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Alicia ist am Ende. Nicht nur der Job ist futsch, sondern auch noch die Wohnung. Da fühlt es sich wie ein Wunder an, als ihr auf dem Hamburger Kiez ein Diplomatenkoffer mit Banknoten in die Hände fällt. Es ist offensichtlich das Geld von Verbrechern, die es sich nicht so einfach wegnehmen lassen werden, doch Alicia will endlich die Verliererstraße des Lebens verlassen und beschließt, die Chance zu ergreifen, irgendwo noch mal ganz von vorn anzufangen.Nachdem Silas an einer Fortbildung für Personenschützer bei Pascal Engel teilgenommen hat, vermittelt ihm Pascals Freundin, die gemeinsam mit ihrem Bruder ein Hotel besitzt, einen Job als Bodyguard für die Tochter eines arabischen Scheichs.Ein leichter Job, so scheint es, doch die Dame ist nicht gerade pflegeleicht - und schon gar nicht arabischer Herkunft, sondern eine freche norddeutsche Göre, die sich in gewaltige Schwierigkeiten manövriert hat ...Teil 8 der BDSM-Reihe "Hard & Heart".
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Seitenzahl: 291
Sara-Maria Lukas
HARD & HEART 8: BODYGUARD UND SCHLEIEREULE
© 2020 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels
www.plaisirdamour.de
Covergestaltung: © Mia Schulte
Coverfoto: © Shutterstock.com
ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-439-9
ISBN eBook: 978-3-86495-440-5
Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses eBook darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.
INHALT
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Autorin
„Es tut mir leid, Frau Kock. Die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen, aber eine Videoaufnahme kann man nicht fälschen, und Frau Volkmann sagt, sie weiß nichts von einem Auftrag, den sie an Sie weitergegeben haben soll.“
Alicia verkrampfte ihre Fäuste, während sie ihrem Abteilungsleiter in die wässrig schimmernden, grauen Augen sah. „Warum glauben Sie ihr mehr als mir? Seit ich hier arbeite, war ich keinen einzigen Tag krank. Ich habe alle Aufgaben bestens erledigt und nie etwas falsch gemacht.“
Er nickte bedächtig. „Deswegen bekommen Sie, trotz der leidigen Angelegenheit, ein sehr gutes Zeugnis. Die Geschäftsleitung will Ihnen ja nicht Ihre Zukunft verbauen. Fangen Sie einfach woanders von vorne an.“
„Das ist unfair! Das ist eine riesengroße Sauerei!“
„Frau Kock, Sie sind von den Überwachungskameras gefilmt worden, als Sie aus dem Lager Weinflaschen entnommen haben. Teure Weinflaschen. Das ist nun mal eine Tatsache.“
„Weil Frau Volkmann gesagt hat, dass der Juniorchef mir den Auftrag dazu gegeben hat! Wie oft soll ich das denn noch sagen! Ich habe die Kiste zum Privathaus des Chefs gebracht und dort in die Garage gestellt, wie ich es tun sollte!“
„Dort waren die Weinkisten aber nicht.“ Hoffmann lehnte sich zurück. „So leid es mir tut, Frau Kock, aber die Flaschen sind nie wieder aufgetaucht, und damit steht Aussage gegen Aussage. Frau Volkmann arbeitet schon länger als Sie für den Weinhandel Habernack und genießt deswegen auch mehr Vertrauen von der Geschäftsleitung. Seien Sie froh, dass Herr Habernack nicht die Polizei gerufen hat, sonst wären Sie jetzt vorbestraft.“
Alicia sprang auf. „Ich habe nicht gestohlen! Ich will sofort mit Eileen sprechen! Da stimmt doch was nicht! Die Frau lügt!“
Hoffmann machte eine besänftigende Handbewegung. „Frau Volkmann ist heute nicht im Büro. Sie hat sich krankgemeldet.“ Er schüttelte den Kopf. „Es hat auch wirklich keinen Sinn, weiter darüber zu diskutieren. Sie müssen das verstehen. Die Weinhandlung Habernack ist nicht irgendein kleiner Einzelhandelsbetrieb, sondern ein Großhandel mit internationalem Kundenstamm. Hier werden seit Generationen die exquisitesten Marken gehandelt, unsere Kunden sind Millionäre und Adelige. Hier können nur Angestellte arbeiten, deren Leumund weiß wie eine frisch gestrichene Wand ist.“ Er seufzte. „Es tut mir leid. Die Entscheidung ist gefallen und wird nicht rückgängig gemacht. Holen Sie Ihre persönlichen Sachen von Ihrem Arbeitsplatz und gehen Sie nach Hause. Sie dürfen nicht mehr an den Computer und sind freigestellt.“
Wie ein getretener Hund kam Alicia sich vor, als sie, begafft von den Kollegen, die natürlich per Gerüchteküche bereits bestens über ihren Rausschmiss informiert waren, den Weingroßhandel verließ. Sie presste die Lippen fest aufeinander und hielt den Kopf aufrecht. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Eileen Volkmann, diese falsche Kuh, hatte sie verarscht und so dafür gesorgt, dass sie in Verdacht geraten war, gestohlen zu haben. Aber das würde sie nicht so einfach auf sich sitzen lassen. Sie wollte wenigstens den Grund dafür wissen. Es musste einen geben. Keine Kollegin legte eine andere nur aus Spaß oder Langeweile so fies rein. Eileen glaubte wohl, durch ihre Krankmeldung sicher vor einer Konfrontation mit ihr zu sein. Pah! Die würde sich noch wundern!
