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Auf einem Schloss in Yorkshire geht die Geisterbraut um. Doch neben Angst und Schrecken hat sie noch etwas anderes im Gepäck: den Zweifel. Und der lässt so manche eben noch glückliche Braut gefährliche Entscheidungen treffen. Allison ist davon überzeugt, diesen Fall lösen zu können. Nicht ahnend, dass sie damit dem Schicksal, vor dem man sie eigentlich bewahren wollte, direkt in die Karten spielt …
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Seitenzahl: 306
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Auszug 1 aus ›Die letzte Braut‹
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Auszug 2 aus ›Die letzte Braut‹
Kapitel 6
Auszug 3 aus ›Die letzte Braut‹
Kapitel 7
Kapitel 8
Auszug 4 aus ›Die letzte Braut‹
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Auszug 5 aus ›Die letzte Braut‹
Kapitel 12
Kapitel 13
Auszug 6 aus ›Die letzte Braut‹
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Auszug 7 aus ›Die letzte Braut‹
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Epilog
Dank
Miriam Rademacher
Harrowmore Souls
Band 6: Die fünfte Braut
Fantasy
Harrowmore Souls (Band 6): Die fünfte Braut
Auf einem Schloss in Yorkshire geht die Geisterbraut um. Doch neben Angst und Schrecken hat sie noch etwas anderes im Gepäck: den Zweifel. Und der lässt so manche eben noch glückliche Braut gefährliche Entscheidungen treffen. Allison ist davon überzeugt, diesen Fall lösen zu können. Nicht ahnend, dass sie damit dem Schicksal, vor dem man sie eigentlich bewahren wollte, direkt in die Karten spielt …
Die Autorin
Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Oktober 2024
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2024
Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss
Lektorat / Korrektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-325-7
ISBN (epub): 978-3-03896-326-4
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Something old,
Something new,
Something borrowed
and something blue
… and a sixpence in your shoe.
ScarboroughStation, Sommer1992
»Wir stehen auf ewig in Ihrer Schuld.« Die vom Alter gebeugte weißhaarige Lady Redgrove schloss Matthew zum Abschied in die Arme und drückte ihn fest an sich. »Ohne Sie hätten wir unser Zuhause verloren, Mister Davis. Seien Sie versichert, wann immer Sie Ihr Weg in unsere Gegend führt, steht Ihnen unsere Tür offen.«
Matthew Davis brachte es nicht fertig, die Dankbarkeit der alten Dame mit einer Floskel abzutun. Er hatte sie und ihren Gatten, der eifrig nickend hinter ihr stand und sich schwer auf seinen Stock stützte, von einer großen Last befreit – und er war tatsächlich stolz auf sich. Seit fünf Jahren war er ein aktives Mitglied der SPR, einer Vereinigung renommierter Forscher zur Untersuchung paranormaler Phänomene, und jetzt hatte er seinen ersten Außeneinsatz mit Bravour erledigt. Redgrove Castle war seit der vergangenen Nacht spukfrei, und das war ausschließlich sein Verdienst.
»Gute Arbeit.« Der Lord nickte noch immer heftig und Matthew war sich nicht ganz sicher, ob dies eine Art Zustimmung bekunden sollte oder nur bewies, wie tattrig der Mann bereits war. »Und dass Sie auch bereit sind, diese unbequeme Altlast für uns zu entsorgen, wissen wir zu schätzen.«
Er klopfte vielsagend mit dem Spazierstock gegen die geblümte Hutschachtel, die neben Matthews übrigem Gepäck auf dem Bahnsteig stand. Das runde Modell mit dem aufwendig gearbeiteten Messinggriff entstammte seinem Erscheinungsbild nach einer längst vergangenen Zeit und bot Platz für üppige Hutkreationen, wie man sie beim Pferderennen in Ascot bewundern konnte. Doch diese spezielle Schachtel beinhaltete statt eines modischen Accessoires ein ruheloses Gespenst, wie das leichte Zittern des Griffs jetzt deutlich erkennen ließ.
»Und es kann wirklich nicht aus seinem Gefängnis entkommen?«, flüsterte Lady Redgrove, der das Beben des Gepäckstücks nicht entgangen war.
»Keine Sorge.« Matthew schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. »Diese Geisterfalle ist von einem der fähigsten Erfinder der jüngeren Geschichte entwickelt worden. Noch nie ist ein darin eingesperrter Spuk aus eigener Kraft entkommen. Solange niemand diesen Deckel öffnet, kann nichts passieren.«
»Das ist wohl auch besser so.« Lord Redgrove starrte missmutig auf die Hutschachtel. »So ein boshaftes Wesen sollte nicht frei sein. Nie mehr.«
»Sei nicht ungerecht«, wies ihn seine Gattin streng zurecht. »Wir wissen ja nicht, warum sie so geworden ist. Womöglich steckt eine schreckliche Tragödie hinter der Geschichte der Geisterbraut. Freuen wir uns einfach darüber, sie losgeworden zu sein. Und das nach all der langen Zeit. Ich kann es noch gar nicht glauben.« Sie küsste Matthew überschwänglich auf die Wange. »Vielen Dank noch mal, mein lieber Junge.«
Matthew, dem die Dankbarkeit nun doch etwas zu viel wurde, hörte mit Erleichterung, wie per Durchsage das baldige Einfahren eines Zuges auf Gleis 1 angekündigt wurde. Gegen Abend würde er in London sein und seinen dortigen Kollegen stolz von seinem Erlebnis berichten.
Einige Minuten und viele Schulterklopfer des alten Lords später öffnete sich direkt vor ihm eine Tür der ersten Klasse und Matthew wuchtete sein Gepäck die metallenen Stufen hinauf.
»Wir sehen uns wieder, Junge!«, rief der Lord ihm nach. »Gute Reise!«
Matthew winkte ihnen im festen Glauben, dass es ihn nie wieder in diesen gottverlassenen Winkel verschlagen würde. Dann machte er sich auf die Suche nach einem freien Abteil.
