Nur wer loslässt, hat das Herz frei - Amy E. Reichert - E-Book
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Nur wer loslässt, hat das Herz frei E-Book

Amy E. Reichert

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Beschreibung

Drei Generationen. Sieben Tage. Ein großes Familiengeheimnis.

Gina Zoberski liebt es, in ihrem Food Truck köstliche Sandwiches zuzubereiten und umfangreiche To-Do-Listen zu erstellen. Eigentlich ist sie die geborene Optimistin, doch den zwei Jahre zurückliegenden Tod ihres geliebten Mannes hat sie noch nicht verwunden. Zudem vergeht kein Tag, ohne dass ihre Mutter Lorraine sie kritisiert oder ihre Tochter May sie infrage stellt.

Als Lorraine einen Schlaganfall erleidet, stolpert Gina über ein Familiengeheimnis, das vierzig Jahre lang vor ihr verborgen wurde. Schnell wird ihr klar, dass diese unangenehme Wahrheit genau das ist, was sie braucht, um loszulassen und neu anzufangen …

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Seitenzahl: 431

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Das Buch

Gina Zoberski möchte nur einen Tag erleben, an dem ihr ihre anspruchsvolle Mutter Lorraine keinen Vortrag über ihre Fehler hält und an dem ihre mürrische Teenager-Tochter May sie nicht vor den Kopf stößt. Zu schade, dass das niemals passieren wird. Ihr optimistisches Gemüt nervt ihre Familie, egal wie sehr sie sich auch anstrengt. Stattdessen findet Gina Trost darin, obsessiv To-do-Listen zu erstellen und in ihrem Gourmet Food Truck zu ­arbeiten. Doch als Lorraine plötzlich einen Schlaganfall erleidet, stolpert Gina über ein Familiengeheimnis, welches Lorraine bereits seit 40 Jahren zu verstecken versucht …

Die Autorin

Amy E. Reichert hat einen Abschluss in Englischer Literatur und liebt es, Geschichten zu schreiben, die ein Happy End haben und mit Charakteren, die man gerne zu sich nach Hause einladen würde. Amy ist glückliche Ehefrau, Mutter und Hobbyköchin und würde zu einem Glas Cider niemals Nein sagen.

Amy E. Reichert

Roman

Aus dem Amerikanischen von Hanne Hammer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel The Optimist’s Guide To Letting Go bei Gallery Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige Taschenbuchausgabe 01/2020

Copyright © 2018 by Amy E. Reichert

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Anita Hirtreiter

Umschlaggestaltung: Favoritbuero GbR unter Verwendung von © Shutterstock.com

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24728-7V002

www.heyne.de

Für Ainsley, du bist die Beste. Für Unc, wir vermissen dich jeden Tag.

Je besser eine Tochter die Details des Lebens ihrer Mutter kennt – ohne Rührseligkeit oder Abscheu –, desto stärker ist sie.

Anita Diamant, Das rote Zelt der Frauen

Was weißt du mit Sicherheit?

Kapitel 1

1. Weihnachtskarten wegwerfen

2. duschen

3. May saubere Klamotten vor die Tür legen

4. zusätzlichen Käse in dünne Streifen ­schneiden

5. Mittagessen vorbereiten

6. Mom anrufen

Gina Zoberski strich Punkt Nummer fünf durch und wandte sich dann ihrem ersten Kunden zu. Ihre Lippen verzogen sich automatisch zu einem Lächeln. Innerhalb von Minuten zischten die Käsesandwiches auf dem Rost. Diese Zeit nutzte sie, um Fettpapier und Pappschiffchen in einer Reihe aufzustellen, wobei die kalte Luft, die sich mit der warmen im Grilled G’s, ihrem Gourmetgrillkäsetruck, mischte, das Papier zum Flattern brachte. Sie kontrollierte die Sandwiches, während sie langsam braun wurden, und las schnell die SMS von ihrer Trucknachbarin Monica, die die Brötchenbude betrieb und deren sich ständig ändernde Speisekarte alles, womit man Brötchen belegen konnte, zu bieten hatte, angefangen mit Würstchen bis hin zu gegrilltem Gemüse.

C MACHT DIE RUNDE

Gina lächelte, als sie über die Köpfe der wartenden Kunden hinweg aus ihrem Truckfenster schaute. Charlotte war tatsächlich auf dem Weg. Vorsichtig schlurfte sie über den vereisten Bürgersteig und zog dabei die Hand aus der alten roten Supermarktplastiktüte, die an ihrem Arm hing. Sie trug einen zu großen schwarzen Mantel mit riesigen prall gefüllten Taschen, die ihr bis über die Knie reichten. Ein gepunkteter Strickschal verdeckte die Hälfte ihres Gesichts, und eine dunkle Mütze mit Ohrenklappen saß auf ihren zotteligen hellroten Locken. Obwohl sie nicht alt war, sah sie durch den Schlafmangel ausgezehrt aus, und die Haut hing ihr um die Knochen, als fehlte es ihr an Substanz, sie ganz auszufüllen.

Gina machte die Sandwiches fertig, gab sie an die wartenden Kunden aus und bereitete danach drei ihrer klassischen Käsesandwiches zu, eine Kombination aus Colby Jack, Schmelzkäse und Provolone auf frischem italienischem Brot, mit viel Butter, knusprig und goldbraun gebraten. Vor langer Zeit hatte sie gelernt, die beiden Brotscheiben für jedes Sandwich gleichzeitig zu grillen, in Streifen geschnittenen Käse daraufzugeben und sie anschließend zusammenzuklappen. Es dauerte nur halb so lange und war genauso köstlich.

»Hi, Charlotte. Was für ein schöner Schal. Hält er dich gut warm?« Charlotte antwortete nicht. »Das Übliche?«

»Ja. Ich hab’s eilig.« Der Schal dämpfte ihre Worte. Sie schob drei zerknitterte, eingerissene Dollarnoten und sechs Vierteldollarmünzen über die Theke – den Preis für ein Käse­sand­wich mit Chips.

»Kommt sofort.«

Gina steckte das Geld in die Kassenschublade, während Charlotte ihr über die Schulter schaute und ihre Tasche fester an sich drückte. Sie sah schwer aus. Sie musste den meisten Ständen heute schon einen Besuch abgestattet haben. Gina legte an das Classic Sandwich letzte Hand an und sah zu, dass eine Ecke verbrannt war. Dann packte sie es vorsichtig in Alufolie und gab es ihr zusammen mit einer Tüte Kartoffelchips. Als Charlotte neben die Warteschlange trat und gierig das Essen auspackte, nahm Gina drei weitere Bestellungen auf und machte die beiden anderen Sandwiches fertig, die sie in Arbeit hatte, und verpackte sie wie das erste. Charlottes »Ähm« kam so präzise wie bei einem Uhrwerk.

Ein Kopf mit Segelohren sah zum Fenster herein.

»Ja, Charlotte?« Gina wusste genau, was jetzt kommen würde.

»Du hast das Brot verbrennen lassen. Dafür bezahle ich nicht.« Sie hielt die leicht gebräunte Ecke ins Fenster.

»Natürlich nicht.« Übergangslos reichte Gina Charlotte die bereitgestellten Sandwiches. »Nimm doch stattdessen das, und hier ist noch ein zusätzliches für die Umstände, die ich dir gemacht habe. Es tut mir so leid.«

Charlotte gab ein »Hm« von sich, stopfte die neuen Sandwiches in ihre Tasche und trippelte auf die Ecke des Parks zu, wo sie eins der in Alufolie verpackten Pakete dem he­runtergekommenen Mann gab, der dort auf einer Bank saß, bevor sie die Straße hinunter verschwand. Gina lächelte ihr nach, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die wachsende Schlange richtete und sich auf die mittägliche Rushhour konzentrierte.

