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Claas steht absolut nicht darauf, dass ihn jemand fortwährend "Homo" nennt und beleidigt. Und erst recht nicht auf angedrohte Schläge und Demütigungen. Warum zum Teufel er den Skinhead Jockel dennoch faszinierend findet, kann er sich daher nicht erklären. Claas' Leben als schwuler Jugendlicher in einer ostdeutschen Kleinstadt ist ohnehin schon schwierig genug. Jockels widersprüchliches Verhalten gibt ihm Rätsel auf, und plötzlich begegnen sie sich auch noch alleine und im Dunkeln ...
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Seitenzahl: 483
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Chris P. Rolls
© dead soft verlag, Mettingen 2013
http://www.deadsoft.de
© the author
Coverbild: Nicola Scheurle
Front: © Lisa Spreckelmeyer /www.pixelio.de
Rückseite: © Jürgen Nießen / www.pixelio.de
1. Auflage
ISBN 978-3-943678-61-1 (print)
ISBN 978-3-943678-62-8 (epub)
Für einen besonderen Leser.
Danke Munro für dein Feedback und die Unterstützung.
Die Cola schmeckte verwässert. Vielleicht lag es an den drei Eiswürfeln, oder daran, dass sie gestreckt wurde. Und wahrscheinlich fiel nur ihm das auf. Die wenigsten Gäste nahmen in diesem Club etwas ohne Alkohol zu sich.
Claas trank einen weiteren Schluck und sah sich verstohlen um. Es war relativ hell am Tresen, wo Neonröhren über seinem Kopf genügend Licht abgaben. Die Wände weiter hinten waren dunkel gestrichen und wurden nur im oberen Teil von Wandlampen rot angestrahlt. Ein typischer Jugendclub mit Disco, die zum Glück in zwei Bereiche zum Tanzen und Sitzen eingeteilt war. Die Musik war am Tresen gedämpfter, sodass man reden und verstanden werden konnte.
Wenn man jemanden zum Unterhalten hat. Claas seufzte und versuchte erfolglos, Gesichter im Halbdunkel auszumachen. Die Tanzfläche lag weiter hinten, wo die überwiegend jugendlichen Gäste mit dem flackernden Licht um die Wette tanzten.
Dieser Club war nicht die angesagteste Location, allerdings fiel bei den drei, die in erreichbarer Nähe zur Auswahl standen, die Entscheidung nicht wirklich schwer. Es sei denn, man stand auf Flower-Power Musik oder Schwerlast Heavy Metal. Nicht dass Claas etwas gegen härtere Musik gehabt hätte, doch die Gesellschaft im „ShowDown“ schreckte ihn ebenso ab, wie die im Hippieclub.
Sein Besuch in diesem Club war im Grunde ein Reinfall. Er wohnte im falschen Teil der Welt, in einem viel zu kleinen Städtchen, welches woanders gerade mal Dorf genannt werden würde. Zu klein und zu rückständig und für jemanden wie ihn völlig ungeeignet, um mehr als freundschaftliche Kontakte zu knüpfen.
Überall an den kleinen Tischen knutschten Pärchen herum und die Wahrscheinlichkeit, dass ihn eins der Mädchen anmachte, war viel größer, als dass er einem Jungen auffiel.
Claas wirkte vielleicht etwas unscheinbar, allerdings war er nicht unattraktiv. Er trug enge Jeans und ein helles, modisches T-Shirt. Man sah ihm den Sportler an, auch wenn er die Aktivitäten im Hinblick auf das Abi im nächsten Jahr auf das Handballspielen eingeschränkt hatte. Er achtete durchaus auf sein Äußeres, war stolz auf sein Aussehen. Das dunkelbraune Haar mit dem modischen Schnitt hatte er an den Seiten etwas zurückgegelt und die braungrünen Augen in seinem schmalen Gesicht mit dem leichten Bartschatten wirkten durchaus anziehend. Zumindest auf Frauen.
Seufzend nahm er einen weiteren Schluck und ließ den Blick ausgerechnet zu der Gruppe von Jungs schweifen, bei denen er sich am allerwenigsten Chancen ausrechnen durfte.
Vier Skinheads.
Ihre Kleidung bestand aus schwarzen, knöchelhohen Springerstiefeln und grün oder braun gemusterten Armeehosen oder ausgeblichenen Jeans. Muskelshirts oder weiße Unterhemden bekleideten ihre Oberkörper. Keiner von ihnen war extrem muskulös, der eine eher hager und ein anderer ein wenig rundlich, dennoch strahlten sie Kraft und rohe Wildheit, ja sogar eine gewisse Gefährlichkeit aus. Selbst jetzt, wo sie Bier trinkend und lachend beieinandersaßen.
Es war vor allem der eine von ihnen, mit stoppeligen, dunklen Haaren und einem angedeuteten Hauch von Bartschatten, der Claas' Blicke magisch anzog. Sein verfluchtes Pech, dass er auf Typen wie diesen total abfuhr. In etwa gleich groß wie er selbst, ein wenig breiter in den Schultern und mit markantem Kinn. Die Augenfarbe war auf die Entfernung nicht auszumachen, aber er hatte ein äußerst sympathisches Lächeln, und als er seinen Kumpel links freundschaftlich in den Arm nahm, musste Claas unwillkürlich leise aufseufzen.
Das kurze weiße Hemd ließ viel zu viel von den Bauchmuskeln des Skins erahnen und eine silberne Kette blitzte im Ausschnitt. Die Anhänger daran sahen aus, wie die amerikanischen Hundemarken aus der Armee.
Natürlich. Das passt zu solchen Typen. Diese Skinheads geben sich gerne militärisch, dachte Claas geringschätzig.
Er kannte sich nicht damit aus, aber die rechte Szene in dieser winzigen Stadt war zum Glück nicht wirklich nennenswert, wenn man den Zeitungsberichten Glauben schenkte. Es gab natürlich die Hakenkreuze in den Graffitis am Bahnhof, neben anderen, wilden Kürzeln, deren Bedeutung vermutlich nur die Sprayer selbst kannten. Von gewalttätigen Übergriffen gegen Ausländer und Homosexuelle war Claas allerdings nichts bekannt.
Er musste zugeben, dass diesem Typ der Armeelook durchaus stand. Vermutlich würde er auch sehr gut in einer engen Badehose aussehen, mit sonnengebräunter Haut, sich auf einem Laken räkelnd. Claas stellte sich vor, wie er ihm den Rücken eincremen würde, die Brust, den Bauch. Wie sich die Bauchdecke heben und senken, seine Finger darüber gleiten und jede Kontur nachzeichnen würden. Ein paar Tropfen im Bauchnabel, die er mit dem kleinen Finger verteilen würde ... Sein Atem beschleunigte sich, und sein Herz klopfte verdächtig schnell. Verlegen senkte er den Blick.
Verflixt, ihm war ein wenig warm geworden und auch sein ganz privater Freund hatte sich geregt. Die Vorstellung war aber auch zu schön. Nur schade, dass es beim sehnsüchtigen Anschmachten aus der Ferne bleiben würde. Ein Schwuler und ein Skinhead, das war ebenso unmöglich wie Wasser und Feuer zu vereinen.
Wenn der Typ nur nicht so unverschämt sexy aussehen würde. Diese kurzen Haare verlockten die Finger darüberzustreichen und zudem, fand Claas, hob die Abwesenheit von langen Haaren das Gesicht besonders gut hervor.
Gerade prostete der Skin seinen Freunden zu. Laut lachend stießen sie ihre Bierflaschen gegeneinander. Hastig wandte Claas den Blick ab. Nicht auszudenken, wenn der Typ bemerkte, wie er ihn ansah. Der würde ihn gnadenlos am Boden zertrampeln, wenn er auch nur einen Funken von seinen wahren Gedanken ahnen würde. Ein Homo, der sexuelle Fantasien von einem Skinhead hat. Da konnte er auch gleich seinen Grabstein bestellen.
Missmutig widmete sich Claas seiner Cola. Seine Alibifreundinnen Kati und Sophie, mit denen er eigentlich hergekommen war, hatten sich schon vor mehr als einer halben Stunde aus dem Staub gemacht. Logisch, für sie war die Auswahl an Kerlen deutlich größer als für ihn. Es war im Grunde doch von vornherein klar gewesen, dass er alleine nach Hause fahren durfte. Warum hatte er sich auch erst mitschleppen lassen? Blöde Idee.
Weil er sich auch mal richtig amüsieren sollte, hatten sie gesagt. Weil er jemanden kennenlernen sollte, tanzen, kuscheln, küssen und … Na toll, als ob das so einfach laufen würde, wenn man schwul war. Das klappte schon nicht auf irgendwelchen Schulveranstaltungen oder Geburtstagspartys, von denen sich Claas deshalb auch fernhielt. Jeder Junge, der wusste, dass er schwul war, vermied auf einer Party den direkten Kontakt zu ihm. Die, die es nicht wussten, wurden bald schon von den anderen schief angeschaut und heimlich aufgeklärt. Niemand wollte sich freiwillig in diese Schublade packen lassen.