Doch wie er feststellte, erfreute sich die erste Klasse gerade heute großer Beliebtheit und so suchte er noch nach einer Sitzgelegenheit, als der Zug bereits anfuhr. Schließlich erinnerte sich das Glück seiner Person und er stieß die Tür zu einem Abteil auf, in dem nur eine einzige, sehr junge und sehr hübsche Frau von Anfang zwanzig saß und grimmig in einen Handspiegel blickte.
»Entschuldigung, ist hier noch frei?«, fragte Matthew und zuckte zusammen, als sie den Kopf hob und er den blutroten Strich sah, der von ihren Lippen bis quer über die linke Wange führte.
»Darf ich Ihnen einen Rat geben?« Sie ließ den Spiegel in ihre Handtasche fallen. »Versuchen Sie niemals, in einem anfahrenden Zug Ihren Lippenstift nachzuziehen. Sie entwickeln sich von jetzt auf gleich zu einem Clown oder Zombie. Ganz wie man es betrachtet.«
Matthew, der ihre Worte als Zustimmung wertete, dass es hier drinnen noch Platz für ihn gab, verstaute sein Gepäck in dem dafür vorgesehenen Netz über den Sitzen und reichte seiner Reisegefährtin ein blütenweißes Taschentuch.
»Wie nett«, antwortete sie, rieb, so gut es ihr möglich war, die Farbe aus dem Gesicht und richtete sich die nachtschwarze Hochsteckfrisur mit ein paar geübten Handbewegungen.
Dabei blieb ihr Blick am Gepäcknetz über Matthew hängen, der sich für den Sitz ihr gegenüber entschieden hatte.
»Was für eine wunderschöne Hutschachtel.« Ihre Augen weiteten sich. »Schenken Sie mir die?«
»Auf gar keinen Fall.« Matthew ahnte bereits, dass die Reise recht unterhaltsam zu werden versprach. Dieses Abteil war eine gute Wahl gewesen.
»Zu schade. Sie passt perfekt zu meinem Kleid, finden Sie nicht?«
Matthew musste zugeben, dass das florale Muster ihres eng anliegenden Sommerkleides tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Geistertasche aufwies. Nur war der Inhalt des Kleides warm und lebendig. Wenn auch kaum weniger lebhaft. Matthew konnte den Messinggriff der Schachtel klappern hören. Der Geist im Innern tobte noch immer.
Seine Mitreisende plapperte indes ungerührt weiter. »Ich heirate nämlich kommenden Monat. Und dann geht’s ab nach Venedig, stellen Sie sich das nur vor.«
»Lieber nicht.« Matthew spürte einen winzigen Stachel der Enttäuschung in der Herzgegend. Aber natürlich konnte man nicht davon ausgehen, dass eine so attraktive Erscheinung anderen nicht auch schon aufgefallen war.
»Zwei ganze Wochen Venedig, und wenn ich heimkomme, starte ich eine Karriere als perfekte Hausfrau. Manchmal kann ich selbst kaum glauben, dass ich mir so etwas antue. Es passt gar nicht zu mir.« Sie reichte ihm die Hand. »Ich bin Tony. Und Sie könnten mir die Schachtel wenigstens leihen. Ich gebe sie Ihnen nach meiner Hochzeitsreise bestimmt zurück.«
Matthew lachte, schüttelte den Kopf und stellte sich ebenfalls vor. Als Tony ihn fragte, wohin er fahre und was er in Yorkshire getrieben habe, antwortete er ausweichend.
»Ich habe einem älteren Ehepaar bei einem Problem mit ihrem Zuhause geholfen. Ein Problem, das damit drohte, ihr Schloss unbewohnbar zu machen. Aber jetzt ist wieder alles in Ordnung.«
»Ein Schloss?« Sie hob die Brauen. »Hoffentlich hast du dich gut dafür bezahlen lassen, Matty.«
»Ich habe bekommen, was ich wollte.« Er schielte zum Gepäcknetz hinauf, wo die Hutschachtel leicht vibrierte. Ob dies mittlerweile auf das Ruckeln des Zuges oder auf das Gespenst zurückzuführen war, wusste er nicht genau.
Ihr so lebhaft begonnenes Gespräch erlahmte, und Tony fielen die Augen zu. Eine Weile beobachtete Matthew sie im Schlaf, dann forderten die Anstrengungen der vergangenen Nacht auch von ihm ihren Tribut.
Noch einige Male versuchte er krampfhaft, die Lider geöffnet zu halten, wusste jedoch, dass er den Kampf verlieren würde. Das Rattern der Räder in den Ohren glitt er hinüber in einen sanften Traum.
Als er erwachte, war der Platz ihm gegenüber leer.
Nachdem er sich ausgiebig gestreckt und geräkelt hatte, wollte er gerade aufstehen, um sich ein wenig die Beine auf dem Gang zu vertreten, da bemerkte er auf dem leeren Platz neben sich ein mit Lippenstift verschmiertes Taschentuch und einen handgeschriebenen Zettel.
Matthew nahm ihn, in der Hoffnung, eine amüsante Abschiedsbotschaft von Tony vorzufinden, doch die wenigen Worte auf dem Papier ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Verzeih, aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Ich schicke sie dir bald zurück.
Matthews Blick flog hoch ins Gepäcknetz, wo sich keine Hutschachtel mehr befand.
Wie von der Tarantel gestochen, rannte er aus dem Abteil und schnappte sich den ersten Kontrolleur, der ihm über den Weg lief.
»Wo ist sie hin?«, rief er und merkte kaum, wie er den Arm des anderen griff und schüttelte. »Die Frau mit der Hutschachtel.«
»Was für eine …«
»Sie trug ein geblümtes Kleid und hatte eine Lippenstiftspur im Gesicht. Etwa hier.« Er deutete auf seine Wange.
