend.

»Wir sind zusammen zur Schule gegangen, aber jetzt wohnen wir alle ganz verstreut, daher ist es schwierig, sich regelmäßig zu sehen.«

Sein unbeeindruckter Blick sagt: Ich habe nur eine Ja-Nein-Frage gestellt.

Normalerweise halte ich mich für eine großartige Sitznachbarin. Ich riskiere eher eine Blasenentzündung, als die Person neben mir zu bitten aufzustehen, damit ich auf die Toilette kann. Normalerweise wecke ich die Leute nicht einmal auf, wenn sie an meiner Schulter schlafen und auf meine Brust sabbern.

Ich habe schon fremde Babys und furzende Therapiehunde für sie auf dem Schoß gehalten. Ich habe meine Ohrhörer herausgenommen, um Männern im mittleren Alter zuzuhören, die gestorben wären, wenn ich mir nicht ihre Lebensgeschichte angehört hätte, und ich habe Flugbegleiter herbeigewinkt, damit sie eine Spucktüte bringen, weil der Teenager neben mir, der gerade den Spring Break hinter sich gebracht hatte, ein wenig grün im Gesicht wirkte.

Daher bin ich mir der Tatsache vollkommen bewusst, dass dieser Mann auf gar keinen Fall etwas von der magischen Woche mit meinen Freunden hören will, die mir bevorsteht, aber ich bin so aufgeregt, dass ich einfach nicht anders kann. Ich muss mir auf die Unterlippe beißen, um nicht laut Vacation von den The Go-Gos direkt ins Gesicht des missmutigen Mannes zu singen, als die Passagiere sich quälend langsam aus dem Flugzeug fädeln.

Ich nehme die Reisetasche vom klapprigen Gepäckband und trete aus dem Ausgang. Dabei fühle ich mich wie eine Frau aus einem Tampon-Werbespot: überglücklich, hinreißend und unbezwingbar – bereit für jegliche hochgradig anstrengende körperliche Aktivität, einschließlich, aber nicht begrenzt auf, Bowlen mit Freunden oder mich von dem unaufdringlich gut aussehenden Typen huckepack nehmen zu lassen, den die Castingagentur angeheuert hat, um meinen Freund zu spielen.

Damit will ich sagen: Ich bin glücklich.

Das hier ist der Augenblick, der mich durch undankbare Krankenhausschichten und die schlaflosen Nächte getragen hat, die darauf oft folgen.

In der nächsten Woche wird mein Leben wie frischer Weißwein, wie cremige Hummerbrötchen sein. Ich werde mit meinen Freunden lachen, bis uns die Tränen die Wangen hinunterlaufen.

Ein kurzes Hupen ertönt vom Parkplatz. Noch bevor ich die Augen öffne und sie sehe, lächele ich.

»O Harriet, meine Harriet!«, ruft Sabrina und fällt fast aus dem alten, kirschroten Jaguar ihres Dads.

Wie immer gleicht sie einer weißblonden Version von Jackie O. Sie hat perfekt durchtrainierte, gebräunte Arme und trägt klassische schwarze Hosen, dazu einen Secondhand-Seidenschal, den sie um ihren glänzenden Bob geschlungen hat. Sie sieht immer noch so aus wie am Tag unseres Kennenlernens, wie ein mühelos cooles Starlet aus einer anderen Zeit.

Allerdings wird der Effekt ein wenig durch die Art gedämpft, wie sie auf und ab hüpft, mit einem Schild in der Hand, auf das sie mit ihrer grauenvollen Serienmörderinnen-Handschrift gekritzelt hat: SAG, ES SIND STERNSINGER, ein Verweis auf den Film Tatsächlich … Liebe, der in dieser Situation sinnloser nicht sein könnte.

Ich renne jetzt über den sonnenbeschienenen Parkplatz. Sie kreischt und schleudert das Schild gegen das halb geöffnete Autofenster, wo es gegen den Rahmen knallt und zu Boden klatscht, während sie ebenfalls losrennt.

Wir prallen gegeneinander und umarmen uns, was sich beeindruckend unangenehm anfühlt. Sabrina ist so groß, dass ihre Schulter mir jedes Mal die Luft abdrückt, aber trotzdem möchte ich nirgends anders sein.

Sie schaukelt mit mir vor und zurück und gurrt: »Du bist daaaaaa.«

»Ich bin daaaaaa!«, wiederhole ich.

»Lass mich dich ansehen.« Sie löst sich von mir und mustert mich streng von Kopf bis Fuß. »Was ist anders?«

»Neues Gesicht«, sage ich.

»Wusste ich’s doch.« Sie schnippt mit den Fingern, schlingt den Arm um meine Schultern und schiebt mich zum Auto, wobei uns eine Wolke Chanel No. 5 folgt. Das ist ihr Duft, seit wir achtzehn waren und ich immer noch eine Bath&BodyWorks-Brühe benutzte, die wie in Wodka getauchte Zuckerwatte roch. »Dein Arzt leistet wirklich gute Arbeit«, witzelt sie. »Du siehst dreißig Jahre jünger aus. Keinen Tag älter als ein Neugeborenes.«

»Oh, das war kein medizinischer Eingriff«, sage ich. »Es war ein Etsy-Zauber.«

»Na ja, egal, jedenfalls siehst du super aus.«

»Du auch«, quieke ich und packe sie um die Taille.

»Ich kann gar nicht glauben, dass das hier wirklich wahr ist«, sagt sie.

»Es ist viel zu lange her«, stimme ich zu.

Wir verstummen, und es entsteht dieses angenehme Schweigen zwischen uns, die Stille von zwei Menschen, die fast fünf Jahre zusammengewohnt haben und nach all der Zeit eine körperliche Erinnerung daran haben, wie man sich den gemeinsamen Raum teilt.

»Ich freue mich ja so, dass du es geschafft hast«, sagt sie, als wir am Auto stehen: »Ich weiß, wie viel du im Krankenhaus zu tun hast. In den Krankenhäusern? Sie schicken dich herum, oder?«

»Krankenhäuser«, bestätige ich. »Und nichts hätte mich davon abhalten können.«

»Womit du sicher sagen willst, dass du mitten in einer Hirnoperation rausgerannt bist«, sagt Sabrina.

»Natürlich nicht. Ich bin mitten aus der Hirnoperation gehüpft. Habe das Skalpell noch in der Tasche.«

Sabrina gackert, ein Geräusch, das so dermaßen nicht zu ihrem polierten Äußeren passt, dass ich in der ersten Woche unseres Zusammenwohnens jedes Mal zusammengezuckt bin, wenn ich es gehört habe. Jetzt sind all ihre Ecken und Kanten das, was ich am meisten an ihr liebe.

Sie reißt die Heckklappe des Autos auf und wirft meine Reisetasche mit einer Leichtigkeit hinein, die gar nicht zu ihrer schlaksigen Gestalt passt. Dann stopft sie ihr Schild dazu. »Wie war denn dein Flug?«

»Derselbe Pilot wie immer«, antworte ich.

»Ray? Schon wieder?«

Ich nicke. »Der berühmt dafür ist, die Sonnenbrille auf dem Hinterkopf zu tragen.«

»Habe ihn noch nie ohne gesehen«, bemerkt sie.

»Er hat ganz bestimmt ein zweites Paar Augen am Hinterkopf«, sage ich.

»Das ist die einzige Erklärung«, stimmt sie zu. »Gott, es tut mir so leid – seit Ray nicht mehr trinkt, fliegt er wie eine sterbende Hummel, das schwöre ich.«

»Wie ist er denn geflogen, als er noch getrunken hat?«

»Oh, genauso.« Sie springt hinters Steuer, und ich lasse mich auf den Beifahrersitz fallen. »Aber seine Scherze über den Lautsprecher waren wirklich lustig.«

Sie wühlt einen Schal aus dem Chaos in der Mittelkonsole und wirft ihn mir zu, eine umsichtige, aber absolut nutzlose Geste, weil mein chaotischer Lockendutt nach drei Anschlussflügen und zwei Sprints durch die Flughäfen von Denver und Boston Logan ohnehin nicht mehr zu retten ist.