Montag in der Schule würden die Mädels Claas ausführlich von ihren neuen Eroberungen berichten und er durfte neidvoll zuhören und weiterhin in Gesellschaft seiner treuen Hand davon träumen.
Fast jeder schien derzeit verliebt zu sein. Es war Sommer und täglich nahm die Hitze zu. Die Zeit der Liegestühle und Pools, der heißen Luft, die den Schweiß auf die Stirn trieb und der eiskalten Getränke, die den Körper angenehm kühlten. Die Jahreszeit der stickigen Hitze und abendlicher Gewitter, des heißen Asphalts, flirrender Luft und von Blumenduft geschwängerter Nächte.
In ein paar Wochen begannen die Sommerferien, Claas' letzte vor dem Abitur. Lange Wochen, in denen er sich in der Sonne räkeln und lange schlafen konnte. Und darüber nachdenken, wie man erfolgreicher als bisher mit anderen, möglichst schwulen, Jungs zusammenkommen könnte. Es gab in erreichbarer Nähe keine ihm bekannten Orte, an denen man Gleichgesinnte treffen konnte. Das hier war der Osten. Und er kam sich mitunter sehr einsam vor.
Er war in der Nähe der holländischen Grenze geboren worden. Ein Teil der Verwandtschaft lebte in Deutschland, einige in den Niederlanden. Ihnen hatte er auch seinen Namen zu verdanken. Die Kleinstadt, in der er seit drei Jahren mit seiner Mutter lebte, war nicht unbedingt das toleranteste und schwulenfreundlichste Pflaster. Vor allem nicht, wenn man diese Tatsache nicht ungewollt an die große Glocke hängen wollte. In der Schule war er noch nicht bei allen geoutet, aber Kati und ein paar seiner Freunde wussten es sehr wohl. Seither war der Kreis seiner männlichen Freunde geschrumpft, der seiner Weiblichen hingegen gewachsen. Nicht unbedingt zu seinem Nachteil, denn er war gerne mit Kati, Patricia und Sophie unterwegs.
Ja, er war schwul, trieb gerne Sport, sah Fernsehserien und er ging gerne shoppen. Nicht so exzessiv wie die Mädels, andererseits war er gerne dabei und gab seinen Kommentar ab. Claas mochte gute Klamotten, ging gerne ins Kino, liebte Tischtennis und Handball und konnte leidlich surfen. Und bin mit meinen achtzehn Jahren noch immer Single und Jungfrau. Dämliche Sache.
Ärgerlich kaute er an dem Strohhalm in der Cola herum. Seine sexuellen Erfahrungen beschränkten sich bisher auf lächerliche gegenseitige Handjobs mit einem Jungen im Ferienlager vor zwei Jahren und einen Blowjob im angetrunkenen Zustand nach einem Konzert, an den er sich nur vage erinnerte. Beides waren nicht unbedingt die überragendsten Momente in seinem Leben gewesen. Für den Anfang war es aber wohl ganz okay. Mittlerweile hungerte er jedoch nach mehr. Nicht nur körperlich. Liebe war etwas, was ihn noch nicht erwischt hatte.
„Hey, du!“
Überrascht zuckte Claas zusammen und drehte sich um. Seine Augen weiteten sich erschrocken, denn der Skin mit den amerikanischen Erkennungsmarken kam auf ihn zugeschlendert, die leere Bierflasche in der Hand. Er lächelte breit, seine Augen blitzten.
Claas wurde heiß und kalt. Er schloss seine Hand fest um das kühle Colaglas, um zu verhindern, dass seine Finger zitterten. Das Lächeln war sympathisch, dennoch traute er dem Typ nicht. Meistens suchte diese Art von Jungs Ärger.
Unsicher sah er den Skinhead an. Der andere Junge bewegte sich lässig und doch voller Kraft. Die weite Hose saß unverschämt tief auf seinen Hüften, sodass man seine Hüftknochen sehen konnte, die von dem kurzen Hemd nur unzureichend verdeckt wurden.
Sonnenmilch auf brauner Haut. Das Bild wollte sich nicht wegdenken lassen. Unwillkürlich sammelte sich Hitze in Claas' Lenden. Peinlich berührt versuchte er den Blick abzuwenden.
Der Typ trat neben ihn an den Tresen und zeigte dem Barkeeper auffordernd seine leere Flasche. Er stellte sie ab und wandte sich Claas zu, musterte ihn mit einem spöttischen Grinsen, welches diesem eine Gänsehaut über den Rücken sandte. Unwillkürlich machte sich Claas kleiner. Der Typ war eindeutig auf Ärger aus und er saß hier ziemlich alleine.
„Meine Kumpels behaupten, du bist ein Homo“, eröffnete der Skinhead ohne Umschweife das Gespräch und stützte sich lässig auf einem Unterarm ab. Sein Lächeln blieb unverändert, leicht spöttisch. Claas' Magen zog sich eng zusammen, und Kälte kroch ihm vom Rücken über die Arme. Betroffen starrte er den anderen an, den Mund leicht geöffnet.
Schweiß und der Geruch eines herben Männerdeos mischten sich zu einer unglaublich guten Duftnote. Blaue Augen, die am Rande etwas grau wirkten, starrten Claas herausfordernd an. Ein Blick, der sich tief in ihn senkte und den Pulsschlag unweigerlich höher trieb.
Der Skinhead beugte sich näher heran. Die silbernen Plättchen baumelten an der Kette vor seiner Brust, spiegelten das bunte Licht der Strahler auf der Tanzfläche wider. Die wummernden Bässe der Musik durchdrangen Claas und verstärkten sein inneres Beben.
Was sollte er sagen? Das war eine klare Herausforderung, eine Beleidigung, der Auftakt zu einer Provokation, die zwangsläufig mit einer blutigen Nase enden würde, wenn er sich darauf einließ. Seiner blutigen Nase wohlgemerkt, denn auch wenn er sportlich war, konnte er es mit diesem Typ nicht aufnehmen.
Sein Blick huschte unstet über das kantige Gesicht. Kleine Lachfältchen verliehen den Augen einen täuschend sanften Ausdruck.
„Bist du einer?“ Der Skin lächelte noch immer verwirrend freundlich. Dennoch hatte seine Stimme einen fordernden Ton, der Claas weitere Schauer über den Rücken sandte.
Tief holte er Luft, zögerte einen winzigen Moment, während er den anderen intensiv musterte, und wog seine Antwort ab, bevor er möglichst gelassen antwortete: „Kann schon sein.“
Sein Herz schlug ihm hoch oben im Hals, und er war froh, dass die Worte halbwegs normal herausgekommen waren. Dennoch musste der andere merken, wie nervös er war. Es war schwerer selbstbewusst zu tun, als er gedacht hätte. Aber solche Typen suchten sich gerne schwache Opfer und er war nicht schwach, noch wollte er ein Opfer werden. Herausfordernd hob Claas den Blick.
Die graublauen Augen verengten sich, und das Grinsen wurde breiter. Völlig unerwartet lachte der Skin los.
„Echt? Du bist wirklich einer?“ Sein Blick wanderte unangenehm aufmerksam über Claas' Gestalt, der sich regelrecht seziert vorkam. Gleichzeitig löste diese intensive Musterung ein warmes Gefühl aus und erregte ihn. Es war bislang nicht vorgekommen, dass ihn ein anderer Mann derart genau gemustert hatte.
Noch immer lächelte der Skinhead, nahm dem Barkeeper das Bier ab und bezahlte es.
„Starrst du mich deshalb dauernd an, Homo?“, wollte er wissen. „Warum? Was gibt es da zu glotzen?“
Achselzucken war Claas' erste Antwort und er senkte ertappt den Blick. Leiser Ärger über die erneute Beleidigung regte sich unvorsichtig in ihm und er ermahnte sich zur Ruhe. Schlimm genug, wenn dieser Typ jetzt wusste, dass er schwul war. Er musste ihm keine weiteren Gründe geben, ihm eine zu verpassen. Andererseits wollte er auch nicht angreifbar wirken und abstreiten, was er nun mal war. Hier waren genug Leute, die zusehen würden. Dieser Typ und seine Kumpel würden es sicherlich nicht wagen, ihm vor Zeugen etwas zu tun. Hoffte er einfach.
Claas nahm einen großen Schluck von seiner Cola und blickte den anderen offen an. Dessen Gesicht war wirklich attraktiv. Neben den festen Lippen bemerkte Claas ein feines Grübchen. Die millimetergroßen Stoppeln am Kinn wirkten weich, luden ebenso zu einer Berührung ein wie die auf dem Kopf.
„Wenn … du ein Mädchen attraktiv findest“, wagte sich Claas sehr weit vor, ließ den Skin dabei nicht aus den Augen, „guckst du sie dir doch auch genauer an.“ Seine Stimme hob sich, wirkte herausfordernd. Hastig nahm er einen weiteren Schluck. Bin ich zu weit gegangen?
Der Skinhead grinste breiter und öffnete die Bierflasche. „Ich schaue hin, ob sie ordentliche Titten hat.“ Er sah demonstrativ an sich hinab. „Die habe ich eindeutig nicht, also was guckst du bei mir dann an, Homo?“
Claas schwieg, spielte mit dem Strohhalm herum. Die Situation behagte ihm nicht. Was auch immer er sagen würde, der Skin konnte es ihm falsch auslegen und er hatte keine Lust auf blaue Flecken oder gebrochene Knochen.
