Happy Spirits - Amy E. Reichert - E-Book

Happy Spirits E-Book

Amy E. Reichert

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Beschreibung

Manchmal braucht die Liebe Hilfe aus dem Jenseits

Sabrina Monroe hat eine besondere Gabe: Wie alle Frauen in ihrer Familie kann sie Geister sehen. Sie kommen zu ihr, weil sie Hilfe benötigen, die Dinge zu Ende zu bringen, die sie zu Lebzeiten nicht mehr abschließen konnten. Schon seit ihrer Kindheit wird Sabrina von Molly begleitet, einem gut gelaunten Geist, der romantische Komödien liebt. Als Sabrina in ihren Heimatort in Wisconsin zurückkehrt, verdreht ihr der charmante Gastronom Ray den Kopf. Doch was wird Ray sagen, wenn er von ihrem Geheimnis erfährt? Kann sie Molly und die anderen vor ihm verstecken? Dann taucht plötzlich der Geist von Rays verstorbenem Urgroßvater auf und benötigt ihre Hilfe.

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Seitenzahl: 460

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Das Buch

Schon ihr Leben lang hütet Sabrina Monroe ein Geheimnis: Sie kann Geister sehen. Sie kommen zu ihr, weil sie Hilfe benötigen, die wichtigen Dinge zu Ende zu bringen, die sie zu Lebzeiten nicht mehr abschließen konnten. Seit ihrer Kindheit wird Sabrina dabei von Molly begleitet, einem gut gelaunten Geist, der romantische Komödien liebt. Nur um die Romantik in Sabrinas eigenem Leben ist es nicht gut bestellt. Das ändert sich, als sie in ihre Heimat Wisconsin zurückkehrt. Der charmante Gastronom Ray verdreht ihr den Kopf, und plötzlich muss sie sich fragen: Wie lange kann sie Molly und die anderen Geister noch vor ihm verstecken?

Die Autorin

Amy E. Reichert hat einen Abschluss in Englischer Literatur und liebt es, Geschichten mit Happy End zu schreiben, deren Figuren man gerne zu sich nach Hause einladen würde. Amy ist glückliche Ehefrau, Mutter und Hobbyköchin und würde zu einem Glas Cider niemals Nein sagen.

AMY E. REICHERT

HAPPY SPIRITS

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Hanne Hammer

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe The Kindred Spirits Supper Club erschien erstmals 2021 bei Jove, Berkley, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 01/2024

Copyright © 2021 by Amy E. Reichert

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Scheiber

Umschlaggestaltung: Favoritbuero GbR, München

unter Verwendung von Shutterstock.com

(SarraMagdalina, JoyCrew, iDraw, An240)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28422-0V001

www.heyne.de

Für Pam –

weil sie mir die besten Brandy Old Fashioneds gemixt hat und Moms zweiter Liebling ist. Ich liebe dich!

Ein einziger Akt der Freundlichkeit schlägt in alle Richtungen Wurzeln, aus denen dann neue Bäume entstehen.

Amelia Earhart

Wenn du erst in New York bist, wirst du Erfolg haben. Ich kenne dort viele Leute, die hunderttausend Dollar dafür zahlen würden, einen Großvater zu haben, und noch viel mehr für einen Familiengeist.

Oscar Wilde: Das Gespenst von Canterville

1

Zwei Tage, dreiundzwanzig Stunden und zweiunddreißig Minuten. Fast drei ganze Tage waren vergangen, seit Sabrina Monroe das letzte Mal mit jemandem geredet hatte, der nicht zur Familie gehörte. Ihr Rekord waren sieben Tage, vier Stunden und fünfundfünfzig Minuten, aber drei Tage waren auch schon eine Leistung. Von ihr aus könnte das ewig so weitergehen, ein geruhsames Leben im Homeoffice und mit geliefertem Essen.

Im Moment befand sie sich mitten in dem neuesten Bereich der Wilden-Aquapark-Welt (kurz WAW) – oder den Drei Pfützen, wie die Leute den Park auch nannten, obwohl er der weltweit größte seiner Art war. Die künstlichen Felsen waren noch nicht angestaubt und voll mit Kaugummis, die die Besucher daran festgeklebt hatten, die Farben der Wasserrutschen strahlten noch, und die bunten Wände waren noch nicht durch die jahrelange Chlorbelastung verblasst, die die Augen zum Brennen brachte. Sabrina saß auf einem weißen Plastikstuhl und hatte die Füße auf einem weiteren hochgelegt, während sie gerade durch die Nachrichten-App auf ihrem Handy scrollte, als von einem benachbarten Tisch ein Stapel Handtücher in eine Wasserpfütze fiel. Sie hob sie auf, hängte die nassen Handtücher über die Stuhllehnen, legte die noch trockenen mitten auf den Tisch und machte es sich schnell wieder auf ihrem Stuhl bequem, bevor irgendjemand etwas mitbekam. Ihre Nichten, Arabella und Lilly, und ihr Neffe, Oscar, tobten im Kinderbereich herum, der sich über drei Ebenen erstreckte und in dem es Seilbrücken, Wasserfontänen und niedrige Rutschen für die Kleinen gab, denen für die kurvenreichen offenen viergeschossigen Rohre noch der Mut fehlte. Aus einem riesigen Behälter ergossen sich alle fünfzehn Minuten dröhnend und tosend beinahe viertausend Liter Wasser, begleitet von einem Luftzug, der über den Lazy River blies, der sich durch die gesamte Anlage wand und in dem Schwimmreifen wie Donuts wippten und Kinder um schwimmende Erwachsene herumtobten, die ihnen böse Blicke zuwarfen.

Man hätte meinen können, es wäre schwierig gewesen, mit ihren beiden Nichten und ihrem Neffen einen Aquapark zu besuchen, ohne mit jemanden zu sprechen, doch sie hatte die Tickets online gekauft und zwischen den überfüllten Tischen Zuflucht gesucht, während die Kinder spielten. An einem überlaufenen, lauten Ort war es immer am einfachsten, allein zu sein, und nirgendwo war es lauter und voller als in einem Aquapark an einem verregneten Ferienwochenende.

Sabrina vermied in der feuchten, widerhallenden Halle die Interaktion mit anderen Menschen, indem sie sich mit ihrem Smartphone beschäftigte. Sie bemerkte die Leute nicht, die neugierig die Köpfe reckten. Sie bemerkte die Leute nicht, die Stühle von anderen Tischen stibitzten. Sie bemerkte das wütende, tätowierte Opfer eines solchen Stuhldiebstahls ganz in ihrer Nähe nicht, das mit einer riesigen, randvollen Margarita von der Snackbar zurückkam.

Es war reiner Zufall, dass sie genau im falschen Moment von ihrem Handy aufblickte.

Sie beobachtete, wie der wiederverwertbare Becher dem Mann mit den Tattoos aus der Hand flog, wobei durch die Schleuderkraft und den roten Plastikdeckel fast nichts von dem Inhalt verloren ging, bis der Becher mit ihrer Nase kollidierte. Mit Tequila angereicherter Pseudo-Erdbeer-Slush spritzte von ihrem Haar bis hinunter zu ihren in Flipflops steckenden Füßen, hinterließ auf ihrem gelben Badeanzug orangefarbene Flecken, die an einen Sonnenuntergang erinnerten, und verdunkelte ihren Blick durch kaleidoskopische, von dem plötzlichen Schmerz ausgelöste Sterne. Zusammengekrümmt vor Schmerzen, entging Sabrina dem unerwartet aerodynamischen weißen Plastikstuhl, der der Margarita folgte und über ihren Kopf auf die Stuhldiebe zuflog.

Ein Mann in einer bunten Badehose mit roten Krebsen unterdrückte ein Grinsen, während er die Flüssigkeit inspizierte, die von ihrem Kopf tropfte, was Sabrina darin bestätigte, dass sie total lächerlich aussehen musste. Welches Recht hatte er, sich über sie lustig zu machen? Er hatte Krebse auf der Badehose! Als er Luft holte, um etwas zu sagen, brach Sabrina ihr tagelanges Schweigen.

»In Deckung!«, rief sie und zeigte auf seinen weißen Plastiktisch, als ein Becher mit Limonade über sie hinwegflog. Im Kreuzfeuer des Essenskampfs verschwand der Mann unter dem Tisch und aus der Schusslinie. Jetzt konnte sie das Gleiche tun.