»Na ja«, sage ich. »Diesmal haben wir hoch in der Luft keinen einzigen Witz gehört.«

»Tragisch.« Sie schüttelt missbilligend den Kopf. Der Motor grollt auf. Schwungvoll fährt sie vom Parkplatz und dann Richtung Osten, aufs Meer zu. Die Fenster sind offen, das Sonnenlicht streichelt unsere Haut. Selbst hier, eine Stunde im Landesinneren, stehen in den Gärten überall Hummerfallen, an den Grundstücksgrenzen sogar ganze Pyramiden davon.

Über das Rauschen des Windes ruft Sabrina mir zu: »WIE GEHT ES DIR?«

Mein Magen macht wieder diese komische Sache, als säße ich auf einer Wippe. Sie wechselt zwischen der absoluten Seligkeit, mit ihr in diesem Auto zu sitzen, und einer erbärmlichen Angst, weil ich weiß, dass ich dabei bin, ihre Pläne zunichtezumachen.

Noch nicht, denke ich. Lass uns das hier eine kurze Weile genießen, bevor ich alles ruiniere.

»GUT!«, rufe ich zurück.

»UND WIE LÄUFT DIE FACHARZTAUSBILDUNG?«

»GUT!«

Sie wirft mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Strähnen ihres blonden Haars haben sich aus ihrem Schal gelöst und peitschen gegen ihre Stirn.

»WIR HABEN SEIT WOCHEN KAUM MITEINANDER GESPROCHEN, UND MEHR SAGST DU NICHT?«

»BLUTIG?«, setze ich hinzu.

Anstrengend. Beängstigend. Elektrisierend, aber nicht unbedingt auf gute Art. Manchmal Übelkeit erregend. Hin und wieder niederschmetternd.

Nicht, dass ich so viel operieren darf. Ich bin schon zwei Jahre in der Facharztausbildung und muss noch immer haufenweise Drecksarbeit erledigen. Aber die wenige Zeit, die ich mit einem Chirurgen und einem Patienten verbringe, sind das Einzige, woran ich denke, wenn ich von der Arbeit komme, als wögen diese Minuten schwerer als der Rest.

Drecksarbeit, auf der anderen Seite, vergeht wie im Flug. Die meisten meiner Kollegen fürchten sie, aber ich mag diese Sorte Normalität irgendwie. Schon als Kind hat es mir ein Gefühl des Friedens und der Kontrolle gegeben, wenn ich geputzt, aufgeräumt und kleine Aufgaben auf meiner eigenen Liste abgehakt habe.

Eine Patientin, die im Krankenhaus liegt, und die ich entlassen darf. Jemand, dem Blut abgenommen werden muss, und ich bin da, um es zu tun. Daten, die ins System eingegeben werden müssen, und ich tue es. Bei diesen Aufgaben gibt es ein Vorher und Nachher, mit einer klaren Linie dazwischen; sie beweisen, dass man eine Million kleiner Dinge tun kann, um das Leben ein wenig besser zu machen.

»UND WIE GEHT ES WYN?«, fragt Sabrina.

Die Wippe in meinem Bauch setzt sich ruckartig in Bewegung. Plötzlich sehe ich scharfe graue Augen, rieche den Duft von Kiefern und Nelken.

Noch nicht, denke ich.

»WAS?«, schreie ich und tue so, als hätte ich sie nicht gehört.

Dieses Gespräch muss irgendwann stattfinden, aber lieber nicht jetzt, während wir mit 130 Stundenkilometern in einem Limodosen-Auto aus den Sechzigern über die Straßen knattern. Außerdem wäre es mir lieber, wenn Cleo, Parth und Kimmy dabei sind, damit ich das Pflaster nicht jedes Mal einzeln abreißen muss.

Ich habe es schon so lange aufgeschoben. Was sind da noch ein paar weitere Minuten?

Vollkommen unbeeindruckt vom Wind, der durch das Auto weht, wiederholt Sabrina: »WYN. WIE. GEHT. ES. WYN?«

Elektrisierend, aber nicht unbedingt auf gute Art? Manchmal Übelkeit erregend? Hin und wieder niederschmetternd.

»GUT, GLAUBE ICH.« Der »Glaube ich«-Teil lässt es weniger wie eine Lüge klingen. Es geht ihm vermutlich wirklich gut. Als ich ihn das letzte Mal sah, wirkte er wie von innen erleuchtet. Er wirkte, als wäre es ihm seit Monaten nicht mehr so gut gegangen.

Sabrina nickt und stellt das Radio lauter.

Sie teilt das Cottage und die dazugehörigen Autos mit ungefähr fünfundzwanzig Armas-Cousinen und -Geschwistern, aber es gilt die strenge Regel, dass das Radio nach jedem Aufenthalt wieder auf die Sendereinstellungen ihres Dads zurückgesetzt werden muss, daher beginnen unsere Fahrten immer mit Ella Fitzgerald, Sammy Davis Junior oder einem ihrer Zeitgenossen. Heute trägt uns Frank Sinatras Summer Wind über die von Kiefern gesäumte Auffahrt zum Cottage, das auf einer Felsenklippe steht.

Es ist jedes Mal wieder beeindruckend.

Nicht das glitzernde Wasser. Nicht die Klippen. Und ganz sicher nicht das Cottage.

Es ist eigentlich mehr eine Villa, die ein Cottage verschluckt hat und jetzt seine Haube trägt und die Stimme verstellt, so wie der böse Wolf aus Rotkäppchen. Irgendwann einmal, vermutlich um das Jahr 1900 herum, war es ein Familienheim. Dieser Teil steht noch. Aber dahinter und zu beiden Seiten erstrecken sich die Anbauten, deren Äußeres perfekt zum ursprünglichen Gebäude passt.

Auf einer Seite steht eine Garage für vier Autos, und auf der anderen Seite des Baches gibt es ein Gästehaus zwischen Moos, Farnen und vom Salz gegerbten Bäumen.

Das Auto gleitet an der Garage vorbei, und Sabrina stellt den Motor vor dem Eingang aus.

Nostalgie, Wärme und Glück durchströmen mich.

»Erinnerst du dich noch an das erste Mal, als du Cleo und mich hierher eingeladen hast?«, frage ich. »Dieser Brayden hatte mich geghostet, und du und Cleo habt eine PowerPoint-Präsentation mit seinen schlimmsten Eigenschaften vorbereitet.«

»Brayden?« Sie löst ihren Gurt und springt aus dem Auto. »Sprichst du von Bryant?«

Ich löse meine klebrigen Schenkel vom heißen Leder und kletterte ebenfalls hinaus. »Er hieß Bryant?«

»Du wolltest Bryant unbedingt heiraten«, sagt Sabrina fröhlich. »Und jetzt erinnerst du dich nicht einmal mehr an den Namen des armen Kerls.«

»Die PowerPoint-Präsentation hat offensichtlich gewirkt«, versetze ich und hole meine Tasche aus dem Kofferraum.

»Ja, oder es hatte etwas damit zu tun, dass eine gewisse Ms Cleo James uns in der Woche gratis therapiert hat. Mein Dad hatte sich gerade mit Ehefrau Nummer drei verlobt, bevor wir losfuhren, erinnerst du dich?«

»Ach ja«, sage ich. »Das war doch die mit den ganzen Hunden.«

»Das war Nummer zwei«, entgegnet Sabrina. »Und um ehrlich zu sein, hatte sie sie nicht alle gleichzeitig. Es war eher so, dass sie unerklärlicherweise ständig neue Designer-Welpen bekam, während ihre erwachsenen Hunde im Tierheim landeten.«

Ich erschaudere. »Das ist ja so gruselig.«

»Das war es, aber immerhin habe ich in dem Jahr den Pott unserer Cousins-und-Cousinen-Scheidungs-Tippgemeinschaft gewonnen. Daher durfte ich während des Hummerfestivals ins Cottage. Cousin Frankies Niederlage war unser Sieg.«

Ich falte meine Hände zu einem stillen Gebet. »Cousin Frankie, wo auch immer du sein magst, wir danken dir für dein Opfer.«

»Verschwende deine Dankbarkeit nicht. Ich glaube, er lebt jetzt auf einem Katamaran auf Ibiza oder so.« Sabrina reißt mir die Tasche von der Ellenbeuge und nimmt mich bei der Hand, um mich zur Eingangstür hochzuziehen. »Na los. Die warten schon alle.«

»Ich bin die Letzte?«, frage ich.