„Du starrst mir auf den Arsch, oder?“ Der Skinhead nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche. Sein Adamsapfel hüpfte unter der Schluckbewegung, und Claas bemühte sich rasch, seiner Cola mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Seine Finger waren feucht und sein ganzer Körper angespannt. „Oder eher in den Schritt.“ Der Skin rückte noch näher, lächelte süffisant und griff sich mit der freien Hand in selbigen. „Du starrst mir echt auf die Eier?“
Claas antwortete nicht. Angst schnürte ihm die Kehle zu und er hatte Mühe zu atmen. Das lief nicht wirklich gut. Wie komme ich da jetzt wieder raus? Andere Jungs fanden es nur halb so toll auf diese Weise gemustert zu werden wie er, und dieser Typ hier fand es ganz offensichtlich ganz und gar nicht erregend.
Der Skinhead war jetzt derart nahe, dass Claas seinen Atem spüren konnte, den Geruch von Bier wahrnahm. Vorsichtig schaute er den anderen an, die Hände fest um sein Glas gelegt. Verlegen versuchte er in den graublauen Augen zu lesen, abzuschätzen, was der Skin hören wollte. Die Nähe ängstigte und erregte ihn gleichermaßen, und der Gedanke war gleichfalls erschreckend.
„Macht dich das an, Homo?“ Der Skinhead hatte seine Stimme gesenkt, und obwohl Claas sich der Gefahr bewusst wurde, sie kalt und ziehend durch seine Eingeweide kroch, zog ihm der Klang der Stimme die Hoden zusammen und ließ sein Glied zucken. Nur ein Griff und der andere könnte ihn packen, seine Finger um seinen Oberarm schließen. Wenige Zentimeter trennten sein Gesicht von Claas.
Dessen Atem ging viel zu hastig, flog ihm von den Lippen. Sein Puls war schneller und lauter als der Beat der Musik. Feiner Schweiß perlte über Claas' Stirn und seine Haut fühlte sich kalt an.
Er wusste beim besten Willen nicht, was er sagen, ob er leugnen sollte. Ein Teil von ihm wollte hastig versichern, dass er nirgends anders als in das Gesicht gesehen hatte. Ein dummer, trotziger Teil hielt ihn allerdings davon ab, vor dem anderen Jungen zu kriechen und die Furcht, die er empfand, offen zu zeigen.
Sekunden dehnten sich unendlich, in denen diese graublauen, harten Augen ihn unentwegt musterten, herausforderten, ihn lockten.
Die Lippen des Skins zuckten und er näherte seinen Mund Claas' Ohr, der wie erstarrt sitzen blieb. Für einen winzigen, flüchtigen Moment wünschte er sich eine Berührung dieser Lippen, sehnte er das feine Gefühl von Feuchtigkeit auf seiner klammen Haut herbei.
„Behalt deine Augen besser bei dir“, raunte der Skinhead. „Niemand starrt mir auf meinen Arsch, Homo.“
Das Wort durchdrang Claas' Furcht und weckte seinen versteckten Widerstand und Stolz. Als sich der Skin zurückschob und ihn provozierend angrinste, entkam ihm daher ein entschlossenes: „Claas. Mein Name ist Claas.“
Der Skinhead musterte ihn noch einen unendlich langen Augenblick und begann glucksend zu lachen. Er schüttelte den Kopf, prostete Claas zu und meinte: „Meiner ist Jockel, und es ist mir scheißegal, wie du heißt.“
Weiterhin lachend entfernte er sich und ging zu seinen Kumpels zurück, die ihn grölend begrüßten. Claas wurde sich nachträglich erst bewusst, dass sie ihn und Jockel ganz genau beobachtet hatten.
Mit brennenden Wangen, aber unendlich erleichtert entließ er die angehaltene Luft. Das hätte daneben gehen können. Dieser Skin fand den Umstand, dass er attraktiv auf einen Schwulen wirkte, zu seinem großen Glück eher amüsant.
Mit noch immer zitternden Fingern trank Claas seine Cola aus. Er spürte die Blicke der vier Skinheads in seinem Rücken wie eine körperliche Bedrohung. Obwohl er auf jedes Geräusch horchte, konnte er von ihrer lautstarken Unterhaltung nur wenig aufschnappen. Ein paar Mal vermeinte er das Wort „Homo“ und „Schwanzlutscher“ zu hören, aber er drehte sich nicht um, wollte ihnen keinen Grund zu weiteren Provokationen geben.
Er verfluchte Kati und Sophie und seine Gutmütigkeit, mit ihnen hergekommen zu sein. Das war definitiv nicht sein Pflaster und zu hoffen, er würde unter den ganzen Heteros einen finden, der seine Interessen teilte, war eine der hirnrissigsten Ideen, die er je gehabt hatte.
Hinter ihm vernahm er die Stimmen der Skinheads dichter und wandte vorsichtig den Kopf. Jockel kam abermals zum Tresen, beachtete Claas jedoch nicht, brachte lediglich die Bierflaschen zurück. Unter gesenkten Lidern beobachtete ihn dieser. Allerdings tat Jockel so, als ob er gar nicht existieren würde.
Claas verfolgte ihren Aufbruch verstohlen, und erst als er sich sicher war, dass sie es nicht bemerken würden, schaute er auf.
Man konnte nicht viel in der Armeehose sehen, aber schon aus Prinzip warf Claas einen langen Blick auf Jockels Rückseite. Ja, der Skin hatte eine ansprechende Figur und Claas kam sich gleichzeitig mutig wie kindisch vor, dass er ihm tatsächlich auf den Hintern starrte und überlegte, wie er wohl ohne Hose aussehen würde.
Die Begegnung mit dem Skinhead wollte Claas nicht aus dem Kopf gehen. Immer wieder rief er sich ihr Gespräch in Erinnerung.
Unleugbar, der andere Typ hatte ihn tatsächlich angemacht, auch wenn er sich vor allem vor ihm gefürchtet hatte. Claas ärgerte sich nachträglich sehr, dass er derart leicht zu durchschauen gewesen war und auch sofort zugegeben hatte, was die Skinheads nur vermutet hatten. Er war heilfroh, dass diese bereits gegangen waren und er nicht fürchten musste, von ihnen verfolgt zu werden. Auf eine nächtliche Begegnung mit Jockel und seinen schlagfreudigen Kumpels hatte er wahrhaftig keine Lust.
Bewusst dehnte er daher die Zeit im Club aus, auch wenn er sich im Grunde tödlich langweilte. Ihm war nicht danach, alleine zu tanzen. Überhaupt war der ganze Abend ein einziges Fiasko. Wenn Kati und Sophie am Montag von ihrem tollen Wochenende vorschwärmen wollen, werde ich sie einfach stehen lassen, beschloss er verärgert.
Nach einem weiteren Glas schaler Cola verließ Claas den Tresen und auch den Club. Er hatte genug. Er würde sich daheim ins Bett legen, sich den Laptop schnappen und eines jener stereotypen Pornovideos anschauen, die es reichlich im Internet gab und die ihm die Illusion eines erfüllten Sexlebens vorgaukeln konnten. Oder ihm gnadenlos vorführten, was er eben nicht hatte. Egal, seine Hand war immerhin an den Job gewöhnt.
Frustriert kickte er eine zusammengeknüllte McDonaldstüte davon, die jemand achtlos weggeworfen hatte. In einem Jahr hatte er hoffentlich sein Abitur, würde studieren gehen und vielleicht ergab sich in einer Großstadt wie Hamburg, Berlin oder München endlich die Gelegenheit sein Schwulsein wirklich auszuleben.
Himmel, ich bin ein Kerl, natürlich brauche ich Sex wie die Luft zum Atmen. Irgendwo auf dieser Welt wird es doch wohl einen Typ geben, der Gefallen an mir findet.
In Gedanken versunken bemerkte Claas den Schatten hinter sich zu spät. Er keuchte verblüfft auf, als sich von hinten ein starker Arm um seinen Hals schlang und ihn ruckartig zurückzerrte. Claas verlor den Bodenkontakt, stolperte und krallte sich fest in den Arm. Instinktiv versuchte er, dem würgenden Griff zu entkommen. Hämisches Lachen ließ ihn erstarren und er sah sich hektisch um.
Scheiße. Die Skinheads hatten doch auf ihn gewartet, ihm unweit des Clubs aufgelauert. Kalter Schweiß brach Claas aus und er wand sich heftiger in diesem Griff, der ihm die Luft abzuschnüren drohte. Drei Skins traten auf ihn zu, musterten ihn überaus spöttisch. Demzufolge war es Jockel, der ihn festhielt. Claas versuchte nach hinten zu treten, doch der Skinhead wich aus, lachte lediglich höhnisch über Claas' hilflos anmutende Versuche.
„Zappelt wie ein Fisch an der Angel“, bemerkte einer der anderen. „Na, Homo, damit hast du nicht gerechnet, was?“
Angst lähmte Claas, und er schaute die drei unsicher an. Was sollte er tun? Würde ihn jemand hören, wenn er laut genug schrie? Andererseits wollte er nicht wie ein hysterisches Mädchen wirken, das sofort loskreischte und um Hilfe rief.