Sabrina duckte sich und hechtete in Sicherheit, während sie das Schlimmste des süßen Matsches aus ihrem Gesicht aufschlürfte; der Alkohol und der rote Farbstoff brannten in ihren Augen. Die sich bekämpfenden Parteien schrien, weiteres Essen und weitere Plastikbecher schlitterten über den nassen Beton, und schon bald kippten Tische um, als Leute dagegenstießen. Der Mann kauerte unter dem Nachbartisch. Das Plätschern von rauschendem Wasser, das Schreien der Kinder und die von den Wänden widerhallenden Rufe der Eltern verstärkten den Lärm um sie herum.

Von ihrem Platz unter dem Tisch aus konnte sie ihre Schützlinge in dem spritzenden Wasser herumhüpfen sehen, blind gegenüber dem Tumult.

Zwei bullige Männer gingen aufeinander los wie Gladiatoren, wobei ihre behaarten Bäuche gegeneinanderstießen. Füße stolperten an ihrem Tisch vorbei und schoben ihr Smartphone in eine Pfütze. Mit wild klopfendem Herzen fischte sie es aus dem Wasser. Bitte nicht ihr Handy. Sie hatte kein Geld, um sich ein neues zu kaufen. Sie trocknete es, so gut sie konnte, mit einer kleinen, noch trockenen Stelle ihres Badeanzugs ab.

Ein paar zarte Füße blieben neben ihrem Tisch stehen; zu ihnen gehörte ein fröhliches Gesicht, das von kinnlangen hüpfenden Locken eingerahmt wurde. Die Konturen der Frau waren verwischt, als würde sie vor einer Lampe stehen. Bei Geist Molly war es kaum wahrnehmbar. Erst kürzlich verstorbene Geister hatten eine sehr viel deutlichere Weichzeichnung, ein eindeutiges Merkmal, an dem man erkannte, dass sie noch neu im Jenseits waren, und die Sabrina und ihrer Mutter half, sie zu erkennen.

»Was tust du da, Schätzchen?«

»Hey, Molly.« Sabrina war nicht überrascht, sie hier, inmitten dieses Tumults, zu sehen und machte sich auch keine Sorgen um ihre Sicherheit, als ein Tablett mit Nachos durch ihre Zehen hindurchschlitterte – das waren die Vorteile, keinen Körper mehr zu haben. Sie kannte Geist Molly schon ihr Leben lang; sie tauchte oft auf, wenn Sabrina am wenigsten mit ihr rechnete. Sabrina rutschte ein Stück, um ihr Platz zu machen. Bevor sie einmal geblinzelt hatte, war Molly neben ihr unter dem Tisch, die Arme um die Knie geschlungen, in den Augen ein aufgeregtes Funkeln. Sabrina versicherte sich, dass ihr Handy noch funktionierte. So weit, so gut. Sie drückte es an ihre Brust und achtete darauf, nicht an die klebrige Margarita zu kommen.

»Das ist total verrückt. Was ist passiert?«, fragte Molly.

»Stuhldiebe. Es ist schnell eskaliert.« Sabrinas Nase pochte, der Schmerz breitete sich rasend schnell in ihrem Gesicht aus. »Warum können die Leute nicht miteinander reden?«

»Sieh dir diesen süßen Hintern an.« Molly zeigte zwischen den Stühlen und Tischbeinen hindurch auf den kopfschüttelnden Mann in der Badehose mit den Krebsen. »Lass uns zu seinem Tisch hinüberrutschen.«

Sabrina schüttelte den Kopf. Molly schob sie gern zu gut aussehenden Männern hin. Eine Wolke warmer Luft aus dem riesigen Wasserbehälter traf sie und ließ die geschmolzene Margaritaschicht in ihrem Gesicht und auf ihrer Brust antrocknen. Ihre Haut begann zu jucken.

»Wahrscheinlich kann man das alles nachher im Internet sehen«, sagte Sabrina und ignorierte Mollys Bemerkung. Ein Tisch in der Nähe wurde zur Seite gestoßen.

Molly lächelte. »Zeigst du mir die Videos?«

»Ja.«

»Kleiner-Finger-Schwur?« Molly hielt die Hand hoch, den kleinen Finger abgespreizt. Sabrina tat es ihr gleich. Als ihre Finger sich berührten, war es, als würde sie ihren Finger in eine Schneewehe stecken. Molly strahlte. Sie liebte Internetvideos.

Von khakifarbenem Stoff umhüllte Beine und derbe Schuhe gingen an ihrem Tisch vorbei.

»Der Wachdienst ist da«, sagte Sabrina.

Sabrina beugte sich vor, um auf Hände und Knie zu kommen, und etwas von dem Margarita-Slush landete auf ihrem Handgelenk. Igitt. Als sie endlich wieder auf den Füßen stand, stand Molly neben ihr. Sie trug eine taillenhohe türkisfarbene Bikinihose, die in einer geraden Linie über dem Nabel endete, und ein passendes Oberteil mit breiten Trägern, das bis unter den Brustkorb reichte und nur wenige Zentimeter Haut zwischen Ober- und Unterteil freiließ. Sie sah sehr viel schicker aus als Sabrina in ihrem mit Margarita vollgespritzten gelben Badeanzug. Es war eben unendlich viel leichter, schicke Sachen zu tragen, wenn man sie allein durch einen Gedanken herbeizaubern konnte. Molly hüpfte auf den Fußballen herum, während sie den Trubel um sich herum beobachtete. Ein paar Leute brüllten immer noch herum, als das Sicherheitspersonal die sich bekriegenden Familien trennte.

»Ist das aufregend!«, rief Molly. »Oh, da kommt der Süße.« Sie zeigte auf den Mann.

Der dunkelhaarige Mann näherte sich ihrem Tisch mit einem Stapel Handtücher, er schlängelte sich zwischen den übervollen Tischen und den glotzenden Gästen hindurch. Am liebsten wäre sie wieder unter den Tisch gekrochen und hätte sich eine Grube gegraben, um darin zu verschwinden, so peinlich waren ihr das durch den Margarita-Slush ruiniertes Aussehen und ihre sich langsam bildenden Veilchen.

»Er ist echt heiß«, sagte Molly und wackelte mit den Brauen. »Findest du nicht auch?«

Sabrina wollte ihr zustimmen, doch ihr Verstand setzte gerade aus. Er würde sie ansprechen, und sie würde nur zurückstarren können. Um sich abzulenken, fing sie an, Dinge aufzulisten. Er hatte dickes, welliges Haar, das wirr um seinen Kopf hing und oben länger war als an den Seiten, und einen Dreitagebart, der seine Kieferpartie markierte und seine vollen Lippen einrahmte. Auf dem Nasenrücken hatte er kleine rote Flecken, wo in der Regel eine Brille saß. Später, wenn sie sich diesen Moment bis ins kleinste Detail noch einmal vergegenwärtigen würde, würde ihr klar werden, dass er genau ihr Typ war, doch jetzt ignorierte sie das und schob den Gedanken beiseite. Er blieb vor ihr stehen.

»Hier nimmt man es ernst mit den Sitzplätzen«, sagte er lächelnd.

Sabrina blinzelte. Er hatte einen Witz über die idiotische Situation gemacht. Gern hätte sie etwas Geistreiches darauf geantwortet oder zumindest etwas nicht Idiotisches. Doch stattdessen wurde ihr Mund ganz trocken, und sie konzentrierte sich auf den pulsierenden Schmerz in ihrem Kopf, der immer stärker wurde – auf alles, was sie von ihrem rasenden Herzen ablenkte.

Als sie nichts sagte, meinte er leise: »Ich dachte, die könnten Sie brauchen.« Seine Stimme war weich, aber auch etwas heiser, als wäre er am Vorabend zu lange auf einem Konzert gewesen oder als hätte er den Tag in der chemiebelasteten Luft des Aquaparks verbracht. Blaue Augen musterten ihre schlampige Erscheinung und hielten bei ihrer Nase inne – dort, wo ihr Elend am schlimmsten war. Sie riss die Augen von dem nassen Betonboden los und blickte über sein rechtes Ohr hinweg, was gerade noch den Eindruck erwecken konnte, dass sie ihm in die Augen sah.

»Danke.« Na bitte, das war doch eine völlig normale Antwort. Sabrina griff nach dem obersten Handtuch und legte es sich um die Schultern, damit nicht noch mehr von dem Margarita-Slush an ihrem Badeanzug herunterlief. Molly stand hinter ihm und signalisierte ihr, dass sie lächeln sollte, indem sie auf ihr eigenes Grinsen zeigte. Klar, wie eine Idiotin zu lächeln, war genau das, was die Situation erforderte.

Sabrina ignorierte sie und griff nach einem zweiten Handtuch, um sich das Gesicht abzuwischen. Ihn nicht zu sehen, gab ihr Zeit, einmal tief durchzuatmen – durch die Nase ein und durch den Mund aus.

