Harzer Freischütz - Andrea Illgen - E-Book

Harzer Freischütz E-Book

Andrea Illgen

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Beschreibung

Ein Freilichtfestival wird in Clausthal-Zellerfeld geplant, und alle sind dabei. Wirklich alle? Wer verfasst wohl die mörderischen Emails, und wer tötet die Primadonna? Was steckt hinter dem Donizetti-Club, wer bringt den Waldarbeiter um, und warum schließlich begeht eine bizarr gekleidete Frau Selbstmord auf einem Drahtseil? Harte Nüsse für Friederike Wolkenreich und ihre Freunde Konni, Ratte, Batz und den undurchsichtigen Christian Neuville. Zur Aufklärung dieser verzwickten Geschichte tragen alle bei, dieses Mal sogar selbst der windige Gemeindebürgermeister Rudolph Kahlhut. Dennoch - es ist ein langer Weg zur Premiere des "Freischütz" auf der Waldbühne, ein Weg, der die Beteiligten in die Tiefen eines Maislabyrinths führt und sogar einen waschechten Baron einschließt. In ihrem vierten Buch greift die Autorin Andrea Illgen auf eigene Erfahrungen im Musikleben zurück und verarbeitet diese mit ihrer Liebe zu den dunklen Tannen der Harzer Wälder zu einem äußerst unterhaltsamen Abenteuer ihrer inzwischen gut bekannten Protagonisten der Clausthaler Cafészene. Auch hier werden Wunden im Hinterzimmer des Tango-Cafés am Kronenplatz verbunden, Probleme gewälzt und Lösungen gesucht am Personaltisch zu den Klängen des argentinischen Tangos.

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ANDREA ILLGEN

Harzer Freischütz

Wolkenreich im Harz

 

Impressum

Harzer Freischütz

ISBN 978-3-943403-91-6

ePub Version V1.0 (05-2017)

© 2017 by Andrea Illgen

Blutiges Herz © MaxShutter #566658436 | shutterstock.com

Wald & antikes Gewehr © Martin Gaal #470858036 | shutterstock.com

Hintergrund Seite 240 © Yuriy2012 #322773506 | shutterstock.com

Autorenporträt © Ania Schulz | as-fotografie.com

Lektorat & DTP:

Sascha Exner

Druck:

TZ - Verlag & Print, Roßdorf

 

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Postfach 1163 · D-37104 Duderstadt

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: www.harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Innentitel

Impressum

Vorwort

Prolog

VORBEREITUNGEN

Zwei Schüsse

Christian bleibt ungenau

Eigentlich will ich nicht

Die erste E-Mail

Telefongespräche

Oh, wie schön gruselig

Christians Plan

Beim Herrn des Holzes

Die zweite E-Mail

Die Beerdigung und eine Köperverletzung

BÜHNENPROBEN

Eine Erpressung

Der Regisseur ist schräg

Noch eine Körperverletzung

Eine Umbesetzung

Ein Mord

Ich erkenne ihn wieder

Ist das etwa Folter?

Nicht genug Erklärungen

Der zweite Mord

GENERALPROBE

Die Mutter weiß was

Eine aufgeräumte Wohnung

Beihilfe zum Mord

PREMIERE

Über die Autorin

Wolkenreich im Harz

Über den Harzkrimi

Harzkrimi-Tipp 1

Harzkrimi-Tipp 2

Harzkrimi-Tipp 3

Harzkrimi-Tipp 4

Vorwort

Für W. in tiefer Dankbarkeit, der unermüdlich Ideen beisteuert, wenn die Autorin feststeckt.

Die Forstwirtschaft ist ein wichtiger Faktor im Harz, denn Clausthal-Zellerfeld ist von Wald umgeben, dessen hohe Tannen die Berge und schroffen Täler bedecken. Unser Revierförster Dirk Franke gab mir bereitwillig und ausführlich Auskunft über Ernte, Lagerung und Transport des Holzes; daneben sprachen wir auch über Holzdiebstahl, wie er in diesem Buch vorkommt. Für die Zeit, die er sich dafür genommen hat, sage ich an dieser Stelle ein dickes Dankeschön.