»Parth und ich sind gestern Abend gekommen«, sagt sie. »Cleo und Kimmy heute Morgen. Wir sitzen schon die ganze Zeit auf unseren Händen und beben vor Ungeduld, dass du endlich kommst.«

»Wow«, sage ich. »Die Dinge werden diesmal ja ziemlich schnell orgiastisch.«

Wieder dieses typische Sabrina-Lachen. Sie dreht den Türknauf. »Ich glaube, ich hätte deutlich machen sollen, dass wir alle auf unseren eigenen Händen gesessen haben.«

»Also, das ändert die Sache natürlich vollkommen«, bemerke ich.

Sie öffnet die Tür und grinst mich an.

»Warum siehst du mich so erwartungsvoll an?«, frage ich.

»Tue ich ja gar nicht.«

Ich verenge die Augen zu Schlitzen. »Solltest du als Rechtsanwältin nicht besser lügen können?«

»Einspruch!«, ruft sie. »Spekulation.«

»Warum gehen wir nicht rein, Sabrina?«

Wortlos öffnet sie die Tür weiter und winkt mich hinein.

»Okayyyyy.« Ich schleiche hinter ihr her. Im kühlen Eingangsbereich schlägt mir der Geruch nach Sommer entgegen: staubige Regale, warmes Eisenkraut, Sonnencreme, diese salzige Feuchtigkeit, die in den Knochen alter Häuser in Maine sitzt und nie ganz wegtrocknet.

Am Ende des Flurs im Erdgeschoss, hinten im offenen Küchen- und Wohnbereich (natürlich ein Teil der Anbauten) höre ich Cleos sanftes Timbre, gefolgt von Parths tiefem Lachen.

Sabrina tritt ihre Schuhe von sich, lässt die Schlüssel auf die Anrichte fallen und ruft: »Wir sind da!«

Cleos Freundin Kimmy hüpft zuerst in den Flur, ein verschwommener Fleck aus Kurven und rötlich blondem Haar. »Harryyyyy!«, ruft sie, nimmt mein Gesicht zwischen ihre tätowierten Hände und pflanzt laute Küsse auf meine Wangen. »Bist du es wirklich?« Sie packt meine Schultern und schüttelt mich, woraufhin ich meine Tasche fallen lasse. »Oder trügen mich meine trüben Augen?«

»Du bist vermutlich etwas verwirrt, weil sie sich auf Etsy ein neues Gesicht gekauft hat«, erklärt Sabrina.

»Huh«, macht Kimmy. »Ich habe mich schon gefragt, was Danny DeVito hier macht.«

»Das hat vermutlich eher mit meiner Ernährung zu tun«, versetze ich.

Kimmy gackert nicht, sie wiehert. Als würde jeder ihrer Lacher mit dem Heimlich-Griff aus ihr herausgepresst. Als würde sie ständig von ihrer eigenen Fröhlichkeit erschreckt. Sie ist die neueste Ergänzung unserer kleinen Einheit, aber ich vergesse immer, dass sie nicht vom ersten Tag an dabei war.

»Ich habe dich so vermisst«, sage ich zu ihr und drücke ihre Handgelenke.

»Ich dich noch viel mehr!« Sie faltet die Hände, und ihr rotgoldener Dutt wackelt wie ein eifriger Pompom. »Weißt du es?«

»Was soll ich wissen?«

Sie wechselt einen Blick mit Sabrina. »Weiß sie es?«

»Nein, weiß sie nicht.«

»Was weiß ich nicht?«, frage ich.

Sabrina greift nach meiner Tasche und hakt sich bei mir ein. »Deine Überraschung.« Kimmy greift meinen anderen Ellenbogen, und zusammen führen sie mich wie eine Gefängnisinsassin den Flur hinunter.

»Was denn für eine Überra…«

Ich bleibe so abrupt stehen, dass ich meinen Ellenbogen in Kimmys Rippen ramme. Ich merke kaum, dass sie vor Schmerz aufstöhnt. All meine Sinne sind auf den Mann ausgerichtet, der jetzt von dem Frühstückstresen aus Marmor aufsteht.

Dunkelblondes Haar, breite Schultern, ein Mund, der so unfassbar weich ist im Vergleich zu den harten Linien, aus denen der Rest seines Gesichts besteht, und Augen, die aus der Ferne stahlgrau leuchten, die aber, wie ich herausfinden konnte, einen moosgrünen Ring um die Pupille haben, wenn man ganz nah an ihn herankommt.

Wie zum Beispiel, wenn man ineinander verschlungen in zartrosa Bettwäsche liegt, das schwache Licht der Nachttischlampe seine Haut golden färbt und seinem Flüstern eine Struktur gibt.

Seine Schultern sind ganz entspannt, sein Gesicht ruhig, als wäre die Tatsache, dass er zusammen mit mir im selben Zimmer ist, nicht das Schlimmste, was uns beiden passieren kann.

Ich dagegen bin praktisch eine atmende Limo auf zwei Beinen, in die man einen Mentos-Bonbon geworfen hat. Panik zischt in mir auf und droht aus mir herauszusprudeln.

Geh zu deinem Happy Place, Harriet, denke ich verzweifelt, nur um zu begreifen, dass ich bereits an meinem Happy Place bin, und Er. Ebenfalls. Hier. Ist.

Der letzte Mensch, den ich hier erwartet habe.

Der letzte Mensch, den ich sehen will.

Wyn Connor.

Meinen Verlobten.

3

Die Wirklichkeit

Montag

Okay, eigentlich ist er gar nicht mehr mein Verlobter, aber 1) wissen unsere Freunde das noch nicht, und 2), wenn man so lange mit jemandem verlobt war wie ich mit Wyn Connor, dann hört man nicht plötzlich über Nacht damit auf, ihn für seinen Verlobten zu halten.

Offenbar auch nicht nach ein paar Monaten.

Denn so lange wahren wir schon den Schein.

Den Schein, den ich in dieser Woche aufklären wollte, während meines Aufenthalts hier. Ohne ihn.

Wir hatten die Details unseres Vorgehens in einem E-Mail-Gespräch ausgefeilt, in dem wir uns geradezu mit Höflichkeiten überboten. Wir wollten abwechselnd mit unseren Freunden in den Urlaub fahren, fast, als wären sie die Kinder in unserer Scheidung.

Er hatte darauf bestanden, dass ich als Erste an der Reihe sein sollte. Warum ist er also hier und steht zwischen Parth und Cleo in der Küche, als wäre er der Preis in irgendeiner schlecht durchdachten Spielshow?

»Über-raschuuuuung!«, singt Sabrina.

Ich glotze mit offenem Mund. Erstarre, während die Wippe in meinem Bauch mit der Wucht eines gut bemannten Katapults auf und ab wippt.

Sein Haar ist jetzt lang genug, dass er es hinter die Ohren klemmen kann, ein sicheres Zeichen dafür, dass das Möbelreparaturunternehmen seiner Familie mit Aufträgen überschwemmt wird, und er hat sich einen Bart wachsen lassen, aber der lässt die harte Linie seines Kiefers nicht weicher erscheinen, seine Schmolllippen aber auch nicht härter. Ich sehe noch immer schmerzhaft genau, dass die rechte Hälfte seines Amorbogens etwas höher sitzt als die linke. Immerhin sind seine Grübchen jetzt einigermaßen versteckt.

»Hallo, Süße.« Seine rauchig-samtige Stimme hört sich an, als sagte er mir meinen Text in einem schlüpfrigen Theaterstück vor.

Dieser Mann hat mich noch nie »Süße« genannt. Er nennt mich nicht einmal Harry, wie es unsere Freunde tun. Als ich einmal eine schreckliche Grippe hatte, nannte er mich mit einer so zärtlichen Stimme Schatz, dass mein fiebriger Kopf beschloss, es sei ein guter Zeitpunkt, um in Tränen auszubrechen. Abgesehen davon war es immer nur streng Harriet. Ob er lachte oder frustriert war, ob er mir gerade die Kleider vom Leib riss oder unsere Beziehung in einem vierminütigen Telefonanruf beendete.

So wie in Harriet, ich glaube, wir wissen beide genau, wo das hier hinführt.