»Geht es Ihnen gut? Ich habe gesehen, wie diese riesige Margarita in Ihrem Gesicht gelandet ist«, sagte er. »Ich kann nicht glauben, dass sie so weit geflogen ist. Ich denke, wir haben es mit einem neuen olympischen Rekord zu tun.« Noch ein Witz, den sie ignorierte. Geplänkel lag ihr nicht, bei ihr klang es immer irgendwie peinlich. Selbst durch das Frottee ließ seine Aufmerksamkeit ihr Gesicht glühen, was es durch die schwüle Hitze des Aquaparks ohnehin schon tat.

»Nicht so ganz.« Sabrina tupfte mit dem Handtuch vorsichtig um ihre Nase herum. Es tat weh, die Haut zu berühren. Sie hoffte, eine mögliche Verletzung kaschieren zu können, denn auf der Arbeit dürfte sie schwer zu erklären sein – zusätzlich zu der durch das Getränkepulver fleckigen Haut. Es würde Ewigkeiten dauern, das alles abzuschrubben. Es gab bloß eine Möglichkeit, mit dieser Situation hier umzugehen. Sie holte tief Luft, um etwas zu sagen. Darüber nachzudenken, machte es nur noch schlimmer. Sie platzte mit dem Erstbesten heraus, das ihr einfiel. »Rot ist meine Farbe.«

Er lachte über ihren Witz.

Er lachte. Über ihren Witz.

Aber lachte er, weil das, was sie gesagt hatte, komisch war? Oder weil sie komisch aussah? Oder weil sie so ungeschickt war, dass es schon komisch war? Egal, es war ein herzliches Lachen, das tief aus seinem Bauch kam, wo jedes echte Lachen herkam. Es war kein gemeines Lachen. So viel erkannte sie.

Molly zeigte Sabrina zwei hochgereckte Daumen. Sabrina musste sich Mühe geben, um ihr nicht mit einem finsteren Blick zu antworten. Es war einfach zu lange her, dass sie einen Geist hatte ignorieren müssen, während sie mit jemandem sprach, der nicht zu ihrer Familie gehörte.

»Ich bin Ray.« Seine Lippen bogen sich in den Mundwinkeln nach oben, und auch wenn er lächelte, waren sie voll. Doch sie wollte nicht an seine Lippen denken. Sie wollte, dass er ging. Sie senkte den Kopf, und er sprach weiter. »Wollen Sie sich das abduschen?«

Mist. Er ging nicht. Sabrina versuchte, ihre Muskeln zu entspannen, aber sie blieben weiterhin starr und steif, einer möglichen Gefahr gegenüber wachsam. Im höchsten Fluchtmodus.

»Ich sammle die Kinder ein und gehe.« Sie zeigte zu dem riesigen Behälter hin, aus dem sich gerade das Wasser ergoss, und der Luftzug wehte eine lose Haarsträhne in die klebrigen Rückstände auf ihrer Nase. Sie wollte etwas Geistreiches sagen, ihn vielleicht noch einmal lachen hören, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie war hin- und hergerissen, ob sie sich auf ihr Gefühl verlassen oder auf ihren Verstand hören sollte, und fühlte sich völlig erschöpft.

»Haben Sie Kinder?«, fragte Ray und suchte den Spielbereich ab. Gut, jetzt sah er sie wenigstens nicht mehr an.

»Nein«, sagte Sabrina.

Daraufhin bildete Molly hinter Rays Rücken mit den Unterarmen ein X, um ihr zu bedeuten, dass sie es nicht gut fand, wenn Ray dachte, dass sie Kinder hatte. Molly machte sich gern über unwichtige Dinge Gedanken. Sie sah Molly schnell mit gerunzelter Stirn an, während Ray immer noch zu dem Planschbereich hinübersah.

»Die Kinder gehören meinen Brüdern«, fuhr Sabrina fort. »Ich bin die coole Tante.«

Na bitte, das war schon besser. Sie konnte normal interagieren, selbst wenn sie voller Margarita war.

»Darauf möchte ich wetten.« Ray streckte die Hand aus, um ihr die Strähne aus dem Gesicht zu streichen. Sabrina zuckte zusammen, allein diese leichte Berührung tat weh. »Das wird nicht schön aussehen morgen. Sie sollten Eis darauflegen. Ich hole Ihnen welches.«

Bevor sie ihn davon abhalten konnte, war er auf dem Weg zur Bar.

Sabrina drehte sich zu Molly um. »Hör auf damit. Ich versuche, mich zu unterhalten, und du störst.«

»Ich helfe dir.«

»Du denkst, dass du mir hilfst, aber das tust du nicht. Er kann dich zwar nicht sehen, doch er sieht meine Reaktionen. Sei einfach still.«

Wenn Sabrina sich beeilte, konnte sie weg sein, ehe er zurückkam, und diese unangenehme Begegnung beenden. Ray schien ein netter Typ zu sein, warum sollte sie sich allerdings die Mühe machen, über die anfänglichen Peinlichkeiten hinwegzukommen, wenn sie in ein paar Monaten sowieso nicht mehr hier war?

2

Als Ray zu der derangierten Frau zurückkam, bewegten sich ihre Lippen, als führte sie Selbstgespräche. Selbst mit ihren roten Flecken hatte sie auf charmante Weise etwas Ehrliches an sich. Womöglich wusste sie nicht, wer seine Familie war, oder es war ihr egal. Mit ihren knappen Antworten und dem Vermeiden jeglichen Blickkontakts wollte sie wohl erreichen, dass er ging. Im umgekehrten Fall hätte er das genauso gewollt, doch er würde sie auf keinen Fall alleinlassen, ohne ihr geholfen zu haben, so gut er konnte, selbst wenn das bedeutete, mit einem Handtuch voller schnell schmelzender Eiswürfel eine Hindernisstrecke über von Urlaubern hinterlassenen Müll abzulaufen. Er hatte gesehen, wie sie vor dem Essenskampf die Handtücher aus der Wasserpfütze rettete, und wusste, dass sie für ihn das Gleiche getan hätte.

»Bitte sehr.« Er hielt ihr das Eis hin wie ein Friedensangebot.

»Danke, Ray.« Die Worte klangen gedämpft durch ihre anschwellende Nase. Sie griff von oben nach dem Eis und vermied den Kontakt mit seinen Händen. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Sabrina.« Sie zog die Brauen zusammen, als wäre sie plötzlich traurig.

»Schön, Sie kennenzulernen, Sabrina.« Er legte seinen ganzen Charme in sein freundlichstes Lächeln, das Lächeln, das ihn auf der Warteliste eines Restaurants nach oben katapultierte oder ihm Zugang zu einer Immobilie verschaffte, bevor sie überhaupt auf dem Markt war.

Das Eis klirrte, als sie es auf ihre Nase legte, und verdeckte den größten Teil ihres Gesichts. Es erschwerte ihm, zu raten, was sie dachte, vor allem, da sie jeglichen Blickkontakt vermied.

»Finde ich auch.« Sie schloss die Augen, nachdem sie das gesagt hatte.

Finde ich auch? Ray presste die Lippen aufeinander, um nicht zu lächeln. Alles klar. Er machte sie nervös. Damit konnte er umgehen. Menschen die Befangenheit zu nehmen, sie sich entspannt genug fühlen zu lassen, dass sie ihm vertrauten, lag ihm im Blut.

»Ich bin letzten Herbst von New York hierhergezogen«, sagte Ray, ohne auf Sabrinas einsilbige Antworten zu reagieren. »Bisher hatte ich kaum Gelegenheit, außerhalb der Arbeit Leute kennenzulernen.«

Sabrina blinzelte ihn hinter dem Eis an.

Als sie nichts sagte, fuhr er fort. »Vielleicht würden Sie ja gern mal mit mir essen gehen?« Ray senkte den Kopf, dann sah er sie mit einem Guck mal, wie harmlos ich bin!-Strahlen in den Augen an.

Bernsteinfarbene Augen blickten zurück. Blickten sie überrascht? Geschockt? Entsetzt? Er bedauerte, ihr das Eis geholt zu haben, weil es so viel von ihrem äußerst ausdrucksvollen Gesicht verdeckte.

»Ich … arbeite viel«, sagte Sabrina.

Die Augen änderten die Blickrichtung und schienen für den Bruchteil einer Sekunde jemanden böse anzuschauen, der hinter ihm stand. Er sah sich um, aber da war niemand.