Sie war dankbar für den vertrauten Betrieb. Beschäftigt zu sein hielt sie geistig fit – lenkte sie von der Vergangenheit, der Gegenwart und der – äußerst besorgniserregenden – Zukunft ab. Sobald die Mittagessenshorde anrückte, hatte sie keine Zeit mehr, an den Grund zu denken, aus dem sie sich ihren fröhlichen, nach Wunsch gefertigten Imbisswagen oder ihre Großzügigkeit, Charlotte regelmäßig mit zusätzlichen Käsesandwiches zu versorgen, leisten konnte. Als ihr Finanzberater ihr gesagt hatte, wie viel Geld sie bekommen würde, hatte es ihr den Atem verschlagen, doch die Summe hatte sie nicht weniger wütend gemacht.

Nimm die Bestellung auf, buttere das Brot, gib den Käse hinzu, grill das Ganze, klapp das Sandwich zusammen, schneide es durch, pack es ein. Wiederhole den Vorgang. Eine To-do-Liste, die sie so oft abgearbeitet hatte, dass sie sie nicht länger aufschreiben musste.

Ihre kleine Schwester Vicky ließ immer wieder verlauten, dass sie doch besser mal eine Therapie machen sollte, aber der Grilled G’s hatte ihr bisher ganz gut geholfen. Ginas Erfahrung nach machte Käse alles besser – Parmesan auf Popcorn, knuspriger gebratener Ziegenkäse in einem Salat, ein Schlag Frischkäse auf einem getoasteten Bagel oder geschmolzener Gouda auf einem Eisandwich. Sie mochte sogar einen Klacks gesüßten Mascarpone auf einem Stück warmem Kirschkuchen statt Eis. Ein Käsesandwich, klebrig vom Rost, außen knusprig und innen flüssig, war allerdings der Gipfel der Milchproduktmöglichkeiten.

Egal, wie es daherkam, ob mit Balsamico-Reduktionen oder Mikrogemüse, ein gegrilltes Käsesandwich war nach wie vor eine Köstlichkeit unter den Kohlehydraten. Ein­faches, aber absolut schmackhaftes Trostessen vom Feinsten. Ein Glück zum Anfassen, das jeder genießen konnte. Und Gina liebte es, Menschen glücklich zu machen, vor allem an einem kalten Tag wie heute. Ihr fröhlicher gelborangefarbener Imbisswagen, der Büropersonal und städtische Angestellte magnetisch anzog, leuchtete an seinem üblichen Platz am Red Arrow Park im Stadtzentrum von Milwaukee, ein farbenfrohes Signalfeuer im grauen, sich neigenden Dezember. Sie betrieb ihn seit gut einem Jahr und hatte bereits einen treuen Kundenstamm. Die anderen Trucks, die eine homogene Reihe aus Weiß und Silber bildeten, boten Tacos, Suppen und frische Doughnuts an. Doch niemand konnte an dem Grilled G’s vorbeigehen, ohne zu lächeln.

In dem kleinen Edelstahlraum gab es nichts Überflüssiges, jedes Teil hatte seinen angestammten Platz, und alles konnte mit Küchenreiniger und einem Schlauch sauber geschrubbt werden, wenn ein Tag besonders chaotisch gewesen war. Abfedernde schwarze Gummimatten bedeckten den Boden, sodass sie immer sicheren Halt hatte, und ein großes Fenster ermöglichte es ihr, in der warmen fahrbaren Küche zu bleiben und die Bestellungen von den draußen wartenden Kunden aufzunehmen. An einem Ende ging es in die Fahrerkabine, in der der Fahrersitz sowie ein zweiter Sitz waren, der sich für einen Beifahrer herunterklappen ließ, und ein paar Stufen führten nach draußen wie in einem Schulbus. Am anderen Ende war ein Notausgang, der gleichzeitig als Lagerplatz diente. An den Seiten ihrer Kombüse waren der Rost, die Platten, ein Kühlschrank, reichlich Arbeitsfläche und die notwendige Anzahl an Spülbecken, um den Hygieneanforderungen zu genügen. Jede noch so kleine Stelle hatte seine Verwendung und war liebevoll extra für sie maßangefertigt worden, einschließlich der Theke, die etwas niedriger war als üblich, und der mobilen Regale, die sie herunterziehen konnte, statt nach oben greifen zu müssen.

Besonnen reichte Gina einem wartenden Kunden ein Sandwich und blickte auf, um eine weitere Bestellung aufzunehmen, sah aber nichts als ein leeres Fenster. Nebenan zog Monica ihre Markise herunter und winkte ihr zu, bevor sie wieder in ihrer Brötchenbude verschwand.

Ginas Herz hämmerte, und das Blut pochte in ihren Adern. Eine weitere mittägliche Rushhour war vorbei. Alles, was sie ignoriert hatte, stürmte jetzt auf sie ein wie eine Welle, die einen Sandburggraben füllte und gegen die Wände der Burg drückte. Während sie sich für die nächste Welle wappnete, klingelte ihr Handy. Die Flut zog sich zurück.

Als sie sah, dass es Vicky war, holte sie die Kopfhörer aus ihrer Tasche, stöpselte sie in das Telefon und nahm den Anruf an.

Noch bevor sie Hallo sagen konnte, legte Vicky gleich ziemlich entrüstet los. »Hast du die E-Mail schon gelesen?«, fragte ihre Schwester sie.

Während sie anfing, die Theke zu säubern, murmelte Gina irgendetwas Unverbindliches. Ihr Körper hatte auf Autopilot geschaltet.

Vicky musste ihr Brummen als Nein gewertet haben, denn sie redete weiter. »Ich muss sie dir vorlesen, damit du sie in ihrer ganzen Tragweite kapierst: ›Die Geschenke dieses Jahr gefallen mir nicht.‹ Kannst du das glauben? Ich habe ihr ein teures Parfüm geschenkt, das ich mir nie selbst gönnen würde. Man sollte doch meinen, dass das etwas zählt. Unsere Mutter hat doch wirklich ihre vernichtende Meinung in Worte gefasst und sie uns per E-Mail geschickt. Weihnachten ist nicht einmal zwei Tage her. Sie konnte nicht einmal eine Woche damit warten. Ich werde das ausdrucken und einrahmen. Wenn sie mal stirbt, kommt es mit in ihren Sarg.«

Im Hintergrund hörte Gina, wie Besteck gegen eine Schüssel klirrte. Sie stellte sich ihre Schwester vor, wie sie das Frühstücksgeschirr spülte, die Kopfhörer mit dem Handy verbunden, das in ihrer Jeanstasche steckte, während die beiden dreijährigen Zwillinge, Maggie und Nathan, mit Play-Doh herummanschten und frisch aufgeschnittenes Obst futterten, und die beiden älteren, Greta und Jake, Schnee durch den Garten rollten, um einen Schneemann zu bauen. Sie trug ein dezentes Make-up, das lange glänzende blondierte Haar zu einem glatten Pferdeschwanz gebunden, der an der genau richtigen Stelle am Hinterkopf saß – nur für den Fall, dass jemand vorbeischaute. Sie tat ihr Bestes, um ihre Kinder von den Erwartungen und Ansprüchen anderer Familien von der Privatschule abzuschirmen, die sie auf das Insistieren ihres Mannes hin besuchten. Ihre Kindheit unterschied sich von ihrer eigenen mit Tennisstunden im ­Country Club und Nachmittagen am Pool, wo ihre Mom mit den anderen Müttern gequatscht hatte, die damit zufrieden gewesen waren, ihre Kinder frei herumlaufen zu lassen, während sie unter gestreiften Sonnenschirmen an ihrem kalten Weißwein nippten.

Ihre Schwester sprach weiter. Gina schloss den Truck ab, glitt auf den Fahrersitz, fädelte sich mit ihrem großen Wagen in den nach Westen gehenden Verkehr ein und wartete darauf, dass Vicky ihren Redefluss kurz unterbrach. Schließlich hielt ihre Schwester inne, um Luft zu holen.