„Was wollt ihr?“, brachte er mühsam hervor, Jockels Griff hatte sich minimal gelockert. Claas' Herz raste, der Puls musste für den anderen deutlich spürbar sein.
„Hast du mir etwa doch auf den Arsch geschaut, als ich rausgegangen bin?“, fragte Jockel direkt an seinem Ohr. Die anderen lachten auf und stießen sich gegenseitig an.
Claas ließ sie nicht aus den Augen. Jockel drängte sich dicht gegen ihn, er konnte dessen Duft wahrnehmen, die festen Muskeln, die gegen seinen Rücken drückten. Täuschte er sich, oder rieb sich der andere nicht sogar an ihm? Blödsinn.
„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst deine Augen besser bei dir behalten, Homo?“, flüsterte Jockel. Seine Lippen berührten flüchtig Claas' Ohr. „Habe ich es dir nicht gesagt?“ Sein Griff wurde fester, der Körperkontakt noch intensiver. Claas zitterte, blanke Angst erfasste seinen Körper. Dies war kein Spiel. Diese Jungs würden ihn verprügeln.
„Ja“, würgte er. Zwecklos, es zu leugnen, und hektisch stieß er hervor: „Hör auf damit. Lass mich los.“ Er rang nach Luft, kämpfte darum freizukommen, doch Jockel lockerte den Griff nur soweit, dass Claas besser atmen konnte. Seine Augen brannten, die Angst wollte ihn flehen lassen, zerrte an seinem Stolz. Er würde nicht heulen, er würde gar nichts sagen. Er konnte nur hoffen, dass es schnell vorbei sein würde.
Gänzlich unerwartet ließ Jockel ihn jedoch los. Keuchend rang Claas nach Atem, rieb sich den Hals und blickte unsicher von einem zum anderen. Die vier Skinheads hatten ihn umkreist, standen grinsend um ihn herum und musterten ihr Opfer. Sie waren alle nicht extrem kräftig von Statur. Nicht wesentlich größer als er selbst. Bis auf Jockel, der eindeutig breitschultriger war.
„Der gibt es auch noch zu“, meinte einer der Skins verächtlich und spuckte vor Claas aus. „Wir sollten ihn vermöbeln“, schlug ein anderer, etwas Kleinerer mit Aknenarben vor und verzog das Gesicht verächtlich. „Schwuchtel.“ Er spuckte ebenfalls aus.
Claas' Körper spannte sich an. Seine Knie zitterten, aber er bemühte sich um einen festen Stand. Wenn die glaubten, er würde sich nicht wehren, hatten sie sich geschnitten. Er hatte keine Chance gegen alle vier, allerdings würde er sich verteidigen, solange er konnte. Zugleich wusste er, wie dumm das war, denn er würde sie damit nur noch mehr provozieren.
„Ja, lass uns einfach seine dämliche, schwuchtelige Fresse polieren“, schlug einer der Skinheads vor und schlug sich mit der Faust erwartungsvoll in die Hand.
Jockel lachte auf und schüttelte den Kopf. „Und ihm sein hübsches Gesicht ruinieren?“, meinte er in tadelndem Tonfall. „Ach Mann, Benny, danach kriegt der ja nie einen ab.“
„Mir doch egal.“ Benny trat bedrohlich auf Claas zu, der jedoch nicht zurückwich, lediglich versuchte, sie alle im Blick zu behalten. „Ist doch nur ein Schwanzlutscher.“
„Ein Arschficker“, warf ein anderer verächtlich ein. „Oder lässt du dich lieber ficken, Schwuchtel? Bist du das Mädchen?“ Grölendes Lachen war die Antwort, nur Jockel behielt sein undeutbares Lächeln bei.
„Schlägst du etwa gerne kleine Mädchen, Rico?“ Jockel lachte und stieß den kleineren Skinhead an. „Bist du so mutig?“
„Quatsch“, wehrte dieser sofort ab. „Nein, ich schlage keine Mädchen, aber das ist ein Kerl.“
„Eine Schwuchtel ist doch kein Kerl“, wandte Jockel grinsend ein und maß Claas mit einem langen Blick, aus dem dieser nicht schlau wurde. „Sieht der für dich etwa aus wie ein Mann?“ Jockel trat auf Claas zu, der nicht ausweichen konnte und ihn abwartend ansah. Der Skinhead stieß ihn vor die Brust, sodass Claas einige Schritte zurücktaumelte und von den anderen wieder nach vorne geschubst wurde.
„Der hat zwar keine echten Titten“, erklärte Jockel spöttisch. „Aber wenn du den schlägst, heult der wie ein Mädchen los, wetten?“ Er machte ein entsprechendes Geräusch und schubste Claas erneut, gerade, als dieser den Mund aufmachen wollte. Der Stoß war jedoch weniger stark als vorher. Jockels Blick aus den graublauen Augen ließ Claas augenblicklich verstummen. Da war etwas in ihnen, was ihn irritierte. Ärgerlich kniff Claas die Lippen zusammen.
Es sind nur Beleidigungen, die schmerzen nicht. Du kannst das schlucken. Lass dich bloß nicht provozieren, ermahnte er sich.
„Willst du etwa zugucken, wie der anfängt zu flennen und sich in die Hosen macht?“ Jockel wandte sich nun direkt an Rico. Er verdeckte diesen ein wenig mit seinem Körper, stand zwischen Claas und dem anderen Skinhead. Dennoch konnte Claas sehen, wie Rico augenblicklich den Kopf schüttelte und etwas unsicher mit den Schultern zuckte.
„Nee, das muss ich echt nicht haben“, erklärte der kleinere Skin, richtete sich auf und hakte die Daumen in den Bund seiner Hose. „Ich schlag mich nur mit echten Männern, sonst macht es ja keinen Spaß.“ Abermals lachten die anderen, inklusive Jockel, laut auf.
Claas musste an sich halten, damit ihm keine passende und damit eher unpassende Antwort von den Lippen kam. Wenn er Glück hatte, würden sie ihn vielleicht wirklich in Ruhe lassen. Ganz vielleicht konnte er heil hier rauskommen. Jockel tat ihm unbeabsichtigt einen Gefallen mit seinen Beleidigungen.
„Der ist es nicht wert, sich die Hände schmutzig zu machen“, meinte Benny abfällig, spuckte Claas auf die Füße und wandte sich ab. „Lassen wir die Schwuchtel laufen, bevor der sich noch vor Schiss einpinkelt.“
„Meint ihr, der ist gut im Schwanzlutschen?“, warf Rico hingegen ein, betrachtete Claas skeptisch, ein wenig lüstern und trat auf ihn zu. „Hey, Schwuchtel, willst du nicht mal einen echten Männerschwanz lutschen?“
Hart schluckte Claas, versuchte sich weiter aufzurichten. Lieber ließ er sich zusammenschlagen, als einem von denen freiwillig einen zu blasen. So tief würde er nie sinken.
„Bist du jetzt auch schwul oder was?“ Jockel grinste Rico herausfordernd an.
„Blödsinn.“ Dieser war sichtlich empört und schaute Jockel verärgert an.
„Warum willst du dir dann von einem Homo einen blasen lassen? Findest du etwa kein Mädchen, das das besser kann?“ Jockels Stimme war ruhig, enthielt jedoch einen winzigen, kaum hörbar schärferen Unterton, der Claas aufhorchen ließ. Verwirrt starrte er auf den Rücken des Skins. Täuschte er sich, oder machte Jockel das absichtlich? Wollte er ihm etwa indirekt helfen? Das war Unsinn. Er hatte ihn sich doch geschnappt. Er war es doch, der ihm verboten hatte ihn anzustarren.
Rico funkelte Jockel wütend an, trat drohend auf diesen zu und zischte aufgebracht: „Niemand nennt mich einen Homo, kapiert?“
„Man könnte dich aber für einen halten“, gab Jockel kühl zurück und deutete auf Claas. „Wenn du dir schon von dem da einen runterholen lassen willst.“
Ricos Faust schoss nach vorne, doch Jockel war schneller, schlug sie beiseite und drehte ihm gleich darauf den Arm auf den Rücken. Rico fluchte, kämpfte einen Moment und gab es schließlich auf. Die anderen lachten lediglich, als Jockel Rico von sich stieß, der sich missmutig den Arm rieb.
„Gegen Jockel hast du nie eine Chance“, erklärte Benny grinsend und klopfte Rico tröstend auf den Rücken, was ihm beinahe einen derben Schlag in den Magen einbrachte.
„Pack mich nicht an.“
„Lasst uns verschwinden“, erklärte Jockel ruhig und ohne sich noch einmal nach Claas umzudrehen. „Die Nacht ist noch lang. Wir finden für Rico schon noch ein Mädchen, das ihm einen bläst und wenn wir eins schmieren müssen.“
Laut lachend und herumalbernd machten sich die Skinheads davon, und Claas atmete erleichtert auf. Noch nachträglich zitterten seine Beine und er schwankte einen Moment. Die Skins waren weit genug weg, konnten ihn nicht mehr hören. Heiße Tränen brannten in seinen Augen und er flüsterte heiser: „So ein Arsch.“
Claas schämte sich für seine Erleichterung, ärgerte sich über die verletzenden Worte allerdings noch viel mehr. Arschlöcher, allesamt. Er richtete sich auf und sah ihnen hinterher, der Körper angespannt, Adrenalin kreiste aufrührerisch in seinem Blut.