»Oh.« Er zögerte, denn ihre unerwartete Antwort hatte ihn aus dem Konzept gebracht. »Verstehe. Wie wäre es dann mit einem Drink? Ich arbeite im Otter Club. Wussten Sie, dass in Wisconsin vierzig Prozent des hergestellten Brandys konsumiert werden? Kommen Sie doch einmal vorbei, dann mache ich Ihnen den besten Brandy Old Fashioned, den Sie je getrunken haben.«

Warum musste er so etwas Dummes von sich geben? Jetzt wurde er auch nervös. Das wurde er sonst nie. Sie interessierte sich nicht für irgendwelche Fakten über Wisconsin. Mit zitternden Händen nahm sie das Eis von ihrem Gesicht. Die Haut verfärbte sich langsam violett. Morgen früh würde sie zwei riesige Veilchen haben. Es musste wehtun. Er hatte oft genug eins auf die Nase bekommen, um zu wissen, wie sich das anfühlte.

Sie wechselte die Hand, mit der sie das Eis hielt, und fingerte an ihrem Smartphone herum, wobei sie einen Blick auf ihre Schützlinge warf. Ihre distanzierte Art signalisierte ihm, dass sie am liebsten so schnell wie möglich flüchten wollte. Im Geiste ging er gerade seine Liste mit interessanten Small-Talk-Fragen durch, als sie endlich etwas sagte.

»Ich habe kein Interesse an einem Old Fashioned. Mein letzter Old Fashioned hat mich für einen alkoholfreien Cocktail verlassen.«

Sobald sie den Satz ausgesprochen hatte, schloss sie die Augen und schüttelte den Kopf, ein klares Indiz, dass sie mehr gesagt hatte als beabsichtigt. Das war zumindest etwas.

»Reden wir immer noch über Drinks?«, fragte Ray.

»Ich ziehe im Herbst weg.« Ihre Hand schloss sich fester um das Handy. Ihr Daumen tanzte über das Display, aber sie sah nicht hin. »Drinks sind nicht eingeplant.«

Er hatte es begriffen. Sie war nicht interessiert.

»Was machen Sie?«

»Ich bin Journalistin. Und wechsle gerade den Job.«

Bei dem ganzen Lärm um sie herum verstand er sie kaum.

Sabrina sah auf die Tische. »Ich muss jetzt los.«

Sie legte ihr Handy hin und faltete ein buntes Handtuch zusammen, ehe sie es in eine große Tasche steckte und das Gleiche mit einem zweiten tat. In der Hoffnung, noch ein oder zwei Minuten zu gewinnen, reichte er ihr einen Stapel Kleidungsstücke, an die sie nicht herankam. Sie nahm ihm die Sachen ab und stopfte sie in die Tasche.

»Was hat Sie nach Flyover Country verschlagen?«, fragte sie. Die Worte purzelten aus ihr heraus.

»Mein Onkel, eigentlich ist er mein Urgroßonkel. Er ist vor ein paar Monaten krank geworden, und ich bin hergezogen, um ihm zu helfen.« Das war nicht alles, aber auch er konnte seine Geheimnisse für sich behalten. Er holte tief Luft und sah sich um, während er seine Gedanken sortierte. »Und dann habe ich mich verliebt. In die Gegend, meine ich. Den Fluss. Ich weiß nicht genau, was es ist.«

Zumindest strahlten ihre Augen nun, und sie nickte. »Das verstehe ich gut. Der Fluss fängt deine Seele ein und lässt dich nicht mehr los.«

Ray hätte es nicht besser ausdrücken können. »Genau.«

Der Wisconsin River wand sich durch die Stadt, sodass man nie weit von seinen eindrucksvollen Ufern mit den engen Sandsteinwegen und den hohen Kiefern der Upper Dells entfernt war, dem Damm im Stadtzentrum, wo er kraftvoll toste, oder seinem mäandernden Lauf in den Lower Dells, wo der Otter Club über das Wasser blickte.

Sie legte das Eis auf den Tisch und griff nach einem frischen Handtuch. »Ihn vermisse ich am meisten, wenn ich nicht hier bin«, sagte Sabrina.

Daran ließ sich anknüpfen. »Ja, das hat mich auch für den Otter Club begeistert.«

Sie sah ihn verwirrt an.

»Den Otter Club, meine ich«, erklärte er. »Früher hieß er River Lodge, ich habe ihn umbenannt, als ich ihn übernommen habe.«

Sie nickte, um ihm zu zeigen, dass sie ihm folgen konnte. Sie musste hier aufgewachsen sein, wenn sie den alten Namen kannte.

»Ich blicke jetzt jeden Tag auf den Wisconsin River«, fuhr er fort. »Ich würde den Club auch umsonst führen. Na ja, fast. Schließlich brauche ich ja etwas zu essen.«

Obwohl er während seiner jahrelangen Tätigkeit in der Immobilienbranche genug gespart hatte; er war hier, um einen Neuanfang zu machen, das Leben zu leben, das er leben wollte, zum Teufel mit den Wünschen seiner Eltern. Onkel Harry hatte ihm sogar geholfen, den Otter Club zu kaufen, und als stiller Teilhaber investiert, sodass ihm genug Mittel geblieben waren, die Modernisierungen vorzunehmen, die der Supper Club brauchte.

Sabrina frottierte sich mit dem sauberen Handtuch die Haare und wischte sich den Margarita-Slush ab, der noch nicht angetrocknet war. Dann winkte sie ihren Schützlingen. Seine Zeit war so gut wie abgelaufen.

»Wir müssen los«, sagte Sabrina. Sie griff nach einer Plastikbox mit Cookies, die auf dem Tisch stand, und drückte sie ihm an die Brust. »Danke für Ihre Hilfe. Die sind selbst gebacken.«

Ray nickte und fasste es als sein Stichwort auf, an seinen Tisch zurückzugehen, als die Kinder sich zu ihr gesellten. Mit zitternden Händen stopfte sie den Rest ihrer Sachen in die Tasche, hüllte jedes Kind in ein trockenes Handtuch ein und führte sie hintereinander hinaus. Neue Gäste schnappten sich ihren Tisch, noch bevor sie sich auch nur zehn Schritte entfernt hatte, aber er sah ihr immer noch hinterher.

»Ich kenne diesen Blick.« Seine Schwester war eingetroffen. Lucy stellte ihren Gin Tonic auf ihren Tisch und drapierte ein flauschiges Strandtuch sorgfältig über einem Stuhl. Unter einem teuren schwarzen Strandkleid trug sie einen ebenso teuren Bikini. Er machte die Box auf, in der mehrere Reihen dünner, runder Cookies mit regenbogenfarbenen Sprenkeln lagen.

»Und was für ein Blick ist das?«

»Es ist der gleiche Blick, mit dem du eine Immobilie ansiehst, die du haben musst.«

Ray musste lächeln. Es fühlte sich auch genau so an.

Lucy redete weiter. »Vergiss nicht, dass eine Liebesgeschichte viel mehr ist als eine Immobilie.«

»Ja, Lucy, ich weiß, dass Frauen keine Immobilien sind.«

Er wählte einen Cookie und biss hinein. Der butterige knusprige Keks zerging ihm auf der Zunge – er war nicht übermäßig süß und hatte ein angenehmes Vanillearoma. Ein verdammt guter Cookie.

»Du weißt, was ich meine. Obsessive Recherche, endlose Telefonate und häufiges Vorbeifahren werden hier nicht funktionieren. Das bringt dir nur eine einstweilige Verfügung ein.«

Er griff nach einem zweiten Cookie, dann hielt er Lucy die Box hin. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, wie man einer Frau den Hof macht.«

»Das sah aber nicht so aus. Ich erwarte ja nicht, dass dir gleich alle verfallen, was ich da allerdings gesehen habe, war peinlich für unsere ganze Familie. Ich gebe dir gern ein paar Tipps.«

»Ich bin gut.«

Seit über einem Jahr hatte Ray keine Verabredung mehr gehabt – nicht seit dem Ende seiner letzten katastrophalen Beziehung. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich um Onkel Harry zu kümmern und den Otter Club aufzubauen. Doch jetzt, wo der Supper Club gut lief, hatte er Zeit, an andere Bereiche seines Lebens zu denken. Das Zusammentreffen mit Sabrina hatte ihn daran erinnert, dass er auch noch aus einem anderen Grund hier war. Onkel Harry hatte von den Menschen in den Dells immer gesprochen, als wären sie liebe Freunde, Menschen, die zur Stelle waren, wenn man sie brauchte, Menschen, die aufeinander achteten. Freunde und Nachbarn.

Er aß noch einen Cookie.

Es war an der Zeit, die Nachbarschaftsbeziehungen zu pflegen.

3

Sabrina stopfte ihre Tasche in den Kofferraum ihres Autos, während Arabella, die Älteste des Trios, ihr half, die Kleineren anzuschnallen. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, ihre Flipflops anzuziehen, und der warme Asphalt wurde schnell so heiß, dass er Blasen warf. Doch sobald sie zu Hause waren, würde sie duschen.