Als Alicia ihren Kleinwagen erreichte, pfefferte sie den Karton mit ihren persönlichen Sachen aus dem Büro in den Kofferraum und setzte sich hinters Steuer. Sie wusste, wo ihre überaus freundliche Kollegin wohnte, und würde ihr einen Besuch abstatten, den die Gute so schnell nicht vergessen würde. Yeah! Auf in den Kampf!
Zum Glück baute sie in ihrer Wut keinen Unfall. Zwanzig Minuten nach ihrem Abgang aus dem Büro parkte sie ihr Auto nicht weit vom Eingang eines sechsstöckigen Hauses in Stellingen. Es war ein gepflegtes Wohngebiet mit Bauten aus den Neunzehnhundertneunziger-Jahren und bestimmt nicht die billigste Adresse in Hamburg.
Eileen Volkmann wohnte im dritten Stock. Alicia kannte ihre Wohnung, weil sie gemeinsam mit Sören mal zu einer Geburtstagsfeier bei ihr eingeladen gewesen war. Diese falsche Ziege! Nie hätte sie gedacht, von ihr so derbe verarscht zu werden.
Sie sprang aus dem Auto und marschierte los. Aus den Augenwinkeln nahm sie ein silbernes Cabrio auf dem Parkstreifen der anderen Straßenseite wahr und stutzte. Sören fuhr so einen Zweisitzer. Kopfschüttelnd ging sie weiter. Was sollte der um diese Zeit in dieser Straße wollen? Er war am Morgen ganz normal in seine Firma gefahren. Sie drehte sich noch mal um, sah auf das Nummernschild und erstarrte. Es war Sörens Auto. Was zum Teufel tat ihr Freund hier?
Plötzlich kribbelte es unangenehm in ihrem Nacken. Bei Eileens Geburtstagsfeier vor ein paar Monaten hatten sich Sören und Eileen gut verstanden. Zu gut?
Sie schüttelte den Kopf. Was für bescheuerte Gedanken. Sören würde sie nicht mit einer anderen betrügen. Alicia war erst vor sieben Monaten, nachdem sie die Zusage für den Job in der Weinhandlung bekommen hatte, nach Hamburg gekommen und bei Sören eingezogen. Sie liebten sich. Sie waren sich einig. Sie machten Zukunftspläne. Ihre Beziehung war sehr harmonisch. Sören würde sie garantiert nicht hintergehen!
Entschlossen drehte sie sich wieder Richtung Hauseingang.
Es musste ein blöder Zufall sein. Vielleicht besuchte er einen Kunden, der in dieser Straße wohnte. Ja, das war die plausibelste Erklärung.
Sie lief weiter zum Eingang und hatte Glück, denn zwei junge Typen verließen gerade das Haus. Bevor die Tür hinter ihnen wieder zufiel, schlüpfte Alicia hindurch. Sie nahm den Fahrstuhl, fuhr nach oben und klingelte bei Eileen.
Ihre Finger zitterten und in ihrem Magen rumpelte es, während sie darauf wartete, dass die Tür geöffnet wurde. Sekunde um Sekunde verging. Sie hörte Musik aus der Wohnung, jemand lachte, eine tiefe Männerstimme sagte etwas. Dann vernahm sie wieder das Kichern einer Frau.
Alicia klingelte erneut, doch anscheinend war die Musik zu laut, sodass man es drinnen nicht hörte. Die Tür blieb zu. Eine Nachbarin verließ ihre Wohnung und musterte sie mit gerunzelter Stirn, während sie an ihr vorbeiging und in den Fahrstuhl stieg.
Plötzlich kam sich Alicia total bescheuert vor. Ihre monstermäßige Wut war inzwischen Verbitterung und Erschöpfung gewichen. Was tat sie hier? Was erwartete sie von Eileen? Dass sie reumütig ihren Fehler zugeben würde? Alicia starrte auf die dunkelgraue Wohnungstür und die hellen Fliesen auf dem Boden. Ihr Blick verschwamm. Ihr Job war futsch und sie machte sich gerade total lächerlich mit ihren Rachegelüsten.
Sie schniefte. Was für eine blöde Idee war es gewesen, herzukommen. Eileen würde natürlich niemals zugeben, sie reingelegt zu haben. Und schon gar nicht vor dem Mann, der gerade bei ihr war. Warum sollte sie auch?
Raus hier, bevor Eileen doch noch öffnen und sie vor Scham vergehen würde, vor ihrer Tür erwischt worden zu sein. Fluchtartig verließ Alicia den Flur, eilte durch das Treppenhaus nach unten und raus aus dem Haus.
Sie rannte den Gehweg entlang und hatte das miese Gefühl, aus Eileens Wohnungsfenstern im dritten Stock begafft zu werden. Sie warf einen schnellen Blick hinauf, aber da war niemand zu sehen.
Im Auto zögerte sie, loszufahren. Sören war in der Nähe. Vielleicht war der Besuch bei seinem Kunden bald vorbei und sie könnten einen Kaffee zusammen trinken. Es wäre tröstlich, ihm von ihrem Kummer und der Gemeinheit ihres Rauswurfs zu erzählen und sich von ihm in den Arm nehmen zu lassen.
Sie griff zum Handy und rief ihn an. Es klingelte mehrmals, ohne dass er sich meldete.