»Ohh!«, kreischt Kimmy. »Seht sie euch nur an! Sie ist sprachlos!«

Ich würde es eher als Kurzschluss in meinem frontoparietalen Netzwerk beschreiben. »Ich …«

Bevor ich Wort Nummer zwei herausbringen kann, hat Wyn schon die Küche durchquert, einen Arm um meine Taille gelegt und mich an sich gezogen.

Bauch an Bauch, Rippen an Rippen, Nase an Nase. Mund an Mund.

Jetzt scheint mein ganzes Hirn in Flammen aufzugehen. Wie die Krähen im Hitchcock-Film Die Vögel stürzen sich einzelne Erinnerungsbröckchen auf mich: der Geschmack von Zimtzahnpasta. Das schnelle Trommeln eines Herzschlags. Das Kratzen einer unrasierten Wange. Die sanfte Berührung von Lippen, damals noch absichtlich.

ER KÜSST MICH, begreife ich plötzlich, Sekunden, nachdem der Kuss schon geendet hat. Meine Beine sind ganz weich, meine Gelenke scheinen wie von Zauberhand verschwunden. Wyns Arm hält mich jetzt fester, als er sich von mir löst, und sein Griff ist sehr wahrscheinlich das Einzige, was mich daran hindert, mit dem Gesicht voran auf den Kieferndielen der Armas zu landen.

»Überraschung.« Seine grauen Augen sagen eher Willkommen in der Hölle; ich bin dein Gastgeber, der Teufel.

Alle starren uns an und warten darauf, dass ich etwas Gefühlsbetonteres herausbringe als Ich …

Schließlich gelingt es mir, »Ich dachte, du könntest dich nicht loseisen« zu quieken.

»Die Dinge haben sich geändert.« Seine Augen blitzen, sein Mund verzieht sich unglücklich.

»Er meint, dass Sabrina ihn gezwungen hat«, mischt sich Parth ein, umarmt mich so fest, dass ich husten muss, und hebt mich dabei hoch.

Sabrina wirft meine Tasche auf den Boden. »Ich würde es lieber Problemlösung nennen. Wir brauchen Wyn hier. Also haben wir ihn hierhergebracht.«

Die Leute sagen gern, dass sich Gegensätze anziehen, und klar, das stimmt auch – Wyn ist der rastlose und abgehärtete Sohn zweier Ex-Farmer, und ich bin eine Chirurgin in der Ausbildung, deren schrecklichste Vorstellung in letzter Zeit es ist, in der Dunkelheit Böden wischen zu müssen.

Aber Parth und Sabrina gehören zu den Paaren, die aus demselben seltsam eigenwilligen Holz geschnitzt sind. Wie seine Freundin sieht auch Parth so gut aus, als wäre er mit Photoshop bearbeitet (dichtes, dunkles, leicht welliges Haar; ein ausgeprägter Kiefer; ein perfektes Strahlelächeln), und ist ein 1-a-Rechtsanwalt, der seit langer Zeit immer denselben Duft trägt (Tuscan Leather, Tom Ford). Trotz aller Ähnlichkeiten brauchten die beiden lächerlich lange, um zu begreifen, dass sie ineinander verliebt waren.

»Du rufst nicht an, du schreibst nicht!«, neckt mich Parth.

»Ich weiß, tut mir leid«, erwidere ich. »Es war immer so hektisch.«

»Na ja, jetzt bist du ja da.« Er zaust mir die Haare. »Und du siehst …«

»Müde aus?«, rate ich.

»Das ist nur ihr neues Gesicht«, mischt sich Kimmy ein, die auf einen der Barhocker steigt und ihre Hand in einer Tüte Takis Fuego Tortilla-Chips versenkt, die auf der Küchenarbeitsfläche liegt.

»Du siehst hinreißend aus.« Cleo quetscht sich an ihm vorbei, um mich zu umarmen. Als sie ihren Kopf unter mein Kinn schmiegt, umgibt mich ihr diskreter Lavendelduft. Selbst die Größenunterschiede zwischen mir, Cleo und Sabrina dienten uns immer als Beweis dafür, dass wir zusammengehörten, einander ausglichen.

»Natürlich, du Schöne«, sagt Parth, »aber ich wollte eigentlich hungrig sagen. Willst du ein Sandwich oder so, Har?«

»Taki?« Kimmy hält die glänzende violette Tüte in meine Richtung.

»Nein danke!«, sagt mein Mund.

Dir geht es eigentlich sehr schlecht, widerspricht mein Hirn.

Cleo runzelt die Stirn. »Sicher? Du wirkst ein bisschen kränklich.«

Sabrina zieht den Kopf ein. »Sie haben recht, Har. Du bist ein wenig … milchig im Gesicht. Alles in Ordnung?«

Nein, eigentlich habe ich das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen und in Ohnmacht zu fallen, und ich weiß noch nicht, in welcher Reihenfolge, und dass mich jetzt alle beobachten und sich auch noch um mich sorgen, macht alles nur noch hundertmal schlimmer, und das Gefühl, dass ich das Ziel seiner ungeteilten Aufmerksamkeit bin, ist die reine Folter.

»Mir geht es gut!«

Ich wünsche mir nur so sehr, vor meinem Flug einen BH angezogen oder mein Haar frisiert oder wenigstens ein bisschen weniger Senf auf meine Brüste gekleckert zu haben, als ich diesen Flughafen-Hotdog aß.

O Gott. Er sollte doch gar nicht hier sein!

Eigentlich hätte ich bei unserem nächsten Aufeinandertreffen ein sexy Kleid tragen und mit einem heißen neuen Freund und dem Gesicht voller Make-up auftauchen sollen (in dieser Fantasie habe ich natürlich vorher gelernt, wie man dieses Make-up aufträgt). Aber noch wichtiger: Ich hätte nicht auf ihn reagieren sollen.

Mist, Mist, Mist. Sosehr ich nicht wollte, dass unsere Clique in den letzten paar Monaten seit unserer Trennung auseinanderbricht, sosehr will ich jetzt, dass die Wahrheit ans Licht kommt, damit ich von ihm wegkann.

»Da gibt es etwas, was ich …«

»Süße.« Wyn ist wieder an meiner Seite. Seine Hände liegen auf meiner Taille, als wollte er mich gleich über die Schulter werfen und mit mir davonlaufen. »Sabrina und Parth haben dir etwas zu sagen«, erklärt er eindringlich. »Uns allen.«

Meine Haut prickelt unter seinem Griff. Plötzlich habe ich das Gefühl, gar keine Shorts zu tragen, aber nein, das liegt nur daran, dass ich seine schwieligen Finger offenbar durch den Jeansstoff hindurch spüren kann.

Als ich versuche, mich von ihm zu lösen, graben sich seine Finger in meine Hüften. Rühr dich nicht von der Stelle, warnt mich sein Blick.

Du kannst mich mal, versuche ich, meinen Blick antworten zu lassen.

Die rechte Hälfte seines Amorbogens zuckt verärgert.

Sabrina holt eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank mit den Glastüren, aber es wirkt nicht besonders freudig. Sie sieht sogar ziemlich melancholisch aus.

Parth stellt sich hinter sie und legt seine Hände auf ihre Schultern. »Wir haben einiges zu verkünden«, sagt er. »Und Wyn weiß es schon, weil, na ja, wir mussten ihm alles erzählen, damit er wusste, warum er in dieser Woche unbedingt auch da sein muss. Warum alle von uns hier sein müssen.«

»O mein Gott!«, schreit Kimmy. Sie ist sofort vollkommen außer sich. »Bekommt ihr beiden ein …«

»O Gott, nein!«, unterbricht sie Sabrina sofort. »Nein. Nein! Absolut nicht. Es geht … es geht um das Haus.« Sie hält inne und atmet tief durch, dann schluckt sie und hebt das Kinn. »Dad verkauft es. Nächsten Monat.«

In der Küche wird es so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Aber es ist keine angenehme Stille, sondern eine schockierte.

Cleo schiebt sich auf einen Hocker am Frühstückstresen. Wyns Hand lässt mich los, und sofort stellt er ein paar Meter Abstand zwischen uns her. Offenbar glaubt er nicht mehr, dass ich alles gestehe.

Ich stehe da wie eine Astronautin, die von ihrem Raumschiff getrennt worden ist und ins Nichts schwebt.