»Ich bin mir sicher, sie hat nicht dein Weihnachtsgeschenk gemeint. Das Parfüm ist toll. Und du kennst Mom, sie hat sehr spezielle Ansichten«, sagte Gina. Sie wussten beide sehr gut, dass sich die Kritik ihrer Mutter gegen Gina richtete und nicht gegen Vicky. Gina war die Problemtochter, war es immer gewesen, obwohl Vicky diejenige war, die nie darüber nachdachte, was sie sagte. Gina war es, die unter ihrem Stand geheiratet hatte. Die zu viel Brot aß. Die nicht die richtigen Klamotten oder das richtige Make-up trug oder ihren grauen Haaransatz nicht oft genug nachfärbte. Sie hatte die gleiche Kritik ihr Leben lang gehört – das Schlimmste war: »Warum kannst du nicht wie Victoria sein?« Ein enttäuschendes Weihnachtsgeschenk wurde auf der Kränkungsskala nicht einmal mehr verzeichnet.

»Versuch nicht, ihre königliche Gehässigkeit schönzureden – sie weiß ganz genau, was sie tut. Meinst du, dass wir auch einmal so werden, wenn wir so alt sind wie sie? Verrückt und verbittert? Da wäre mir ein sich schnell ausbreitender Krebs oder ein herabfallender Meteorit schon lieber, als darauf zu warten, dass die Menopause das Schlimmste in mir hervorruft.«

Gina verstummte und schob die unangenehmen Vorstellungen weg, während sie sich darauf konzentrierte, zuversichtlich zu sein. »So etwas solltest du nicht einmal denken. Wir werden beide ein langes Leben und viele Enkelkinder haben, die wir verwöhnen können. Und wir werden immer einander haben.« Sie bog in ihre Auffahrt ein. Die Gardinen waren noch immer zugezogen, kein Anzeichen, dass jemand zu Hause war. Sie legte die Stirn aufs Steuer und hoffte, die Panik daran hindern zu können, sich auszubreiten. Es funktionierte nicht.

Die unangenehme Stille zog sich in die Länge.

»Du weißt, was ich meine«, sagte Vicky schließlich, und das Geräusch von Wasser, das aufgedreht und wieder zugedreht wurde, war durch die Leitung zu hören. Sie musste mit dem Abwasch fertig sein. »Wo bist du? Im Imbisswagen?«

Gina lehnte den Kopf wieder gegen die Stahlwand, um aus ihrer verlässlichen Robustheit die Stärke zu ziehen, aufzustehen und auszusteigen. Sie fand sie nicht.

Sie griff zum Handschuhfach hinüber und zog eine Plastiktüte mit einem T-Shirt heraus, das sie gewöhnlich in ihrem Schrank versteckt hielt, gelegentlich aber wie eine Schmusedecke mit sich herumtrug. Sie machte die Tüte auf und drehte den abgenutzten Trikotstoff zwischen den Fingern. Sie hielt sich das T-Shirt unter die Nase. Nach zwei Jahren kam das meiste des Dufts aus ihrem Gedächtnis und nicht aus dem zerschlissenen Material, das langsam verblasste. Der Gedanke setzte sich in ihrer Brust fest, ließ ihr Herz hektisch schlagen und schloss die Luft in ihren Lungen ein. Sie konnte nicht atmen. Die Geräusche des sich durch den Schneematsch arbeitenden nachbarschaftlichen Verkehrs zogen sich zurück, und sie hörte nur noch ihren Körper, der darum kämpfte, die Situation zu meistern. Die kalten Edelstahlwände piksten Gina mit Erinnerungen.

Drews Lächeln.

Drews Lachen.

Drews Küsse.

Sie ignorierte die Fragen ihrer Schwester und atmete in den Stoff. Aus all den guten Dingen um sie herum zog sie Kraft, um diesen Moment zu überstehen.

Ihr fröhlicher gelborangefarbener Truck fiel in der kalten, verschneiten, aus hellbraunen Ziegelbungalows bestehenden Nachbarschaft von Wauwatosa auf, die kahlen Bäume warteten auf den Frühling. Sie fuhr mit der linken Hand an der Wand entlang, die übereinandergesteckten Eheringe an ihrem Ringfinger klirrten gegen das Metall – Drews hatte verkleinert werden müssen, um an ihren sehr viel schmaleren Finger zu passen. Der Grilled G’s war das letzte Geschenk ihres Ehemanns an sie gewesen, bevor er gegangen war. Er hatte ihn so entworfen, dass er in einer Reihe von Trucks hervorstach und die Kunden mit seinen beliebten Gourmet-Käseangeboten lockte – die von klassischem Grillkäse auf knusprigem, butterigem italienischem Brot bis hin zu einer rustikalen Kombi aus cremigem Brie, Rucola und Prosciutto auf einem Mehrkornbrötchen reichten. Den Kunden, die keine Milchprodukte vertrugen, servierte sie sogar ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade (das in Kokos­fett statt in Butter gebraten war).

Der Grilled G’s war Behaglichkeit auf vier Rädern, nicht nur für die Kunden, sondern auch für sie. In ihrem Imbisswagen zu sein kam dem Gefühl am nächsten, nach wie vor in seinen Armen zu liegen.

»Gina, bist du noch da?«, fragte Vicky.

»Ich liebe es, wie der Truck nach ihm riecht«, beantwortete sie schließlich Vickys Frage. Sie konnte ihre Schwester seufzen hören.

»Nach geschmolzenem Käse und Butter?«

»Nach Leder und Motoröl.« Sie hielt sich das schmutzige T-Shirt noch einmal unter die Nase, bevor sie es zurück in die Plastiktüte und in ihre Tasche steckte.

»Soll ich kommen?« Ihr entging der resignierte Tonfall ihrer Schwester nicht – natürlich hoffte sie, dass Gina ablehnen würde, nicht wirklich wollte, dass sie ihr durch eine weitere Panikattacke half, vor allem in Anbetracht der zwei Stunden Fahrt, die sie aus Illinois Richtung Norden brauchen würde, um hierherzukommen, und der Schwierigkeit, jemanden zu finden, der auf die Kinder aufpasste. Während sie ausstieg, versetzte Gina dem Truck einen leichten Klaps und zog die Tür hinter sich zu. Sie wollte ihre Schwester nicht weiter belasten. Vicky hatte genug zu tun mit ihren vier kleinen Kindern, um die sie sich kümmern musste, während ihr Mann im Zentrum von Chicago irrsinnig lange ­arbeitete. Sie hatte keine Zeit für eine Schwester, die langsam wieder auf die Beine kommen sollte.

Konzentrier dich auf den nächsten Schritt. Nur auf den nächsten.

1. das T-Shirt zurück in den Schrank legen

2. mit May reden

3. Mom anrufen

»Natürlich nicht. Ich bin gerade zu Hause angekommen, ich gehe jetzt rein.«

Der eisige Wind ging direkt durch ihre dünne Fleecejacke. Die Straße hoch und runter führten Nachbarn ihre Hunde auf den salzgesprenkelten Bürgersteigen spazieren. In schneebedeckten Gärten standen geschrumpfte Weihnachtsmänner, Rentiere und eine Weihnachtskrippe aus ­Plastik, die schon so oft benutzt worden war, dass die Figuren zu einem traurigen schmutzigen Beige verblasst waren. Ihr eigenes Haus sah noch genauso aus wie vor zwei Jahren oder wie es das jeden Monat tat. Die letzten beiden Weihnachten hatte sie nicht die Energie gehabt, es zu schmücken – bis auf den Kranz, den sie an die Eingangstür gehängt hatte. Es war einfach zu mühevoll und schmerzhaft, wenn es sie doch nur an die guten Jahre erinnerte, die Drew und sie zusammen gehabt hatten. Jetzt fuhren May und sie nach Illinois, um Weihnachten mit ihrer Mutter bei ihrer Schwester zu feiern. Sie fuhren früh am Morgen hin und nach dem Weihnachtsabendessen wieder zurück, wobei sie ihre Mom an ihrer Wohnung absetzten. Es war ein langer 14-Stunden-Tag, aber dann war es vorbei, und sie mussten den Rest der Feiertage kein tapferes Gesicht mehr aufsetzen.

