Harrowmore Diary (Band 3) - Miriam Rademacher - E-Book
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Harrowmore Diary (Band 3) E-Book

Miriam Rademacher

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Beschreibung

Als Teil eines Teams von Archäologen erliegt Tibby dem Zauber des Orients. Doch die Dinge werden ihm unheimlich, als eine jahrhundertealte Mumie anfängt, in der unterirdischen Grabanlage herumzuwandern. Und das ist bei Weitem nicht das einzige Rätsel, das Tibby dazu bringt, so schnell wie möglich seine Dämonen zu Hilfe zu rufen …

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Seitenzahl: 296

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Dank

Miriam Rademacher

Harrowmore Diary

Band 3: Tibby und der Kuss der Mumie

Fantasy

 

 

 

 

 

 

Harrowmore Diary (Band 3): Tibby und der Kuss der Mumie

Als Teil eines Teams von Archäologen erliegt Tibby dem Zauber des Orients. Doch die Dinge werden ihm unheimlich, als eine jahrhundertealte Mumie anfängt, in der unterirdischen Grabanlage herumzuwandern. Und das ist bei Weitem nicht das einzige Rätsel, das Tibby dazu bringt, so schnell wie möglich seine Dämonen zu Hilfe zu rufen …

Die Autorin

Miriam Rademacher wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, wenn es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.

 

 

 

 

 

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, März 2025

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2025

Umschlaggestaltung: Jasmin Romana Welsch

Lektorat / Korrektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-352-3

ISBN (epub): 978-3-03896-353-0

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für Ben und Emilie

Wehe, ihr lest dieses Buch, bevor ihr alt genug für Gruselgeschichten seid.

Ich bekomme fürchterlichen Ärger, wenn ihr nachts nicht mehr schlafen könnt …

 

Prolog

Ägypten, nahe Sakkara, April 1966

 

»Willkommen auf dem Parkplatz der Geschichte«, rief Tibby und schüttelte dem erstbesten Besucher der Ausgrabungsstätte überschwänglich die Hand, während er die Finger der linken hinter dem Rücken gekreuzt hielt. Die nächste Lüge war so fett, dass er Schwierigkeiten hatte, sie über die Lippen zu bringen. »Es freut uns immer, Touristen, die an der Geschichte Ägyptens interessiert sind, unsere Arbeit näherzubringen.«

»Und Sie sind also ein echter Archäologe?« Der wohlgenährte Mann in der ersten Reihe, um dessen Hals eine moderne Spiegelreflexkamera baumelte, musterte ihn kritisch. »Sie sehen mir nicht wie ein Bücherwurm aus.«

»Bin ich auch nicht«, räumte Tibby ohne eine Spur von Verlegenheit ein. »Sie werden verstehen, dass das teure, gut geschulte Personal anderweitig eingebunden ist. Ich bin hier nur der Schaufelhalter, aber ich spreche Ihre Sprache. Das sollte uns vorerst genügen.«

Ein unwilliges Raunen ging durch die zehnköpfige Gruppe, die schlecht gelaunt im prallen Sonnenschein schwitzte, doch Tibby ließ sich nicht beirren.

»Wenn Sie mir nun alle in das Zelt mit den Fundstücken folgen würden. Dort erwarten Sie zudem ein paar Erfrischungen, die unser Koch bereitgestellt hat. Ich hoffe, Sie mögen seine Variationen von Kräutertee. Gut möglich, dass mir über seiner Kanne die Rumflasche ausgerutscht ist, es diente nur der Verfeinerung.«

Augenblicklich änderte sich die Stimmung um ihn herum und Tibby lotste seine Schützlinge in den Schatten einer waghalsigen Konstruktion aus Leinenstoff und Stangen, wo auf einem Klapptisch lauwarmes Trinkwasser in Krügen und der ebenso lauwarme Tee auf die Gäste warteten. Eine schlanke Gestalt mit sehr kurzen Haaren versuchte noch, aus dem Zelt zu entkommen, als Tibby mit seinen Schützlingen eintraf, allerdings ließ dieser das nicht zu. »Und hier sehen Sie einen echten Archäologen, ganz wie Sie es sich gewünscht haben. Sein Name ist Bertie. Bertie, sag Hallo zu unseren Gästen.«

Bertie zog ein Gesicht, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte, und murmelte eine leise Begrüßung, bevor er die Flucht ergriff.

Tibby konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Er mochte Bertie, aber der junge Mann war so entsetzlich schüchtern, dass Tibby gelegentlich den Wunsch verspürte, ihn etwas zu necken.

»Wie Ihnen allen bekannt sein dürfte, befinden wir uns hier am Rande von Sakkara, der berühmten Nekropole der alten ägyptischen Hauptstadt Memphis«, nahm Tibby seine Rolle als Fremdenführer wieder auf. »Während nur einen Steinwurf von hier entfernt, Pharaonen ihre imposanten Grabmäler errichten ließen, ist dies eher die B-Lage des antiken Friedhofs. Trotzdem sind wir dankbar, hier Ausgrabungen durchführen zu dürfen, denn auch in einem Gebiet von geringer historischer Bedeutung lassen sich nette Funde machen. Schauen Sie mal her.« Er hob die steinerne Figur einer Katze von der Größe eines Handballs in die Höhe. »Ist die nicht niedlich?«

Eine noch recht junge Frau mit hochtoupierten Haaren und schreiend buntem Sommerkleid trat näher und kniff die Augen zusammen. »Die glänzt aber hübsch. Es ist ein Wunder, dass sie nach Jahrtausenden im Wüstensand noch so aussieht, oder?«

»Eigentlich nicht«, räumte Tibby ein. »Ich habe sie mithilfe von Wattestäbchen und etwas Hautcreme gereinigt. Dadurch riecht sie auch gleich viel besser.«

»Jetzt ist mir klar, warum Sie hier nur die Schaufel halten dürfen«, rief der Herr mit der Kamera und verschränkte die Arme vor der Brust, auf dem ein handgeschriebenes Namensschild ihn als Mr Trips auswies. »Aber Sie wollen uns hoffentlich nicht nur mit ein paar Scherben abspeisen, oder? In unserem Hotel hieß es, dass auf dieser Ausgrabungsstätte bei Sakkara gerade ein sensationeller Fund getätigt wurde. Den wollen wir sehen.«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich unter den Anwesenden.