Natürlich sind Personen, gewisse Orte und Ereignisse vollständig meiner Fantasie entsprungen. Clausthal-Zellerfeld jedoch, auf dessen Kronenplatz ich mein Tango-Café angesiedelt habe, liegt tatsächlich im Oberharz. Möglicherweise auch ähneln sich bestimmte Verhältnisse, worüber aber meine LeserInnen selbst entscheiden mögen.

Wie schön wäre es, die Idee einer Freiluftoper in die Tat umzusetzen, und welche wäre angesichts der grandiosen Natur dafür besser geeignet als Webers Freischütz?

Prolog

Die wenigen Passanten der Hauptstraße in Hohenebersbach trauten ihren Augen nicht. Aus dem Dachfenster eines Fachwerkhauses kletterte eine stark geschminkte Frau. Sie setzte sorgfältig einen Fuß auf das straff über die Straße gespannte Seil, das ein Werbebanner für das Feuerwehrfest am kommenden Wochenende trug. Sie richtete sich langsam auf und öffnete einen bunt geringelten Regenschirm. Ungläubig betrachteten die Zuschauer das rüschenbesetzte kurze Kleid, das den Blick freigab auf schwarze Netzstrümpfe an Strapsen. Der Regenschirm schwankte stark, als sie den zweiten Fuß vor den ersten setzte. Nach kurzem Zögern hob sie den hinteren Fuß für den nächsten Schritt, verlor unmittelbar das Gleichgewicht, drehte sich im Fall und prallte mit einem dumpfen Geräusch, den Kopf voran, auf das etwa 400 Jahre alte Kopfsteinpflaster. Die Perücke mit den langen blonden Haaren war nach vorn gerutscht und bedeckte ihr linkes Auge, während sich unter ihrem Kopf langsam eine Blutlache bildete.

VORBEREITUNGEN

... und jetzt soll ich es richten

Die Kauf-bei-uns-Truppe tagte im Tango-Café. Diese Initiative haben Clausthaler Einzelhändler gebildet, die sich dem Trend zum Vorstadt-Einkaufen entgegenstemmen wollen. Und sie tagen, grob geschätzt, alle zwei Monate in meinem Lokal.

»Du hast immer so gute Ideen«, sagte Detlev Niehaus, der Apotheker.

»So – ungewöhnliche.« Beate Most missbilligt alles und jeden. Wer was von ihr will, muss ihr das Gegenteil abfordern. Mich hat sie auf dem Kieker, seit ich vor einem knappen Dreivierteljahr das Café aufgemacht habe.

Hubsi Kuhte vom Reisebüro versuchte wie immer, die Wogen zu glätten. »Wir brauchen beides, Beate, deine konventionellen Ideen und Friederikes –«

»Was denn, fortschrittliche? Bin ich etwa von gestern?« Beates Busen wogte, wozu einiges gehörte, denn er saß normalerweise stramm geschnürt und begann knapp unter ihrem Kinn.

»Leute, Ruhe. Setzt euch doch mal ein bisschen weiter auseinander, ihr beiden, wir wissen inzwischen, dass ihr euch nicht leiden könnt.« Unser Buchhändler Bruno Göritz legt gern den Finger in die Wunde. »Außerdem sind wir nicht hier, um Grundsätzliches zu diskutieren, sondern um unsere Beteiligung am Freischütz-Projekt zu sichern.«

Alle sahen Hella vom Bastelladen an. »An mir liegt es nicht, dass wir bisher nichts gehört haben«, sagte sie im Brustton der Rechtschaffenheit. »Ich bin zwar im Rat, habe aber auch nicht mehr als nur eine Stimme.« Und jeder weiß, wie wenig Durchschlagskraft die besitzt, denn sie tut grundsätzlich das, man ihr aus der eigenen Fraktion „vorschlägt“. Alle Blicke wanderten von ihr zu Detlev.