„Hi Schatz“, hörte sie dann doch in der Sekunde, in der sie den Anruf abbrechen wollte. „Ist es was Dringendes? Ich muss gerade zu einem Meeting, die warten schon im Konferenzraum auf mich.“
„Äh …“ Alicia stutzte. „Bist du im Büro?“
„Natürlich.“ Er lachte. „Wo sollte ich denn sonst sein, Süße?“
„Äh … ich habe …“ Alicia schluckte. Das konnte doch nicht wahr sein. Das war einfach absurd. Das war …
„Alicia? Was ist los? Sag was!“
„Äh … nein. Nichts Wichtiges.“
„Okay, dann bis heute Abend, Schatz.“
Es klickte und das Gespräch war beendet.
Wie gebannt starrte sie auf sein Cabrio, das keine fünfzig Meter entfernt auf dem Seitenstreifen parkte. Es war sein Auto. Kein Zweifel. Er log sie an. Bedeutete das …? Der Gedanke war so abstrus, dass sich alles in ihr sträubte, ihn zu Ende zu denken. Aber ihn verdrängen und wegfahren, das ging auch nicht. Vielleicht hatte er sein Auto verliehen. Natürlich! Das war die Erklärung! Ein Freund oder ein Kollege benutzte sein Cabrio … oder?
Wie betäubt saß sie regungslos am Steuer und hielt den Blick auf das silbern glänzende kleine Auto gerichtet.
*
Silas trank einen Schluck aus seinem Kaffeebecher, während er über die Situation nachdachte, die Pascal gerade im Theorieunterricht als Fallbeispiel geschildert hatte.
„Als Personenschützer geht es nicht nur darum, mit Waffen umgehen zu können und im Nahkampf zu überzeugen“, erklärte Pascal. „Ihr müsst immer einen klaren Kopf bewahren und Entscheidungen treffen, die die Sicherheit eures Schützlings garantieren.“
„Gibt es denn eine wirklich hundertprozentige Garantie, dass nichts schiefgehen kann?“, fragte Sinja und verschränkte die Arme vor der Brust.
Pascal stützte sich mit einem Fuß auf der Querstrebe eines Balkens ab und lehnte den Ellenbogen auf den Oberschenkel. „Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, aber wir müssen so nah wie möglich rankommen.“
„Ich würde mit in ihr Schlafzimmer gehen. Da könnte ich sie am besten im Auge behalten“, antwortete Pete und Tina kicherte. „Natürlich würdest du das. Du baggerst doch selbst während des Lehrgangs alles an, was keinen Penis hat.“
Allgemeines Gelächter. Pascal hob die Hand und schüttelte den Kopf. „Ernsthafte Antworten, bitte.“
Sinja trank einen Schluck Kaffee aus ihrem Becher und seufzte. „Da ich in meiner Firma nur im Team arbeite und die Entscheidungen nicht selbst treffe, stellt sich mir das Problem nicht. Und ehrlich gesagt bin ich darüber auch echt froh. Es ist verdammt viel Verantwortung, die man trägt, wenn man allein arbeitet.“
„Was sagen die anderen?“ Pascal warf einen Blick in die Runde.
Jordan räusperte sich. „Ich würde versuchen, weitere Kollegen zu aktivieren, damit ich mehr Unterstützung habe, dann kann man draußen und drinnen gleichzeitig die Augen offen halten. Und falls das nicht möglich ist, würde ich die Nacht auf einem Stuhl vor der Schlafzimmertür verbringen, damit ich sofort da bin, falls tatsächlich jemand einbricht.“
Einige andere aus der Gruppe murmelten ihre Zustimmung.
Pascal nickte. „Okay.“ Er sah Silas an. „Und du? Was würdest du tun?“
Silas strich sich über das Kinn, während er überlegte. „Es würde mich nerven, mit der Dame auf dem Präsentierteller zu sitzen und darauf zu warten, angegriffen zu werden.“
„Fällt dir was Besseres ein?“
„Ich könnte meinen Schützling ins Auto packen und mit ihr in ein Hotel fahren. Auf jeden Fall würde ich darauf bestehen, dass die Polizei über die anonymen Briefe informiert wird, egal ob die Frau das will oder nicht. Es handelt sich ja eindeutig um eine Morddrohung und schließlich geht es dabei auch um meine Sicherheit. Optimal wäre es, wenn die Bullen dem Stalker in ihrem Haus eine Falle stellen würden, während ich mit der Frau an einem sicheren Ort warte.“
Pascal nickte. „Sehr gut.“ Er sah in die Runde. „Das meine ich mit denken und entscheiden. Minimiert das Risiko! Behaltet immer alle Möglichkeiten und auch eure eigene Sicherheit im Auge. Und jetzt, ab in die Mittagspause. Wir sehen uns um fünfzehn Uhr beim Selbstverteidigungstraining.“
Alle erhoben sich und verließen den Übungsraum.
„Silas, hast du noch einen Moment?“, fragte Pascal und Silas drehte sich um. „Na klar, was gibt’s?“
„Setz dich!“
Silas gehorchte. Nachdem alle anderen weg waren, schloss Pascal die Tür und goss sich und Silas frischen Kaffee in die Becher.