Ich habe bereits den Menschen verloren, von dem ich glaubte, dass ich ihn heiraten würde. Ich bin bereits weit weg von all meinen Freunden gezogen. Und jetzt dieses Haus – unser Haus, dieses Universum im Taschenformat, in das wir gehören, in dem wir uns alle sicher und glücklich fühlen, egal, was sonst in unseren Leben geschieht – jetzt verliere ich das auch noch.

Die ganze Panik, die schon in mir ist, weil ich hier mit Wyn feststecke, wird sofort von dieser neuen Angst in den Schatten gestellt.

Unser Haus.

In dem Cleo, Sabrina und ich im Sommer nach unserem zweiten Studienjahr auf Matratzen schliefen, die wir in die Mitte des Wohnzimmers zogen und »Superbett« nannten. In dem wir die meisten Nächte wach blieben und uns miteinander unterhielten, bis die ersten Sonnenstrahlen von der Terrasse ins Zimmer drangen.

In dem Cleo Ich habe noch nie solche Freundinnen gehabt flüsterte, als wäre es ein Geheimnis oder ein Gebet, und Sabrina und ich dazu feierlich nickten. In dem wir einander an den Händen hielten, bis wir einschliefen.

Dann war da der Kamin, an dem wir uns, statt einander Blutsschwesternschaft zu schwören, alle drei dieselbe Stelle an unseren Zeigefingern am heißen Metall verbrannten, woraufhin wir lachten, bis uns die Tränen kamen, weil wir uns immer lächerlichere Szenarien ausdachten, in denen wir unsere Fingerabdruck-Narben benutzten, um einander verschiedene Verbrechen unterzuschieben.

Die Holztreppe, auf der Parth damals eine ausgeklügelte Pappkisten-Rodelbahn für uns aufbaute, und die kleine, holzvertäfelte Bibliothek, vor deren Kamin Cleo uns zum ersten Mal von einem Mädchen namens Kimmy erzählte. Der Nagel, der aus dem Holz der Anlegestelle herausragte, an dem sich Kimmy ein Jahr später den Fuß aufriss, und die wackelige Treppe, die Wyn sie danach hinauftrug, während sie verlangte, dass wir anderen ihr Trauben in den offenen Mund werfen und ihr mit unsichtbaren Palmwedeln Luft zufächeln sollten.

Und Wyn.

Wie ich ihn zum ersten Mal küsste.

Wie ich ihn zum ersten Mal berührte. Hier.

Dieses Haus ist alles, was von uns geblieben ist.

»Das hier wird unser letzter Urlaub sein.« Sabrina zieht sich das Seidentuch vom Kopf und wirft es auf den Tresen. »Jedenfalls unser letzter Urlaub hier.«

Die Worte hängen im Raum. Ich frage mich, ob die anderen auch alle fieberhaft nach einer Lösung suchen, als könnten wir einen Hut herumgehen lassen, unser Kleingeld hineinwerfen und so sechs Millionen Dollar zusammenbekommen, um ein Ferienhaus zu kaufen.

»Kannst du nicht …«, fängt Kimmy an.

»Nein«, unterbricht Sabrina sie. »Ehefrau Nummer sechs will nicht, dass Dad das Haus bekommt, weil er es mit meiner Mom gekauft hat, nehme ich an. Als gäbe es nicht noch vier weitere, viel neuere Ehefrauen, auf die sie ihre Eifersucht richten könnte.« Sie verdreht die Augen. »Dad hat schon einen Käufer und so. Es ist alles schon spruchreif.«

Parth wiegt Sabrina an den Schultern vor und zurück. Er versucht, so ihre düstere Stimmung zu vertreiben.

Mein Blick gleitet zu Wyn. Ein unbewusster Teil von mir erwartet immer noch, dass jeder Blickkontakt mit ihm meinen Stress lindert.

Stattdessen beginnt mein Herz sofort zu hämmern. Ich schaue weg.

»Aber wir haben nicht nur schlechte Nachrichten«, sagt Parth. »Sondern auch gute. Großartige.«

Sabrina schaut von der Sektflasche auf, deren Folie sie gerade ablöst. »Genau. Es gibt noch etwas anderes.«

»Ach ja, da war ja noch etwas anderes«, macht Parth sie nach. »Jetzt tu nicht so, als sei unsere Verlobung eine Nebensache.«

»Eure was?«

Zuerst weiß ich nicht genau, wer das gekreischt hat.

Ich. Ich habe es gekreischt.

Na ja, ich und Cleo, die so schnell von ihrem Barhocker hochgeschossen ist, dass sie ihn ins Wanken bringt und mit der Hüfte aufhalten muss.

Sabrinas Gackern klingt aufgedreht und gleichzeitig ungläubig.

»Eure was?«, wiederhole ich.

»Leute, ich weiß«, sagt sie. »Ich bin ja genauso überrascht wie ihr.«

Kimmy schnappt sich Sabs Hand und keucht auf, als sie den riesigen Smaragd sieht, der an ihrem Ringfinger glitzert.

In dem Augenblick begreife ich, dass es jemandem auffallen könnte, dass ich keinen Verlobungsring mehr trage.

Ich stecke meine Hände in die Hosentaschen. Sehr natürlich. Einfach eine Frau, die die Fäuste in den winzigen, nutzlosen Damenshorts-Taschen unterzubringen versucht.

»Du hast gesagt, dass du nie heiraten willst«, sagt Cleo und beäugt den Stein und seine weißgoldene Fassung mit einer zweifelnden Falte zwischen den Brauen. »Unter keinen Umständen. Du sagtest, ›nicht einmal, wenn man mir eine Pistole an die Schläfe hält‹.«

Und wer hätte es ihr vorwerfen können? Ganz abgesehen von der Horde Ex-Frauen ihres Vaters ist Sabrina Scheidungsanwältin. Sie ist mindestens acht Stunden täglich von Gründen umgeben, nicht zu heiraten.

»Erzähl uns die Geschichte«, sagt Kimmy, und Cleo ergänzt: »Du hast mir mal gesagt, du würdest lieber fünf Jahre im Gefängnis als ein Jahr als Ehefrau verbringen.«

»Süße!« Kimmy knufft Cleo in die Rippen. »Wir feiern hier. Sabrina hat es sich anders überlegt. Das tun Menschen eben, weißt du?«

Das tun Menschen; Sabrina Armas aber nicht.

Manchmal überlege ich so lange, was ich zum Frühstück essen will, dass es darüber Mittagessenszeit wird. Sabrina isst jeden Morgen exakt denselben Joghurt mit Müsli. Nur das Obst, das sie dazu isst, ändert sich je nach Jahreszeit.

Sabrina schlingt einen Arm um Parths Taille. »Na ja. Als ich erfuhr, dass wir uns vom Cottage verabschieden müssen, hat mir das zu denken gegeben.« Ihre Stimme wird einen Hauch zittrig, um dann wieder ganz klar zu klingen. »Ob Parth und ich verheiratet sind oder nicht – ich bin entschlossen, dass es lange halten soll, und ich will nicht mehr auf Kosten meines eigenen Glücks oberschlau sein. Ich will, dass das hier für immer ist, und ich will nicht so tun, als wäre es nicht das, was ich mir wünsche.«

Kimmy legt eine Hand auf ihre Brust. »Das ist wunderschön.«

Parth lächelt auf Sabrina herunter und streichelt sanft ihre Schulter. Ihr Blick fällt auf mich, und sie lächelt mit ihren klassisch rot geschminkten Lippen. »Und um ehrlich zu sein, waren wir sozusagen inspiriert …«

Es fühlt sich an wie der Moment vor einem Autounfall, wenn die Reifen schon über den Asphalt schlittern und man weiß, dass gleich etwas Schreckliches geschieht, aber es gibt da immer noch die Chance, dass das Profil wieder greift, und dann wirst du nie wissen, welchem Unglück du gerade eben noch entkommen bist.

Und dann redet Sabrina weiter.

»Ich meine, seht euch mal Harry und Wyn an. Sie sind schon zehn Jahre zusammen, und es läuft gut, obwohl sie eine Fernbeziehung führen. Es stimmt, die Liebe überwindet alles.«

»Acht Jahre«, korrigiert Wyn sie leise.