„Und ich schaue dir doch drauf, ob es dir passt oder nicht“, flüsterte er und erlaubte sich ein leises, sehnsüchtiges Seufzen. „Du hast nämlich einen verdammt geilen Arsch.“
„Scheiße!“ Noch immer wütend schleuderte Claas seine Jacke von sich. Seine Stimme war zu laut und er senkte sie sofort schuldbewusst. Seine Mutter schlief schon und er wollte sie natürlich nicht aufwecken.
„Blöder Wichser. Arschloch.“ Ärgerlich und innerlich aufgewühlt streifte er sich seine Turnschuhe ab und pfefferte sie in die Ecke.
Er hasste diese blöden Skinheads. Haben die nichts Besseres zu tun? Warum müssen die ausgerechnet mich fertigmachen? Der Gedanke, dass er noch gut davongekommen war, wollte ihn nicht wirklich beruhigen.
Tatsache war: Er hatte Jockels Schwitzkastengriff um seinen Hals zwar als beängstigend empfunden, wie die ganze Situation; andererseits hatte es ihn jedoch auch eigentümlich erregt. Diese festen Muskeln, die Kraft dahinter und ja, verdammt, auch die gewisse Hilflosigkeit. Dafür hasste er Jockel aus tiefstem Herzen.
Hektisch zog er sich aus, warf sich bäuchlings auf das Bett und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen. Der einzige Körperkontakt, den er in letzter Zeit gehabt hatte, war der zu seinen Freundinnen gewesen. Umarmungen und freundschaftliche Küsse auf die Wange. In seiner Klasse mied der größte Teil der Jungs zu nahen Kontakt zu ihm. Vermutlich, weil sie Angst hatten, man würde ihnen sofort eine Beziehung zu ihm unterstellen. Claas ärgerte sich darüber schon lange nicht mehr. Zudem war keiner dabei, der ihn wirklich interessiert hätte.
Missmutig seufzend schaltete er das Licht aus und drehte sich auf den Rücken. Obwohl er die Augen schloss, wollte der Schlaf nicht kommen. Ständig sah er Jockels graublaue Augen vor sich, das verschmitzte Lächeln, fühlte dessen Körper sich an seinen schmiegen. Unwillkürlich stellte Claas sich vor, wie es wäre, wenn ihn der Skinhead festhalten und seine andere Hand über die Brust tiefer gleiten würde.
Claas' Atem beschleunigte sich. Erregende Wärme floss über seinen Körper, sammelte sich in seinen Lenden. Beinahe selbstständig glitt seine Hand in die Boxershorts und umfasste die beginnende Erektion.
Peinlich genug, aber der Gedanke an den Skinhead versetzte ihn in eine besondere Erregung. Claas erinnerte sich sehr genau an dessen Geruch, an die Berührung der Lippen an seinem Ohr, an die bedrohliche Nähe, und sein Atem ging schneller. Seine zunächst streichelnden Bewegungen wurden härter, fester und gezielter. Ein leises, unterdrücktes Stöhnen entkam seinen Lippen.
Ein starker Arm, der ihn hielt, sich fest um seine Taille legte, geraunte Worte an seinem Ohr, eine Hand an seinem Hals.
Claas' Hand pumpte schneller. Lusttropfen ließen seine Finger feucht werden. Er schwitzte und die Erregung erfasste jeden Nerv. Rasch drehte er den Kopf und entließ ein Stöhnen ins Kopfkissen.
Jockel, der ihn festhielt, dessen Hüfte an ihm rieb, dessen Arm ihn an sich presste, an seine heiße Haut. Schweißgeruch, der Duft von Sex um ihn herum.
Es war der Gedanke an Jockels Augen, an sein Lachen, der Claas schließlich kommen ließ. Heftig ergoss er sich, schaffte es kaum, den ganzen Samen mit der Hand aufzufangen. Heftig keuchend blieb er liegen, genoss das sanfte Nachbeben seines Körper, jenes feine Zittern aller Muskeln nach der Erfüllung und verrieb dabei das Sperma auf seinem bebenden Bauch.
Er würde morgen früh duschen, jetzt wollte er sich nicht mehr erheben, nur noch die satte Müdigkeit auskosten. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen schlief er ein.
Das rhythmische Wummern eines Basses weckte ihn unsanft aus seinen Träumen. Verschlafen tastete Claas nach seinem Handy, dem er die Töne auch im Halbschlaf zuordnen konnte. Seine Hand griff ins Leere, auf seinem Nachttisch lag es nicht.
Missmutig grummelnd öffnete er ein Auge und erinnerte sich im gleichen Moment, dass das Handy in seiner Jeansjacke war, die er an der Tür abgestreift hatte. Und damit weit außerhalb seiner Reichweite.
Ärgerlich schnaubend öffnete er das andere Auge. Er fixierte den Stoff der Jacke und überlegte, ob das Klingeln schnell genug aufhören würde, damit er ungestört weiterschlafen konnte, oder ob es den Aufwand lohnte, aufzustehen und es auszuschalten. Ganz bestimmt würde das Klingeln just in dem Moment aufhören, wenn er das Handy aus der Tasche nahm. Das war immer so.
Vor allem: Wer rief ihn um diese frühe Zeit am Sonntagmorgen an? Eindeutig eins der Mädels. Und die wollten ihm höchstwahrscheinlich von ihrem tollen Abend berichten. Nö, darauf hatte er keine Lust.
Claas schloss die Augen. Leider war er bereits zu wach, um gleich wieder im Schlaf zu versinken. Das Handy klingelte noch immer und in der Küche konnte er zudem seine Mutter werkeln hören.
Es war viel zu früh, warum war sie schon wach? Sonntags sollte man lange schlafen und nicht schon um … Claas blinzelte, wandte den Kopf und sah auf seinen Wecker. 10 Uhr war es, eine völlig unchristliche Zeit wach zu sein.
Das Handy verstummte und zufrieden seufzend schloss Claas die Augen. Na bitte, so wichtig war es dann doch nicht. Er war gerade erneut am Wegdämmern, als ein Vogelzwitschern eine SMS ankündigte und gleich darauf noch eine. Mürrisch verzog Claas den Mund. Was war so wichtig? Wer von den drei Mädels hatte ihm wohl eine SMS geschickt? Und weswegen?
Er hielt es weitere fünf Minuten aus, dann siegte die Neugierde. Er rollte sich murrend herum und stieg aus dem Bett. Es war unter seiner Würde, auf allen vieren zur Jacke zu kriechen, also erhob er sich in eine halbwegs menschliche Haltung und schlurfte zu dem Kleidungsstück. Claas nestelte das Handy heraus und nahm es mit zurück zum Bett, während er das SMS-Menü aufrief.
Die erste SMS war von Sophie. Da stand nur eine kurze Nachricht: „Melde dich, wenn du wach bist. Tolle Neuigkeiten. S.“ Klasse. Von ihr war auch der Anruf gewesen. Die zweite stammte von Kati: „Muss dir ganz viel erzählen. Melde mich später wieder.“
Verstimmt legte Claas das Handy auf den Nachttisch. Hätten sie nicht gleich sagen können, was los ist? So würde er dauernd grübeln. Mädchen eben. Aus allem machten sie ein Geheimnis.
Ach Scheiße. Er war zu wach, um wieder ins Bett zu fallen. Da konnte er auch gleich duschen gehen und alle Spuren seiner nächtlichen Fantasie abwaschen.
Hatte er sich wirklich einen runtergeholt und dabei an den verfluchten Skin gedacht? Schöner Mist. Der Mangel an Sex verpestete schon sein Gehirn. Das war verrückt.
Claas schleppte sich zum Badezimmer. Seine Mutter saß mit einem Buch im Wohnzimmer, sah kurz auf, als er sie begrüßte, und lächelte ihm zu.
„Da sind frischer Kaffee und Waffeln. Du siehst so aus, als ob du was gebrauchen könntest“, bemerkte sie mitleidig. „Ich bin gleich im Garten. Die Sonne scheint so schön, ich packe uns die Liegestühle aus.“
Claas gab ein undefinierbares Geräusch von sich und verschwand im Bad. Keine schlechte Idee, den Sonntag faul in der Sonne zu liegen und einfach zu vergessen, was gestern geschehen war.
Das warme Wasser belebte ihn und endlich bekam er die Augen ganz auf. Frisch rasiert, mit einer Tasse Kaffee und ein paar Waffeln, die seine Mutter gestern noch gebacken haben musste, bewaffnet, ging er danach hinaus in den kleinen Garten.
Es war ein wunderschöner Sommertag und die Hitze hielt sich noch in erträglichen Grenzen. Claas' Mutter buddelte selig lächelnd im Garten und ließ ihren Sohn ungestört auf der Liege faulenzen.