„Was hast du nach diesem Lehrgang vor?“
Silas zuckte mit den Schultern. „Ich habe in Hamburg einen Job.“
„Legal mit Vertrag, Krankenversicherung und Kündigungsfrist?“
„Äh … nun ja.“
Pascal fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die kurzen Haare. „Keine Lust auf was Interessanteres als Rotlichtmilieu?“
Silas lachte trocken. „Mein Traumjob ist es nicht gerade, Freier vor die Tür zu setzen, die zu viel getrunken haben, und dabei noch aufzupassen, nicht versehentlich in einen Bandenkrieg zu geraten. Warum fragst du?“
Pascal lehnte sich zurück. „Fang hier bei mir als Co- Dozent an.“ Er trank einen Schluck Kaffee.
Silas stutzte und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Will Finn aufhören?“
„Nein, aber er ist oft wochenlang mit seiner Freundin unterwegs, und deshalb könnten wir hier einen weiteren Mitarbeiter gebrauchen.“
Silas grinste. „Pia wirkt gar nicht so vermögend, dass sie Finn so viel Urlaub finanzieren kann.“
Pascal winkte lachend ab. „Lass sie das nicht hören, sonst wird sie sofort fuchsteufelswild. Pia hat einen kleinen Verlag in Hamburg, ist politisch sehr aktiv und macht sich während ihrer Arbeit nicht nur Freunde. Seit sie vor zwei Jahren über ein Nest von Rechtsradikalen berichtet hat, flattern ihr ständig Drohbriefe ins Haus, deswegen wohnt sie bereits mehr hier auf dem Hof als in Hamburg. Allerdings plant sie in der nächsten Zeit einige Reisen, bei denen Finn sie begleiten will, um für ihren Schutz zu sorgen.“
Silas nickte. „Verstehe.“ Er grinste. „Okay, dann muss ich nicht lange überlegen und sage gerne zu.“
„Perfekt. Willst du hier auf dem Hof in einem der Gästezimmer wohnen?“
„Nein. Das ist mir viel zu einsam. Eine Kleinstadt sollte es mindestens sein. Außerdem müsste ich hier jeden Tag mit ansehen, wie ihr euren Frauen das Popöchen verhaut. Das hält auf Dauer ja kein Mensch aus.“
Pascal lachte. „Jeden Tag? Ein Mal! Ein einziges Mal bist du zufällig in mein Büro gekommen, als ich Kira übers Knie gelegt habe.“
„Und Finn und Pia habe ich versehentlich gestört, als ich letzte Woche mein Smartphone in der Scheune vergessen hatte und spätabends hinübergelaufen bin, um es zu holen.“ Er schüttelte sich theatralisch. „Sie war nackt und trug Nippelklemmen mit Gewichten dran. Das war mir vielleicht peinlich.“
Pascal gluckste. „Du glaubst doch nicht, dass ich dir abnehme, dass dich unsere Lebensweise belastet! Wir haben uns letztes Jahr in Henrys Club kennengelernt, wenn ich dich daran erinnern darf.“
„Ja, ja, ich weiß“, knurrte Silas und winkte ab. „Aber hier habe ich keine Frau, und als Junggeselle ist Zugucken pure Folter. Nachher kriege ich noch eine Sehnenscheidenentzündung vom vielen Wichsen.“
Pascal schlug ihm glucksend auf die Schulter. „Armer einsamer Junge. Vielleicht solltest du eine Kontaktanzeige aufgeben.“
„Na klar, am besten in der örtlichen Kreiszeitung: Ehemaliger Türsteher sucht masochistische Sub für regelmäßige Folter.“
„Die Frauen würden Schlange stehen, jede Wette.“ Pascal stand lachend auf. Er drehte sich in Richtung Tür, doch dann hielt er inne. „Ab nächsten Monat ist in Tims Haus meine ehemalige Wohnung frei. Vielleicht passt die für dich.“
„Tim?“
„Der Freund von Ella. Er hat ein Haus in Soltau, in dem der Dachboden zu einem Appartement ausgebaut wurde. Der derzeitige Mieter hat gekündigt. Soviel ich weiß, zieht er zu seiner Freundin nach Bayern und würde gerne einige Möbel an einen Nachmieter verkaufen. Das Appartement ist herrlich gemütlich. Ich habe selbst einige Jahre darin gewohnt und mich sehr wohl gefühlt. Ein weiterer Vorteil ist die Lage. Du hast nur zehn Minuten Fahrtzeit bis hierher und keine Stunde bis zu Henry. Und das Beste: Tim hat im Keller ein nettes Spielzimmer, das du bestimmt benutzen darfst, um die Bewerberinnen auf deine Anzeige zu testen.“
„Du sprichst von dem Freund von der Ella, die hier manchmal für uns kocht und rumschreit, wenn einer aus der Gruppe nach einem Querfeldeinlauf mit dreckigen Schuhen das Haus betritt?“
„Genau die.“
„Die steht auch auf BDSM?“
„Jepp.“
„Holy shit, das ist hier ja ein richtiges Nest.“
Pascal grinste augenzwinkernd. „Du wirst dich bei uns wohlfühlen, glaub mir. Du passt zu uns.“ Er streckte die Hand aus. „Komm, schlag ein. Auf eine gute Zusammenarbeit.“
Silas griff zu. „Okay, Boss, dann fahre ich heute Abend nach Hamburg, hole meine restlichen Klamotten ab und bin spätestens morgen zum Kursbeginn wieder hier.“
*
Alicia wusste nicht, wie lange sie im Auto gesessen und vor sich hin gestarrt hatte. Vermutlich war mindestens eine Stunde vergangen, als plötzlich ihre Aufmerksamkeit auf Eileens Hauseingang gelenkt wurde.