»Ach die. Die ist beim letzten Halt ausgestiegen.«
»Und der Name des Ortes?« In Matthews Ohren raste der Puls.
»Malton. Ist etwas nicht in Ordnung?« Dem Kontrolleur war es mittlerweile gelungen, sich aus dem Griff des SPR-Mannes zu befreien.
»Sie hat eines von meinen Gepäckstücken mitgenommen!«, rief er panisch und suchte nach einer Notbremse.
Er war versucht, den Zug anzuhalten. Doch was hätte es genutzt? Ihr Vorsprung war gewaltig und alles, was er von ihr wusste, war, dass sie sich Tony nannte.
»Das wird sich bestimmt aufklären«, behauptete sein Gegenüber. »Spätestens, wenn sie den Koffer öffnet und sieht …«
»Oh Gott, nur das nicht!« Matthew schlug die Hände vors Gesicht.
Er wagte nicht, sich auszumalen, was geschehen würde, sobald Tony den Deckel von der Schachtel hob. Wütende Geister waren zu allem fähig. Und die Geisterbraut von Redgrove würde bestimmt keine Gnade walten lassen.
London, 2020 im Januar
»Guten Morgen, werte Frau.« Nigel war die Höflichkeit in Person. »Willkommen in der Kanzlei Harrowmore Souls. Was kann ich für Sie tun?«
»Allison?« Tante Ethel stellte ihre Einkaufstaschen vor sich auf den Fußboden und rief noch einmal laut: »Allison! Sag deinem dienstbaren Geist, er kann seinen Schreibtisch nicht einfach mitten in meinem Flur aufstellen! Wie komme ich denn nun mit den Lebensmitteln in die Küche?«
»Allison und Conny sind nicht zuhause«, erklärte Nigel so liebenswürdig wie möglich. »Sie sind auf der Suche nach neuen Geschäftsräumen für die Kanzlei. Wie jeden Tag, seit wir aus unserem alten Domizil vertrieben worden sind.«
»Gut für sie«, bellte Tante Ethel, riss sich die Baskenmütze von den feinen hellroten Haaren und warf sie über Nigel hinweg an einen Garderobenhaken. »Das ist wirklich kein Zustand mehr. Es ist eine Sache, sie und Conny in meinem Gästezimmer zu beherbergen. Ich weiß, wie schwer es ist, in London eine Unterkunft zu bekommen. Aber dass jetzt auch ihr Hausgespenst samt seiner Putzfrau …«
»Meiner Verlobten«, verbesserte Nigel und verspürte einen Anflug von Ärger. »Und die unternimmt seit unserer Ankunft alles, um Sie bei Laune zu halten. Die Wohnung blitzt und blinkt.«
»Nur kann man nicht mehr darin wohnen«, fauchte Tante Ethel. »Aktenschränke in der Badewanne, Schreibtische im Flur!«
»Das ist ab sofort der Empfangsraum.« Nigel sah betrübt auf seine Tischplatte, wo die Kanzlei-Ente Hng, gerade ein Dokument zerpflückte. Auch das Firmenmaskottchen wusste nicht, wohin mit sich und schnatterte nervös vor sich hin. »Es ist nicht unsere Schuld, dass Mister Keagan Eigenbedarf angemeldet hat. Würden Sie das Gleiche im Fall Ihrer zweiten Wohnung tun, könnten wir sofort umziehen.«
»Ich habe Livies ehemaliges Zuhause an sehr freundliche Leute vermietet, die mich einmal im Jahr zu einem traditionell indischen Essen einladen. Und es liegt mir fern, unsere Probleme zu ihren zu machen. Allison ist es, die eine Lösung finden muss.« Tante Ethel schob den Tisch samt Hng ein gutes Stück zurück, ohne Rücksicht auf den dahinter sitzenden Nigel zu nehmen, und quetschte sich durch den entstandenen Spalt bis in ihre Küche.
»Sie ist ja dabei, eine annehmbare Alternative aufzutreiben«, erinnerte Nigel die zierliche Dame noch einmal und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Allisons Bemühungen endlich von Erfolg gekrönt sein würden.
Im Grunde war Tante Ethel ein herzensguter Mensch, aber eine wochenlange Belagerung durch drei Personen inklusive Geist und plus Ente tat ihrem Nervenkostüm nicht gut.
Zudem lief der Kanzleibetrieb weiter und die Belästigungen durch Geister in London und Umgebung riss nicht ab.
Obwohl sich die meisten Sichtungen als Irrtümer herausstellten, musste ihnen doch nachgegangen werden.
Und nahezu jeder Zeuge eines Spuks wurde nun, da Nigel ihre Adresse in die Homepage der Kanzlei eingefügt hatte, in Tante Ethels Heim persönlich vorstellig.
Als ob es keine Telefone gäbe oder sie fürchteten, nicht ernst genommen zu werden, wenn sie nicht selbst auf der Fußmatte standen.
»Hast du Mister Keagan die Ausrede mit dem Eigenbedarf eigentlich abgekauft?« Miranda, seine Herzallerliebste, stand plötzlich an seiner Seite und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Auf mich wirkte der Mann extrem verängstigt, als er die Kündigung aussprach. Vielleicht hat er befürchtet, wir sammeln in seinen vier Wänden Spukgestalten wie Briefmarken.«
Nigel stieß einen Seufzer aus. »Oder er ist ein Stier.«
»Warum sollte er ein Stier sein?«, fragte Miranda irritiert.
Nigel schob Hng von der aufgeschlagenen Tageszeitung und las laut vor: »Mitte Mai Geborenen wird geraten, alte Verbindungen zu lösen und neue Wege zu gehen. Andernfalls steht Ärger ins Haus.«
Miranda entriss ihm die Zeitung genauso schnell, wie er zuvor Hng, zerknüllte sie und warf sie in hohem Bogen durch die offene Küchentür, woraufhin Tante Ethel lautstark protestierte.