»Ja, führen Sie uns zu der unterirdischen Kammer«, verlangte nun auch die bunte Dame, deren Name laut ihrem Schildchen Mrs Bingham war. »Dort soll es Schätze und Mumien geben.«

»Und dazu jede Menge Staub, abgestandene Luft und Finsternis«, erwiderte Tibby fröhlich. »Selbstverständlich werde ich Ihnen das Grab der Unbekannten nicht vorenthalten.«

»Es ist eine weibliche Mumie?« Mrs Binghams Gesichtsausdruck spiegelte eine Mischung aus Faszination und Ekel wider.

»Allerdings.« Tibby nickte. »Das ist bisher so ziemlich das Einzige, was wir mit Sicherheit über sie sagen können. Was ihr ungefähres Alter angeht, schwanken die Experten noch zwischen 2000 und 1500 vor Christus.«

»Ich will sie sehen«, hauchte Mrs Bingham und der Rest der Touristengruppe gab ein zustimmendes Gemurmel von sich.

Tibby unterdrückte ein Seufzen. Solche Führungen, um die sich wirklich niemand vom Ausgrabungsteam riss, liefen immer auf exakt dieselbe Weise ab. Niemand nahm sich die Zeit, die wunderschönen Kleinode, die der Sand wieder hergegeben hatte, zu bewundern. Alle wollten nur die Mumie sehen, die er der Einfachheit halber auf den Namen Lizzie getauft hatte, weil sie ihn entfernt an Elisabeth Taylor in ihrer Rolle als Cleopatra erinnerte. Warum wusste er selbst nicht so genau.

Also fügte er sich in sein Schicksal und hoffte, dass er beim nächsten Mal, wenn die Münze geworfen wurde, wieder auf sein beinahe sprichwörtliches Glück vertrauen durfte und jemand anders die Touristenbespaßung übernahm.

»Wenn Sie mir dann bitte folgen würden. Wir haben nicht weit zu gehen.« Tibby deutete vage in die flimmernde Luft über dem heißen Sand und ging voran.

Er verließ das schattige Plätzchen nur ungern. In den letzten Wochen, seit er seinen Job als Hilfskraft im Archäologen-Team angenommen hatte, war ihm das Restaurationszelt mit den aktuellen Funden lieb und teuer geworden. Dort hielt er sich am liebsten auf, denn darin stand nicht nur an Besuchertagen rund um die Uhr Tee bereit. Und Mariks Tee war auch ohne den Zusatz von Rum bisher stets ein Genuss gewesen.

Nun aber führte er die Gruppe zu einem tiefen, frisch ausgehobenen Graben, wo man in etwa einem Meter Tiefe die Außenwand eines Bauwerks bewundern konnte, die aufgrund ihrer Schräglage zur Sicherheit durch einige Balken gestützt wurde.

»Sieht für mich nicht sehr stabil aus«, stellte Mr Trips fest. »Ist es ungefährlich dort hineinzugehen?« Er deutete auf ein dunkles Loch im Mauerwerk, das die Arbeiter freigelegt hatten.

»Diese Steinkonstruktion hat Jahrtausende überdauert und wird wohl nicht gerade jetzt zusammenstürzen«, meinte Tibby. »Falls doch, weise ich darauf hin, dass Sie die Ausgrabungsanlage auf Ihr eigenes Risiko betreten.«

Ein Raunen ging durch die Gruppe, trotzdem blieb niemand zurück, als er sie hinunter in den Schacht und bis zum Eingang lotste, wo er einen nach dem anderen die Leiter hielt, damit sie alle in die Tiefe klettern konnten. Zum Schluss stieg er selbst hinunter und deutete auf ein halbes Dutzend Taschenlampen, die neben der untersten Sprosse bereitstanden. »Bedienen Sie sich. Es sollte reichen, wenn jeder Zweite eine bekommt. Die letzte überlassen Sie bitte mir.«

Der übliche kleine Zank um die Lichtquellen begann und Tibby wartete geduldig ab, bis die Gäste sich geeinigt hatten. Dann schaltete er seine Lampe an.

»Beginnen wir mit einem interessanten Aspekt.« Tibby ließ den Lichtkegel über den Rand des Loches wandern, durch das sie zuvor in das Gewölbe geklettert waren. »Diese Luke wurde so konstruiert, dass der Stein, der sie verschließt und öffnet, auf einer steinernen Schiene aufliegt. Schiebt man ihn nach oben, landet er in einer dafür vorgesehenen Vertiefung und wird mit zwei keilförmigen Steinen am Herunterrutschen gehindert. Diese Luke, wie ich sie nenne, ist unglaublich schwer. Es bedurfte die Kraft vieler Männer und einiger Eisenstangen, um den Stein zu bewegen. Für die Archäologen ist diese Konstruktion nicht wenig verwunderlich. Warum hat man nach der Beisetzung der Toten nicht einfach den letzten Stein eingepasst und ist weggegangen? Offensichtlich wollte man jemandem die Möglichkeit geben, hierher zurückzukehren. Etwas befremdlich, denn schließlich bekommen die Mumien ja nicht jeden Sonntag Familienbesuch.«

»Sparen Sie sich die Gruselgeschichten, und gehen Sie voran.« Mister Trips, der von Anfang an gedrängelt hatte, wirkte nun sichtlich nervös.