Im Grunde hatte er totales Glück mit seiner Mutter, die ihm das Wochenende Nichtstun gönnte, wenn er ihr ab und an ein Glas Wasser oder Gegenstände aus dem kleinen Gartenschuppen brachte. Überhaupt war sie sehr locker und machte ihm praktisch keine Vorschriften.
Claas' Mutter war eher konfliktscheu. Vielleicht war es einfacher, ihm seinen Willen zu lassen. Wirklich gestritten hatten sie sich noch nie. Zu seinem Glück war sie auch sehr tolerant und hatte sein verschämtes Geständnis, dass er sich zu Jungs hingezogen fühlte, gelassen, beinahe schon gleichgültig aufgenommen.
Vor fünf Jahren war Claas' Vater bei einem Busunglück zu Tode gekommen und seine Frau war in ein tiefes Loch gefallen. Erst seit sie den Tod verarbeitet hatte und vor allem seit ihrem Umzug in diese Kleinstadtidylle, blühte sie ebenso auf, wie ihr Garten.
Ihr neuer Job, als Sekretärin in einer kleinen Spedition, war nicht supergut bezahlt, reichte ihnen zusammen mit der Hinterbliebenenrente jedoch zum Leben. Claas hatte zudem einen Nebenjob in derselben Spedition, sodass er sein Taschengeld selbst verdienen konnte.
Zufrieden ließ er sich die Sonne auf den Bauch scheinen und hörte mit geschlossenen Augen seine Lieblingsmusik. So musste er an nichts denken. Erst gegen Mittag klingelte erneut sein Handy. Es war Kati, die ihn natürlich sofort mit ihrem Bericht des letzten Abends überfiel. Ohne sie zu unterbrechen, versuchte er ihrem wirren Redefluss zu folgen, hoffte einfach, dass er am Ende halbwegs durchsteigen würde.
„Und der kann küssen, sag ich dir. Also so richtig zärtlich und liebevoll und es war voll schön, wie er mich in den Arm genommen hat und sich über mich gebeugt hat. Da ist mir ganz anders geworden.“
Sie unterbrach sich, um zu seufzen und fuhr sofort fort: „Er hat sich erst nicht getraut, mich anzusprechen, weil er dachte, ich wäre mit dir zusammen und ist deswegen dauernd um uns rumgeschlichen. Erst als ich dann mit Sophie tanzen war, hat er sich getraut. Oh, Claas, ich dachte, der wollte mich nur abschleppen und wir würden im Bett landen, aber es war voll romantisch mit Spazierengehen und Kuscheln und so. Das ist keiner, der sofort zur Sache kommt. Ich glaube echt, das könnte endlich mal was Ernstes werden. Und er schaut so toll aus. Dunkle Haare und so einen supersexy Dreitagebart. Das ist ganz rau beim Küssen und voll geil.“
Ihre Begeisterung entlockte Claas ein Lächeln.
„Ich habe gar nichts mehr von euch mitbekommen: Bist du mit Sophie heimgegangen?“, fragte Kati nach.
„Nein, die war plötzlich auch verschwunden“, erklärte Claas und konnte sich nicht verkneifen hinterherzuschieben: „Ich saß stundenlang ganz alleine an der Theke und bin ebenso alleine nach Hause gegangen.“
„Oh Mist.“ Kati klang für einen Moment echt betroffen. „Ich dachte echt, Sophie … aber okay, ja, die war ziemlich heftig mit diesem anderen Typ am flirten.“ Sie machte eine kurze Pause und seufzte. „Und war niemand da, den du toll fandest oder der dich toll fand?“
Nun … Claas schluckte rasch. „Nein, stattdessen haben mich diese blöden, betrunkenen Skinheads angepöbelt. Keine Ahnung, wie die auf den Trichter gekommen sind, dass ich schwul bin. Auf jeden Fall hat mich einer von denen deswegen angemacht.“
„Scheiße, nein!“ Katis Betroffenheit war echt. „Was ist passiert?“
„Im Club nicht viel“, erklärte Claas, und ein Teil des Ärgers kehrte zurück. „Sie haben mir aber danach noch draußen aufgelauert.“
„Oh mein Gott! Bist du in Ordnung?“ Kati holte zischend Atem. „Ich hatte die Skinheads auch gesehen, aber nie gedacht, dass sie ...“ Claas konnte Kati vor sich sehen, wie sie die Hand vor den Mund schlug. „Haben die dir was getan?“
„Sie haben mich ein bisschen herumgeschubst und beleidigt, aber nein, zum Glück ist nichts weiter passiert“, beschwichtigte er sie. Er zögerte einen winzigen Moment. „Der, der mich im Club angemacht hat, Jockel … Also irgendwie hat der sie davon abgehalten, mich zu vermöbeln. Glaube ich zumindest.“ Vielleicht war es auch eher Wunschdenken, aber Claas wurde den Gedanken einfach nicht los. Der Skin hatte sich vor ihn geschoben, oder?
„Jockel? Der Spitzname kommt mir bekannt vor.“ Kati grübelte. „Moment, meinst du vielleicht den Jochen Bramer? So ein mittelgroßer Typ mit kurzen, dunklen Stoppeln und der hatte so ein weißes Unterhemd an?“
„Ja, könnte auf fast jeden von denen passen. Keine Ahnung, wie der wirklich hieß. Mir hat er sich mit Jockel vorgestellt und die anderen haben ihn auch so genannt.“
„Ich weiß, wer das ist. Der war doch bis vor zwei Jahren noch bei uns auf der Schule“, erzählte Kati. „Der hat wegen seiner Klamotten damals mehrere Verweise von den Lehrern bekommen, weil er diese verbotenen Logos getragen hat. Er war flüchtig mit meinem Bruder bekannt. Die haben mal Fußball zusammen gespielt. Soweit ich weiß, war der Jochen ein großes Ass im Kampfsport. Ich glaube, der ist damals von der Schule geflogen, weil er jemanden ganz böse verprügelt hat.“
Na toll, dachte Claas, da gerate ich auch noch an einen Kampfsportler. Wenn er daran dachte, wie leicht der Skinhead Rico ausgehebelt hatte. Kein Wunder, wenn Jockel auf dergleichen trainiert war. Also war der Skin wirklich ein echter Schläger.
Mann, ich habe wirklich tierisch Glück gehabt. An den Skinhead auf der Schule konnte er sich jedoch nicht mehr erinnern, dabei konnte der höchstens zwei Klassen über ihm gewesen sein.
„Da hast du echt Schwein gehabt“, meinte Kati und schlug übergangslos vor: „Pat und ich wollten noch vorbeikommen und Englisch mit dir machen. Vielleicht kommt Sophie auch. Soll ich uns Eis mitbringen?“ Katis Eltern hatten eine kleine Eisdiele, was natürlich sehr von Vorteil war.
Froh, auf ganz andere Gedanken zu kommen, nickte Claas und bestätigte: „Ja, gerne. Ich liege hier eh nur faul herum und Sophie muss auch einen tollen Abend gehabt haben. Hat mir eine kryptische SMS geschickt.“ Kati lachte auf. „Ja, mir auch. Wir haben bereits telefoniert. Wird sie dir nachher erzählen. Bis gleich, Claas.“
Eine Stunde später saßen und lagen sie im Garten, und Sophie erzählte. Von ihrem Traumtypen und dass sie ihn schon länger angehimmelt und sich nur nie getraut hätte, ihn anzusprechen. Letzte Nacht hätte es dann aber doch gefunkt und sie wären gemeinsam heimgefahren. Mehr erzählte sie nicht, die Andeutungen reichten Claas indes. Offenbar hatten die Mädels wirklich Erfolg gehabt.
Patricia folgte, wie er auch, den Ausführungen mit einem sehnsüchtigen Ausdruck. Sie war ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen mit wunderschönen Augen, ein bisschen klein, und sie hatte nicht halb so viel Selbstbewusstsein, wie ihre große Klappe vorspielte. Seufzend kratzte sie die Reste aus ihrem Eisbecher.
„Ihr habt es gut“, meinte sie. „Ich wäre ja schon froh, wenn mir mal einer einen zweiten Blick zuwerfen würde.“
Claas grinste und nahm sie tröstend in den Arm. „Ich auch, Hase.“ Etwas zu heftig stellte er seinen leeren Becher ab und knurrte: „Mich machen nur so dämliche Skinheads an.“
Patricia und Sophie sahen ihn erschrocken an, und er berichtete knapp von seinem Zusammenstoß.