Patty, die neue Mutter, die auf der anderen Straßenseite wohnte, walkte mit ihrem Baby in einem Sportkinderwagen an ihr vorbei. Sie winkte und blieb stehen, als wollte sie mit Gina plaudern. Gina zeigte auf die Kopfhörer in ihren Ohren und winkte ihr zu. Patty nickte und lief weiter. Gina schloss die Augen, erleichtert, Pattys detaillierter Zusammenfassung ihres ersten Weihnachtens mit einem Baby entgangen zu sein.

»Bist du dir auch sicher? Ich könnte in zwei Stunden da sein. Die Kinder würden May so gerne wiedersehen.« ­Vicky fühlte sich eindeutig wohl dabei, es ein zweites Mal anzubieten, jetzt, wo sie sicher war, dass Gina ihr Angebot nicht annehmen würde.

»Ja. Und ich werde auch nach Mom sehen. Wenn sie nicht ans Telefon geht, schaue ich vor dem Abendessen bei ihr vorbei. Sie wird sich nicht zurückhalten, mir zu sagen, wie sehr sie mein Geschenk hasst. Sie wird sich besser fühlen, wenn sie es sich von der Seele geredet hat, und dann musst du es dir nicht auch noch anhören.«

»Du musst nicht ihr Prügelknabe sein, Gina.«

»Sie fühlt sich dadurch besser. Und mir macht es nichts aus. Ich weiß, dass sie es nicht wirklich so meint.«

»Weißt du das? Was hat Mutter jemals getan, dich das glauben zu lassen?«

Gina zuckte die Schultern und beobachtete, wie Patty um die Ecke verschwand. »Ich muss Schluss machen. Ich lasse dich wissen, wie es gelaufen ist.«

Sie legte auf und starrte ihr Haus an. May würde noch immer in ihrem Zimmer sein, Musik hören oder Videos auf YouTube gucken. Sie holte tief Luft, wappnete sich innerlich für den Kampf des Tages und stieg die Verandastufen hoch, um die alte Holztür mit einem Knarren zu öffnen. Sie warf einen finsteren Blick auf die Scharniere – sie hatte gewusst, dass das Kokosnussöl, das ihre Mutter daraufgegeben hatte, nicht helfen würde. In der Garage musste noch etwas von dem WD-40 sein, dem Multifunktionsprodukt, das dürfte funktionieren. WD-40, noch etwas, das in Drews Zuständigkeitsbereich gefallen, aber jetzt zu Ginas Liste hinzugekommen war.

Sie trat die Füße an dem dicken blauen Vorleger ab, der den abgenutzten Holzboden hinter der Haustür schützte.

Staub bedeckte die Oberflächen, doch Gina hatte keine Lust, sich um dieses Problem kümmern. Sie benutzten das Wohnzimmer nicht mehr, warum also sollte sie dort ­sauber machen? Auf der anderen Seite der Diele, direkt vor ihr, lag die Küche – klein und funktionell, mit einem Tisch, an dem May und sie ihre Mahlzeiten einnahmen, gewöhnlich zu unter­schiedlichen Zeiten, um Streit zu vermeiden.

Sie wollte das angehen, was zu tun war, doch das war nicht das, was eine gute Mutter tat, und sie wollte nichts mehr als eine gute Mutter sein. Sie wollte eine Mami sein, eine Mutti oder eine Mama. Nicht die kalte »Regina«, wie May sie seit letztem Jahr nannte – wenn sie sich überhaupt dazu herabließ, mit ihr zu reden.

Nach einem kurzen Abstecher nach oben in ihr Zimmer, um sich umzuziehen und Drews T-Shirt zurück in sein Versteck zu stecken, ging Gina zu Mays Tür. Die Tür war dunkel, aus getäfelter Eiche und nur fünf Zentimeter dick, erschien ihr aber trotzdem wie eine undurchdringliche Wand. Freunde hatten sie von dem Tag an vor der Pubertät gewarnt, an dem May zur Welt gekommen war. »Warte ab, bis sie in der Pubertät ist. Das ist, als würde ein Monster für sieben Jahre dein perfektes Kind in Besitz nehmen und es dir auf wundersame Weise wieder zurückgeben, wenn es zwanzig wird.« Wenn Drew noch da wäre, könnte er mit May ­reden, sie zur Vernunft bringen. Ohne ihn war Gina jeden Tag aufs Neue auf sich gestellt.

Sie klopfte an die Tür, wartete fünf Sekunden auf eine Antwort, die sie nicht bekam, und öffnete schließlich die Tür. Ihre Augen brauchten ein paar Sekunden, um May zwischen den überall verteilten Klamotten – einschließlich der sauberen, die sie am Morgen vor die Tür gelegt hatte –, den Schularbeiten und den Büchern zu entdecken. Es war, als hätte sie ein Wo ist Walter?-Puzzle von ihrem schmollenden Kind vor sich. May lag mit dem iPad auf den angewinkelten Beinen und den blauen Kopfhörern auf den Ohren auf ihrem Bett. Sie blickte nicht einmal auf, um Ginas Eintreten zu würdigen.

»May, kannst du bitte die Kopfhörer abnehmen?«

Gina wartete zehn Sekunden, dann bahnte sie sich vorsichtig einen Weg zwischen den Stapeln hindurch und zog May die Kopfhörer vom Kopf, wobei eine orangegelbe Strähne in ihrem braunen Haar sichtbar wurde, die gestern noch nicht da gewesen war. Sollte sie sie anschreien? Ihr ein Kompliment machen? Sie komplett ignorieren?

»Hey!«

May griff nach den Kopfhörern, doch Gina hielt sie höher. Sie würde die Haarsträhne erst einmal ignorieren. Sie hasste es, dass das Elternsein zu einem Spiel aus Sich-Zurückhalten und einem ständigen Sich-im-Nachhinein-Kritisieren geworden war.

»Ich muss mit dir reden, und ich will, dass du mich verstehst.« May blitzte sie an, wie bloß ein verärgerter Teenager das konnte, deshalb nahm Gina das als Zeichen, dass sie fortfahren konnte. »Ich fahre rüber zu Großmutter. Willst du mit? Ich mache dein Lieblingssandwich mit Bacon und gegrilltem Cheddar.«

»Ich esse kein Fleisch mehr, Regina.« Sie bewegte die Augen, um Gina anzusehen, dann starrte sie wieder auf den auf Pause gestellten YouTube-Channel. Ah, die gefürchtete »Regina«.

»Seit wann … egal. Dann mache ich dir eins ohne ­Bacon.«

»Nein.«

»Du kannst dein iPad mitnehmen.«

»Nein.«

»Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du die ganze Zeit über allein zu Hause bist. Möchtest du, dass ich dich bei einer deiner Freundinnen absetze? Was ist mit Olivia?«

»Nein.« Sie streckte die Hand nach den Kopfhörern aus. In dem Wissen, verloren zu haben, gab Gina sie ihr zurück und beugte sich vor, um May auf die Stirn zu küssen. May verhinderte es mit ihrem Arm, während sie die Kopfhörer wieder aufsetzte. Gina hätte sie ihr am liebsten erneut von ihren undankbaren Ohren gerissen – schließlich hatte Gina diese Kopfhörer bezahlt –, zählte stattdessen aber bis zehn.

»Ruf mich an, wenn du mich brauchst. Ich hab dich lieb«, sagte Gina. Sie wusste, dass May sie nicht hörte. Sie verließ das Zimmer und ließ die Tür hinter sich offen. Wenn May sie geschlossen haben wollte, musste sie zumindest vom Bett aufstehen, um sie zuzumachen. Alle Elternratgeber, die Gina gelesen hatte, sagten, dass Mays Verhalten und ihre Reaktion darauf normal waren, doch sie vermisste das kleine Mädchen, mit dem sie gelacht und gekuschelt, das sie gekitzelt und mit ihren Sandwiches mit gegrilltem Käse zum Lächeln gebracht hatte.

Mit einem weiteren elterlichen Fehler auf ihrem Konto schloss sie die Haustür hinter sich und ging zu dem Mini, der im Schatten des Trucks kaum zu sehen war.