Offenbar fühlte der Mann sich unter der Erde nicht besonders wohl. Oder lag es an der Dunkelheit, die Tibbys Lampe nicht gänzlich vertreiben konnte?

»Nicht so eilig. Sehen Sie hier nun diese Schriftzeichen direkt neben der Luke? Sie sind an der Innenseite angebracht. Man fragt sich, wer vorbeikommen und sie lesen sollte.« Tibby wies auf einige in den Stein geschlagene Symbole. »Wissen Sie, was die bedeuten?«

Die Touristen schüttelten einhellig die Köpfe.

»Wir auch nicht. Vermutlich soll man die Luke hinter sich zumachen, damit es nicht zieht. Aber das werden wir besser nicht tun, denn von unten lässt sie sich ohne eine Stange Dynamit nur schwerlich öffnen.« Tibby grinste.

»Sie halten sich wohl für sehr witzig«, brummte Mister Trips und tupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab.

»Ich bin witzig. Für jene, die Humor haben. Folgen Sie mir nun durch den Gang«, fuhr Tibby fort. »Und achten Sie auf Ihre Köpfe, er ist an einigen Stellen ziemlich niedrig.«

Wie er es bereits gewohnt war, zählte Tibby sicherheitshalber die wenigen Abzweigungen und folgte den unauffälligen Markierungen, die Professor Whitaker hatte anbringen lassen. Der Weg zur Grabkammer war gewissermaßen ausgeschildert, um zu vermeiden, dass man im Innern dieser unterirdischen Grabanlage verlorenging. Große Teile der Grabanlage waren bislang noch nicht einmal erforscht.

Einige Minuten lang wanderten sie vorwärts, umgeben von kaltem Stein und ohne den Anfang oder das Ende des Ganges sehen zu können. Eine Situation, die selbst bei jenen Zeitgenossen ohne Platzangst ein Gefühl der Beklemmung auslösen konnte. Tibby zumindest empfand den Weg als erdrückend und wäre in diesem Moment lieber über der Erde gewesen. Auch wenn die Temperaturen im Innern dieser gewaltigen Gruft deutlich angenehmer waren.

Endlich erreichten sie die Vorkammer. Es war ein enttäuschender, quadratischer Raum, aus dem die wenigen ausnahmslos wertlosen Grabbeigaben bereits zur genaueren Untersuchung entfernt worden waren. Dahinter aber, in einem weiteren Raum, würde er den Touristen endlich Lizzie präsentieren.

»Das ist sie.« Tibby konnte nicht umhin, die Stimme zu senken und ein wenig pathetisch zu klingen. »Gestorben vor über tausend Jahren und von den Menschen, die sie liebten, für die Ewigkeit präpariert, schlief sie unentdeckt in der Dunkelheit. Bis jetzt.«

»Was hält sie denn da in der Hand?«, piepste Mrs Bingham und hielt sich dicht neben ihm.

»Vermutlich ist es ein Spielzeug«, klärte Tibby sie auf und wies auf den mit Schnitzereien verzierten Stab, um den eine Schnur geknotet war. »Wir nehmen an, dass es benutzt wurde, um Katzen zu unterhalten. Ganz sicher sind wir uns noch nicht.«

»Und ihre Füße?« Mr Trips deutete auf die mit Binden umwickelten Extremitäten. »Ich dachte, die würden immer paarweise eingebunden. Hier ist jedes einzeln behandelt worden. Sie trägt sogar Sandalen!«

»Tja, damit sind wir bei einem weiteren Rätsel angekommen, wie schon die interessante Verriegelung dieser Anlage eines ist. Auf den ersten Blick wirkte es so, als wollte man der Nachwelt die Möglichkeit geben, zu kommen und zu gehen, wie es ihr beliebt. Steht man an diesem Sarkophag, drängt sich ein anderer Gedanke auf. Ließ man etwa die Mumie gelegentlich heraus, damit sie sich die Beine vertreten kann?« Tibby grinste noch etwas breiter und kreuzte erneut die Finger. »Keine Sorge. Bisher zeigt unsere Mumie keinerlei Bewegungsdrang. Im Gegenteil. Sie verhält sich äußerst ruhig und friedlich.«

»Warum ist sie überhaupt noch hier unten?«, wollte Mrs Bingham wissen. »Könnte man sie nicht außerhalb der Grabkammer viel besser untersuchen?«

»Dafür gibt es mehrere gute Gründe«, sagte Tibby. »Einer ist, dass wir sie gern samt ihrem Sarkophag hinausbringen würden, um sie vor Umwelteinflüssen zu schützen. Nur passt dieses Riesending nicht in den Gang, durch den wir gerade gekommen sind und ist außerdem furchtbar schwer. Er ist vermutlich hier drinnen zusammengesetzt worden. Wir arbeiten noch an diesem Problem.«

Fast fünf Minuten ließ er den Besuchern Zeit, Lizzie ausgiebig zu bewundern. Dann mahnte Tibby zum Aufbruch und erzählte etwas von der schlechten Luft im Innern der Grabkammer, und dass man nicht genau wisse, ob sie schädliche Sporen und Pilze enthielt. Prompt setzte sich die Meute willig in Bewegung und trat den Rückzug an. Tibby leuchtete ihnen bis zur Leiter und zählte, wie viele Personen an ihm vorbei und zurück ans Tageslicht kletterten. Er kam auf neun.