»Nigel, mein Schatz, ich mache mir Sorgen um dich«, sagte Miranda, nachdem das Schimpfen aus der Küche verstummt war. »Von wann ist dieses Horoskop?«
»Von heute«, nuschelte Nigel und senkte den Kopf.
»Und wann hat Mister Keagan uns an die Luft gesetzt?«
»Schon vor Weihnachten.«
»Aha.« Miranda seufzte. »Dieser neuer Faible für Horoskope, ist das nur so eine Phase oder muss ich damit zukünftig leben?«
»Nur eine Phase«, log Nigel und schob beiläufig mit dem Fuß die unterste Schreibtischschublade zu, in der stapelweise ausgeschnittene Horoskope für jede Gelegenheit lagerten.
»Na, dann ist ja gut.« Miranda verrückte ihn samt seinem Tisch ein Stück nach vorn und versuchte, in die Küche zu gelangen. »Ich werde mal lieber Tante Ethel aufheitern, bevor wir uns plötzlich mit Sack und Pack unter irgendeiner Brücke wiederfinden.«
Zur gleichen Zeit stand Conny Bligh, der Anwalt der Geister, in einem Rohbau nahe der Themse und betrachtete die feuchten Wände. »Wann genau glauben Sie denn, wird dieses Gebäude fertiggestellt?«, fragte er den Inhaber, einen feisten Herrn in gestreiftem Pullunder. »Hier sieht es noch nach ziemlich viel Arbeit aus.«
»Diese Wohnung ist bezugsfertig«, entgegnete der Mann und klang ein wenig vorwurfsvoll. »Aber bitte, wenn Sie nicht wollen. Es gibt genügend andere Interessenten.«
Allison Harrowmore stand in ihrem Overall und schweren Stiefeln auf dem kahlen Estrich und stemmte die Fäuste in die Seiten. »Soll das ein Witz sein? Keine Tapeten an der Wand, kein Teppich auf dem Boden und im Nebenraum fehlen sogar noch die Fenster.«
»Dafür gibt es immerhin Wasserleitungen und keinen Strom. Was in Anbetracht der feuchten Wände irgendwie von Vorteil ist«, meinte Conny, der seinen Humor nicht ganz verloren hatte.
»Alles kleine Schönheitsreparaturen, die in den Aufgabenbereich des Mieters fallen«, erwiderte der Herr im Pullunder. »Und beachten Sie nur die wundervolle Aussicht.«
»Oh ja, das Graffiti ist ganz entzückend. Die größte Brustwarze, die ich je gesehen habe«, spottete Allison. »Oder soll es etwa eine Radkappe darstellen?«
»Und was soll diese Baustelle mit fragwürdigem Potenzial kosten?«, wollte Conny wissen. Die Antwort ließ ihn erbleichen. »Wir wollten mieten und nicht kaufen.«
»Für weniger bekommen Sie in diesem Teil der Stadt überhaupt nichts«, erwiderte der Mann und wippte ungeduldig auf den Zehen. »Also, was ist nun? Kommen wir ins Geschäft?«
Conny beobachtete, wie Allison tief Luft holte und dem Kerl offensichtlich eine Standpauke halten wollte. Da es nicht die erste verbale Entgleisung an diesem Vormittag bedeuten würde, kam er ihr zuvor. »Wir haben uns spontan für einen anderen Teil der Stadt entschieden, vielen Dank.« Er packte Allison am Ärmel und zog sie mit sich, konnte aber die derben Beschimpfungen, die jetzt auf den Wohnungsbesitzer einhagelten, nicht verhindern.
Noch vor dem Gebäude fluchte Allison weiter und verstummte erst, als sie in einem Bus in Richtung Zentrum saßen. Mit zusammengekniffenen Lippen starrte sie auf die vorbeifliegenden Häuserfassaden. Conny hätte gern etwas Aufmunterndes gesagt, doch das tat er jeden Tag aufs Neue und allmählich glaubte er sich selbst nicht mehr. Es schien, als gäbe es in ganz London keinen Platz mehr für sie.
»Komm mit.« Unvermittelt sprang Allison beim nächsten Halt aus dem Fahrzeug und schleifte ihn in ein von außen unscheinbares Schnellrestaurant, dessen Inneres unerwartet gemütlich ausgestattet war.
Dort besorgten sie sich zwei Tassen Kaffee und ergatterten einen Sitzplatz direkt neben dem einzigen Fenster.
Conny starrte in die schwarze Brühe, die nur schwach nach Kaffee roch, und erlaubte sich einen Moment der Schwäche.
»Wir sind erledigt.« Er ließ den Kopf auf den Tisch sinken. »Wir haben jetzt bestimmt alle bezahlbaren Wohnungen in London abgeklappert und diejenigen, die nicht vergeben waren, als wir uns vorstellten, haben sich als wahre Rattenlöcher entpuppt.«
»Nein, das würde ich nicht sagen.« Allison rührte hörbar in ihrem Kaffee herum. »Ratten wären sich viel zu schade für die letzten beiden Bruchbuden, die wir besichtigt haben. Die sind dort schon vor Jahren ausgezogen.«
»Warum lässt du nicht mal wieder die Zeitreisende raushängen und schnappst jemandem die Wohnung vor der Nase weg, indem du einfach vor ihm da bist?«, schlug Conny vor.
»Sei nicht albern. Wenn die Leute uns sagen, die Wohnung sei vergeben, bedeutet dies in Wahrheit, sie wollen keine Anwaltskanzlei für Geister in ihrem Haus. Zeitreisen würden daran nicht das Geringste ändern.«
Conny hob den Kopf, sah, wie ihr Kaffeelöffel zu Boden fiel, glitschte ein paar Sekunden zurück und fing ihn geschickt auf. Seitdem es ihm möglich war, kleine Missgeschicke durch Minimal-Zeitreisen zu korrigieren, war er seiner Umwelt gegenüber aufmerksamer geworden. Es bereitete ihm sogar Vergnügen, und er wollte diese Fähigkeit nicht mehr missen. Sie war nützlich, auch wenn er nicht unbegrenzt in der Zeit herumbummeln konnte wie Allison.