»Gina! Ich habe gehofft, dich auf meinem Rückweg zu erwischen!«

Gina zuckte zusammen, verzog ihre Lippen aber sofort zu einem Lächeln und drehte sich zu der Frau um, zu der die fröhliche Stimme gehörte. Patty und ihr Mann waren neu in der Nachbarschaft, neu genug, um nicht zu den vielen anderen zu gehören, die tonnenweise Aufläufe und Kuchen bei ihr vorbeigebracht hatten, als könnten Berge an köstlichem Essen den Raum ausfüllen, den ein Ehemann hinterlassen hatte. Drew war für seine Familie immer da gewesen und hatte ihr Halt gegeben. Ohne ihn stolperten May und sie durch jeden Tag, schlugen im rauschenden Wasser wild um sich und rempelten einander gelegentlich an. Wenn sie allein waren, taten sie nicht so als ob. Doch draußen in der Einfahrt musste sie so tun, als würde sie schwimmen, treiben, auf den reinen Wassern des Lebens dahingleiten, obwohl sie sich gerade einmal fern des kräftigen Sogs halten konnte, der an ihren Beinen zog.

»Hi, Patty. Hattest du einen schönen Spaziergang?« Sie warf einen Blick auf das Baby, das unter seiner kuscheligen Decke fest schlief. Die blaue Mütze war ihm über ein geschlossenes Auge gerutscht. Welch Frieden, welch Unschuld. Gina vermisste die bedingungslose Liebe eines Säuglings. Ihre Augen begegneten Pattys, deren normalerweise lächelndes Gesicht traurig dreinblickte, als müsste sie einer dritten Klasse erklären, dass sie den Teamgeist-Wettbewerb verloren hatten und es keine Pizza-Party geben würde. Was hatte Gina getan, um diesen Blick zu rechtfertigen? Und dann begriff sie, noch bevor Patty die Worte aussprechen konnte. Sie hatte diesen Ausdruck auf den Gesichtern all derer gesehen, die Drew gekannt hatten.

»Es tut mir so leid. Ich habe es durch den Weihnachtsrundbrief der Greebles erfahren. Ich war davon ausgegangen, du seist geschieden. Du bist zu jung, um Witwe zu sein. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie hart es für May und dich gewesen sein muss, ihn zu verlieren.«

Da war es. Zwei Jahre waren vergangen, und der Schmerz war noch immer so frisch, als wäre es gestern gewesen. Patty griff nach ihrer Hand, und Gina überließ sie ihr. Die Geste war nicht dazu gedacht, sie zu trösten. Sie sollte Patty ein besseres Gefühl geben, sodass sie in dem Glauben ihres Wegs gehen konnte, ihre Hilfe angeboten und das unter Nachbarn Richtige getan zu haben. Sodass sie zu ihrem total süßen Baby und ihrem liebevollen, lebendigen Ehemann zurückkehren konnte, getröstet durch ihr Feingefühl und den Glauben, selbst nie in so einer Lage zu sein und das Mitleid anderer ertragen zu müssen.

Gina zählte leise bis drei, dann drückte sie Pattys Hand. Mehr als genug Praxis hatte sie gelehrt, dass das dem Handreichenden ein besseres Gefühl gab und die Pause den Eindruck bei demjenigen erweckte, die Geste wäre angebracht gewesen. Gina machte einen Schritt auf ihr Auto zu – was auch wichtig war, wie sie gelernt hatte. Schaffe eine gewisse Distanz, damit der andere weiß, dass es in Ordnung ist, zu gehen.

»Danke, dass du das gesagt hat«, sagte Gina. Der oft gesagte Satz kam ihr ganz natürlich über die Lippen, obwohl sie ihn in der letzten Zeit nicht so oft hatte verwenden müssen. Es war inzwischen selten, dass sie jemanden traf, der ihre Geschichte noch nicht kannte. Ihre frühere Entschlossenheit fühlte sich wie schnell brechendes Eis unter ihren Füßen an. »Es ist fast zwei Jahre her.« Sie setzte ihre Sonnenbrille auf, um die aufsteigenden Tränen zu verbergen, und griff nach der Autotür, um sich zu stützen – und Patty zu signalisieren, dass sie wirklich losmusste. »Es geht uns allen gut.«

Kapitel 2

May wollte doch bloß, dass alles wieder wie früher war. Natürlich war das nicht möglich, das wusste sie, was sie aber nicht davon abhielt, sich zu wünschen, ihr Dad würde zurückkommen.

Das Video war zu Ende, sodass sie hören konnte, wie ihre Mom das Haus verließ. Warum tat sie so, als hätte sich nichts verändert, als wäre nichts anders? Alles war doch anders. Ihr waren nicht einmal Mays Haare aufgefallen. Wie konnte jemand eine riesige orangefarbene Strähne übersehen? War sie wirklich derart entschlossen, sie zu ignorieren?

May nahm die Kopfhörer ab und rieb sich die Ohren, wo sie von den Polstern gedrückt worden waren – sie trug sie wirklich nur, wenn ihre Mom daheim war –, um vorzugeben, dass sie sie nicht hörte. Das Auto kam rumpelnd in Gang, und May wartete, bis das Geräusch verklungen war. Sie genoss die Einsamkeit und das Wissen, den restlichen Tag über das ganze Haus für sich zu haben. Sie kickte ein paar Klamotten weg und bahnte sich einen Weg von ihrem Bett zur Tür, wobei sie die sauberen Klamotten auf der linken und die schmutzigen auf der rechten Seite liegen ließ.

Sie hätte heute zu Olivia gehen können, um ihrer Mutter aus dem Weg zu gehen, aber sie wollte niemanden um sich haben, nicht einmal ihre beste Freundin. Das wollte sie selten. Keiner von ihren Freunden verstand, warum sie so ­wütend auf ihre Mom war. Sie verstand es ja selbst nicht, wusste bloß, dass es so war.

Während May die Zutaten für die Brownies aus dem Schrank und dem Kühlschrank holte, griff sie aus einer Laune heraus nach dem Bacon. Das Gesicht ihrer Mom, als sie gesagt hatte, sie würde kein Fleisch mehr essen, war filmreif gewesen. Würde sie jetzt auch Vegetarierin werden, um etwas mit ihr gemeinsam zu haben? Würde sie es vergessen, wie sie das meiste meistens vergaß? Wenn ihre Mom es nicht auf eine ihrer blöden Listen setzte, würde sie sich nicht daran erinnern. Bacon, Schokolade und Karamell – alles Sachen, die May liebte. Vielleicht konnte sie den Bacon nach dem Braten zerkrümeln und zu dem Karamell geben und anschließend über ihre Lieblingsbrownies streuen. Sie begann, zu backen.

Nachdem die Brownies fertig und mit dem Bacon-Kara­mell glasiert waren, schnitt sie an einer Ecke eine dicke Scheibe ab und ließ sie auf einen Teller gleiten, wobei sie sich an dem klebrigen glühend heißen Machwerk verbrannte. Mit dem Teller in der Hand ging sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, zum Schlafzimmer ihrer Mutter hoch. Sie stellte den Teller auf den Nachttisch und steuerte den Schrank an, die hinterste Ecke, wo ihre Mom die Tüte immer versteckte. Sie suchte nach dem wiederverschließbaren Plastikbeutel und zog ihn heraus, öffnete das verschlossene Ende und schnüffelte. In der Tüte steckte das Lieblings-T-Shirt ihres Vaters, aus einem weichen rauen Stoff, der voller Motorölflecken war. Vorne drauf stand: BIKER-DAD – WIEEIN ­NORMALERDAD, NURCOOLER. Auf der Rückseite war das Harley-Davidson-Logo. Sie kroch mit der Tüte in der Hand in die Mitte des Betts ihrer Eltern und balancierte den Teller auf dem einen Knie und die Tüte auf dem anderen. Sie biss in den Brownie und kaute, während sie mit der freien Hand den weichen Stoff drückte, ohne ihn aus der Tüte zu ziehen. Der salzige Bacon und das süße Karamell ­gaben ihrem klebrigen Brownie eine ganz besondere Note, und sie wünschte sich, diese Brownies für ihren Dad backen zu können. Er hätte es geliebt, wie sie ihr Brownie-Rezept verfeinert hatte.