»Warten Sie bitte, bis alle wieder da sind«, rief er nach oben und spähte in den schmalen Tunnel, den er gerade passiert hatte. Doch kein Nachzügler ließ sich blicken. Tibby rief noch einmal. »Würden Sie bitte noch einmal durchzählen?«

Über ihm erhob sich leises Gemurmel. Dann kam Mr Trips an die Leiter und rief zu ihm herunter: »Wir sind nur noch zu neunt. Diese Mrs Bingham fehlt. Ob sie sich an einer der Abzweigungen verlaufen hat?«

»Das will ich nicht hoffen«, flüsterte Tibby und ergänzte etwas lauter: »Rühren Sie sich nicht vom Fleck. Ich gehe zurück und suche nach ihr.«

Leise vor sich hin fluchend zog Tibby den Kopf ein und tappte ein weiteres Mal durch den dunklen Tunnel. Bis zu Lizzies Grabkammer traf er auf keine Menschenseele, und auch dort war Mrs Bingham nicht. Sie musste tatsächlich an einer der Gabelungen falsch abgebogen sein.

»Das hat die doch mit Absicht gemacht«, brummte Tibby. »Alles, was sie tun musste, war, bei ihrer Gruppe zu bleiben. So schwierig war das nicht.«

Bei seiner erneuten Wanderung in Richtung Ausgang unterzog er jeden der Seitentunnel einer genauen Untersuchung. Schließlich entdeckte er auf den ersten Metern den Abdruck einer Sandale mit kleinem Absatz im Staub. Den hatte gewiss niemand aus dem Archäologen-Team hinterlassen. Festes Schuhwerk gehörte hier zur Grundausstattung.

»Mrs Bingham?«, rief er in die Dunkelheit und wartete auf eine Antwort.

Zunächst hörte er nichts. Dann aber schallte ein langgezogener, spitzer Schrei durch das Gemäuer. Mit einem unguten Gefühl rannte Tibby tiefer hinein in den Seitentunnel. Hier kannte er sich nicht aus. Ohne die Begleitung eines Archäologen ging er für gewöhnlich nie woanders hin als bis zu Lizzie. Es war alles andere als ungefährlich, allein und auf eigene Faust in den Gängen herumzuwandern.

»Mrs Bingham!«, brüllte er jetzt, so laut er konnte. »Mrs …«

In diesem Moment beschrieb der Tunnel vor ihm einen Bogen, und gleich dahinter kam eine Frau in papageienbuntem Kleid auf ihn zugerannt. Weinend warf sich ihm Mrs Bingham an den Hals.

Gerade wollte Tibby ihr eine Predigt halten und nicht mit Vorwürfen sparen, als sie stotternd hervorbrachte: »Die Mumie. Ich habe sie gesehen. Sie stand plötzlich vor mir und hat mir den Weg versperrt. Ihre Arme hat sie ausgestreckt. Genau so!« Sie machte sich von ihm los und tappte wie eine Schlafwandlerin ein paar Schritte vorwärts.

»Das ist nicht möglich«, sagte Tibby in beruhigendem Ton. »Unsere Mumie läuft nicht herum. Ich versichere Ihnen …«

»Ich habe sie aber gesehen«, beharrte Mrs Bingham und griff sich ans Herz. »Jetzt brauche ich unbedingt einen Sherry. Haben Sie einen Sherry?«

Statt einer Antwort nahm er sie bei der Hand und brachte sie zurück zur Luke. Gerade als sie hinaufsteigen wollte, drehte sie sich zu ihm und fragte: »Was ist das eigentlich für ein Hund, der hier unten herumstrolcht? Gehört der Ihnen?«

»Ein Hund?«, fragte Tibby verdattert.

»Ja, er war plötzlich direkt neben mir«, sagte Mrs Bingham. »Vermutlich habe ich das Tier einen Augenblick zu lange angestarrt, jedenfalls habe ich nach seinem Erscheinen irgendwie den Anschluss verpasst. Er ist zu mager, wissen Sie? Sie müssen ihn besser füttern.«

Tibby erwiderte nichts und zwei Stunden später, Mrs Bingham und der Rest ihrer Gruppe hatten das Lager längst wieder verlassen, saß er allein in Lizzies Grabkammer und starrte die Mumie missmutig an. »Das war jetzt das dritte Mal. Böse Mumie. Ganz böse Mumie, hörst du?« Lizzie reagierte nicht. Tibby seufzte und schloss vorsichtig den Deckel ihres Sarkophags. »Ich wünschte, Abe und Cayden wären hier. Die wüssten bestimmt, was zu tun ist.«

Kapitel 1

Aus Tibbys Reisetagebuch

 

April 1966

 

Nachdem ich den ganzen Winter über auf einem isländischen Fischkutter gearbeitet hatte, zog es mich in wärmere Gefilde. Professor Whitaker, ein angesehener Archäologe, nahm mich mit nach Kairo und von dort ging es weiter an den Rand der legendären Nekropole Sakkara. Sehr, sehr, sehr weit an den Rand, denn es ist aktuell nicht leicht, eine Erlaubnis für Ausgrabungen zu bekommen. Die Ägypter haben, nicht ganz zu Unrecht, das Gefühl, man würde ihre Kultur nach und nach ausplündern. Whitaker hatte allerdings das Glück, bei den zuständigen Behörden an einen jungen Sachbearbeiter geraten zu sein, der uns relativ bereitwillig ein Gebiet zugewiesen hat, zu dem alle Unterlagen über bisherige Untersuchungen verlorengegangen zu sein scheinen.