Kimmy drückt seinen Bizeps. »Acht Jahre, und ihr seid nie mehr als einen Meter voneinander entfernt.«

Nach meiner Schätzung steht Wyn ungefähr vierundfünfzig drei viertel Zentimeter von mir entfernt, aber er schlingt den Arm um meinen Hals und sagt: »Ja, na ja, selbst nach all den Jahren schafft Harriet es immer wieder, dass ich das Gefühl habe, als hätten wir uns gerade erst kennengelernt.«

Kimmy legt wieder die Hand auf die Brust. Sie versteht die Ironie nicht, die nur an mich gerichtet war.

Ein Jubel erhebt sich, als Sabrina die Sektflasche knallen lässt. Ich habe das Gefühl, über meinem Körper zu schweben. Adrenalin macht wirklich ganz schräge Dinge mit mir.

Normalerweise lasse ich mich lieber einen Abhang voller Glasscherben und Klebefallen hinunterrollen, als einen Konflikt heraufzubeschwören, aber je länger das hier geht, desto schwieriger wird es, unsere Lüge aufrechtzuerhalten.

»Das ist ja großartig.« Meine Stimme ist zweieinhalb Oktaven höher als sonst. »Aber ich muss euch sagen …«

»Harriet.« Und da ist er wieder, und seine Arme schlingen sich von hinten um mich. Er stützt das Kinn auf meinen Kopf, und während ich krampfhaft versuche, mich gedanklich an meinen verdammten Happy Place zu begeben, wünsche ich mir nur noch, wieder im Todesfallen-Flugzeug von Ex-Alkoholiker Ray zu sitzen.

»Das ist noch nicht das Ende der Verkündigungen«, fährt Wyn fort.

Wieder klatscht Kimmy in die Hände.

»Immer noch nicht schwanger«, bemerkt Sabrina.

Kimmy seufzt.

Parth lächelt sein »Ich habe eine großartige Überraschung für euch«-Lächeln. Das, das der Geburtstagsparty mit dem New-Orleans-Motto für Cleo voranging oder dem Moment, als er mir zu meinem Examen ein Stethoskop mit Namensgravur schenkte.

Er und Sabrina tauschen einen wissenden Blick.

»Ach kommt schon«, sagt Cleo.

Kimmy wirft Sabrina einen Taki an den Kopf.

Sie wedelt ihn weg. »Na gut, na gut! Sag’s ihnen.«

»Wir heiraten«, sagt Parth.

Alle wechseln verwirrte Blicke.

»Das … das ist normalerweise das, was auf eine Verlobung folgt«, sagt Cleo.

»Nein, ich meine, am Samstag«, erklärt er. »Wir heiraten. Hier, mit euch. Nichts Schickes. Ganz buchstäblich nur eine kleine Feier unten am Hafen, mit unseren besten Freunden.«

Mein ganzer Körper wird erst eiskalt und dann glühend heiß. Mein Gesicht und meine Hände fühlen sich taub an.

Wyn lässt mich wieder los, und als mein Blick seinen findet, sehe ich meine eigene Qual in seinem Gesicht.

Wir sitzen in der Falle.

In meinen Ohren klingelt es. Die Stimmen meiner Freunde werden zu einem gedämpften Murmeln. Jemand reicht mir eine blaue Sektflöte zum Anstoßen, und ich höre, wie Parth ruft: »Auf die ewige Liebe!«

Und Sabrina fügt hinzu: »Und auf unsere besten Freunde für immer! Wir können uns keine schönere Art vorstellen, diese letzte Woche im Cottage zu verbringen.«

GEH ZU DEINEM GOTTVERDAMMTEN HAPPY PLACE, HARRIET, denke ich, gefolgt von: NEIN, NICHT ZUDEMHAPPY PLACE.

Zu spät.

4

Happy Place

Mattingly, Vermont

Eine Straße in der Innenstadt, gesäumt von alten Rotklinkerhäusern. Ein Apartment über der Maple Bar, unserem Lieblingscafé im fünften Semester. Cleo und ich haben unseren neuen Mitbewohner Parth erst einmal getroffen, aber Sabrina hatte letzten Frühling ein Seminar über Internationales Recht mit ihm zusammen, und als er ihr sagte, dass in seinem Wohnheim Zimmer frei werden würden, ergriffen wir die Gelegenheit.

Er ist ein Jahr weiter als wir, im siebten Semester, und zwei seiner Mitbewohner haben ihr Studium bereits abgeschlossen, während der Dritte, der BWL studiert, das Herbstsemester in Australien verbringt. Ich nehme sein Zimmer, weil ich das Frühlingssemester in London studieren werde. Wir können in den Winterferien leicht die Zimmer tauschen.

Mattingly ist eine ziemlich kleine Universität. Selbst wenn wir Parth Nayak nicht persönlich kennen würden, hätten wir von seinem Ruf gehört: Er ist der Party-König der Paxton Avenue. So wird er teils deswegen genannt, weil er großartige Mottopartys schmeißt, aber teils auch deswegen, weil er die Angewohnheit hat, auf den Partys anderer Leute mit teuren Getränken, einem Dutzend wunderschöner Freunde und einer unglaublichen Playlist aufzulaufen. Er ist eine Legende in Mattingly.

Und mit ihm zusammenzuwohnen, ist einfach großartig. Obwohl sich er und Sabrina – beide Anführertypen – hin und wieder in die Haare kriegen. Der echte Parth ist viel besser als sein Mythos. Er ist nicht nur lustig. Er liebt Menschen.

Er liebt es, für sie Partys zu schmeißen, die perfekten Geschenke zu finden, Leute einander vorzustellen, von denen er glaubt, dass sie sich kennenlernen sollten, den stillsten Menschen auf der Party auszumachen und ihn ins Getümmel zu bringen. Die Welt hat sich nie so freundlich, so positiv angefühlt wie mit ihm. Als wäre jeder auf der Welt ein potenzieller Freund, der etwas Faszinierendes und Großartiges zu bieten hat.

Als ich nach London aufbreche, wünsche ich mir beinahe, bleiben zu können.

Die Stadt ist natürlich überwältigend, all die alten Steine und der Efeu, die sich nahtlos mit Stahl und Glas abwechseln. Und dank des letzten Semesters bin ich besser darauf vorbereitet, fremde Menschen kennenzulernen. An den meisten Abenden gehen zumindest ein paar Leute vom Austauschprogramm aus, um in einem der zahllosen Pubs von Westminster ein paar Pints zu trinken oder knusprige Fish and Chips in Zeitungspapier zu kaufen und sie bei einem Spaziergang entlang der Themse zu essen. An den Wochenenden gibt es Sektpicknicks in endlosen Gärten oder Tagesausflüge zu Kunstgalerien, Stunden des Stöberns in so vielen berühmten Londoner Buchläden wie möglich – Foyle’s und Daunt Books und einem Haufen anderer im Cecil Court.

Im Laufe der Zeit entstehen Freundschaften und Beziehungen. Und so entkomme ich der ständigen Sehnsucht nach meinen Freunden und unserer Eckwohnung mit Blick auf die rot geklinkerte Innenstadt von Mattingly: Ich verbringe immer mehr Zeit mit einem anderen Amerikaner namens Hudson, und in den Stunden, in denen wir lernen – oder nicht lernen –, halte ich hin und wieder inne und stelle mir vor, wie die Jahreszeiten draußen vor den Fenstern von Parth, Cleo, Sabrina und dem mysteriösen neuen Mitbewohner wechseln, wie sie Schneehaufen schmelzen, zartes Grün sprießen und Hundszahn, wilde Geranien und Mitella blühen sehen.

Je näher der Sommer rückt, desto weniger kann mich Hudson ablenken. Teils, weil wir beide wie besessen für unsere Prüfungen lernen, teils, weil diese Sache zwischen uns – diese romantische Beziehung, die aus der Not geboren ist – ihr Haltbarkeitsdatum erreicht. Und wir beide wissen es.

Meine Eltern schicken mir ungefähr fünfhundert Mal mehr Textnachrichten als sonst, je näher mein Heimflug kommt.

Dad schreibt:

 

Kann es kaum erwarten, in ein paar Wochen alles über deine London-Zeit zu hören

Mom schreibt:

 

Die Damen in Dr. Sherburgs Büro wollen mit dir essen gehen, wenn du wieder hier bist. Cindys Sohn überlegt auch, nach Mattingly zu gehen.

Dad schreibt:

 

Habe eine zehnteilige Dokusendung über Dinosaurier gespeichert.