Als sie ihre Leckerei aufgegessen hatte, stellte sie den Teller zurück auf den Nachttisch neben das Glas mit Kokosnussöl, das ihre Großmutter ihrer Mom gegeben hatte, wobei sie sich vorsichtig die klebrige Soße von den Fingern leckte.

Während sie die Steppdecke über sich zog und das weiche Material des T-Shirts zwischen ihren Fingern rieb, rollte sie sich zu einem Ball zusammen und tat so, als wäre ihr Dad lediglich unten. Das konnte sie nur, wenn ihre Mom nicht da war. Regina wollte nie über ihren Dad oder seinen Tod reden. Es war, als wäre May die Einzige, die ihn am Leben halten wollte.

Sie hatte ihre Mom bloß einmal weinen sehen, und zwar auf Dads Beerdigung. Der Friedhof war grau, stumpfgrün und mattbraun gewesen. Klumpen von schmutzigem Schnee säumten die kurvigen Wege. Ihre Mom und sie hatten schwarze Kleider unter ihren farbigen Parkas getragen – es war verwirrend, an einem so traurigen Ort zu sein und Lila und Rosa zu tragen. May hatte es nicht abwarten können, ihre Jacke auszuziehen. Die große Menge stand noch um das offene Grab, in das die Asche ihres Vaters hinuntergelassen worden war, alle, bis auf seine Biker-Freunde, die Gruppe der zwanzig Männer, die auf ihren Maschinen zusammen herumgefahren waren, bevor ihr Vater damit aufgehört hatte, und die immer noch zu den Grillpartys herüberkamen. Sie waren auf ihre Motorräder gestiegen, hatten sich nahe der Menge in Zweierreihen aufgestellt, mit einem Fahrer an der Spitze und einem am Ende.

Der Fahrer an der Spitze startete seine Maschine und ließ den Motor dreimal aufheulen, dann folgten ihm die rest­lichen Biker. Das Rumpeln, als alle Motoren aufheulten, ließ den Boden erzittern. Ihre Mom drückte May an ihre Seite, während sie die Augen schloss. May hatte Sorge, das Geräusch würde sie beide zerreißen und ihre zerbrochenen Teile zu ihrem Dad befördern. Ein Baby ihr gegenüber fing an zu weinen, doch sie konnte das Heulen nicht hören. Sie nahm bloß den Donner der Maschinen wahr, wie bei einer speziellen Form der Taubheit, bei der nur Motorendonner durchdrang. Würde sie jemals wieder ein anderes Geräusch wahrnehmen?

Auf das Signal des Anführers hin hörten alle plötzlich auf, dann ließ der letzte Biker seinen Motor noch dreimal aufheulen. Fast geräuschlos, jedenfalls für Harley Davidsons, verließen die Biker den Friedhof. Ihr Körper vibrierte noch von dem Krach, als ihre Mom sie fest an sich zog, das Gesicht verzerrt, während sie in Mays Haar weinte. Sie klammerten sich in der überwältigenden Stille aneinander, als sich die Menge in Richtung Gemeindesaal zerstreute, wo es kalten Braten, Kartoffelsalat und als Nachspeise Zitronenkuchen gab.

Danach hatte sich das Leben wieder normalisiert. Oder zumindest so weit normalisiert wie möglich, vermutete May. Ihre Mom hörte auf, über ihren Dad zu reden, und Mays Freundinnen verschwanden in gewisser Weise. Sie hatten ihr alle zugehört, als sie geweint hatte, was schön gewesen war, aber dann hatten sie aufgehört, sich bei ihr zu melden. Sie hatten sie getröstet und wollten das nicht mehr, was okay war, May war allerdings noch nicht so weit. Sie wollten nur über süße Jungs reden und welche Mädchen aus ihrer Klasse Bitches waren und welche Lehrer am unfairsten. Der Einzige, der mit May über ihren Dad hatte reden wollen, war der Schulpsychologe, und wer wollte schon mit Mr. Matychek über Persönliches reden? Jeder wusste, dass er das, was du sagtest, in deine Akte schrieb.

May roch ein letztes Mal an dem T-Shirt und nahm noch einen Rest Motoröl wahr, der sie an all die Male erinnerte, die ihr Dad sie mit in seinen Motorradshop genommen hatte. Als sie noch klein war, waren die Samstage immer »Fami­lientage« gewesen. Sie hatten alle ihre Aufgaben im Haus erledigt, einen Film geschaut oder Brettspiele gespielt, und Mom hatte immer köstliche Snacks zubereitet. Doch am meisten hatte May es geliebt, wenn sie ein Mittagessen eingepackt und den Nachmittag im Bikerladen ihres Vaters verbracht hatten. Vom ersten Mal an, als er ihr gezeigt hatte, wie man einen Motor zerlegte, war sie süchtig gewesen.

Er hatte eine gesteppte blaue Decke auf dem glänzenden Zementboden ausgebreitet. Ihre Mom hatte vorne im Büro gesessen und Daten in den Computer eingegeben und sie beide sich selbst überlassen. Jedes Teil, das er von dem Motor ausgebaut hatte, hatte er in einer geraden Linie auf der Decke aufgereiht.

»Es ist wichtig, sie nicht durcheinanderzubringen, damit keins der Teile verloren geht. Und es hilft dir, sie wieder einzubauen.« Ihr Dad hatte ihr einen Lappen gegeben. »Ich werde dir jetzt jedes einzelne Teil geben, und du musst den ganzen Schmutz abputzen. Kannst du das?«

Sie hatte genickt und die Arbeit sehr ernst genommen, die Fingernägel benutzt, um in die Spalten zu kommen, geputzt, bis sie jedes Teil so sauber wie irgend möglich hatte, bevor sie zum nächsten übergegangen war. Sie hatten schweigend gearbeitet. Als sie älter geworden war, hatte er angefangen, ihr jedes Teil zu erklären, ihr gezeigt, wie sie es wieder wie neu machen konnte, und die nötigen Tricks, wie man widerspenstige Teile ausbaute.

Als sie zehn war, hatte er sie mit einem rostigen, verbeulten Zweizylindermotor überrascht, den sie allein zerlegen und wieder zusammensetzen konnte, bis sie es ohne Hilfe schaffte. Er hatte gesagt, dass sie lernen müsse, einen Motor selbst zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen, wenn sie eines Tages selbst fahren wollte. Sie hatte sechs Monate gebraucht, um ihn zu zerlegen, und ein weiteres Jahr, um ihn wieder zusammenzusetzen, und seine Hilfe nur zweimal gebraucht – und er hatte sich nicht eingemischt, wie ihre Mom das machte, hatte gewartet, bis sie ihn gebeten hatte, ihr zu helfen. Dann hatte sie ihn noch einmal auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, schneller diesmal. Und dann war er gestorben. Der Motor lag jetzt unter einem schmutzigen Bettlaken hinten in der Garage und sammelte tote Spinnen und Staub an.

Jedes Mal, wenn sie ihn sah, dachte sie an ihren Dad. Und weinte. Also sah sie nicht hin.

May wischte sich die Augen und verschloss sorgfältig die Tüte, drückte so viel Luft heraus wie möglich. Sie legte sie zurück in Reginas Versteck im Schrank, ehe sie sorgfältig das Bett richtete und die Decke aufschüttelte, um ihren Körperabdruck zu entfernen. Sie zog an jeder Ecke, vergewisserte sich, dass die Falten fort waren und es wieder genauso aussah wie vorher. Sie nahm den Teller und sah sich zur Sicherheit ein letztes Mal in dem Zimmer um. Regina durfte auf keinen Fall merken, dass sie hier gewesen war.

Sie wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, dass sie sich in das Zimmer ihrer Mutter schlich, um sich besser zu fühlen. Eines war allerdings klar: Es ging ihnen definitiv nicht gut.