Die Tür ging auf und ein Paar kam heraus. Sie waren beide schlank. Der Typ trug einen Anzug und die Frau einen kurzen, engen Rock. Er war gut zehn Zentimeter größer als sie und hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt. Nebeneinander schlenderten sie den schmalen Fußweg bis zur Straße entlang. Dort küssten sie sich, bevor sie sich trennten; sie ging links herum und er rechts herum zu seinem Auto.
Alicia beobachtete das Paar und regte sich nicht. Sie hatte die beiden sofort erkannt, aber ihr Verstand wollte diese Tatsache nicht akzeptieren. Es tat zu sehr weh. Sie betrachtete diese Menschen, als wären sie Fremde. Es musste ein Irrtum sein. Es waren bestimmt Doppelgänger. Das gab es doch!
„Verflucht!“ Sie schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Natürlich waren es keine Doppelgänger. Der Mann war Sören und die Frau Eileen. Ihr Freund hatte eine Affäre mit ihrer Kollegin, und nun wusste Alicia auch, warum sie auf so fiese Art ihren Job verloren hatte.
Während sie darum kämpfte, diese ungeheure Wahrheit zu akzeptieren, liefen ihr die ersten Tränen die Wangen herunter. Ärgerlich wischte sie sie mit dem Handballen ab und presste die Lippen zusammen. Es war die fiese ungeschminkte Realität: Ihr Freund Sören war in Eileens Wohnung gewesen, als er vorhin mit ihr telefoniert hatte. Er hatte sie angelogen. Ihr Freund Sören hatte gerade ihre ehemalige Kollegin Eileen zum Abschied geküsst. Kein Wangenkuss, kein schneller Kuss mit geschlossenen Lippen, ein richtiger Kuss mit Zunge. Und er hatte lange gedauert. Sehr lange.
Wie hypnotisiert beobachtete Alicia, wie Sören in sein schickes Cabrio stieg und davonfuhr. Er hatte sie nicht gesehen, obwohl ihr Auto nicht sehr weit weg vom Haus geparkt war, aber es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, seine Umgebung abzuchecken. Warum auch, er fühlte sich sicher.
Erst als der silberne Wagen um die nächste Ecke verschwunden und auch Eileen nirgends mehr zu sehen war, erwachte Alicia aus ihrer Erstarrung. In ihrem Bauch zog sich etwas zusammen, sie schmeckte bittere Galle und das Essen kam ihr hoch. Würgend sprang sie aus dem Auto und übergab sich an einem Baumstamm neben dem Fußweg.
Tränen strömten ihr aus den Augen, als sie sich aufrichtete. Ihr Magen krampfte immer noch und sie krümmte sich. Eine ältere Frau wechselte die Straßenseite und schüttelte missbilligend den Kopf.
Alicia ließ sich wieder auf den Fahrersitz ihres Autos fallen und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Sie fuhr los, ohne zu wissen, wohin sie wollte. Erst als immer mehr Tränen ihre Sicht verschwimmen ließen, bremste sie am Straßenrand und schaltete den Motor ab. Sie schluchzte und schniefte, ihr ganzer Körper zitterte und bebte.
Als sie allmählich wieder ruhiger wurde, stieg sie aus.
Auf der anderen Straßenseite gab es ein kleines Café. Sie trat ein, setzte sich an einen runden Tisch in der Ecke und bestellte einen Kaffee und ein Stück Schokoladensahnetorte.
Während sie aß und trank, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Was sollte sie tun? Wie sollte es jetzt weitergehen?
Sie hatte nicht nur ihren Job verloren, sondern auch ihren Freund und ihr Zuhause. Sie konnte unmöglich noch eine Nacht bei Sören bleiben. Das würde sie nicht aushalten. Zum Glück hatte sie noch keine eigenen Möbel, sondern nur ihre Klamotten in seiner Wohnung. Die passten in zwei Koffer und sie würde sie sofort abholen. Was war er für ein abgebrühter Lügner! Erst letzte Woche hatten sie darüber geredet, bald in eine größere Wohnung zu ziehen, damit sie ihre Sachen aus der Garage ihres ehemaligen Nachbarn in Stade endlich wieder bei sich hätte. Vor allem ihre Büchersammlung und ihren geliebten Ohrensessel vermisste sie inzwischen sehr. Zum Glück hatte sie die Garage vom alten Herrn Heinze nutzen dürfen, sonst wäre alles auf dem Sperrmüll gelandet, als sie ausgezogen war.
Zurück zu ihren Eltern zu ziehen, war keine Option. Die redeten nicht mehr mit ihr, seit sie zu Sören gezogen war. Vielleicht konnte sie für ein paar Nächte zu Julia, ihrer besten Freundin seit der Schulzeit. Nein, die machte ja gerade Flitterwochen in Thailand. So ein Scheiß!
Alicia war ganz allein in Hamburg, ohne Job und ohne Wohnung. Was für eine Katastrophe. Auf ihrem Bankkonto war auch nicht mehr viel Geld, aber für ein paar Nächte in einem günstigen Hotel müsste es reichen. In zwei Wochen würde noch eine letzte Gehaltszahlung von der Weinhandlung überwiesen werden und Sören musste ihr die Zehntausend von ihrem Sparbuch wiedergeben, die er für sie in Aktien angelegt hatte. Damit könnte sie sich eine Weile über Wasser halten, bis sie einen neuen Job und ein Zimmer in einer WG gefunden hätte.