Mom schreibt:

 

Meinst du, du hast Zeit, mit mir den Garten auf Vordermann zu bringen? Dort herrscht das reinste Chaos, und ich habe immer so viel zu tun.

Ich hatte gehofft, ihnen nur einen kurzen Besuch abstatten zu können, bevor ich zurück nach Vermont fliege, aber sie sind so aufgeregt. Schließlich verbringe ich zwei Monate in Indiana, von denen ich jede einzelne Sekunde zähle, und fliege dann direkt nach Maine, um meine Freunde zum Hummerfestival zu treffen.

Mein Flug landet spät. Es ist bereits dunkel, die Hitze des Tages ist schon lange einem kalten, feuchten Wind gewichen. Ein paar Autos fahren auf dem Parkplatz herum, die Scheinwerfer ausgeschaltet, und ich brauche einen Moment, bis ich den kirschroten Sportwagen finde. Sabrina hat extra ihren Führerschein gemacht, damit wir in diesem Sommer herumfahren können.

Aber es ist nicht Sabrina, die da ans Auto gelehnt steht, mit vom Licht des Handydisplays erleuchteten Gesicht. Er schaut hoch. Ein kantiges Kinn, schmale Hüften, wildes, goldenes Haar, das er sich aus der Stirn gestrichen hat, mit Ausnahme einer einzelnen Locke, die ihm in der Sekunde, in der sich unsere Blicke treffen, über die Braue fällt.

»Harriet?« Seine Stimme ist samten. Sie jagt ein überraschtes Zing meinen Rücken hinunter, wie ein Reißverschluss, der geöffnet wird.

Ich habe ihn im Laufe des letzten Semesters auf den Fotos meiner Freunde gesehen und davor auf dem Campus, aber immer aus der Entfernung, immer in Bewegung. Aus der Nähe wirkt er anders. Weniger stattlich vielleicht, aber gleichzeitig auffallender. Seine Augen leuchten heller im Licht des Handydisplays. An den Augenwinkeln bilden sich vorzeitige Krähenfüße. Er sieht aus wie aus Granit, abgesehen von seinem Mund, der reiner Treibsand ist. Weich, voll, und die eine Seite seines Amorbogens sitzt deutlich höher als die andere.

»Ein ganzes Semester haben wir uns nicht gesehen«, sage ich, »und du siehst immer noch haargenau so aus, Sabrina.«

Auf beiden Seiten seines Mundes erscheinen Grübchen. »Wirklich? Denn ich habe mir die Haare abgeschnitten, trage farbige Kontaktlinsen und bin zehn Zentimeter gewachsen.«

Ich verenge die Augen. »Hm. Ist mir gar nicht aufgefallen.«

»Sabrina und Cleo hatten zu viel Wein«, sagt er.

»Oh.« Ich schaudere, weil die Abendbrise den Ausschnitt meiner Bluse lüpft. »Tut mir leid, dass du mich jetzt abholen musst. Ich hätte auch ein Taxi rufen können.«

Er zuckt mit den Achseln. »Macht mir nichts aus. Konnte es kaum erwarten, die berühmte Harriet Kilpatrick kennenzulernen und zu sehen, ob sie ihrem Ruhm gerecht wird.«

Als Objekt seiner gesamten Aufmerksamkeit fühle ich mich wie ein Reh im Scheinwerferlicht.

Oder vielleicht eher wie ein Reh, das von einem Kojoten belauert wird. Wenn er ein Tier wäre, wäre er nämlich einer, mit diesen merkwürdigen, leuchtenden Augen und seiner eleganten Ausstrahlung. Die Art von Selbstvertrauen, die nur Menschen haben, die ihre peinlichen Phasen einfach überspringen konnten.

Wohingegen ich jegliches Selbstbewusstsein, das ich besitze, mit Mühe und Not aus einer Kindheit mit Zahnklammer und der Frisur eines glücklosen Pudels retten musste.

»Sabrina neigt zur Übertreibung«, sage ich. Erstaunlicherweise haben ihre Beschreibungen von ihm ihn nicht einmal annähernd getroffen. Oder vielleicht lag es auch daran, dass ich wusste, dass sie ein wenig in ihn verschossen war, und daher jemand ganz anderen erwartet hatte. Jemand Geschliffeneren, Weltmännischeren. Eher jemanden wie Parth, seinen besten Freund.

Seine Mundwinkel kräuseln sich, als er auf mich zugeht. Mein Herz summt, als er die Arme ausstreckt, als wollte er mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen und mein Gesicht drehen, damit er es begutachten kann, um zu beweisen, dass ich überbewertet bin.

Aber er nimmt mir nur die Tasche von der Schulter. »Sie haben gesagt, du wärst brünett.«

Mein eigenes schnaubendes Lachen überrascht mich. »Ich bin ja froh, dass sie so gut von mir reden.«

»Das tun sie«, sagt er, »aber das Einzige, was ich gegenwärtig beurteilen kann, ist, ob du brünett bist oder nicht. Und du bist es nicht.«

»Ich bin ganz eindeutig brünett.«

Er wirft meine Tasche auf den Rücksitz und wendet sich dann wieder mir zu, wobei er sich mit der Hüfte gegen das Auto lehnt und nachdenklich den Kopf zur Seite neigt. »Dein Haar ist fast schwarz. Im Mondlicht sieht es sogar blau aus.«

»Blau?«, wiederhole ich. »Du hältst das für Blau?«

»Nicht Schlumpfblau«, sagt er. »Mehr Schwarzblau. Auf Bildern sieht man das nicht. Da siehst du anders aus.«

»Stimmt«, sage ich. »Im echten Leben bin ich nämlich dreidimensional.«

»Das Bild«, sagt er gedankenverloren. »Es sieht dir ähnlich.«

Ich weiß sofort, welches Bild er meint. Das von mir und Sabrina, als Gott und Adam dargestellt, Cleos altes Prüfungsbild im Fach Figurenzeichnung. Es hing wochenlang im Kunsthaus von Mattingly, Dutzende Fremde schauten es sich jeden Tag an, und ich habe mich damals längst nicht so nackt gefühlt wie jetzt.

»Sehr diskrete Art, mir zu verstehen zu geben, dass du meine Brüste gesehen hast«, sage ich.

»Mist.« Er schaut weg und reibt sich den Nacken. »Ich hatte irgendwie vergessen, dass es ja ein Nacktbild war.«

»Worte, von denen jede Frau träumt«, versetze ich.

»Ich habe keinesfalls vergessen, dass du auf dem Bild nackt warst«, erklärt er. »Ich hatte nur vergessen, dass es vielleicht komisch ist, wenn man jemandem sagt, dass er haargenau so aussieht wie auf einem Bild, auf dem er keine Kleidung trägt.«

»Das hier läuft ja echt super«, bemerke ich.

Er stöhnt und fährt sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich schwöre, dass ich das sonst besser kann.«

Und sonst gebe ich mein Bestes, anderen die Befangenheit zu nehmen, aber irgendetwas gefällt mir daran, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es gefällt mir, und es ist süß.

»Was kannst du besser?«, frage ich lachend.

Er kämmt sich mit den Fingern durchs Haar. »Einen guten ersten Eindruck machen.«

»Du solltest es mal damit versuchen, erst einmal ein riesiges Nacktbild von dir zu schicken, bevor du jemand Neues kennenlernst«, sage ich. »Das hat bei mir immer gut geklappt.«

»Ich werde es in Erwägung ziehen«, sagt er.

»Du siehst gar nicht aus wie ein Wyndham Connor.«

Er zieht eine Augenbraue hoch. »Wie sollte ich denn aussehen?«

»Ich weiß nicht«, antworte ich. »Vielleicht solltest du ein marineblaues Jackett mit Goldknöpfen tragen. Eine Kapitänsmütze. Einen langen weißen Bart und eine riesige Zigarre im Mund?«

»Also praktisch wie der Weihnachtsmann, nur auf einer Jacht«, sagt er.

»Mr Monopoly, im Urlaub«, sage ich.

»Meiner bescheidenen Meinung nach entsprichst du auch nicht gerade der Vorstellung eines Harry Kilpatrick.«

»Ich weiß«, sage ich. »Ich bin einfach kein Waise aus einem Dickens-Roman mit Zeitungsjungen-Mütze.«

Sein Lachen lässt seine Augen wieder aufblitzen. Sie wirken jetzt eher hellgrün als grau, eher wie das Wasser unter dem Nebel als wie der Nebel selbst.