Kapitel 3

Das Telefon klingelte weiter, doch Lorraine weigerte sich ranzugehen. Sie wusste, dass Regina und Victoria ihr sagen wollten, was sie von ihrer E-Mail hielten, aber sie hatten einfach nicht das Recht dazu. Sie war ihre Mutter, und es war ihre Aufgabe, sie durch das Leben zu coachen, sodass sie sich nicht zum Narren machten. Bis jetzt hatte sie ihre Aufgabe zu fünfzig Prozent erfüllt – Victoria war immer das bessere Kind gewesen. Die Idee, ihr zu Weihnachten ein Parfüm zu schenken, war nicht schlecht, doch Lorraine mochte keine Gardenien, und das sollte ihre eigene Tochter auch wissen.

Sie saß in ihrer geräumigen Eigentumswohnung, die auf einen kleinen Blumengarten im Wohnhof hinausging. Im Moment waren dort nur kleine weiße Beulen zu sehen, die anzeigten, wo sich die gepflanzten Blumen versteckten. Im Sommer war er sehr schön, mit Rosen, Taglilien und ohne Gardenien – nicht, dass sie so weit nördlich gelegen wachsen würden. Sie schaukelte mit ihrem Stuhl und rieb sich die Hände. Sie hatte trockene Haut bekommen. Sie hielt sie vor ihr Gesicht und gab ihren Augen Zeit, zu fokussieren. Die Haut sah rau aus, als hätte sie Steine geschleppt. Aber Lorraine Price verrichtete keine harte Arbeit. Sie hatte sich diesen Winter bereits zweimal bei dem Hausmeister über die trockene Luft beschwert. Sie öffnete ein Glas mit Kokos­nussöl, eins der vielen, die sie über ihre Wohnung verteilt hatte. Holte etwas heraus und zerrieb das Fett gerade so lange in den Händen, bis es zu schmelzen begann, dann rieb sie es in ihre trockenen Hände, nutzte den Überschuss für ihre Ellenbogen und strich sich den Rest in ihren aschblonden Bob. Sie sah nicht wie fast siebzig aus, und sie führte das auf den häufigen Gebrauch von Kokosnussöl zurück. Sie genoss die neidischen Komplimente, die sie oft von den anderen Bewohnern bekam, wenn sie erfuhren, wie alt sie war. Ein Herr hatte sie sogar gefragt, bei wem sie zu Besuch sei, als sie letzte Woche ihre Post geholt hatte.

Das Telefon klingelte erneut. Das Geräusch machte sie ganz nervös. Sie stand auf und wartete einen Moment, bevor sie den ersten Schritt machte, um sicher zu sein, dass ihre Beine sie trugen, dann ging sie zum Telefon, das zwischen Küche und Wohnzimmer an der Wand hing. Ihr rechter Fuß kribbelte bei jedem Schritt, als wäre er eingeschlafen. Sie griff mit der rechten Hand nach der Hörerschnur, doch aus irgendeinem Grund bekam sie das Kabel nicht richtig zu fassen, das von der Wand zu der Aufladestation des schnurlosen Telefons ging. Seltsam. Egal, sie nahm einfach die linke und riss das Kabel aus der Wand.

Stille.

Lorraine verlagerte ihr Gewicht auf ihren linken Fuß und schüttelte kurz den rechten, um wieder Gefühl hineinzubekommen. Sie hatte nicht anders als sonst gesessen – es musste ein Zeichen sein, sich mehr zu bewegen. Vielleicht sollte sie sich einer der Walking-Gruppen anschließen, deren Flyer sie in der Lobby des Gebäudes mit den Eigentumswohnungen gesehen hatte. Sie verlagerte ihr Gewicht hin und her, aber das Gefühl kam nicht wieder. Sie schlurfte ins Bad und erwartete, dass jeden Moment das Kribbeln einsetzen würde, wenn das Gefühl wiederkam, doch das Taubheitsgefühl breitete sich in ihr Bein aus. Als sie endlich im Bad war, warf sie einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken, um ihre Frisur zu überprüfen, und sah, dass ihr rechtes Auge ein wenig herunterhing. So sollte es nicht aussehen. Sie öffnete weit die Augen, das linke ging sehr viel weiter auf als das rechte. Sie öffnete und schloss jedes Auge und blinzelte abwechselnd. Als sie das linke Auge schloss, verschwamm alles. Doch wenn sie die Augen wechselte, wurde die Sicht wieder klar. Das war nicht gut. Sie hatte noch nie eine Brille gebraucht – sie wollte jetzt nicht damit anfangen.

Ihre rechte Hand kribbelte. Sie stieß einen Finger in ihr Gesicht, spürte aber nicht wirklich etwas – als hätte der Zahnarzt sie betäubt, um ein Loch zu füllen. Sie wusste, dass ihre Haut reagierte, konnte es aber nicht fühlen. Plötzlich schoss ihr ein scharfer Schmerz durch den Kopf, und sie rang nach Luft. Das hatte sie gespürt. Ihr Herz setzte ein paar Schläge aus, ehe es zu rasen begann, um die verpassten Schläge aufzuholen. Etwas passierte mit ihr. Etwas sehr Schlechtes. Lorraine mochte es nicht, wenn sie nicht die volle Kontrolle hatte.

Ich rufe Roza an. Sie stolperte aus dem Bad und stieß gegen die Wand, während ihr rechtes Bein Mühe hatte, sie aufrecht zu halten. Lorraine machte zwei weitere Schritte auf das Telefon zu, und ihr Bein gab unter ihr nach, und sie ­landete mit der rechten Hüfte, ihrem Arm und der rechten Gesichtshälfte auf dem Hickory-Boden. Zumindest war ihr Körper taub, sodass sie die hässlichen Quetschungen, die sie sich sicher dabei zuzog, nicht spüren konnte. Ein Glas mit Kokos­nussöl – das bei der Heilung der Wunden helfen und die Schmerzen lindern würde – stand neben dem Telefon, doch beides befand sich außerhalb ihrer Reichweite.

Sie versuchte, sich aufzusetzen, indem sie sich auf die linke Hand stützte, doch die eine Körperseite fühlte sich an wie nasser Sand und machte es ihren durch das Alter geschwächten Muskeln unmöglich, sich zu bewegen – so ungern sie das auch zugab. Mit dem klar sehenden Auge fokussierte sie ihr Ziel und füllte ihre Lungen mit Luft, wobei sie die Angst, die in ihr brodelte, ignorierte. Sie hatte immer einen Weg gefunden, zu überleben. Und nun würde es nicht anders sein, egal, was gerade mit ihr passierte. Sie hatte Schlimmeres in ihrem Leben gemeistert – sie erreichte, was sie wollte, selbst wenn ihr Körper ihr den Dienst verweigerte. Mithilfe ihres linken Fußes schob sie sich näher an den kleinen Tisch heran, auf dem das Telefon und das Kokosnussöl standen. Der Gummibund ihrer Hose war zu locker, und sie rutschte ihr über die Hüften und enthüllte ihren mit einer Miederhose bekleideten Hintern, als sie zu dem Tisch herüberrutschte. Figurformer nannten ihre Mädchen so etwas, doch zumindest ersparte ihr das die Demütigung eines nicht bedeckten Hinterteils. Sie hätte erwartet, dass es wehtun würde, über den Boden zu rutschen, aber überraschenderweise spürte sie bis auf das Pochen in ihrem Kopf nichts. Ein letzter Stoß und sie kam an das Tischbein. Sie griff danach und zog es zu sich hin, rüttelte daran, bis das Telefon und das Glas he­runterfielen – ihr direkt auf den Kopf. Eine Verletzung folgte der nächsten.

Ihre Hand griff nach dem Telefon, getrieben von reiner Willenskraft. Sie drückte die Kurzwahl eins, den Knopf, um Roza anzurufen – Roza würde ihr helfen. In den vierzig Jahren, die sie einander kannten, hatte ihre alte Freundin sie nie hängen lassen. Doch diesmal war kein Freizeichen zu hören. Sie versuchte es noch einmal, dann fiel ihr ein, dass sie das Telefon vor ein paar Minuten aus der Wand gerissen hatte. War das wirklich erst ein paar Minuten her? Oder waren es Stunden?