Bei den Grabungen unterstützt uns fast ein gutes Dutzend einheimischer Helfer, die sich auf diese Weise etwas dazuverdienen. Die meisten von ihnen verlassen das Lager bei Sonnenuntergang und nehmen die Fahrt nach Kairo auf sich, um wieder bei ihren Familien sein zu können. Andere wie Marik, unser Koch, haben ein Zelt im Lager aufgeschlagen und bleiben auch nachts bei uns.

Professor Whitaker ist ein sehr interessanter Mann mit einem breit gefächerten Wissensspektrum. Weitaus interessanter ist allerdings noch seine Tochter Karen, die ich auf Mitte zwanzig schätze und die fest entschlossen ist, in Papas Fußstapfen zu treten. Sie ist eine so zielstrebige Person, dass ich nicht anders kann, als sie zu bewundern. Karen hat ihr ganzes Leben bereits durchgeplant und ich alternder Hallodri, der langsam auf die Vierzig zugeht, weiß nicht einmal, wo ich nächstes Jahr sein werde, geschweige denn, wovon ich leben will. Vielleicht sollte ich mir an ihr ein Beispiel nehmen.

Und dann gibt es noch Bertie, Professor Whitakers Assistenten. Ein stiller junger Mann mit unvorteilhaftem Bürstenschnitt, der ganz in seiner Arbeit aufzugehen scheint. Er spricht nur wenig.

Deakon, der Geist des Vaters meiner guten Freundin Winnie, folgt mir jetzt seit mittlerweile vier Jahren auf Schritt und Tritt. Seit Winnie und ich einander in Malmö Lebewohl sagten, ist er so etwas wie meine Familie geworden. Ein Kater, der nicht gefüttert werden muss, macht ja auch keine Umstände. Ihm gefällt das Ausgrabungslager, und alles, was dazugehört, ausnehmend gut. Am liebsten streift er mit mir auf dem Gelände herum und zeigt großes Interesse an einem Mauerwerk, das Whitaker und seine Mannschaft bereits freigelegt haben.

Eigenartig ist, dass die Wand keineswegs senkrecht in der Erde verschwindet, sondern diagonal nach unten vom Betrachter wegführt. Wer baut so etwas und zu welchem Zweck? Zudem gab es ein paar eigenartige Ereignisse, seit wir die Kammer mit der Mumie entdeckt haben. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie nur der Auftakt zu einem neuen gefährlichen Abenteuer sind.

 

Als die Dämmerung hereinbrach, schlenderte Tibby durch das Lager, grüßte höflich jeden der einheimischen Helfer, die seinen Weg kreuzten, und schlug die heruntergelassene Plane vor dem Eingang des Artefakt-Zeltes zurück. Am Tisch stand, ganz wie erwartet, Karen und prüfte die Steinfigur der Katze mit fachmännischem Blick.

»Ich mache mir Sorgen«, wandte er sich an die junge Frau in der khakifarbenen Arbeitskleidung mit den schweren Stiefeln. »Unsere Mumie wird immer wieder außerhalb ihres Sarkophags gesehen. Das muss doch etwas zu bedeuten haben.«

»Gewiss.« Karen ließ die Hand mit der Lupe sinken, grinste und strich sich die hellroten Haare zurück. »Es ist der Beweis dafür, dass du anfällig bist, Tiberius Harrowmore. Genau wie die Einheimischen bist du bereit, an Flüche und Spuk zu glauben. Keine gute Voraussetzung für eine Verlängerung deines Arbeitsvertrags.«

»Kündige mir doch.« Tibby grinste ebenso frech zurück. »Aber dann musst du dir einen anderen Laufburschen für deine täglichen Wünsche suchen.«

»Ich kann dir gar nicht kündigen«, war die etwas schnippische Antwort. »Das kann nur der Ausgrabungsleiter. Und mein Vater hat wirklich andere Sorgen als deine Fantastereien. Jetzt, da wir auf diese unterirdische Grabanlage gestoßen sind und begonnen haben, sie freizulegen, möchte die Regierung uns zu gerne loswerden, um selbst als Erste alles in Augenschein zu nehmen. Dabei bekommen sie ohnehin einen großen Anteil an allem, was wir finden, und dürfen diesen auch noch selbst auswählen. Mir wird schon ganz schlecht bei dem Gedanken, die hübschesten Dinge wieder hergeben zu müssen. Ich schätze, dieses Kätzchen unterschlage ich, wenn es zur finalen Besichtigung kommt.«

»Das kommt mit Sicherheit raus und bringt dir nachträglich jede Menge Ärger ein«, gab Tibby zu bedenken. »Zumal die größte Gefahr derzeit nicht von ein paar Regierungsvertretern ausgeht, sondern von einer wandelnden Mumie.«

»Jetzt lass den Blödsinn«, fuhr Karen ihn an. »Seit ich laufen kann, begleite ich meinen Vater zu Ausgrabungen wie dieser in die Wüste. Und nie hat uns ein Fluch getroffen. Ganz zu schweigen von Mumien, die mit uns Tee trinken wollten oder sonst etwas.«

»Ich befürchte eher ›sonst etwas‹.« Tibby zog eine Grimasse, wurde aber gleich wieder ernst. »Wann kommt dein Vater aus Kairo zurück?«

»Nicht vor morgen Abend«, erwiderte Karen. »Er möchte ein paar Sachen erledigen. Genauer weiß ich es auch nicht. Vielleicht kauft er deiner Lizzie ja ein paar neue Laufschuhe. Die wird sie brauchen, wenn sie so weitermacht. Ihre Sandalen haben die besten Zeiten hinter sich.«

Tibby ließ sich auf einen der stoffbespannten Klappstühle fallen, beobachtete, wie Deakon, sein schneeweißer Geisterkater, auf den Tisch sprang und unbemerkt von Karen zwischen den dort aufgebauten Stücken herumstolzierte. Karen hatte keinen Sinn für Geistwesen jeglicher Art, wie Deakon ihm gerade vor Augen führte. Sie war blind für vieles, was um sie herum vor sich ging. Und wandelnde Mumien lagen einfach außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Doch nicht für Tibby.