»Ich weiß auch nichts Näheres«, sagte er. »Wir Ratsmitglieder erfahren halt nicht alles.«

»Wie weit seid ihr denn eigentlich?«, fragte ich.

Als Hella anfing, den Stand des Opernprojektes zu erläutern, war allen sofort klar, dass sie keine Ahnung hatte. »Ja, also, der Freischütz soll aufgeführt werden. Eine Oper. Federführend Gemeinde Oberharz, also wir und Altenau und so was, zusammen mit einigen großen Sponsoren.«

»Mein Güte.« Meine Geduld war nicht unendlich. »Hella, so weit sind wir auch schon. Ich – wir wollen wissen, wie weit die Vorbereitungen gediehen sind. Es sind zwar noch vier Monate, aber ohne dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, wird das nichts. Worum es uns geht, ist, ob es ein verantwortliches Komitee gibt. Sind die Künstler engagiert, habt ihr das Geld zusammen, Umweltbehörde, TÜV – wenn das eine Freiluftsache werden soll, braucht ihr zig Genehmigungen, verstehst du, so was wollen wir wissen.«

»Was ereiferst du dich denn so, natürlich denken wir an all das, wofür hältst du uns denn?«

Das wollte ich lieber nicht sagen.

»Friederike spricht das aus, was wir alle denken, Hella.« Jetzt regte sich auch Bruno auf. »Wir hören immerzu irgendwas munkeln, erfahren aber nichts Genaues. Das letzte Gerücht war, dass sie die Harzinitiative ausgehebelt und die Vermarktung der EventConsult übergeben haben, was ich persönlich eine Katastrophe finde. Es ist mit Sicherheit schweineteuer, und die Leute hocken in Fulda. Die sacken das Geld ein, drucken vielleicht auch ein Plakat und sehen im übrigen aus der Ferne zu, wie wir baden gehen. Wir hätten einen lokalen Vermarkter gebraucht.«

»Ganz genau. Warum denn nicht die Harzinitiative?« Seit einem Monat war auch Fritze Breitmaul Mitglied bei uns. Er sitzt mit seiner Bäckerei eigentlich in Braunlage, hat aber inzwischen zwei Filialen in Clausthal-Zellerfeld und darf deshalb mitspielen. »Die EC hat letztes Jahr unser Kirchenjubiläum vermarktet und so grottenschlechte Plakate hergestellt, dass man aus fünf Metern Entfernung schon nicht mehr sehen konnte, um was es eigentlich ging. Das Größte auf dem Ding war ihr eigenes Logo. Stimmt es, Hella, dass die EC jetzt verantwortlich ist?«

Diese putzte sich die Nase. Sie hatte Heuschnupfen, und jeder fragte sich, warum sie den auslebte und nichts dagegen tat. »Weiß nicht genau, aber glaube schon.« Ihre Nase war dunkelrot und leuchtete.

Alle seufzten.

Maike vom Fashion Point ergriff das Wort. »Ich habe die Nase voll. Uns geht es doch darum, dass wir vorkommen wollen. Wir wollen kleine Torten backen und das Wort Freischütz draufschreiben, wir wollen Bücher über den Freischütz ins Fenster legen, Brötchen mit Wildschweinwurst verkaufen, Bühne bauen, Kulissen malen, Gerüste aufstellen, Getränkestände und Imbissbuden an den Vorstellungstagen betreiben«, sie suchte nach Worten, während die ganze Runde unisono mit dem Kopf nickte. »Pauschalangebote mit Übernachtung und Opernbesuch anbieten, Busreisen verkaufen – kurz gesagt, wir wollen eingebunden werden, zum Teufel. Und verdienen.« Sie atmete schwer, als wäre sie gerannt.

Es erhob sich ein allgemeines Gemurmel, weil jeder seine Vorstellungen dem Nachbarn mitteilte.