Der Kuchenteller war leer und der Kaffee ausgetrunken. Sie atmete tief durch. Als Erstes musste sie in Sörens Wohnung fahren und ihre Sachen packen, sich dann ein Hotel suchen und mit dem Laptop im Internet die Stellenangebote durchforsten.
Sie trat an den Tresen, um zu bezahlen.
Der Kellner tippte den Betrag in die Registrierkasse und lächelte sie an. „Sieben Euro fünfzig, bitte.“
Alicia nickte und öffnete die Handtasche, um ihr Portemonnaie herauszuholen, doch das war nicht da. Sie runzelte die Stirn, suchte hektisch ihre Jackentaschen ab und wühlte noch mal die ganze Tasche durch. „Es muss im Auto liegen“, murmelte sie und deutete in Richtung Tür. „Ich komme gleich wieder.“
Der Kellner nickte. „Okay, ich warte.“
Sie ließ ihre Handtasche bei ihm stehen und lief hinaus, suchte im Auto alles ab und musste doch ohne Portemonnaie wieder zurückgehen.
Als sie erneut vor dem Tresen stand, hob sie in einer resignierenden Geste die Hände. „Tut mir leid, ich finde mein Geld nicht. Ich muss es heute Morgen zu Hause liegen gelassen haben.“
Der Kellner seufzte. „Können Sie sich ausweisen?“
„Nein, meine Papiere sind auch alle im Portemonnaie.“
„Na klasse. Muss ich jetzt die Polizei rufen?“
In Alicias Augen sammelten sich Tränen und sie schüttelte den Kopf.
Er stöhnte. „Meine Güte, geht das auch ohne heulen?“
„Tut mir leid.“ Sie schniefte. „Ich habe heute meinen Job verloren, meinen Freund beim Fremdgehen erwischt und jetzt ist auch noch mein Portemonnaie mit allen Papieren verschwunden.“
Der Kellner schüttelte seufzend den Kopf. „Na, das nenne ich mal einen Pechtag. Hauen Sie schon ab.“
„Danke. Ich komme ganz bestimmt wieder und bezahle, was ich Ihnen schulde.“
„Ja, ja.“ Er winkte ab und Alicia verließ das Café.
Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte und Sörens Wohnung betrat, war es später Nachmittag. Er war nicht da.
Sie lief ins Wohnzimmer und in die Küche. Dort entdeckte sie ihr Portemonnaie auf dem Tisch und atmete erleichtert auf. Schnell steckte sie es ein. Dann holte sie aus dem Abstellraum ihre beiden Koffer. Im Schlafzimmer warf sie sie auf das Bett, öffnete die Türen des Schrankes und begann, ihre Klamotten herauszuholen und einzupacken.
„Okay, ich nehme das Zimmer.“ Alicia nickte der jungen Frau am Empfang zu.
„Wie lange wollen Sie bleiben?“
„Buchen Sie erst mal fünf Tage, bitte.“
„Okay. Das sind dann zweihundertvierzig ohne Frühstück.“
Alicia zückte ihre Kontokarte, doch die junge Frau winkte ab. „Nur Kreditkarten oder bar.“
„Oh. Okay, dann muss ich schnell zum nächsten Automaten laufen und Bargeld abheben.“
„Tun Sie das. Hundert Meter rechts lang und dann um die Ecke, da ist ein Supermarkt, in dessen Eingangsbereich es auch einen Geldautomaten gibt.“
„Super. Danke. Bis gleich.“
Alicia lief los. Sie fand den Automaten und steckte ihre Karte hinein, doch als sie die Summe eingab, bekam sie die Meldung, dass die Auszahlung nicht möglich sei.
Irritiert starrte sie auf den Bildschirm des Geldautomaten. Nicht möglich? War da was defekt? Sie zog die Karte aus dem Automaten, betrachtete sie von beiden Seiten und rieb über den Magnetstreifen. Kein Dreck, keine Schramme. Alles in Ordnung. Sie steckte sie noch einmal in den Schlitz und ließ sich ihren Kontostand anzeigen. Eine rote Zahl erschien. Alicia starrte darauf. Minus? Auf ihrem Konto war ein Minus? Der Dispositionskredit fast ausgereizt? Ganze vier Euro und neunzig Cent konnte sie abheben? Fassungslos starrte sie auf den Monitor.
„Hey, dauert das noch länger?“ Eine tiefe Männerstimme hinter ihr brachte sie wieder zur Besinnung.
„Nein“, murmelte sie, zog ihre Karte heraus und lief davon. Wieso war ihr Konto überzogen? Da mussten noch mindestens dreihundertfünfzig Euro drauf sein. Das wusste sie genau.
Sie lief zurück zu dem billigen Hotel und sagte die Buchung ab. Während sie zu ihrem Auto trottete, brannten erneut Tränen in ihren Augen. Konnte es denn noch mieser werden? Was sollte sie jetzt tun? Wo war ihr Geld? Wo sollte sie übernachten? Wo bekäme sie was zu essen her?
Ihr Auto war zweihundert Meter von der kleinen Pension entfernt in einer engen Nebenstraße geparkt. Es stand auf dem Parkplatz vor dem Hintereingang eines Nachtclubs, denn dort hatte sich die einzige freie Parklücke befunden.
Zum Glück hatte sie ihr Gepäck noch nicht mit ins Hotel geschleppt, sonst müsste sie es jetzt wieder zurücktragen. Im Auto holte sie den Laptop raus, ging über ihren Handy-Hotspot ins Internet und öffnete die Banking-App.