»Ich brauche deine Hilfe, Karen«, brachte er unvermittelt hervor. »Und ich fürchte, es kann nicht länger warten.«

Karen stellte die Steinkatze an ihren Platz zurück und betrachtete ihn mit einem Mal sorgenvoll. »Was ist los, Tibby? Was macht dir zu schaffen?«

»Das sagte ich gerade. Es ist die Mumie, und dass du mir nicht glauben willst, macht es nicht besser. Aber vielleicht kann ich deine Skepsis zu meinem Vorteil nutzen. Wie beschwört man Dämonen? Weißt du das zufällig?«

Karen lachte auf, brach aber rasch ab, als Tibby sie mit einem finsteren Blick bedachte. »Darüber macht man nun wirklich keine Witze.«

»Ich versuche gar nicht, witzig zu sein«, entgegnete Tibby und sah zu, wie Deakon die Steinkatze mit den Vorderpfoten attackierte. Offensichtlich hielt er das Ding für einen Konkurrenten. »Vor ein paar Jahren habe ich zwei Dämonen kennengelernt. Zumindest behaupteten sie, welche zu sein. Und wenn ich mir so vor Augen halte, was mir in ihrer Gesellschaft schon alles widerfahren ist, bin ich geneigt, ihnen zu glauben.«

»Tibby …« Karen seufzte und verdrehte die Augen.

»Wir haben uns schon mehrfach wiedergetroffen und im Schlepptau hatten sie dabei sowohl Gestaltwandler als auch Vampire. Ich möchte wetten, dass sie auch mit einer wandelnden Mumie fertigwerden.«

»Du hast wirklich eine sehr lebhafte Fantasie. Vielleicht ist der vordere Orient nicht der passende Ort für dich.« Sie sah ihn mitleidig an. »Und selbst, wenn irgendetwas an deinen Geschichten dran wäre …«

»Sie sind wahr«, beharrte Tibby.

»Wäre es absolut nicht ratsam, eine Beschwörung durchzuführen. Aus so etwas erwächst nichts Gutes. Das weiß sogar ein Zweifler wie ich.«

»Cayden und Abe sind die Guten von den Bösen«, versuchte Tibby es weiter. »Sie schnappen sich die Abtrünnigen ihrer Branche und schicken sie zurück in die Hölle, die ewige Finsternis oder wohin auch immer. Sie könnten uns mit Lizzie helfen. Und je eher sie hierherkommen desto besser. Bevor vielleicht etwas wirklich Schlimmes geschieht. Bisher geht unsere Mumie nur ein wenig spazieren, aber das kann sich bestimmt noch steigern.«

»Also gut.« Karen zuckte mit den Schultern und schlug sich auf die Schenkel. »Damit deine arme Seele Ruhe hat, verrate ich dir ein altes Ritual, das ich mal in Gizeh auf einem Stück Papyrus entdeckt und entziffert habe. Vermutlich ist es genau das, was du suchst. Aber danach ist Schluss mit deinen Märchen, Tibby. Ist das klar?«

»Sonnenklar. Ich wusste ja, dass du mir helfen kannst. Ich habe nämlich weder eine Adresse noch eine Telefonnummer von den beiden und weiß auch gar nicht, ob ich sie überhaupt auf diesem Weg erreichen könnte. Wie funktioniert dieses Ritual?«

Karen nahm einen Stift und einen Zettel zur Hand und notierte ein paar Anweisungen. Anschließend rollte sie das Schriftstück zusammen und gab es Tibby. »Geh damit ein paar Meter in die Wüste, bis du das Gefühl hast, allein zu sein. Dann legst du deine gesamte Kleidung ab, entzündest ein Feuer, sprichst die Worte, die darauf stehen, denkst an deine Dämonenfreunde und verbrennst das Papier. Anschließend vergräbst du die Asche. Das ist alles. Wenn es deine Dämonen wirklich gibt, müssten sie danach zu dir finden.«

»Du bist die Allerbeste.« Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Und du bist ein unverbesserlicher Casanova, aber mich wickelst du nicht so einfach ein.« Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger.

»Schade.« Er meinte es ehrlich. »Wir beide unter dem Sternenhimmel nackt im Wüstensand.« Er sah sie verträumt an und ließ einer ihrer glänzenden Locken durch seine Finger gleiten. »Willst du mich nicht zu dem Ritual begleiten?«

»Auf gar keinen Fall.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Das musst du schon allein erledigen. Und wag dich nicht zu weit vor, sonst gehst du noch verloren wie einst Trelawny.«

»Trelawny?«, fragte Tibby irritiert. »Wer ist das?«

»Ach, das ist nur so eine Redensart, die sich auf einen Archäologen bezieht, der in den Dreißigerjahren plötzlich verschwand. Zuerst meinte man wohl, er hätte sich mit wertvollen Fundstücken davongemacht. Als man aber nie wieder von ihm hörte, ging man davon aus, dass er sich verlaufen hat und in der Wüste umgekommen ist. Armer Teufel. Gut möglich, dass sich diese Tragödie hier in der Nähe zugetragen hat. So genau weiß heute keiner mehr, wo Trelawny seine Ausgrabungen durchführte.«

»Wenn du dich so um mich sorgst, solltest du doch mitkommen.«

»Vergiss es.«

Tibby wusste, wann er auf verlorenen Posten stand, und gab Deakon einen leichten Wink. Der Kater sprang vom Tisch und folgte ihm ins Freie. Draußen setzte bereits die Dämmerung ein und erste Sterne leuchteten auf.