Doch Zacharias Biggs, der kleinste große Zauberer der Welt, hatte ihm prophezeit, dass sich das Glitschen, wie Conny es nannte, nach und nach leider verlieren würde.
»Also bleibt uns nur ein einziger Ausweg«, sagte Allison, die gar nicht bemerkt hatte, wie ihr Löffel soeben ein zweites Mal zu flüchten versucht hatte und ihn seelenruhig aus seiner Hand entgegennahm.
»Uns bleibt ein Ausweg? Welcher? Die Tower Bridge? Das Armenhaus oder das Schloss deiner Familie am Arsch der Welt? Dort, wo sich niemals ein Klient hin verirren wird?«
»Ich hatte nicht vor, nach Harrowmore zurückzukehren«, erwiderte Allison mit mürrischer Miene. »Zumal meine Familie gerade selbst in Schwierigkeiten steckt und nicht weiß, wie lange sie noch auf dem Schloss bleiben darf. Sieht so aus, als müssten sie es einem nahen Verwandten überlassen. Also nein, da können wir ohnehin nicht unterkommen. Ich dachte vielmehr an ein paar alte Freunde, die mir den einen oder anderen Gefallen schulden.«
»So wie wir Zach einen schulden?« Conny sah sie eindringlich an. »Dein Freund und Lehrmeister hat dich nach unserem letzten Abenteuer um einen Gefallen gebeten, wie er mir gesagt hat. Warum wolltest du ihm nicht helfen?«
»Weil es mir wichtiger schien, dass du dich erholst, ein wenig zur Ruhe kommst und dieses gruselige Glitschen loswirst«, entgegnete Allison. »Zach kommt schon zurecht. Er kann ein Nein akzeptieren. Beim nächsten Mal bin ich wieder für ihn da.«
»So wie er es für uns war. Zweimal schon, wenn man es genau nimmt«, erwiderte Conny spitz.
Dann aber wechselte er das Thema, da sie diese Diskussion in den letzten Wochen bereits mehrfach geführt hatten. Aus der Erholung, die Allison für ihn vorgesehen hatte, war wegen der Kündigung ihrer Kanzleiräume sowieso nichts geworden. Seiner Meinung nach hätten sie Zach genauso gut bei ›was auch immer‹ helfen können.
»Also sag es endlich: Wer, der uns mit einer Bleibe aushelfen könnte, schuldet dir einen Gefallen?«
»Komm einfach mit.« Allison leerte den Kaffeebecher in einem Zug und sie verließen gemeinsam das Restaurant.
Conny, der es hasste, wenn sie sich so geheimnisvoll gab, wollte gerade anfangen, nachzubohren, als sie auf ein Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite deutete. Es handelte sich um ein mehrstöckiges Haus im viktorianischen Stil, dessen einheitliche Gardinen an den Fenstern auf ein Bürogebäude schließen ließen. Eine Reklame oder Firmenschild war allerdings nicht zu entdecken.
»Dort wird man uns helfen können. Leider.«
Allison nahm seine Hand und zog Conny hinter sich her. Sie stieß die schwere Eingangstür auf, ohne zu klopfen oder zu klingen, und gab stattdessen im dahinterliegenden Windfang einen Code in ein an die Wand geschraubtes Gerät mit Monitor ein. Sofort öffnete sich vor ihnen eine zweite Tür. Conny stieg ein unverwechselbarer Geruch in die Nase.
»Wir teilen uns den Arbeitsplatz mit einem Zahnarzt? Werden wir ihm beim Bohren und seinen Patienten beim Schreien zuhören müssen?« Conny war weit davon entfernt, sein Entsetzen vor Allison zu verbergen. Zahnarztbesuche gehörten seiner Meinung nach zu den schwersten Prüfungen des Menschseins und allein der Gedanke, Spritzen und Bohrer in seiner Nähe zu wissen, ließ seinen Blutdruck ansteigen.
»Der Zahnarzt ist unser geringstes Problem.« Allisons Miene hatte sich verfinstert. Wenn auch aus anderen Gründen als er, schien sie dieses Haus ebenfalls abzulehnen. »Wir beide müssen uns mit dem befassen, was darüber ist.«
Sie deutete auf eine gewundene Treppe, setzte den Fuß auf die erste Stufe und schien zu zögern. Dann stieß sie einen Seufzer aus und stieg hinauf.
Conny folgte ihr und sah sich dabei immer wieder wachsam um. Das Verhalten seiner Lebens- und Geschäftspartnerin ließ ihn instinktiv mit dem Schlimmsten rechnen. Obwohl er in letzter Zeit viel über die Welt, die zu Allison gehörte wie Fisch zu Pommes, gelernt hatte, so gab es trotzdem noch unendlich viel zu entdecken.
Conny hatte Wolpertinger gesehen, die sich als Briefträger betätigten, war in die Vergangenheit und die Zukunft gereist, hatte die Warnungen der Familien-Banshee leidlich zu deuten gelernt und fragte sich mit einer Mischung aus Furcht und Faszination, wann er seinem ersten Drachen gegenüberstehen würde. Lange konnte es seiner Einschätzung nach nicht mehr dauern.
Doch je länger er Allison über die Stufen nach oben folgte, desto überzeugter war er, an diesem Ort nicht auf Märchengestalten zu treffen. In dem langgezogenen Flur, den sie nun erreichten und von dem zahlreiche Türen abgingen, mischte sich Tradition mit Moderne. Dunkler Parkettboden und eine mit Intarsien versehene Wandvertäfelung ertrugen geduldig herumstehende Gebilde aus Glas und Stahl, deren Verwendungszweck sich Conny nicht erschloss. An den Wänden hingen vorwiegend gerahmte Urkunden, aber die Namen derer, die auf diese Weise geehrt worden waren, hatte jemand so künstlerisch verschnörkelt, dass Conny sie im Vorübergehen nicht entziffern konnte.