In der Umsatzliste fiel ihr Blick auf eine Barabhebung vom frühen Vormittag. Die Erkenntnis sickerte langsam in ihren Verstand: Sören. Er wusste als Einziger ihre Geheimzahl. Irgendwann, vor ein paar Wochen, war seine Karte defekt gewesen und sie hatte ihm ihre zum Einkaufen mitgegeben. Und heute Morgen hatte sie ihr Portemonnaie gar nicht vergessen, sondern er hatte es aus ihrer Tasche genommen. So musste es gewesen sein. Er musste das Geld abgehoben haben, nachdem sie zur Arbeit gefahren war.
Sie griff zum Smartphone und wählte seine Nummer.
„Ja?“
„Du hast heute Geld von meinem Konto abgehoben.“
Er lachte. „Nur deinen Mietanteil.“
„Ich habe meinen Mietanteil, wie immer, am Anfang des Monats überwiesen.“
„Und ich war, wie immer, mit viel zu wenig zufrieden.“
Alicia schluckte. Empörung und Zorn raubten ihr den Atem. „Ich habe dich heute Mittag mit ihr gesehen“, stieß sie heiser aus.
„Gut, dann weißt du ja bereits Bescheid, und ich muss dir nicht noch extra sagen, dass du deine Sachen packen sollst.“
„Du wusstest, dass sie mich reinlegt und dafür sorgt, dass ich meinen Job verliere.“
„Ich weiß nicht, wovon du redest.“
„Nein, natürlich nicht“, fauchte sie verbittert. „Was habe ich dir getan? Sag’s mir, was bringt dich dazu, so gemein zu sein?“
Er seufzte. „Das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert, Alli-Maus. Man trifft sich, man geht auseinander. So ist das, so funktioniert das.“
Alicia schluckte. „Ich will mein Geld zurück. Und die Zehntausend von meinem Sparbuch, die du für mich in Aktien angelegt hast.“
„Tut mir leid, die sind futsch. Es war eine Fehlinvestition.“ Er seufzte theatralisch. „Das kommt im Aktiengeschäft vor. Mal gewinnt man, mal verliert man. Und das Bargeld von heute Morgen hat mir jemand auf der Straße geklaut. Was soll man dazu sagen. Die Welt wird ja immer gefährlicher.“
„Damit kommst du nicht durch“, flüsterte sie, doch er lachte nur. „Alles Gute, Schätzchen. Ich muss jetzt Schluss machen. Im Gegensatz zu dir habe ich einen Job und keine Zeit, um nach Herzenslust privat zu telefonieren.“
Ehe sie antworten konnte, hatte er aufgelegt.
In ihr brodelte unbändige Wut. Nie in ihrem Leben war sie so mies behandelt worden. Sie würde jetzt sofort in seine Wohnung fahren, von dort mitnehmen, was sie zu Geld machen konnte, und den Rest seiner Einrichtung mit Wonne zertrümmern.
Doch bevor sie den Motor startete, fiel ihr ein, dass sie ihren Schlüssel auf dem Küchentisch zurückgelassen hatte. Sie konnte nicht mehr zurück. Was für ein Scheiß! Warum war sie in ihrem Zorn und ihrer Verbitterung so blöd gewesen, sich selbst den Zugang zur Wohnung zu verschließen, solange er ihr noch so viel Geld schuldete?
Sie lehnte den Kopf auf das Lenkrad und heiße Tränen kullerten ihre Wangen hinunter.
Was war an ihr nicht in Ordnung? Stand auf ihrer Stirn geschrieben: Bitte verarscht mich alle?
Ihre Mutter hatte sie nicht gewollt, und ihre Adoptiveltern hatten sie nicht bei sich aufgenommen, weil sie sich so sehr ein Kind wünschten, sondern weil sie sich für ihre persönliche Altersversorgung einen Nachfolger fürs Geschäft heranziehen wollten. Als Alicia dann mit Sören nach Hamburg gegangen war, anstatt weiterhin vierzehn Stunden am Tag in der kleinen Reinigung zu schuften, hatten sie ihr Undankbarkeit vorgeworfen und gesagt, dass sie sich nicht einbilden bräuchte, jemals zu ihnen zurückkommen zu dürfen.
Und Sören? Warum hatte der überhaupt was mit ihr angefangen und sie nach Hamburg gelockt? Um ihre zehntausend Euro in die Finger zu kriegen? „Ich kann dir dein gespartes Geld so anlegen, dass es sich innerhalb von einem Jahr verdoppelt“, hatte er gesagt. Wie dämlich war sie gewesen, ihm zu glauben!
Sie hatte nichts und niemanden mehr. Nur noch die alte Klapperkiste von Auto, in der sie gerade saß und die jederzeit den Geist aufgeben konnte.
Irgendwann putzte sie sich die Nase, öffnete das Portemonnaie und zählte das Bargeld darin. Der Kellner im Café musste auf sein Geld warten, bis sie wieder einen Job hatte; das bisschen, was sie noch hatte, brauchte sie, um sich etwas zu essen zu kaufen. Immerhin acht Euro und ein paar Cent. Es reichte für eine Portion Pommes und ein Bier. Danach würde sie die Nacht im Auto verbringen und zusehen, am Morgen irgendeinen Job zu ergattern, oder sich schlaumachen, wie das mit dem Beantragen von Arbeitslosengeld funktionierte.