„Du hast tierisch Glück gehabt.“ Patricia seufzte erleichtert. „Hätte gut sein können, dass die dich krankenhausreif schlagen. Viele von denen sind auf Gewalt aus. Sieht man doch schon bei den Fußballspielen.“
Kati nickte zustimmend. „Die verprügeln alle, die anders sind, egal ob Ausländer oder Schwule, Hauptsache, sie können ihre tolle Männlichkeit unter Beweis stellen. Widerlich.“
„Ich frage mich die ganze Zeit, woher die wussten, dass du schwul bist“, meinte Sophie nachdenklich. „Keine Ahnung“, gab Claas seufzend zurück. „Vielleicht hat es ihnen irgendeiner verraten?“
„Na, Jochen könnte es schon gewusst haben.“ Kati zuckte entschuldigend die Schultern. „Mein Bruder hat damals dein Outing mir gegenüber mitbekommen. Allerdings war er mit dem Jochen nicht wirklich eng befreundet, die waren halt nur im selben Verein. Vielleicht hat er es ihm trotzdem gesteckt? Ich wüsste aber nicht, warum. Mein Bruder fand es nur ganz schön komisch, dass ich mit einem schwulen Jungen derart eng befreundet bin.“
„Hm, zumindest muss der Jochen was vermutet haben“, meinte Patricia. „Es gibt schon so einige Gerüchte an der Schule über dich. Da wird immer viel hinter deinem Rücken geredet.“
Verlegen senkte Claas den Blick. Klar, ich bin halt der Exot. Schwul und solo. „Keine Ahnung. Vielleicht hat Jockel es wirklich nur vermutet und ich Dummkopf habe es auch noch bestätigt.“
„Richtig so. Das musst du ja auch nicht verheimlichen“, erklärte Kati sofort rigoros. „Niemand muss das verstecken.“
„Na ja, war nicht wirklich klug, es vier angetrunkenen Skins unter die Nase zu reiben.“ Claas seufzte. „So eine richtig rechte Szene gibt es hier doch gar nicht.“ Sophie grinste. „Viel zu wenig los hier.“
„Skinheads sind nicht alle automatisch Nazis“, widersprach Patricia. „Da gibt es große Unterschiede. Die Neonazis laufen nur gerne wie Skinheads herum, also in diesen hochgeschnürten Stiefeln, den Hosenträgern und den Bomberjacken. Ich habe dazu letztes Jahr ein Referat gehalten und dafür viel recherchiert. Im Grunde ist es nur eine Gruppierung wie Punks oder Goths, die halt ihre Musik hören und besondere Klamotten tragen. Bei den Skinheads gibt es rechte und linke und sogar schwule Skins, die eine eigene Vereinigung haben.“
„Na, der gehörten diese hier definitiv nicht an.“ Claas brummte missmutig. „Sonst hätte der Typ mich doch kaum Homo genannt.“
„Die Typen finden es doch bloß cool, so martialisch rumzulaufen und jeden zu provozieren. Starke Kerle, an die sich keiner herantraut. Böse Buben.“ Sophie verzog den Mund.
Grinsend stieß Kati Claas an. „Vergiss es einfach. Die haben bestimmt nur ihre eigenen Komplexe abbauen müssen.“
„Sollen die. Aber an jemand anderem. Ich bin froh, dass ich denen nicht wieder begegnen muss.“ Claas seufzte und gemeinsam machten sie sich endlich an ihre Englischhausaufgaben.
Der Regionalzug von Hamburg nach Berlin war zum Glück nicht allzu voll, und Claas fand einen Platz im Abteil neben zwei Fahrrädern, deren Besitzer, ein älteres Ehepaar, ihm schräg gegenübersaßen. Claas nahm bevorzugt einen der Klappsitze neben Fahrrädern oder Kinderwagen, so rückte ihm immerhin niemand zu dicht auf die Pelle. Er mochte es, ungestört E-Books auf seinem neuen Reader zu lesen, den ihm seine Mutter zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte.
Es war Sonntag und er auf dem Heimweg von einem auswärtigen Handballspiel. Seine Mutter hatte ihn dieses Mal nicht fahren können, weil ihr Auto in der Werkstatt stand und deswegen musste er mit der Bahn fahren. Leider hatte seine Mannschaft auch noch verloren und entsprechend froh war er, dass er nur eine halbe Stunde Fahrt vor sich hatte, bevor er duschen und müde ins Bett fallen konnte.
In seiner Mannschaft wusste jeder, auch sein Trainer, dass er schwul war. Er hatte es nur für fair gehalten, ihnen das sehr offensiv mitzuteilen. Sie hatten es gemischt aufgenommen, aber da er es seither vermied, mit ihnen gemeinsam zu duschen, weil sich die anderen Jungs dabei beobachtet vorkamen, gab es im Prinzip keine Reibungspunkte. Während und vor allem nach einem siegreichen Spiel vergaßen sie das ohnehin. Im Grunde war er recht beliebt und einer der besten Spieler. Privat hatte er hingegen sonst keine weiteren Kontakte zu seinem Team.
So war es überall. Die anderen Jungs schätzten seine Fähigkeiten, im Sport, in der Schule, mieden jedoch näheren Kontakt. Außer zwei Freunden, die er schon von der Grundschule her kannte, gab es keine, die unbelastet mit ihm umgingen.
Er hatte gelernt, damit zu leben und sich entsprechend zu verhalten. Wenn er nicht auffiel und aus der Reihe tanzte, kam jeder gut mit ihm und seiner „Andersartigkeit“ klar.
Oft genug sehnte Claas sich nach mehr, fand jedoch keinen Weg, dem gerecht zu werden. In den Romanzen und Büchern über schwule Jungs, die er überwiegend las, konnte er zumindest ein wenig mitträumen.
Claas war daher auch ganz in sein neues E-Book vertieft, als ihn und die anderen Fahrgäste laute Stimmen aufschauen ließen. Eine Gruppe von Skinheads kam durch das Abteil und kommentierte unnötig laut irgendein regionales Fußballspiel.
Unwillkürlich machte sich Claas kleiner. Er erkannte eine Gestalt sofort: Jockel. Und einer der anderen, die ihm nach dem Club aufgelauert hatten, war auch dabei. Claas zählte insgesamt sechs Skinheads. Alle mehr oder weniger kahl geschoren mit Springerstiefeln, ausgebleichten Jeans, Hosenträgern, blauen und olivfarbenen Bomberjacken oder Poloshirts.
Der Geruch von Alkohol und Schweiß umgab sie ebenso wie eine Aura von Gefahr. Das ganze Abteil nahm es wahr, und die Gespräche verstummten abrupt. Ängstliche Blicke wurden den pöbelnden jungen Männern zugeworfen.
Ohne Claas zu bemerken, gingen sie vorbei und ließen sich am Ende des Abteils auf die freien Sitze fallen. Einige tranken Bier und unterhielten sich weiterhin lautstark, ohne Rücksicht auf die anderen Fahrgäste zu nehmen.
Claas verfluchte sie in Gedanken und hoffte inständig, dass sie ihn nicht bemerken und noch vor ihm aussteigen würden. Ansonsten musste er einfach durch das Abteil zur anderen Tür gehen, dann würden sie ihn hoffentlich nicht entdecken. Er hatte keine Lust, Jockel erneut zu begegnen. Noch immer brannte die Wut, aber auch die Furcht in ihm, mischte sich zu einem heißkalten Cocktail.
Seine Finger wurden feucht, und er wischte sie sich verstohlen an seinem Trainingsanzug ab. Die Fahrradbesitzer gegenüber warfen den Skins beunruhigte Blicke zu. Das ganze Abteil schien weiterhin unter Spannung zu stehen. Die Skinheads wussten sehr wohl um ihren Eindruck und gaben sich keine Mühe leise zu sein. Vermutlich genossen sie ihre Macht.
Claas drehte sich etwas herum, sodass sie sein Gesicht nicht so gut sehen konnten, und versuchte sich erneut in sein Buch zu vertiefen. Es wollte ihm nicht gelingen, alle Sinne waren alarmiert und er lauschte jedem Wort.
Dennoch fuhr er erschrocken zusammen und hob sofort den Blick, als er Jockels bekannte Stimme vernahm: „Schau mal an, wen wir hier haben. Was für eine Überraschung, da sitzt doch der Homo.“
Claas schluckte und natürlich kam Jockel nun auch noch zu ihm herüber geschlendert. Seine Bierflasche hatte er einem seiner Kumpels in die Hand gedrückt und auf seinen Zügen lag jenes spöttisch herablassende Grinsen, welches er schon im Club gezeigt hatte.
Unsicher blickte sich Claas um und rutschte etwas zurück. Das Ehepaar gegenüber sah Jockel entgegen, schien jedoch froh zu sein, dass seine Aufmerksamkeit nicht ihnen galt. Auch andere Fahrgäste reckten den Hals und schauten zu ihnen herüber. Keiner sah indes so aus, als ob er einschreiten würde.
Jockel baute sich direkt vor Claas auf, hielt sich an der Stange fest und musterte ihn eine Weile von Kopf bis Fuß. Seine Kumpels warfen Claas anzügliche Bemerkungen zu, rührten sich jedoch nicht von ihren Sitzen fort. Offenbar wollte sie zunächst nur beobachten.
„Sag bloß, du treibst Sport?“, fragte Jockel, ließ den Blick über dessen Trainingsanzug wandern und nickte Claas auffordernd zu.
Zufällig ja, dachte dieser verärgert mit einem mulmigen Gefühl im Magen und hob den Blick. Blaugraue Augen hielten seine prompt gefangen. Claas' Hals wurde enger. Die pfiffige Antwort erstarb auf seinen Lippen.
„Handball“, rutschte es ihm viel zu leise heraus.
„Handball?“, wiederholte Jockel lauter, sodass es seine Freunde auch mitbekamen.