Als Sabrina sich angeschnallt hatte, saß Molly bereits auf dem Beifahrersitz. Sie trug eine frische weiße Baumwollbluse mit einer hochtaillierten marineblauen Nadelstreifenhose und hatte das Haar in einen eleganten, farblich passenden Turban gepackt. Sabrina sehnte sich nur noch mehr nach der Dusche.

Es war einfach zu viel gewesen: die Margarita, der attraktive Mann in der Badehose mit den Krebsen und Molly, die ihr Worte der Ermutigung zugerufen hatte, während sie hinter ihm stand. Auf einer Skala von eins bis zehn bewegte sich ihre Angst um eine volle Acht herum.

Tief durchatmen.

Sie musste sie alle nach Hause bringen.

»Was für eine zauberhafte erste Begegnung!«, sagte Molly. »Hollywood könnte keine bessere einfallen. Eine Jungfrau in Nöten und ein edler Ritter mit flauschigen Handtüchern. Nimm die Einladung zu dem Drink an.«

»Ich werde mit niemandem etwas trinken. Das steht nicht zur Diskussion.«

»Mit wem sprichst du, Tante Sabrina?«, fragte Arabella von der Mitte des Rücksitzes aus. Sie war als Einzige alt genug, um einen normalen Sitzgurt ohne Kindersitz zu benutzen, und die Anführerin der kleinen Gang, eine geborene Diktatorin und zukünftige Prinzessin. Sie hielt die anderen beiden Kids auf Trab und sorgte für so viel Spaß, dass ihrer Cousine und ihrem Cousin gar nicht auffiel, dass sie die Regeln vorgab. Jetzt saßen sie zu ihren beiden Seiten, Lilly in ihrem kleinen Kindersitz und Oscar in seinem riesigen Autositz.

»Mit Molly.« Sabrina fuhr vom Parkplatz des Aquaparks und fädelte sich in den Verkehr ein.

Die drei wurden munter. Sie liebten alles, was mit dem Familiengeheimnis zu tun hatte. Das war ihr auch einmal so gegangen.

»Grüß sie von uns«, sagte Arabella.

Die anderen beiden nickten zustimmend.

Molly sah über ihre Schulter und winkte.

»Sie winkt euch zu.«

»Ich werde sie als Erste sehen, nicht wahr, Tante Sabrina?«, fragte Arabella.

Sabrina kratzte sich am Arm, der von dem trocknenden Chlor juckte. »Wahrscheinlich, aber Lilly und du seid nicht weit auseinander, sie könnte dich also überholen.« Ganz zu schweigen davon, dass niemand in der Familie wusste, ob ihr Bruder oder ihr Schwager Brendan der biologische Vater von Arabella war, und wenn Letzteres der Fall war, würde sie Molly nie sehen. Bei der künstlichen Befruchtung hatten sie sich darauf geeinigt, nie herausfinden zu wollen, wessen Spermien das Rennen gemacht hatten – obwohl Arabellas bernsteinfarbene Augen den ihren ein kleines bisschen zu ähnlich sahen und dafürsprachen, dass sie verwandt waren.

»Es passiert in der Puuu-bertät«, sagte Lilly, wobei sie die erste Silbe betonte.

Arabella nickte.

»Und wann sehe ich sie?«, fragte Oscar und schielte zu dem leeren Sitz neben Sabrina hin, wobei er zu sehen versuchte, was er nie sehen würde.

»Du, mein Schatz, wirst sie nie sehen. Nur Mädchen können Geister sehen«, antwortete Sabrina.

Oscar machte ein finsteres Gesicht. »Ich will ein Mädchen sein.«

Sabrina lachte, und Molly kicherte.

»Die Zeiten haben sich geändert. Zu meiner Zeit hätte das kein Junge gesagt.«

»Gib ihm noch ein paar Jahre. Es ist immer noch eine Männerwelt, daran hat sich nichts geändert.«

Molly schob eine Locke in ihren Turban. An manchen Tagen wippten sie um ihre Ohrläppchen, an anderen wanden sie sich ihren Rücken hinunter wie Reben, aber sie sahen immer perfekt aus. Molly mochte zwar tot sein, doch sie legte Wert auf gutes Aussehen.

»Arabella sagt, dass ich bloß dann Geister sehen werde, wenn wir Oma und Opa besuchen«, sagte Lilly.

»Das ist richtig«, antwortete Sabrina.

»Gibt es in Minnesota keine Geister?«

»Doch, aber denen hilft eine andere Familie. Unsere Familie hilft den Geistern vor Ort bei ihren unerledigten Aufgaben. An anderen Orten helfen andere Familien. Das ist schon immer so gewesen.«

»Wo gehen sie hin, wenn du sie nicht sehen kannst? Schlafen sie?«, fragte Arabella.

Sabrina lächelte und nahm sich einen Moment, um sich ihre Antwort zu überlegen. Seit sie den Aquapark verlassen hatten, hatte sie sich ganz darauf konzentriert, was als Nächstes zu tun war, einen Schritt nach dem anderen gemacht. Die Kinder einsammeln, sie in Handtücher hüllen, zum Auto gehen, nichts fallen lassen, fahren. Sie wollte sich nicht damit auseinandersetzen, was passiert war, damit die Demütigung sie nicht in eine Negativspirale zog. Sie klopfte auf die Rückseite ihres Handys, konnte es kaum erwarten, in die Neuigkeiten und Probleme der anderen abzutauchen, doch das musste warten.

»Korrigier mich, wenn ich unrecht habe, Molly«, sagte Sabrina. »Es kostet Energie, sichtbar zu sein, deshalb verschwindet Molly, wenn sie sich ausruhen möchte, aber sie ist immer noch da. Molly kann innerhalb eines bestimmten Radius überall hingehen.«

»Kann sie mich in der Badewanne sehen?«, fragte Oscar.

»So etwas würde sie nie tun«, sagte Sabrina.

»Das kommt auf den Kerl an. Diesem Ray könnte ich schon einen Besuch abstatten«, meinte Molly und blinzelte ihr zu.

»Warum lebst du nicht hier, Tante Sabrina?«, frage Lilly.

Sabrina benetzte die Lippen – sie schmeckten nach billigem Tequila. »Weil Oma so gute Arbeit leistet und du ihr bald helfen kannst.«

Sabrina warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie Arabella zum Vordersitz hinschielte und mit Macht zu sehen versuchte, wozu ihre Augen noch nicht bereit waren. Sie wollte so unbedingt erwachsen werden, doch Sabrina hätte ihr am liebsten gesagt, dass das nicht nur abenteuerlich und aufregend war. Kinder waren gemein. Sie würde allerdings anders sein. Obwohl Arabella im Gegensatz zu Sabrina dabei aufblühte, sich von der Meute abzuheben. Sie hoffte, dass das so blieb.

Es war Zeit, das Thema zu wechseln.

»Arabella, wie willst du deinen Geburtstag feiern?«

»Planst du ihn für mich?«

Sabrina nickte.

»Dann weiß ich, dass er schön wird. Väter sind nicht so gut darin, Mädchengeburtstage zu planen.«

»Das wissen sie auch. Deshalb haben sie mich ja gefragt. Also, was brauchen wir unbedingt?«

Arabella runzelte die Stirn und dachte gründlich nach, während Lilly und Oscar mit einigen Ideen kamen.

»Dinosaurier«, meinte Oscar.

»Hundebabys«, fügte Lilly hinzu.

»Die Oktonauten!«

»Die Eiskönigin.«

»Es ist Arabellas Geburtstag, sie darf entscheiden. Wenn ihr Geburtstag habt, könnt ihr das alles gern haben«, sagte Sabrina.

»Ich möchte eine Glamping-Party.«

Sabrina schnaubte. »Glamping? Weißt du überhaupt, was Glamping ist?«

»Schickes Campen mit vielen Kissen und schönen Zelten.«

»Ja, so etwas in der Art.«

»Und ein Feuerwerk.«

»Glamping und Feuerwerk. Verstanden.«

Sabrina bog um die Ecke zum Haus ihrer Eltern, einem großen, alten Haus, bloß wenige Blocks von der Stadtmitte von Wisconsin Dells entfernt, wo billige T-Shirt-Shops, Süßwarengeschäfte, Restaurants, Souvenirläden und Bars sowie unvermutete Jahrmarktattraktionen wie das Wizard Quest und die Möglichkeit zum Axtwerfen die Straße säumten. Ideen für die Geburtstagsfeier kamen ihr in den Sinn, fertig, um auf Papier festgehalten und in die Tat umgesetzt zu werden. Sie hoffte, dass Cal und Brendan dazu bereit waren.