Der Tank war noch dreiviertelvoll. Vielleicht sollte sie in einen der Ferienorte an der Ostsee fahren. Wenn man dort in einem Hotel als Zimmermädchen arbeitete, konnte man im Personaltrakt wohnen. Das hatte Julia nach dem Abitur einige Monate lang gemacht und Alicia vorgeschwärmt, wie viel Spaß sie in ihrer Freizeit mit den Kollegen am Strand gehabt hatte. Ja, das war ein Plan, und solange es noch Pläne gab, war noch nicht alles verloren.
*
Silas blieb in der Mitte des Raumes stehen und sah sich noch einmal um. Das kleine Zimmer mit den vergilbten Tapeten hinter der Gaststube von Tackos Kneipe war lange sein Zuhause gewesen. Nun begann eine neue Phase in seinem Leben. Tief durchatmend griff er nach seinem Seesack und ging hinaus in den Flur.
Im Schankraum stellte er ihn an die Wand und setzte sich auf einen Barhocker an den Tresen, dessen Holz im Laufe der Jahrzehnte ungleichmäßig abgegriffen und fast schwarz geworden war. Tacko hatte die Kneipe von seinem Vater übernommen und der wiederum von seinem Vater. Die Heringsschenke war eine echte alte Seemannsherberge, die, dank ihrer Lage in einer versteckten Seitenstraße, von den Touristen weitestgehend übersehen wurde. Hier standen immer noch die Aschenbecher auf den Tischen und niemand scherte sich um ein Rauchverbot in der Gastronomie.
Nur drei Gäste saßen um diese Zeit vor ihren Biergläsern im schummrigen Kneipenlicht. Es war noch früh. Hier, im Umfeld der Reeperbahn, pulsierte das Leben erst gegen Mitternacht.
„Du wirst unseren Kiez vermissen, Kumpel“, sagte Tacko, während er ein Bier für sich zapfte und eine Flasche Alkoholfreies für Silas öffnete.
„Glaube ich nicht“, brummte Silas. „Mein feiner Arbeitgeber versucht bereits seit einer ganzen Weile, mich in seine miesen Geschäfte reinzuziehen. Allein, für ihn als Aufpasser und Türsteher zu arbeiten, bedeutete schon, mit einem Bein im Knast zu stehen. Ich bin froh, damit abzuschließen.“
Tacko schnaubte verächtlich. „Sascha Danza ist doch bloß ein harmloser, humpelnder Zuhälter.“
„Der sich in der letzten Zeit sehr häufig mit den Leuten von Ivan Monocci getroffen hat.“
„Ups.“ Tacko pfiff leise durch die Zähne. „Dann hat er bestimmt vor, in den Drogenhandel einzusteigen, oder steckt vielleicht schon drin.“
„Genau.“
„Okay, ich verstehe, dass du aus der Nummer rauswillst.“
Silas nickte. „Aber ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast. Ruf mich an, falls du mich brauchst. Ich kann jederzeit innerhalb einer Stunde hier sein.“
Tacko winkte ab. „Sei nicht so dramatisch.“
Silas lachte. „Torsten Landmann, du hast mich von der Straße geholt. Ohne dich wäre ich jetzt vermutlich schon tot oder zumindest kurz davor.“
„Übertreib nicht so. Du warst durch den Knast von den Drogen runter und hättest auch ohne mich einen Neuanfang hinbekommen.“ Er stellte die Biere auf den Tresen und Silas legte seine Hand auf Tackos Arm. „Ernsthaft, Mann, danke für alles, und wenn du mich brauchst, ruf an. Jederzeit. Ich bin nicht weit weg.“
„Trink, Silas, lass uns einen letzten gemütlichen Abend zusammen verbringen, bevor du einen Arbeitsvertrag unterschreibst und deine Freiheit gegen die Sklaverei der Acht-Stunden-Tage-Plackerei eintauschst.“
*
Gegen dreiundzwanzig Uhr trank Alicia den letzten Schluck Bier und ging noch mal zum Klo, ehe sie bezahlen und die Kneipe verlassen wollte. Heringsschenke hieß die urige Gaststätte, in der sie für das eine Getränk, das sie sich an diesem Abend gegönnt hatte, gelandet war, nachdem sie in einer Imbissbude Pommes gegessen hatte.
Sie hatte sich ganz hinten in die Ecke gesetzt und so lange wie möglich in klitzekleinen Schlucken am Bierglas genippt, um einen Grund zu haben, noch nicht zu gehen. Die Gaststube war einfach und sehr altmodisch, aber auf jeden Fall gemütlicher als ihr Auto. Die Einrichtung schien hundert Jahre alt zu sein und der Typ hinter dem Tresen war sein eigener bester Kunde. Er trank ein Bier nach dem anderen, während er mit einem Gast plauderte, der ihr schon beim Reinkommen aufgefallen war. Es war ein großer Typ mit breiten Schultern, in abgewetzten Jeans und einer grauen Jacke. Er hatte ihr einen kurzen Blick zugeworfen, als sie an ihm vorbeigegangen war, und sein Gesichtsausdruck hatte dabei Misstrauen und Argwohn ausgedrückt. Irgendetwas an ihm faszinierte sie, obwohl er eine eher beängstigende, fast schon unheimliche Ausstrahlung hatte. Immer wieder war ihr Blick wie unter Zwang zu ihm gewandert, während sie an ihrem Bier genippt hatte.