Claas warf einen hastigen Blick zu ihnen hinüber, konzentrierte sich jedoch sofort wieder auf Jockel.
„Ist das jetzt etwa auch schon ein Tuntensport geworden?“ Einer der Skins prostete Claas grinsend zu. „Ich dachte, die machen nur Tabledance und rhythmischen Bettsport.“
„Mit der Hand immer schön an den Bällen und dann ab damit ins Tor“, brüllte einer der Skinheads herüber und die anderen fielen grölend in sein Lachen ein, ergänzten rasch mit weiteren Wortspielen.
Jockel verzog lediglich den Mund. Die anderen Fahrgäste blickten unruhiger zu ihnen herüber und ein älterer Mann schüttelte missmutig den Kopf, senkte seinen Blick allerdings sofort zurück in seine Zeitung.
„Und hat deine Mannschaft gewonnen?“ Jockels Stimme war ruhig, er klang sogar einigermaßen interessiert.
Irritiert starrte ihn Claas an. Er schüttelte den Kopf und fühlte sich leicht verwirrt.
„Unsere auch nicht.“ Jockel zuckte nachlässig die Schultern. „Aber war trotzdem ein tolles Fußballspiel.“
Was will er? Ist das eine Unterhaltung? Claas schaute Jockel verstört an und wusste partout nicht, was er erwidern sollte.
Wenn das Grölen und die dummen Bemerkungen der anderen Skinheads im Hintergrund nicht gewesen wären, hätte das hier tatsächlich nach einem ganz normalen Gespräch zwischen Jugendlichen aussehen können.
Claas wagte es, Jockel ein wenig genauer zu mustern. Die schwarzen Stiefel, die er trug, waren mit roten und schwarzen Schnürsenkeln gebunden. Er hatte eine Jeans an, die an vielen Stellen gebleicht worden war. Unter der dunkelblauen Nylonjacke mit dem schwarzen, gestrickten Kragen trug er ein weißes Poloshirt mit einem Markenaufdruck, der Claas an eine altdeutsche Schrift erinnerte. Schwarze, dünne Hosenträger verliefen über seinen Oberkörper.
Auch wenn Claas das Herz im Hals pochte, konnte er nicht umhin, den anderen durchaus ansehnlich zu finden. Seine prollige Erscheinung strahlte etwas Ursprüngliches und durchaus männlich Attraktives aus.
Die anderen Skinheads verfluchten währenddessen lautstark die andere Mannschaft, belegten deren Spieler und Torwart mit Schimpfwörtern und sprachen ihrem Bier zu. Das Fußballspiel schien interessanter zu sein als der schwule Junge.
„Was liest du denn da?“
Nur für einen Moment war Claas unaufmerksam gewesen und hatte hinüber zu den anderen Skins geschaut. Jockels Hand bewegte sich viel zu schnell und plötzlich hatte er den E-book-Reader in der Hand.
„Hey!“ In einer hilflosen Geste griff Claas danach und versuchte sich sein Eigentum zurückzuholen, doch Jockel trat zurück und hielt das Gerät hoch, sodass Claas schon hätte aufstehen müssen, um es ihm abzunehmen.
Verzagt blieb er sitzen. Seine Wangen begannen zu brennen, denn er las gerade eine durchaus erotische Szene zwischen zwei Jungs. Ganz gewiss nichts, was jemand wie Jockel lesen und unkommentiert lassen würde. Dessen Grinsen wurde entsprechend auch immer breiter, während er den Text auf dem Bildschirm las. Die graublauen Augen blitzten auf und Claas' Röte nahm schlagartig zu, als Jockel doch tatsächlich laut vorzulesen begann: „Zärtlich küsste Hendrik Leandro, ließ seine Zunge gegen die nachgiebigen Lippen stupsen. Nur zögernd öffnete dieser den Mund, bot seine Zunge als Gegenspieler an, die sich beim ersten Kontakt jedoch unsicher zurückzog. Bald schon wurde er mutiger, ließ sich auf den Zungenkuss ein, verschlang Hendriks Lippen.“
Claas sank in sich zusammen, zog den Kopf ein und machte sich klein. Seine Ohren glühten, sein Hals war derart zusammengeschnürt, dass jeder Atemzug schmerzte. Er sah nicht hin und wusste trotzdem haargenau, dass ihn jetzt alle Fahrgäste anstarrten.
Wie oberpeinlich. Kann ich nicht einfach verschwinden? Sogar den Skinheads hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen, und sie starrten Claas fassungslos an.
Jockel las interessiert, jedoch stumm weiter, sein Schmunzeln blieb bestehen. Seine Freunde hingegen prusteten laut los, schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und wollten sich gar nicht wieder beruhigen. Ihre dummen Bemerkungen drangen gar nicht in Claas' Bewusstsein, das Blut rauschte viel zu laut in seinen Ohren.
Jockel hob den Blick und sah Claas direkt an. „Kavaliersdelikt heißt das Teil? Eine Schwulenromanze oder was?“ Aus irgendeinem versteckten Winkel schoss Claas' Wut wie ein in die Enge getriebenes Tier hervor, ließ ihn aufspringen und dem Skin den E-book-Reader entreißen.
„Ich habe durchaus begriffen, dass du tatsächlich lesen kannst. Erstaunlich genug für jemanden mit Glatze“, zischte er zornig. „Der gehört mir und was ich lese, geht dich gar nichts an.“
Überrascht und mit einem kurzen Hochziehen der Augenbrauen, überließ Jockel Claas sein Gerät, der dieses hastig in seiner Sporttasche verstaute.
Er wagte es noch immer nicht, einen Blick zu den anderen Fahrgästen zu werfen. Was mussten die von ihm denken? Verdammt.
Himmel noch einmal, Jockel war echt ein Arsch, ihn vor allen derart zu blamieren. Er würde ihm gehörig die Meinung sagen. Jetzt. Sofort, bevor er sich wieder einschüchtern ließ.
Wutentbrannt und noch immer mit brennenden Wangen, richtete sich Claas auf und sog erschrocken die Luft ein. Jockel hatte sich urplötzlich über ihn gebeugt, stützte sich mit beiden Händen hinter ihm an der Glasscheibe ab und war ihm verdammt nahe gekommen.
Jockels schmale Lippen waren direkt vor ihm und kamen mit jedem Atemzug näher. Warmer Atem streifte seine Haare, sein Gesicht, kitzelte seine Lippen. Jockels Knie schob sich unvermittelt zwischen Claas' Beine, drückte diese ein wenig auseinander, als sich der Skin damit auf dem Sitz abstützte.
„Du findest es geil, wenn sich Männer streicheln und küssen?“ Jockels Lächeln blieb unverändert, sein Blick brannte auf Claas, der sich nicht rühren konnte und eingeklemmt war zwischen den Armen und dem Körper Jockels, gefangen in dem Graublau dieser Augen.
„Magst du es, wenn sie ihre dicken, feuchten Schwänze aneinander reiben, sich gegenseitig die Eier massieren? Oder eher den Arsch fingern? Geilt dich das auf, wenn du einem Kerl einen bläst? Stehst du etwa darauf, wenn dich jemand in den Arsch fickt, Homo?“ Jockels Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
Claas konnte nicht einmal mehr schlucken. Sein Kopf wollte sich nicht bewegen, sein Körper gehorchte ihm nicht. Seine ganze Welt war von Jockels Gesicht ausgefüllt, dominiert von seinen Augen, von dessen Duft, seiner erdrückenden Präsenz. Bedrohlich und erregend.
Sehr wohl hörte Claas die Worte, vernahm die involvierte Beleidigung. Nichtsdestotrotz erregte ihn jedes davon. Er wurde augenblicklich hart, und Jockel schob sein Knie unausweichlich immer näher an seinen Schritt. Nur wenige Zentimeter und er würde den Unterleib berühren.
Wie paralysiert saß Claas da, unfähig zu reagieren, gefangen in den hypnotischen Augen, die grausam intensiv auf ihn herabblickten, tief in ihnen ein merkwürdiges Feuer, dem er sich nicht entziehen konnte. Er wollte stöhnen, instinktiv nach Jockel greifen, sich von ihm küssen lassen. Seine Lippen bebten. Keinen Ton brachte er heraus. Seine Hände krallten sich in den Stoff der Trainingshose und Schweiß brach ihm aus, perlte über seine Stirn. Er fühlte sich furchtbar hilflos, in die Enge getrieben, in der Falle. Ein merkwürdig schwebender Zustand, wehrlos und ausgeliefert.
Er wusste sehr wohl, dass er reagieren, den anderen von sich schieben, ihn zurückweisen, ihm seine Meinung ins Gesicht schreien sollte. Er konnte es nicht.
Ein unbekannter Teil von ihm wollte genau dies hier, gefiel sich in der Rolle. Beinahe wünschte sich Claas Jockels Hände an seinen Oberarmen, den erneuten Körperkontakt. Entsetzen, Furcht und Begierde tobten gleichermaßen feurig durch seine Adern.
Jockels glucksendes Lachen riss ihn schließlich aus seinem passivem Zustand und zurück in die Wirklichkeit, in der die anderen Skinheads womöglich noch lauter lachten. Ihn auslachten.