Das Haus ihrer Eltern hatte – genau wie Molly – die Jahrhundertmarke bereits überschritten. Die Häuser an der mit großen Eichen und Ahornbäumen gesäumten Straße waren so unterschiedlich, wie sie nur sein konnten: Von maroden Kolonialbauten über prachtvolle Villen, die man in B&Bs umgewandelt hatte, bis hin zu neuen Häusern, wo die alten abgerissen worden waren, gab es alles.

Sabrina parkte in der Einfahrt. Mrs. Randolphs Kater saß auf dem warmen Asphalt vor ihrer Garage; er hatte den einzigen Sonnenstrahl erwischt, der durch die hochgewachsenen Bäume des Hofs drang. Er musste wieder durch das Loch in der Fliegengittertür entwischt sein und seinen Kopf als Rammbock benutzt haben. Sie griff über Molly hinweg zum Handschuhfach und holte eine Rolle Klebeband heraus, die sie wie ein Armband um ihren Arm zog. Die Kinder auf dem Rücksitz hatten sich selbst abgeschnallt und flitzten zum Haus, um zu erzählen, wie Sabrina zu ihren beiden Veilchen gekommen war.

Sabrina stieg aus dem Auto, und der Kater rollte sich auf die Seite, als sie näher kam. Sie bückte sich, und das Blut schoss ihr in den Kopf, während ein pochender Schmerz in ihre Nase fuhr. Sie kraulte dem Kater kurz den Bauch und hob ihn hoch, er fühlte sich auf ihrem Arm wie ein schlaffer Sandsack an. Mrs. Randolph mochte es nicht, wenn er in dem regen Verkehr draußen war, doch er vertrat standhaft die Meinung, dass die Sonnenstrahlen in der Einfahrt von sehr viel höherer Qualität waren. Sabrina hatte ihn diese Woche schon zweimal wieder nach drinnen verfrachtet.

»Komm, Mr. Bennett, Zeit, nach Hause zu gehen.«

Molly folgte ihr. Sie war innerhalb eines Augenblinzelns aus dem Wagen gestiegen und an Sabrinas Seite.

»Du kannst sie nicht ewig ignorieren. Diese Seelen brauchen dich«, sagte Molly und würdigte den Kater keines Blicks. Mr. Bennett mochte sie nicht sonderlich, weshalb Molly lieber so tat, als würde er nicht existieren, als sich vor den Kopf gestoßen zu fühlen, wenn er sie anfauchte. Sie hatten einen Waffenstillstand des gegenseitigen Ignorierens geschlossen.

»Die anderen Geister haben meine Mutter, und die Mädchen sind auch bald alt genug. Sie können es kaum erwarten, ins Familiengeschäft einzusteigen.«

Sabrina versuchte, den Kater durch das Loch in dem Fliegengitter zurückzuschieben, was Mr. Bennett ganz und gar nicht gefiel. Er sträubte sich, bis Sabrina es schließlich aufgab. Sie machte die Tür auf, setzte ihn auf den Boden und schloss sie, bevor er wieder entkommen konnte. Mit dem Klebeband klebte sie die Öffnung zu. Nach einem missglückten Versuch, noch einmal durch das Loch zu schlüpfen, saß Mr. Bennett auf der anderen Seite der Tür, wo er miauend sein Missfallen zum Ausdruck brachte. Das Klebeband würde nicht lange halten. Sie musste das Fliegengitter reparieren.

»Du hilfst Mrs. Randolph, aber anderen Geistern kannst du nicht helfen, ihre unerledigten Dinge zu Ende zu führen?«

»Du weißt, warum.«

»Inzwischen kannst du dich doch behaupten. Du kannst mit nervigen Geistern umgehen, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt. Und Ray ist kein Mistkerl. Er scheint mir nicht der Typ zu sein, der etwas dagegen hat, wenn gelegentlich ein Geist auftaucht.«

»Wir werden nicht diskutieren, wogegen Ray etwas hat und wogegen nicht. Ich werde mich nicht mit ihm treffen.«

Sabrina wollte nicht an Ray denken. Alles, was sie wollte, war duschen.

»Mir gefällt der Name Ray.« Mollys Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an.

»Sabrina?« Eine herrische Stimme unterbrach ihre Fantasien von heißem Wasser und Schaumbergen. Hinter ihr stand eine kleine, runzlige Frau. Ihr graues Haar war von dunkelbraunen Strähnen durchzogen und zu einem festen Knoten gebunden. Sie trug ein teures Chanel-Kostüm, und ein diesiger Schein verwischte ihre Konturen, als hätte jemand mit einem Radiergummi um sie herum radiert.

Instinktiv machte Sabrina einen Schritt zurück, wobei sie in einen scharfen Stein trat. »Verdammt.«

»Achte auf deine Wortwahl, junge Dame.« Die Frau streckte sich. Jetzt erkannte Sabrina sie.

»Madam Hendricks?« Sie war die Großmutter einer früheren Klassenkameradin und hatte immer darauf bestanden, mit Madam und nicht mit Mrs. angeredet zu werden.

Sabrina seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und das ausgerechnet jetzt?«

»Dann stimmt es also«, sagte Madam Hendricks, während sie Sabrina mit neuem Interesse betrachtete. Dann streckte sie die Arme vor sich aus und inspizierte sie im Tageslicht, wobei ihre Fingerspitzen in Sabrinas Ellenbogen verschwanden.

Sabrina zitterte bei der eisigen Berührung.

Mist. Hiermit wollte sie nichts zu tun haben. Sie trat aus ihrer Reichweite.

Nachdem das Problem mit dem Kater erst einmal gelöst war, warf Sabrina die Rolle mit Klebeband durch das offene Autofenster, holte ihre Taschen aus dem Kofferraum und sagte: »Ja. Sie sind tot. Kommen Sie mit.« Danach trat sie in ihr Elternhaus, während Molly und Madam ihr folgten.

4

Rays Urteil in Immobilienfragen war absolut fachmännisch; er konnte sofort sagen, ob ihm ein Objekt gefiel, und seine Meinung auch begründen. So war es auch mit dem Otter Club gewesen, als er vom College aus das erste Mal hier war. Er hatte auf Anhieb gewusst, wie er ihn verbessern könnte, was repariert werden und was genau so bleiben musste, wie es war. Er fuhr mit der Hand über die lasierten Holzstämme des Verandageländers und überprüfte sie geistesabwesend auf raue Stellen, an denen ein Gast sich einen Splitter holen könnte, doch vor allem genoss er die Stille. Nach dem Krach im Aquapark war ihm die Ruhe willkommen, die er nur noch ein paar Stunden würde genießen können, nämlich bis das Restaurant öffnete.

Er holte tief Luft. Ruhe und Frieden erfüllten ihn, die Luft trug den reichen Duft dunkler Erde und sprießender Vegetation in sich. Das von stattlichen Kiefern und vereinzelten Birken und Pappeln umgebene Restaurant bot Abendessen und einen großartigen Blick auf den Wisconsin River, bis er hinter einer Biegung verschwand, die der Fluss sich über Tausende von Jahren gegraben hatte. Er war hier breit und floss langsam genug, dass die Leute ihn manchmal für einen kleinen See oder einen großen Teich hielten, bis eins der Ducks – der historischen Amphibienfahrzeuge – vorbeituckerte.

Letzten Oktober war er hier gewesen, am letzten Wochenende vor der Winterpause des Supper Club. Der Parkplatz war vor Touristen und Einheimischen nur so übergequollen, die alle noch ein letztes Mal hier hatten essen wollen, bevor der Besitzer in den Ruhestand ging und nach Alabama zog. Damals hatte er nicht genau gewusst, was einen Supper Club von einem gewöhnlichen Restaurant unterschied. Es war schwer fassbar und genau wie die Sonne über dem Mount Everest oder das Schnorcheln neben einem Walhai am besten zu verstehen, wenn man es selbst erlebte – alle Sinne waren gefragt, um es zu beschreiben, und jede Beschreibung blieb hinter dem realen Erleben zurück. Supper Clubs waren so. Man brauchte Zeit für sie. Zeit, um einen Cocktail oder auch mehrere vor dem Essen zu trinken, während man vor der Geräuschkulisse aus klirrendem Besteck und den Unterhaltungen der anderen Gäste von dem Teller mit Antipasti naschte, einer Auswahl an rohem Gemüse, Pickles, Oliven, Streichkäsen und Kräckern. Gefolgt von gegrillten Steaks mit Kräuterbutter als Hauptgang, die auf glühend heißen Metalltellern serviert wurden, und als Beilage dazu kross gebratene Kartoffeln. Um sich dann für den Digestif an die Bar zu begeben und den Abend mit einer süßen Note ausklingen zu lassen. Es war mehr als ein Essen, es war ein Ausgeh-Abend. Seitdem er den Otter Club im Herbst übernommen hatte, hatte er sich mehrere Supper Clubs im Staat angesehen, die alle ihren eigenen Charakter hatten. Einige waren im Retrostil eingerichtet (vielleicht sogar mit Originalteilen), andere hatten den alten Klassikern Modernes hinzugefügt, und wieder andere blickten auf eine lange Geschichte zurück, hatten Speisekarten mit interessanten Geschichten und Familienfotos an den Wänden, während noch andere mit ihrem dunklen, höhlenartigen Ambiente an ihre Wurzeln aus der Zeit der Prohibition erinnerten. Für den Otter Club hatte er ein natürliches Ambiente gewählt, das zu der Umgebung passte.