»Versuchen wir also unser Glück, Deakon.« Er ging in die Hocke und kraulte den Kater hinter den Ohren. »Davon hatten wir schließlich einmal jede Menge. Ich habe allerdings das beklemmende Gefühl, es irgendwo im Wüstensand verloren zu haben.«

 

Eine Stunde später saß Tibby nackt am Lagerfeuer, wurde von vorn geröstet, während er sich gleichzeitig den Hintern abfror, und murmelte ein paar Wörter, deren Bedeutung er nicht verstand. Anschließend warf er Karens Zettel wie aufgetragen in die Flammen und sah zu, wie er verkohlte. Für einen kurzen Moment erhellte ein Blitz die Nacht um ihn herum, was Tibby als gutes Zeichen wertete.

Hatte die Beschwörung funktioniert? Würden seine Freunde nun kommen?

Er löschte das Feuer mit Sand und ließ sich Zeit damit, seine Kleidung wieder anzuziehen. Dabei lauschte er auf jedes Geräusch und versuchte krampfhaft, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Doch aus keiner Richtung näherten sich ihm die vertrauten Gestalten von Abe und Cayden. Offensichtlich erfolgte die Anreise der Dämonen nicht gerade prompt.

Da bemerkte er, wie mit Deakon, der neben ihm im Sand saß, eine Veränderung vor sich ging. Der weiße Kater reckte den Hals und ließ seine Ohren tanzen, als würde er etwas hören, das Tibbys Aufmerksamkeit entging.

Gleich darauf änderte sich die Atmosphäre um sie beide herum und ein kühler Wind kam auf. Er brachte einen Geruch mit, der Tibby an Baumharz und alte Bücher erinnerte. Keineswegs unangenehm, aber eigenartig und unerwartet, wenn man sich unter freiem Himmel und weitab von so ziemlich allem befand.

Deakon wurde sichtlich unruhiger, blieb aber sitzen. Nur das Spiel seiner Ohren und seine Haltung verrieten erhöhte Wachsamkeit.

»Abe? Cayden?« Unsicher sah Tibby sich um.

Was, wenn er einen anderen, gemeinen Dämon mit Karens Ritual auf den Plan gerufen hatte? Fehler passierten schließlich überall. Allerdings konnte es auch eine andere, kaum weniger unangenehme Ursache geben.

»Lizzie?« Angespannt wartete Tibby, doch nichts rührte sich. Nach einer Weile schien es ihm an der Zeit, aufzugeben und ins Lager zurückzukehren.

Begleitet vom treuen Deakon schlenderte Tibby zu den Zelten, suchte sein eigenes auf und legte sich angezogen auf das Feldbett. Hellwach lauschte er auf jedes Geräusch in seiner Umgebung.

Würde Lizzie diese Nacht in ihrem Sarkophag bleiben oder lieber herumstreifen? War sie es gewesen, die sich dort draußen in der Wüste ganz in seiner Nähe aufgehalten und Deakons Aufmerksamkeit erregt hatte?

Tagebuch von Arthur Trelawny, September 1938

 

Nachdem wir es nun mal nicht ändern können, dass man mich und meine Mannschaft nicht in die Nähe der großen Grabmäler von Sakkara lässt, haben wir uns an den Rand der Nekropole zurückgezogen und etwas lustlos damit begonnen, ein Gebiet für unsere Ausgrabungen abzustecken. Zu unser aller Überraschung stießen wir fast sofort auf ein steinernes Plateau unter dem Sand, das ich als äußerst vielversprechend bezeichne. Dabei handelt es sich um ein perfektes Viereck von etwa zwölf Metern Länge pro Seite. Dort unten könnte sich gut und gerne ein komplettes Einfamilienhaus befinden, und wir sind die Ersten, die es seit Tausenden von Jahren wieder betreten. Möglicherweise war es ein Versammlungsort, ich werde das genauer untersuchen. Auch wenn unsere einheimischen Helfer wenig begeistert zu sein scheinen und immer wieder etwas von dem Grab der Tu-Lah murmeln. Leider ist keiner von ihnen bereit, mir mehr darüber zu erzählen. Wer also war Tu-Lah und warum sollte man ein Grabmal so weit außerhalb von Sakkara errichten wollen? Nun, diese Dinge gilt es herauszufinden, und Stephenson, meine rechte Hand, gibt sich redliche Mühe, das zu tun. Bisher hat er allerdings nicht mehr Erfolg gehabt als ich.

Kapitel 2

 

Nach dem Aufstehen widmete Tibby sich seinen Aufgaben. Neue Bruchstücke eines Tonkrugs waren aufgetaucht und bedurften einer sorgfältigen Reinigung. Mochte Mister Trips sich auch über die Verwendung von Gesichtscreme mokiert haben, Tibby machte damit ausgezeichnete Erfahrungen. Und wer war schon Mister Trips? Nur ein weiterer Besserwisser, den es auf seiner Reise in den Orient aus purer Neugier zu einer Ausgrabungsstätte geführt hatte. Davon gab es viele.

An diesem Tag fiel es Tibby weit schwerer als üblich, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder trat er dicht an den Zelteingang und blickte sich suchend um.