»Wo sind wir?«, wagte er einen erneuten Versuch, Klarheit zu bekommen.
Und für einen Moment sah es so aus, als würde Allison ihm tatsächlich antworten wollen. Doch bevor auch nur ein Wort über ihre Lippen kam, wurde eine der vielen Türen geöffnet und ein Mann in grauem Anzug, an dessen wild gemusterter Weste eine goldene Uhrkette prangte, trat heraus. Seine Gesichtszüge erinnerten Conny an ein gutmütiges Walross, was durch den dominanten Schnauzbart noch verstärkt wurde.
»Willkommen in der SPR«, rief er, eilte ihnen entgegen und schüttelte voller Elan Connys Hand. Nachdem er selbige losgelassen hatte, schnappte er sich die von Allison und ergänzte: »Willkommen zurück.«
Während Conny sich angesichts des herzlichen Empfangs ein wenig entspannte und sich von dem eifrigen Mann durch ein Vorzimmer leiten ließ, in dem eine Sekretärin gerade telefonierte, verfinstere sich Allisons Miene sichtlich. Auf Conny machte sie den Eindruck, als würde sie gleich explodieren.
Kaum hatten sie ein edel ausgestattetes Büro betreten, stellte sie die ersten Fragen. »Was soll das heißen? Willkommen zurück?«
Der Mann mit dem Walrossschnauzer und dem Kugelbauch blinzelte mehrfach und beeilte sich, ein Barfach zu öffnen, in dem viele Kristallflaschen auf ihren Einsatz warteten. »Also, was wollen wir trinken? Whiskey? Bourbon? Oder lieber einen Sherry?«
Conny schwieg und beobachtete, wie Allison sich in einen mit Brokat bezogenen Sessel fallen ließ und die Beine übereinanderschlug. Straßendreck fiel aus dem Profil ihrer Stiefel auf den hellen Teppichboden.
»Wie kommst du darauf, ich würde zu eurem Verein zurückkehren, Ulfric?«
Ihr Tonfall war schneidend und ihre Worte schienen ihren Gastgeber daran zu erinnern, dass er etwas vergessen hatte. Mit einem Glas Whiskey auf Eis in der Hand kam er Conny entgegen und knallte militärisch die Hacken zusammen.
»Ulfric Bucket ist mein Name. Ich fühle mich geehrt, Sie endlich kennenzulernen, Mister Bligh. Wir haben schon viel von Ihnen und Ihren jüngsten Erfolgen gehört. Sie haben die Rätsel von Skelbo Castle und Higher Down gelöst. Beachtliche Leistung, wirklich. Aber natürlich hatten Sie auch die Hilfe von einer der besten ihres Fachs.« Er warf Allison einen Blick zu, der nahezu väterlichen Stolz verriet. Doch sie biss nicht an.
»Was weißt du über unsere aktuelle Situation? Und woher? Spuck es aus oder ich reiße dir die Schnurrbarthaare einzeln aus!«
»Immer mit der Ruhe, ich komme nicht mehr ganz mit«, rief Conny. »Was genau ist die SPR, welche Funktion erfüllen Sie, und was hat Allison damit zu tun? Oder unsere Arbeitseinsätze der letzten Monate?«
Ulfric Bucket wandte sich von Conny ab und fixierte Allison. »Er weiß es nicht? Du hast ihm nichts erzählt?«
»Ich habe vielleicht einmal erwähnt, dass ich gelegentlich für euch gearbeitet habe«, antwortete Allison ausweichend. »Und während unseres ersten Falls im Mayflower Hotel hat er erlebt, wie einer deiner Leute mit einer Aktentasche anreiste und einen gewalttätigen Geist abholte.«
»Na, also.« Bucket wirkte zufrieden und konzentrierte sich wieder auf Conny. »Dann ist doch alles klar.«
Conny überlegte kurz, bevor er antwortete: »Nein. Mir nicht, tut mir leid.«
Auf Buckets Gesicht erschien ein Lächeln. »Wir stehen auf derselben Seite, Mister Bligh. Und unsere Arbeit unterscheidet sich nur in der Motivation von der Ihrigen. Sie sorgen sich um die Gerechtigkeit, wir streben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wir sind die Society for Psychical Research.«
»Sie sind ein Haufen Spinner, die seit über einem Jahrhundert von niemandem ernst genommen werden«, fiel Allison ihm ins Wort. »So lange versuchen sie nämlich schon, die Existenz von Spuk, Geistern und paranormalen Phänomenen zu beweisen. Aber sie begreifen einfach nicht, dass man die Menschen nicht gegen ihren Willen überzeugen kann. Die SPR ist ein armseliger Haufen, den ich vor langer Zeit hinter mir gelassen habe.«
Mit einem Schlag verlor Ulfric Bucket jede Spur seines anfänglichen Überschwangs. »Und das war ein Fehler. Denn wir sind zwei Seiten derselben Münze. Wir brauchen einander.«
»Conny und ich brauchen niemanden«, behauptete Allison.
»Aber eine Unterkunft, die braucht ihr, oder?« Buckets Augen wurden schmal. »Und die SPR kann euch mehr bieten als nur den Stall von Bethlehem. Kommt mit mir hinunter in den Keller und ihr werdet es sehen.«
»Ich würde zu gern wissen, wer uns in diese Scheiße geritten hat«, murmelte Allison, als sie und Conny dem Leiter der SPR die gewundene Treppe wieder hinabfolgten, vorbei an dem Erdgeschoss mit der, wie es Conny nun vorkam, herrlich alltäglichen Zahnarztpraxis, bis in den Keller des Hauses.