Nach einem unvergesslichen Abendessen aus Hochrippe und Jakobsmuscheln hatte er an genau dieser Stelle auf der Veranda gestanden, die um das ganze Restaurant lief, und an einem Manhattan genippt – er hatte damals noch nicht gewusst, wie göttlich ein gut gemixter Brandy Old Fashioned sein konnte. Während er seinen Drink genoss, hatte die Dämmerung die herbstliche Landschaft in Violett- und Blautöne getaucht, die Vögel waren verstummt, und er hatte das sanfte Plätschern des Flusses gegen die Ufer gehört, eines Otters, der ins Wasser platschte, und eine Eule, die einen Gruß in den Abend rief. Ein Gefühl der Ruhe hatte sich ganz tief in seiner Seele ausgebreitet; jedes Rascheln besänftigte und beruhigte seine rasenden Gedanken. Er war zufrieden. Er wollte die Eulen an ihren Schreien erkennen, die Eichhörnchen an ihren buschigen Schwänzen und die Bäume an ihren Silhouetten. Wie würde es hier aussehen, wenn alles von weißen Schneewehen umgeben war oder wenn während der Frühjahrsschmelze Eisbrocken vorbeitrieben? Wie würde es hier klingen, wenn das Frühjahr mit seinem frischen, feuchten Wachstum kam oder der Spätsommer mit der für ihn typischen trockenen Luft?

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er frei atmen können, und dass nicht nur, weil die Luft mit einer belebenden Leichtigkeit durch seine Lungen strömte, sondern weil er gefunden hatte, wovon er nicht wusste, dass er es brauchte. Einen Ort, der zu ihm passte.

Er dachte wieder an die heutigen Ereignisse. Sabrina hatte seine Aufmerksamkeit erregt, als sie die Handtücher aufgehoben hatte, die nicht einmal ihr gehörten. Traurig, dass einfache Freundlichkeiten so selten geworden waren, dass sie auffielen. Sie hatte ängstlich und ein wenig unsicher gewirkt, und es hatte ihn immens gefreut, als sie einen witzigen Kommentar gemacht und ihm einen kleinen Einblick in eine andere Seite von ihr gewährt hatte. Er hoffte, dass er sie wiedersah.

»Hast du etwas von Dad gehört?« Lucy trat zu ihm auf die Veranda. In ihrem schmalen schwarzen Rock, der frischen weißen Bluse und den eleganten hochhackigen Schuhen, von denen er wusste, dass sie mehr kosteten als ein einwöchiger Urlaub in einem der hiesigen Ferienorte, sah sie aus, als wollte sie ein Immobiliengeschäft abschließen. Ihr blondes Haar fiel ihr glatt und seidig glänzend über die Schultern.

Die Familie versammelte sich.

»Vorhin hat er mir eine SMS geschickt. Die Schwestern sagen, dass es nicht mehr lange dauern wird. Ich fahre bald wieder ins Krankenhaus.«

Sie legte ihm die Hand auf den Rücken und streichelte ihn. »Geht’s dir gut?«

»Dad setzt mir immer noch hart zu.«

»Kannst du ihm das vorwerfen? Er ist in dem Glauben aufgewachsen, dass das Leben in den Dells die reinste Hölle ist. Ohne jede Kultur und völlig trostlos.«

»Das ist ja das Problem. Er denkt, dass ich irgendein perfektes Leben wegwerfe, aber ich weiß – wie ich das vom ersten Moment an gewusst habe –, dass es mir bestimmt ist, hier zu leben. Jetzt wird alles gut.«

»Langsam klingst du wie Onkel Harry.«

»Gut. Ich kann nur hoffen, dass ich halb so viel Glück habe.«

»Gib Dad etwas Zeit. Er wird einlenken. Wenn aus keinem anderen Grund, als dass er weiß, was Familienverantwortung heißt.« Lucy machte eine Pause. »Ich werde nicht so tun, als würde ich es verstehen, aber ich respektiere deine Entscheidung. Um Mom solltest du dir eher Sorgen machen. Sie hasst das hier.«

»Als wir das letzte Mal zusammen hier waren, schien es beiden aber zu gefallen.«

»Bei diesem Herbsttanz, den die Stadt jedes Jahr veranstaltet?«

»Ja, bei der Abschiedsgala. Das war bezaubernd.« Nun war er für dieses jährlich wiederkehrende Event verantwortlich, da es von jeher in der früheren River Lodge stattfand.

»Damals hast du, was Alkohol angeht, noch nichts vertragen. Glaub mir, es war grauenhaft.«

Ray sagte nichts dazu, doch er hatte das anders in Erinnerung, zumindest so, dass der Umzug hierher sich unvermeidlich angefühlt hatte. Mit der Zeit würde sich alles finden.

Ein scharfer Schmerz in seiner Hand fing Rays Aufmerksamkeit ein – er hatte eine raue Stelle im Geländer entdeckt. Er studierte den Splitter, der aus seiner Handfläche guckte. Vielleicht war seine rosige Erinnerung ja doch nicht ganz perfekt, aber das hieß nicht, dass sich nichts Gutes daraus machen ließ. Vor neun Monaten hatte er so gut wie nichts über seinen Onkel gewusst. Er war hergekommen, um ein paar Antworten zu bekommen, und schließlich geblieben, als er den Supper Club gekauft hatte und Onkel Harry krank geworden war. Den Umzug nach Wisconsin hatte er als Entschuldigung benutzt, sein Leben in New York hinter sich zu lassen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er den alten Mann so mögen würde. Den liebenswerten Greis mit seinem dünnen weißen Haar, dem täglichen Brandy als Schlaftrunk und der verblüffenden Gabe, für jede Gelegenheit eine lustige Geschichte auf Lager zu haben – wie die, wie er einmal mit seinen Kumpeln einen der Trinkbrunnen des Parks mit einem Fässchen Bier verbunden und eine spontane stadtweite Party geschmissen hatte, für die er sich einen Strafzettel von der örtlichen Polizei eingehandelt hatte, der gerahmt an der Wand seines Büros hing. Die Geschichte war sogar noch besser geworden, nachdem Ray sich schlaugemacht hatte, was ein Trinkbrunnen war. Oder die, wie er und sein Bruder sich immer mit irgendwelchen Mädchen in einen geheimen Raum geschlichen hatten, den es irgendwo im Haus der Jaspers gab und in dem zur Zeit der Prohibition Alkohol versteckt worden war. Ray hatte noch nicht die Zeit gehabt, danach zu suchen.

»Mir geht es gut. Ich wünschte, mir wäre mehr Zeit mit ihm geblieben, aber ich bin dankbar für das bisschen, das ich hatte. Er war ein guter Mensch.«

»Willst du wirklich hierbleiben?«

Ray holte tief Luft. Nicht sie auch noch.

»Es ist nicht so, dass ich deine Entscheidung nicht respektiere. Ich werde dich nur vermissen.« Lucy holte tief Luft. »Es ist so ruhig hier.«

»Das gefällt mir am besten. Hier ist es ideal, um Menschen kennenzulernen, diesen Ort kennenzulernen, mich selbst kennenzulernen.«

»Ist das so eine Art Suche nach dir selbst und danach kommst du wieder zurück?«

»Ich werde nie nach New York zurückkommen.« Er zog an dem Splitter, wobei der Teil, der herausguckte, abbrach, während der größere nach wie vor in seiner Hand steckte. »Ich gehöre hierher. In den Dells sollte es immer einen Jasper geben, und im Moment bin das ich. Ich habe die Abschiedsgala geerbt. Du weißt, wie sehr mir das gefällt.«

»Kannst du nicht jemand anderen damit beauftragen? Die Stadt erwartet ganz bestimmt nicht von dir, dass du sie ausrichtest.«

»Ich habe Deals über Unsummen abgeschlossen, an denen viele Parteien beteiligt waren. Also werde ich wohl noch ein Abendessen mit Tanz planen können.« Er lachte und dachte dabei an eine mit Margarita bespritzte, ein bisschen unbeholfene brünette Frau mit bernsteinfarbenen Augen, die er gern zum Tanzen auffordern würde.