Er umrundet den Kühler des Autos und hält die Beifahrertür auf.

»Also, Harriet.« Er schaut auf, und mein Herz setzt einen Schlag aus, weil ich von seiner vollen Aufmerksamkeit überwältigt bin. »Bereit?«

Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl zu lügen, als ich »ja« sage.

Wyn lässt die Fahrt im Jaguar die dunklen, gewundenen Straßen entlang wie eine Sportart oder eine Kunstform wirken. Ein durchtrainierter Arm liegt auf dem Steuer, die rechte Hand locker auf der Gangschaltung. Sein Knie wippt in einem rastlosen Rhythmus, der ihn niemals die Kontrolle über das Gaspedal verlieren lässt. Als wir näher ans Wasser kommen, kurbele ich das Fenster hinunter und atme den vertrauten Salzduft ein. Er tut es mir nach, und der Wind zerzaust sein Haar über seinem scharf geschnittenen Profil. Diese eine wilde Strähne rutscht immer wieder auf seine Stirn, als wäre sie mit einer unsichtbaren Schnur mit seinem schiefen Amorbogen verbunden.

Als er mich dabei ertappt, wie ich ihn betrachte, zieht er die Brauen und die Mundwinkel hoch.

Treibsand, denke ich erneut. Der alte Raubtier-Beute-Instinkt setzt ein, mein limbisches System schickt Befehle an meine Muskeln: Mach dich bereit zur Flucht; wenn er näher kommt, schaffst du es nie mehr fort.

»Du starrst«, sagt er. »Und zwar argwöhnisch.«

»Ich überlege nur, ob du wirklich der Mitbewohner meiner Freunde bist und kein Serienkiller, der die Autos seiner Opfer stiehlt«, sage ich.

»Und der dann deren Freundinnen am Flughafen abholt, und zwar pünktlich?«, fragt er.

»Ich bin mir sicher, dass viele Mörder sehr pünktlich sind.«

»Was meinst du, warum unsere gesamte Generation so ziemlich jeden für einen Mörder hält?«, fragt er und lacht. »Soweit ich weiß, habe ich noch keinen einzigen kennengelernt.«

»Das bedeutet nur, dass du noch keinen schlechten getroffen hast.«

Er wirft mir einen Blick zu, und ein Mondlicht-Balken gleitet über sein Gesicht. »Ich habe gehört, dass du eine Art Genie bist, Harriet Kilpatrick.«

»Was habe ich dir gerade über Sabrina und ihre Übertreibungen gesagt?«

»Also bist du keine zukünftige Hirnchirurgin?«

»Zukünftig ist hier das Stichwort«, sage ich. »Was ist denn mit dir? Was studierst du?«

Er richtet den Blick wieder auf die Straße und lächelt in sich hinein, und meine Knochen scheinen sich mit Helium anzufüllen.

Ich schaue aus dem Fenster. »Was ist mit dir?«

Nach ein paar Sekunden sagt er: »Was mit mir ist?« Er klingt einen Hauch verärgert.

»Stimmt das, was man mir über dich erzählt hat?«, frage ich.

Er wirft einen Blick in den Spiegel, und seine Zähne streifen über seine volle Unterlippe. »Kommt drauf an, was das war.«

»Was glaubst du denn?«, frage ich.

»Ich würde lieber nicht raten, Harriet.«

Er sagt meinen Namen oft. Jedes Mal ist es, als schlüge seine Stimme eine zu straff gespannte Saite auf einem Klavier in meinem Bauch an.

Was in Wirklichkeit passiert, ist Folgendes: Mein Sympathisches Nervensystem hat beschlossen, einen Blutstrom in meine Muskeln zu schicken. In meinem Bauch flattern keine Schmetterlinge. Es sind nur Blutgefäße, die sich um meine Organe zusammenziehen.

»Warum nicht?«, frage ich. »Glaubst du, dass sie etwas Schlechtes über dich gesagt haben?«

Sein Kiefer spannt sich an. Er blickt auf die beiden Scheinwerferstrahlen, die die Dunkelheit durchbrechen. »Egal. Ich will es gar nicht wissen.«

Jetzt wippt sein Knie wieder, als hätte er zu viel Energie in seinem Körper, die herausmuss.

»Mir haben sie gesagt, man wisse nie, ob du flirtest oder nicht.«

Er lacht. »Jetzt versuchst du aber, mich in Verlegenheit zu bringen.«

»Vielleicht.« Auf jeden Fall. Ich weiß wirklich nicht, was da gerade mit mir passiert. »Aber sie haben es wirklich gesagt.« Tatsächlich hatte Sabrina darüber gejammert, dass sie es einfach nicht wisse, wobei sie gleichzeitig hartnäckig behauptete, dass sie ihn zu sehr möge, um es überhaupt bei ihm zu versuchen. Es würde ihr Zusammenwohnen zu sehr gefährden.

»Jedenfalls bin ich weit besser im Flirten, als man bei dieser Aussage vermuten könnte.«

»Hast du mal darüber nachgedacht«, sage ich und beuge mich vor, um mich in sein Sichtfeld zu drängen, »dass das womöglich das Problem ist?«

Er lächelt. »Flirten hat noch niemanden umgebracht, Harry.«

»Du bist ganz eindeutig noch nicht mit dem Konzept des Duells vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts vertraut«, sage ich.

»Oh, damit bin ich vertraut, aber da ich nur sehr selten mit den unverheirateten Töchtern mächtiger Fürsten flirte, bin ich wohl nicht in Gefahr.«

»Du glaubst also, wir gehen einfach so über die Tatsache hinweg, dass du mit den Bräuchen und Gewohnheiten der Regency-Zeit per Du bist?«

»Harriet, ich habe nicht das Gefühl, dass du je über irgendetwas hinweggehst.«

Wieder muss ich schnaubend lachen, und seine Grübchen vertiefen sich. »Da wir gerade von Töchtern aus hohen Häusern sprechen«, sagt er, »bringen sie euch dieses Lachen in ihren Benimmschulen bei?«

»Nein«, sage ich. »Das muss man sich über Jahrhunderte anzüchten.«

»Da bin ich mir sicher«, erwidert er. »Ich bin aber nicht so, übrigens.«

»Behutsam und über Generationen hinweg gezüchtet, sodass du durch die Nase lachst?«

Sein Kinn neigt sich, sein Blick wirkt wissend. »Der Eindruck, den du von mir hast. Ich spiele nicht mit den Gefühlen anderer Menschen. Ich habe Regeln.«

»Regeln?«, frage ich. »Die da wären?«

»Zum Beispiel, dass ich sie nie jemandem verrate, den ich gerade erst kennengelernt habe.«

»Ach, hör doch auf«, sage ich. »Wir sind jetzt Stieffreunde. Du kannst es mir ruhig sagen.«

»Na ja, erstens haben Parth und ich einen Pakt geschlossen, dass wir nicht mit Freunden ausgehen. Oder den Freunden des jeweils anderen.« Er wirft mir einen Blick aus den Augenwinkeln zu. »Was Stieffreunde angeht, bin ich mir nicht so sicher.«

»Warte, warte, warte«, sage ich. »Du gehst nicht mit Freunden aus? Mit wem denn dann, Wyn? Mit Feinden? Fremden? Bösartigen Geistern der Menschen, die in deinem Wohnhaus gestorben sind?«

»Das ist eine gute Regel«, versetzt er. »So werden die Dinge nicht unschön.«

»Es geht um Dating, Wyn, nicht um ein All-you-can-eat-Büfett. Wobei – nach dem, was ich über dich gehört habe, ist das für dich vielleicht dasselbe.«

Er sieht mich durch seine langen Wimpern hindurch an und schüttelt den Kopf. »Betreibst du hier gerade Slutshaming mit mir, Harriet?«

»Gar nicht«, widerspreche ich. »Ich habe mich selbst hin und wieder daran versucht, etwas schlampiger zu sein.«

Wieder gleitet das Mondlicht über sein Gesicht und lässt seine Augen grausilbrig aufleuchten.

»Hat es dir nicht so gefallen?«, fragt er.

»Ich hatte leider nicht die Gelegenheit, es herauszufinden.«

»Weil du dich verliebt hast.«