»Er hat gewusst, dass wir kommen würden, und kennt unsere Situation ganz genau«, fuhr sie fort. »Das alles ist ein abgekartetes Spiel, in dem man uns keine Karten zugeteilt hat. Ich hasse so etwas.«
»So, wir sind da«, verkündete Ulfric Bucket und öffnete eine Tür, hinter der bleiches Neonlicht einen kaltweißen Flur noch ungemütlicher erscheinen ließ. »Diese Räume beherbergen neben unserem Archiv auch einige spezielle Projekte und ihre Leiter. Hier ist genügend Platz für die Kanzlei Harrowmore Souls, ihren Star-Anwalt, der Seelensorgerin, ihrer Putzfrau mit dem Schwerpunkt magische Wesen und dem dienstbaren Geist namens Nigel. Letzteren können wir sogar ein Quartier unter dem Dach anbieten, bis sie eine Wohnung gefunden haben. Sie werden bald heiraten, nicht wahr?«
»Der weiß aber wirklich verdammt gut über uns Bescheid«, flüsterte Conny und Allison nickte.
»Das alles«, Ulfric öffnete eine stark zerkratzte und verbeulte Metalltür, »könnte euch gehören. Insofern wir uns einig werden.«
Conny betrat als Erster einen Kellerraum mit schmalen, hochliegenden Fenstern, der durch weitere Neonröhren ausgeleuchtet wurde. Seine Schuhe quietschten leise auf dem rissigen Linoleum, es roch nach kaltem Zigarettenrauch, der dem überschaubaren Mobiliar vermutlich seit Jahrzehnten anhaftete. Es gab ein paar Schreibtische, Aktenschränke und Stühle.
»Es ist brauchbar«, sagte Conny und drehte sich langsam um die eigene Achse.
Da bemerkte er einen blauen Schatten hinter einem der Tische, der offensichtlich nicht von ihm gesehen werden wollte.
»Brauchbar?« Allison klang schockiert. »Das ist nichts weiter als eine geräumige Rumpelkammer mit einem Minimum an Tageslicht. Das Ganze ist an Tristesse kaum zu überbieten – und hier wollen wir unsere Klienten empfangen?«
»Nigel bekommt das hin. Er wird es lieben, seinen Dekorationswahn voll austoben zu können.« Conny ließ sich auf alle viere herab und spähte unter den Schreibtisch, wo er den Schatten bemerkt hatte. »Ich glaube, da sitzt eine Art Koala neben dem Mülleimer. Ist das möglich?« Er musterte interessiert die plüschigen Ohren des pummeligen Wesens, dass sich vor ihm verstecken wollte.
»Wir begeben uns in die unwürdige Abhängigkeit einer Gruppe von Wissenschaftlern, die an krankhafter Geltungssucht leiden«, lamentierte Allison hinter ihm weiter.
»Es ist ein Babu, soviel ich weiß«, rief Ulfric Bucket in Connys Richtung. »Ein Dämon mit recht nützlichen Eigenschaften, wie man mir versicherte. Er hält den Boden sauber, denn er frisst Staub und Dreck.«
»Das klingt sogar außerordentlich praktisch. Wie heißt er?«, wollte Conny wissen, legte sich platt auf den Bauch und robbte näher an das blaue Plüschwesen heran, das bei genauer Betrachtung eher einem Kuscheltier als einem Dämon glich.
»Er heißt Babu, weil er ein Babu ist.« Allisons schlechte Laune schien auf einen neuen Höhepunkt zuzusteuern. »Können wir jetzt über die Miete sprechen.«
»Na, komm Kleiner. Ich tu dir nichts«, versuchte Conny, den Babu unter dem Schreibtisch hervorzulocken.
»Vorsicht. Die beißen«, mahnte Allison. »Also? Was ist jetzt mit der Miete?«
»Eine unbedeutende Summe und ein wenig Unterstützung in kritischen Fällen.«
Bucket klang etwas zu siegesgewiss für Connys Geschmack, der die Hand nach dem Babu ausgestreckt hatte und sie hastig zurückzog, als eine Reihe sehr spitzer Zähne im Maul des Kleinen aufblitzten.
Hinter ihm explodierte Allison. »Ich habe gewusst, dass das hier eine ganz miese Nummer wird, ihr könnt eure blöden Experimente ohne mich vor die Wand fahren, das ist sowieso alles Schwachsinn! Ihr werdet nie auch nur einen Zweifler überzeugen. Nicht mit Hilfe eines Babus oder Nigel oder mir. Kapiert es doch endlich, dass viele Leute gar nichts über Spuk wissen wollen.«
»Die Forderungen sind annehmbar.« Conny ließ endlich von dem Dämon ab und rappelte sich auf. »Wir mieten diesen Raum. Und wir unterstützen die SPR für eine festgelegte Stundenzahl jährlich. Jeden Handschlag darüber hinaus wird die Society uns bezahlen müssen. Und der Babu bleibt hier.«
»Ich bin in der Hölle gelandet.« Allison sackte stöhnend auf der Ecke eines Schreibtischs zusammen, während Bucket Conny die Hand hinstreckte.
Dieser schlug ein.
»Auf gute Nachbarschaft und eine noch bessere Zusammenarbeit«, verkündete der Leiter der SPR. »Wir alle gehen damit außergewöhnlichen Zeiten entgegen, glauben Sie mir.«
Yorkshire, Sommer 1992
Antonia Woodward war sich ihrer Unverfrorenheit voll bewusst, doch sie hatte einfach nicht widerstehen können. Vom ersten Moment an hatte ein Zauber auf der geblümten Hutschachtel gelegen, die im Gepäcknetz herumgehüpft war, als wollte sie direkt in Antonias Arme springen. Und als sie nach ihrem nur vorgetäuschten Nickerchen den schlafenden Matthew direkt vor Augen gehabt hatte, war es über sie gekommen.