Ihre Muskeln weigerten sich, weiter zu kooperieren. Sie wünschte, sie hätte sich vor ihrem Fallen erleichtert, bevor sie die Kontrolle über ihre Muskeln verlor. Sie bedauerte diese Entscheidung, als etwas Warmes – zusammen mit dem Rest ihrer Würde – an ihren Beinen hinunterlief. Sie lag in ihrem eigenen Urin und begriff, dass ihre schlimmste Angst wahr geworden war. Sie würde allein und gedemütigt sterben, selbst ohne eine Katze, sie sich neben ihr zusammenrollte.

Während sie dort lag, sah sie ihren Mann aus ihrem Schlafzimmer kommen, so unwahrscheinlich das auch war. Er war so attraktiv wie eh und je. Wo war er die ganze Zeit gewesen? Er trug seine Army-Uniform, frisch gewaschen und gebügelt. Sie konnte die Lavendelstärke riechen, die sie für seine Halskragen nahm, die Schuhcreme, mit der er seine Budapester zum Glänzen brachte. Sein braunes Haar war ganz kurz geschnitten, doch sie erinnerte sich, wie weich es sich anfühlte, wenn er es länger wachsen ließ, wie das Fell eines Kaninchens. Er sah sie mit seinen großen sanften Augen an. Ihre Angst und ihre Unsicherheit schwanden.

»Meine schöne Lorraine, was tust du da unten?«, fragte er. Sie sah seine glänzenden Schuhe blitzen, bevor er sie unter seine Beine zog, als er sich im Schneidersitz neben ihr niederließ. Sie versuchte, etwas zu sagen, irgendetwas, ihm zu erzählen, wie froh sie war, ihn nach all der Zeit zu sehen, aber er berührte ihre Lippen. Durch die Taubheit spürte sie nichts. »Jetzt bin ich hier. Denk nicht darüber nach, wie das möglich ist. Ich werde dir Gesellschaft leisten, bis jemand kommt. Es wird nicht lange dauern.«

Er strich ihr die auf Abwege geratenen Locken aus der Stirn und fuhr ihr mit dem Finger über die Wange, die für seine jungen Augen so alt aussehen musste. Sie wollte sich in seine Berührung hineinschmiegen.

»Es ist so lange her, und du siehst noch genauso aus wie früher«, sagte er.

Schmeichler. Er hatte schon immer die richtigen Worte gefunden. Wie sie das vermisste, seine Koketterie, die sich nie unehrlich angefühlt hatte. Eine Träne lief ihr über die Wange und fiel zu Boden. Er war so attraktiv und so jung. War es am Ende Zeit, sich zu ihm zu gesellen? War es am Ende Zeit für sie?

»Noch nicht, meine Schöne. Vorher musst du noch ein paar Dinge klären. Unsere Mädchen müssen es erfahren.«

Sie versuchte, den Kopf zu schütteln, aber sie schaffte es nicht. Es war ihr egal, falls jemand kam, und sie hatte nicht vor, jemandem etwas zu sagen. Sie wollte mit ihm gehen, bei ihm sein. Aber wenn sie jetzt nicht mit ihm gehen konnte, wollte sie sich diesen Moment ganz genau einprägen. Seine Hände lagen auf ihren, seine Nägel waren perfekt geschnitten und sauber, seine Haut war gebräunt von der Arbeit in der Sonne. Dunkle Haare sprenkelten seine Knöchel, wiesen auf das dunkle Haar auf seiner bekleideten Brust hin. Seine Lippen hatten exakt die gleiche Farbe wie Rosé-Champagner, erinnerte sie sich. Er musste sich gerade rasiert haben, denn seine üblichen Bartstoppeln waren nicht zu sehen.

Ein Schlüssel glitt ins Schloss, und bei dem Geräusch blickte er lächelnd zur Tür. »Sie ist da.«

Ihr Gesicht war von der Tür abgewandt, sodass sie nicht sehen konnte, wer da hereinkam – sie konnte nur beobachten, wie sein Lächeln breiter wurde, als er sah, wer es war. Lorraine blinzelte die Tränen weg, versuchte, ihre Spuren zu verwischen, damit, wer auch immer da gekommen war, sie nicht sah. Als sie aufhörte zu blinzeln, war er fort. Und ihr brach noch einmal das Herz, genau wie vor so langer Zeit.

»Mom«, sagte Regina. Ihre Füße klackten über den Boden. Sie hatte die Schuhe nicht ausgezogen, das vergessliche Mädchen. »Mom. Mom!«

Regina ließ eine Hand unter sie gleiten und bewegte ihren Körper, sodass sie einander ansehen konnten. »Warum sagst du nichts?« Ihre Stimme stieg vor lauter Panik an. »Mom?«

Schließlich begriff sie. Warum hatte Victoria sie nicht finden können? Regina war immer die Langsame gewesen. Endlich zog Regina ihr Handy heraus und wählte den Notruf.

»Guten Tag, mein Name ist G-Gina. Meine … meine Mutter liegt auf dem Boden.«

Tsts. Das war eine absolut irrelevante Information. Die Brust ihrer Tochter hob und senkte sich.

»Sie … sie spricht nicht.« Regina sah ihr ins Gesicht. »Ihre Augen sind offen, aber sie spricht nicht. Helfen Sie mir.«

Es war hart, dieses verbale Straucheln zu beobachten. Lorraine machte die Augen zu.

»Jetzt sind ihre Augen geschlossen. Bitte, bitte kommen Sie schnell.« Reginas Hand, die warm und überraschend beruhigend war, hielt ihre. Ihre Stimme verblasste zu einem Summen, und Lorraine ließ die Dunkelheit kommen. Vielleicht war er wieder da, wenn sie erwachte. Und dann würde es ihnen beiden gut gehen.

Bin ich deinen Erwartungen gerecht geworden?

Kapitel 4

Ihre Mom war warm, das war zumindest etwas.

»Mom. Mom.« Gina schlug ihr sanft ins Gesicht. Keine Reaktion. Ginas Atmung beschleunigte sich. Sie durfte jetzt nicht in Panik verfallen. Sie konnte ihrer Mom helfen. Sie begann, eine Liste zu machen.

1. den Notruf wählen

Danach wusste sie nicht, was sie tun sollte. Aber es war immerhin ein Anfang. Etwas, das sie tun konnte, um die Situation zu verbessern. Gina hatte mehr als einmal befürchtet, ihre Mutter auf dem Boden liegend vorzufinden. Sie war stets neugierig gewesen, wie sie wohl reagieren würde. Würde sie zusammenbrechen? Würde sie tun, was eine gute Tochter tun sollte, und Hilfe rufen? Oder würde sie die Tür schließen, zu Starbucks gehen, sich einen Latte kaufen und in einer halben Stunde wiederkommen? Sie war sich zumindest sicher, dass es ihr nie in den Sinn kommen würde, zu Starbucks zu gehen.

Während sie auf die Rettungssanitäter wartete, kümmerte sie sich um ihre Mom. Obwohl sie bewusstlos zu sein schien, sprach sie mit ihr, während sie ihren Körper überprüfte. Vielleicht war es wie im Koma, und sie konnte sie hören, und ihre Gegenwart beruhigte sie – obwohl es das erste Mal wäre, dass Gina Lorraine beruhigte.

»Okay, Mom. Sehen wir mal, wie es dir geht.«

Sie legte eine Hand auf Lorraines Handgelenk und beobachtete, wie ihre Brust sich hob und senkte.

»Du lebst. Du hast einen Puls, und du atmest. Das ist schon mal gut.«

Irgendwie war ihrer Mom die Hose heruntergerutscht, und sie lag in einer Pfütze. Vielleicht war sie in dem Wasser ausgerutscht und hatte sich den Kopf gestoßen. Gina holte ein Papiertuch, um es aufzuwischen.

»Bist du in dem Wasser ausgerutscht? Ist es das, was passiert ist? Ich wische das sofort weg.«

Doch als sie das Papiertuch in das Wasser tauchte und es sich gelb färbte, nahm ihre Nase den unverwechselbaren Geruch wahr.

Das war kein Wasser.

»Oh, Mom. Okay, mach dir keine Gedanken. Ich mache dich sauber. Alles wird gut.«