Wo blieben nur Abe und Cayden? Wie schwer konnte es für einen Dämon sein, auf die Schnelle zu ihm nach Ägypten zu kommen? Zumindest für Cayden, der sich in eine Drossel verwandeln konnte, stellte es wohl keine besondere Schwierigkeit dar.

Doch die Mittagshitze kam und ging, ohne dass seine Freunde eintrafen, und Tibby wurde zunehmend ungeduldiger. Als Karen, über und über mit grauem Staub bedeckt, im Artefakt-Zelt auftauchte, sprach er sie an.

»Ich glaube, deine Beschwörungsformel hat nicht funktioniert.« Es fiel ihm schwer, seine Enttäuschung darüber zu verbergen.

»Vergiss die blöde Formel, ich habe gerade einen weiteren Tunnel entdeckt, der hinter ein paar losen Steinen verborgen war. Er führt ziemlich steil in die Tiefe. Ganz bestimmt gibt es wenigstens ein weiteres unterirdisches Stockwerk, in denen wir auch noch auf weitere Mumien stoßen könnten.«

»So ein Grabmal ist meines Wissens keine Wohngemeinschaft«, sagte Tibby ungehalten. »Wenn die anderen Verstorbenen zudem alle so schräg drauf sind wie Lizzie, kann ich auf die Bekanntschaft verzichten. Stell dir nur mal vor, plötzlich würde eine ganze Armee bandagierter Zombies durch die Wüste ziehen. Gruseliger Gedanke.«

»Dann denk ihn einfach nicht.« Karen sah ungeduldig zu ihm auf. »Du bist wirklich ein komischer Kauz, Tibby. Niemand außer dir wäre auf diesen blöden Witz mit der Beschwörungsformel hereingefallen. Und wie du da todernst und nackt am Feuer gesessen hast, das war zu komisch.«

»Du warst da?« Er horchte auf. »Du hast mich beobachtet?«

»Ich wollte nur überprüfen, wie leichtgläubig du bist.« Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. »Wenigstens wurde ich mit einem recht hübschen Anblick dafür entschädigt, dass mein Handlanger schwachsinnig ist. Attraktiv, aber dämlich, da kann man nichts machen.«

»Du hast mich reingelegt? Mit einem selbst ausgedachten Ritual?« Er trat auf sie zu, woraufhin sie ein paar Schritte vor ihm zurückwich.

Langsam bewegten sie sich wie zwei kreisende Satelliten um den Tisch voller Artefakte, auf dem Deakon zwischen zwei antiken Schalen saß und sich die Pfoten leckte.

»Du hattest es verdient«, erklärte Karen. »Dämonenbeschwörung, also echt. Was hast du denn von mir erwartet?«

»Aufrichtigkeit wäre schön gewesen. Immerhin habe ich dir vertraut.« Tibby kam plötzlich ein Detail des vergangenen Abends in den in den Sinn, das nun eine ganz neue Bedeutung bekam. »Da war ein Blitz, und zwar genau in dem Moment, als ich das Papier ins Feuer warf. Warst du das etwa?«

»Nur ein hübsches kleines Erinnerungsfoto.« Sie wurde rot. »Ich schenke dir einen Abzug, sobald ich den Film entwickelt habe.«

»Du hast mich fotografiert, wie ich nackt in der Wüste sitze? Sofort gibst du mir deine Kamera!«

»Ganz bestimmt nicht!«

Immer schneller rannten sie um den Tisch. Deakon hatte inzwischen von seinen Pfoten abgelassen und besah sich interessiert das Schauspiel.

»Du hattest kein Recht dazu, rück sofort den Film raus!«, brüllte Tibby.

»Das geht nicht. Auf den anderen Bildern habe ich unsere Ausgrabungsarbeit dokumentiert.« Karens rote Haare flogen, ihre Augen blitzten, sie hatte offensichtlich großen Spaß an dieser Jagd.

Auch Tibby war es bei Weitem nicht so ernst mit seiner Forderung, wie er tat. Doch er genoss den Moment der Ausgelassenheit und hatte das Gefühl, schon sehr lange nicht mehr unbeschwert mit jemandem herumgealbert zu haben.

Jetzt bog Karen von der bereits vertrauten Route um den Arbeitstisch ab und stürmte aus dem Zelt. Tibby setzte ihr nach und kam gerade rechtzeitig auf dem Platz zwischen den Zelten an, um zu sehen, wie Karen mit Schwung in einen hochgewachsenen Mann im schwarzen Anzug hineinrannte, der etwa in Tibbys Alter war. Seine schwarzen Haare glänzten wie das Gefieder eines Rabenvogels. Um seinen Mund lag ein melancholischer Zug.

»Oh, Verzeihung«, rief sie und bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten. »Ich habe gerade … Wir wollten nur …«

»Cayden!«, entfuhr es Tibby, dem es gelang, eine Vollbremsung hinzulegen, bei der er eine Wolke aus Wüstensand aufwirbelte. »Dann hat die Beschwörung ja doch funktioniert!«

»Was denn für eine Beschwörung?« Cayden warf Tibby einen fragenden Blick zu und reichte gleichzeitig Karen eine stützende Hand, die diese dankbar ergriff.

In diesem Moment näherten sich zwei weitere Männer dem Ort des Geschehens. Der eine, weißblond und bleich wie der Tod, wirkte in dem ebenfalls schwarzen Anzug und der dunklen Sonnenbrille wie das optische Pendant zu Cayden. Nur dass er statt Ernsthaftigkeit und Melancholie eine Leichtigkeit, gepaart mit Gefahr ausstrahlte, die ihn unheimlich erscheinen ließ. Bei den herrschenden Temperaturen von weit über dreißig Grad musste es in dieser Aufmachung unangenehm heiß werden.