Rückblickend erschien es ihr fast so, als sei ihr der Griff der Hutschachtel regelrecht in die Hand gesprungen. Jetzt flanierte sie mit dem schönsten Gepäckstück, das sie jemals besessen hatte, aus dem Bahnhofsgebäude von Malton und trat den Heimweg an.
Sie war bald am Ziel. Ein paar Straßen weiter hielt Antonia geradewegs auf das Kurzwarengeschäft zu, über dem sie zusammen mit ihrer Freundin Phyllis ein komfortables Zimmer bewohnte. Nur noch für kurze Zeit, denn wenn Ted und sie erst verheiratet waren, würde Antonia zu ihm auf die Farm ziehen und ihm helfen, das Lebenswerk seines Vaters auf Vordermann zu bringen. Doch davor lag Venedig, und Antonia freute sich sehr auf ihre erste Reise in das sonnige Italien, fernab des Alltags.
Als sie ihre Zimmertür öffnete und die Hutschachtel aufs Bett legte, regte sich ihr schlechtes Gewissen ein letztes Mal heftig. »Was hat Matthew wohl mit diesem hübschen Stück vorgehabt? War es als Geschenk gedacht?«, murmelte sie. »Vermutlich habe ich ihm den Tag gründlich verdorben. Und überdies bin ich jetzt eine Diebin. Ich kann mich in Zügen erst mal nicht mehr blicken lassen.«
»Wie süß!« Phyllis, ein Sandwich in jeder Hand, trat ein und betrachtete verzückt Antonias neues Handgepäck. »Wo hast du das her? Warst du auf einem Flohmarkt oder in einem Antiquitätengeschäft? Es ist totschick.«
Antonia druckste ein wenig herum. Die Wahrheit konnte sie Phyllis schlecht anvertrauen. Anständige Mädchen, die bald heirateten, stahlen schließlich keine Koffer.
»Er ist nur geliehen«, behauptete sie schließlich. »Von einem Freund. Sobald ich aus Venedig zurück bin, gebe ich ihn wieder ab.«
»Schade.« Das Interesse ihrer Freundin erlahmte. So verhielt es sich mit allen nicht essbaren Dingen. Phyllis konnte sich nicht lange für sie begeistern. »Willst du ein Sandwich?«
Antonia schüttelte den Kopf und wartete. Sie wartete darauf, dass Phyllis, die im Kurzwarengeschäft im Erdgeschoss arbeitete, ihre Mittagspause beendete und das Feld räumte. Heute schien es besonders lang zu dauern.
Endlich aber schlug die Tür zu und Antonia war allein. Dies war der perfekte Augenblick, um ihre Neugier zu befriedigen. Vorsichtig löste sie die Lederschnallen neben dem verzierten Metallgriff und gab Phyllis recht. Diese Schachtel war schon sehr alt und hätte bestimmt viel zu erzählen gehabt.
Antonia klappte den Deckel zurück. Im gleichen Moment prallte etwas Körperloses gegen ihre Brust, sodass sie rückwärts durch den Raum taumelte, stolperte und unsanft auf dem Teppich aufschlug.
Zuerst glaubte sie, das Opfer eines Attentats geworden zu sein. In dem Ding musste eine Paketbombe gesteckt haben. Doch als ihr dämmerte, dass sie unverletzt war, setzte sie sich auf und schnappte nach Luft.
Das Zimmer sah aus wie zuvor. Es konnte keine Bombe gewesen sein. Demnach musste in der Hutschachtel ein Wirbelsturm gesteckt haben oder etwas noch Raffinierteres. Ein tragbares Magnetfeld vielleicht?
Jedenfalls hatte Antonia irgendeine Kraft freigesetzt, wegen der sie jetzt auf dem Boden der Tatsachen saß und sich den Hintern rieb. Als sie sich nach einer Weile wieder erhob und in ihre Diebesbeute hineinblickte, war sie ein wenig enttäuscht.
Auf dem rosafarbenen Innenfutter lag nichts. Kein Hut und auch kein anderer Gegenstand, der das soeben Erlebte erklärt hätte. Einfach gar nichts.
»Nun, dann wird es wohl allerhöchste Zeit, etwas hineinzulegen«, sagte sie zu sich selbst und öffnete ihren Kleiderschrank. Dort hing, unter einem Bettlaken, das Kostüm, das sie an ihrem Hochzeitstag tragen wollte.
Ted hatte kein Interesse an einer Hochzeit in Weiß gezeigt und war der Meinung, das Geld könne man besser anlegen. Und im Grunde lag er damit völlig richtig, das wusste Antonia. Auf der Farm wartete so viel Arbeit auf sie. Das Wohnhaus selbst war eine Katastrophe und einem Stall nicht unähnlich. Die anstehenden Renovierungsarbeiten würden enorme Kosten verursachen.
Da war ein schneeweißes und aufwendig dekoriertes Hochzeitskleid, das nur ein einziges Mal getragen wurde, eben nicht drin. Das praktische Kostüm hingegen ließ sich bestimmt noch häufiger verwenden. Bei Geburtstagen und Taufen beispielsweise. Der Strohhut, den Antonia für ihren großen Tag gekauft hatte, war ebenfalls eher schlicht. Ein paar Kunstblumen steckten im gelben Hutband und eine Brosche hielt sie zusammen. Er würde die Schachtel kaum ausfüllen, und trotzdem war es der passende Aufbewahrungsort dafür.
In diesem Moment bemerkte Antonia am Boden des Schrankes ein Paar weiße Turnschuhe mit extrem dicken Sohlen und gleich darüber den Saum einer Schlaghose. Mit einem Ruck schob sie Kleider auf ihren Bügeln auseinander und blickte hinab auf ein rundes Gesicht mit noch runderen Brillengläsern.
»Das kann ja wohl nicht wahr sein«, schimpfte sie. »Raus aus meinem Schrank! Versteck dich gefälligst in deinem eigenen!«