5

Durch die Hintertür gelangte man über eine kleine Treppe in die Küche, in der drei kleine Kinder, die alle auf einmal redeten, einen gehörigen Lärm veranstalteten, während Sabrinas Mom sie mit dunklen Cookies fütterte, die angesichts der Menge an Schokolade, die an ihren Händen und in ihren Gesichtern klebte, noch warm sein mussten.

»Hey, Mom.«

Ihre Mutter, Jenny Monroe, gab Sabrina zur Begrüßung einen Cookie. Als sie sah, wen sie mitgebracht hatte, zögerte sie.

»Arabella, nimm alle mit nach oben, und lass ein Bad ein. Ich komme gleich nach, um euch abzuspritzen. Sag Opa, dass er dir Handtücher rauslegen soll.«

Sabrina schauderte erneut, ihr Ellenbogen war noch immer kalt von Madams Berührung. Sie versuchte, für Molly Platz zu lassen, als wäre sie körperlich anwesend. Es war nicht nur unhöflich, durch sie hindurchzugehen, die eisige Kälte hing auch im Raum – eine Erinnerung daran, dass das, was die meisten Menschen von der Welt sahen, noch nicht alles war.

»Ich kann das doch machen«, sagte Arabella und machte sich ein bisschen größer.

»Ich bin mir sicher, dass du das kannst. Aber ein Teil des Vergnügens, eine Oma zu sein, ist der, euch zu baden. Und jetzt ab mit euch.«

Ihre Mutter trug wie üblich ein langes, locker fallendes Sommerkleid aus dickem T-Shirt-Stoff – die Art, die man in guten Geschäften fand und die mit der richtigen Pflege nach zwanzig Jahren noch neu aussahen. Das, was sie heute anhatte, war oben blau-weiß gestreift, hatte einen Gummizug in der Taille und war von dort bis zu den Knöcheln uni blau. Strahlend weiße Turnschuhe und kurze, bis zu den Knöcheln reichende Söckchen vervollständigten den Look. Sie hatte dickes, weißes Haar, das immer zu einem ordentlichen tiefen Pferdeschwanz gebunden war, der ihr zart gerunzeltes Gesicht eigentlich hätte älter machen sollen, stattdessen aber ihre rosigen Wangen und ihre schelmischen blauen Augen betonte. Alles, was sie an Anziehsachen besaß, war gebügelt, einschließlich ihrer Unterwäsche und ihrer Socken. Ihre Mutter beharrte darauf, dass man nicht ordentlich gekleidet war, wenn nicht alles sorgfältig gebügelt war. Sabrina erlaubte es sich, anderer Meinung zu sein.

»Der sollte deiner vom Kampf müden Seele helfen.« Sabrinas Mutter nickte zu dem nicht verzehrten Cookie in Sabrinas Hand hin. »Setz dich, damit ich mir deine Nase ansehen kann.« Sie leckte sich die Schokolade von den Fingern, während sie sich zu Molly umdrehte, die neben der Spüle stand. »Hi, Molly.« Zuletzt sah sie Madam Hendricks an. »Madam.« Ihr Ton war frostig.

»Ich habe mich gefragt, ob du wohl vorhast, mich zu begrüßen. Vielleicht sagst du mir ja, warum ich hier bin. Deine Tochter ist nutzlos.«

Falls Sabrina sich jemals gefragt hatte, von wem der gemeine Zug in der Familie kam, hatte sie ihre Antwort. Gemeinheit lag den Hendricks’ in den Genen.

Sabrinas Mutter presste die Lippen aufeinander. »Wenn du nicht für immer hier festsitzen willst, solltest du dich an deine Manieren erinnern. Ich muss erst Sabrina versorgen. Inzwischen kannst du ja darüber nachdenken, was du tun wolltest, bevor du gestorben bist. Molly kann dir mit allen Fragen, die du vielleicht hast, helfen.«

Madam schnaubte, musterte jedoch Molly, die jetzt ein gelb-grünes Chanel-Kostüm mit einer Kette mit drei Perlensträngen und einen Pillbox-Hut trug. Jackie O. hätte ihre Freude an ihr gehabt.

»Sabrina hat einen Mann kennengelernt«, sagte Molly und lachte, als Sabrina ein finsteres Gesicht machte. »Und er steht auf sie.«

Sabrinas Mutter runzelte die Stirn, während Madam ihren Finger durch die Arbeitsplatte stieß.

»Für gewöhnlich hat Molly recht in diesen Dingen. Sie hat mich auch zu deinem Vater hingeschoben.«

»Ich weiß, ich weiß. Es war auf der Abschiedsgala, und du standest oben auf der Veranda, und Molly hat dich die Stufen hinunter in Dads Arme gestoßen. Du hast das schon zigmal erzählt – und findest das, was Molly gemacht hat, immer noch romantisch statt gefährlich.«

Molly streckte Sabrina die Zunge heraus, und die revanchierte sich auf die gleiche Weise.

»Ich habe gewusst, dass er sie auffangen wird und sie sich ineinander verlieben, weil er sie gerettet hat. Ich würde niemals jemanden in Gefahr bringen. Er hat stundenlang ihre Beine angestarrt. Er konnte sie gar nicht verfehlen. Ich bin wie Amor – nur hübscher.«

»Das war das erste Mal, dass ich gesehen habe, wie du dich in Luft aufgelöst hast«, sagte Sabrinas Mutter.

»Wir lösen uns in Luft auf?«, fragte Madam.

Molly tippte sich auf die Lippen, dann antwortete sie. »Wenn wir mit festen Objekten interagieren, verbraucht das Energie, und wir haben nicht genug, um sichtbar zu bleiben oder zu kontrollieren, wo wir sind. Je länger wir da sind, desto stärker werden wir. Belle kann alles Mögliche tun.«

»Belle? Wie Belle Boyd, die Spionin der Konföderierten?« Madam sah geschockt aus.

»Ja. Sie hat auch etwas von einer Zicke. Du solltest den Friedhof meiden. Sie wird dich nicht mögen.« Molly zögerte. »Egal, es hat jedenfalls einige Wochen gedauert, bis deine Mom mich wieder sehen konnte. Ich bin nur herumgeschwebt und habe zugesehen, wie die beiden die ganze Zeit miteinander geknutscht haben.«

»Oh«, sagte Sabrina in dem Moment, als ihre Mutter zum Sprechen ansetzte.

»Nicht die ganze Zeit. Und ich wusste nicht, dass du uns beobachtest.« Die Wangen ihrer Mutter waren noch rosiger geworden.

»Ich hatte keine Kontrolle darüber, wo ich war«, sagte Molly mit einem Schulterzucken.

»Okay, jetzt zu diesem Mann.« Sabrinas Mutter zwinkerte Molly zu und lehnte sich näher zu Sabrina hin. »Erzähl mir von ihm.«

»Du kennst doch diese großen Margarita-Becher zum Nachfüllen? Das passiert, wenn ein voller davon mit deinem Gesicht kollidiert.« Sabrina zeigte auf ihr Gesicht, das um die Augen herum langsam blau wurde.

»Danach habe ich nicht gefragt.« Ihre Mutter befühlte mit den Fingern die geschwollene Haut um ihre Nase, während Sabrina nach der Seite mit den Todesanzeigen griff, die auf dem Küchentisch lag. Sie hatten sich für ihr Familiengeheimnis als nützlich erwiesen, wenn es galt, einen neuen Geist zu identifizieren.

Sabrina wusste, was ihre Mutter wissen wollte. Obwohl sie bereits drei Enkelkinder hatte, die im Badezimmer oben einen heillosen Krach machten – und wahrscheinlich eine kleine Überschwemmung verursachten –, wollte ihre Mutter noch mehr. Ihre Brüder Cal und Trent waren definitiv damit durch, sodass es an Sabrina war, den Stammbaum der Monroes zu erweitern – und nichts würde ihre Mutter glücklicher machen, als wenn das in naher Zukunft geschähe. Es war ein Jammer, dass sich ihr allein bei dem Gedanken an eine Beziehung die Kehle zuschnürte.

Ihre Mutter legte ihr sanft eine Hand auf die Wange. »Tief durchatmen.«

Und das tat sie.

Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.

Sabrina machte es wieder, als ihre Mutter ihre Nase inspizierte.

»Sie ist nicht gebrochen, aber sie wird in den nächsten Tagen schrecklich aussehen und noch weher tun. Pack Eis drauf.«