Hubsi setzte sich durch. »Und es gibt keinen Grund, warum die Kostüme nicht von unseren Behindertenheimstätten genäht werden. Ich habe gehört, dass eine Firma in Hamburg damit beauftragt worden ist. Mein Vorschlag zur Abhilfe ist, dass wir einen Verbindungsmann wählen. Er oder sie soll alles in Erfahrung bringen, was wir wissen wollen, und unsere Interessen im Festkomitee vertreten, wenn es so was gibt. Ich schlage Friederike vor.«

Er hatte kaum seine Stimme zum Schlusspunkt gesenkt, als Beate hochschoss. »Und warum kann ich das nicht machen? Mein Umsatz ist mit Sicherheit höher, als der von diesem – Café hier.« Sie sagte es so, als wären meine Torten verschimmelt.

»Weil –« Hubsi blieb ruhig, »Friederike das Milieu kennt. Sie ist Musikerin und gleichzeitig Geschäftsfrau, was wollen wir mehr? Die Leute lassen sie eher rein als dich.« Er drehte sich zu mir. »Würdest du es denn machen?«

Ich bin Konzertsängerin. Meine Erfahrung mit Oper ist, abgesehen von meiner Zeit an der Hochschule, eher passiv. Ich gehe gern hin, singe auch bei Konzerten gern mal eine Opernarie, habe aber ansonsten wenig mit dem Betrieb zu tun gehabt. Ich sah ein, dass ich am ehesten geeignet wäre für den Job, den Hubsi vorschlug. Also nickte ich.

»Wir müssten als Erstes darüber abstimmen, ob wir so eine abgeordnete Person haben wollen, die uns vertritt. Wer ist dafür?«

Alle Hände gingen hoch mit Ausnahme von – natürlich Beate.

»So, gibt es andere Vorschläge als Friederike? Nein? Wer ist also für sie?« Ergebnis wie bei seiner ersten Frage.

»Gebongt.« Hubsi sieht mit seinen braunen Locken, der frischen Gesichtsfarbe und dem Schnäuzer aus, wie man sich einen Jäger vorstellt. Es fehlt immer nur der kleine grüne Hut mit dem Gamsbart. Er sah mich an und lachte mit vielen weißen Zähnen. »In zwei Wochen treffen wir uns wieder und du berichtest, okay? Oder ist das zu kurz? Und – Friederike, wir wissen alle, dass du beißen kannst. Hör nicht auf damit, klar?«

»Nein, schon in Ordnung.« Mir war nicht ganz wohl, aber ich wollte sie nicht hängen lassen. Ich fand das Ganze selbst merkwürdig. Hätte man nicht überhaupt als Allererstes die lokale Geschäftsprominenz zusammenrufen sollen? Wenn man drei Veranstaltungen ausverkaufen will, muss doch jeder die Werbetrommel rühren, überall müssen Plakate an der Ladentür kleben und Flyer auf dem Tresen liegen. Und wenn am Ende Geld fehlt, muss jeder was beitragen, so läuft das nun mal. Dies war wirklich ein schlechter Anfang.

 

Zwei Schüsse

Es war Donnerstag Abend. Konni, Ratte, Batz und ich saßen im frisch erblühten Vereinsheim der Flying Devils, dem hiesigen Motorradclub, bei unserer wöchentlichen Doppelkopfrunde.

Das Haus, eigentlich eher eine längliche Barracke in übelstem Gelb gestrichen, war im vergangenen Jahr anlässlich einer Zwistigkeit mit dem hannoverschen Motorradclub Sons of Scorpions zur Hälfte in Flammen aufgegangen. Seit zwei Wochen wieder eröffnet, bietet es sich dem schnell ermüdenden Auge in noch intensiverem Schmuck aus bemalten Motorradtanks, Lenkern, Sätteln, Girlanden, Luftschlangen und Lampions als das Vorgängermodell dar. Direkt über unserem Kartenspiel-Stammtisch springt ein halbes Moped aus der Wand, drumherum ist liebevoll eine finstere Harzlandschaft gesprüht. Die hintere Hälfte verschwindet in der Wand über den Toilettentüren. Diese sogenannte Suhler Schwalbe war das Jubiläumspräsent der Hannoveraner gewesen, hatte für viel Spott gesorgt und, mit einer Flex sauber in zwei Hälften geteilt, ihren Daseinszweck entschieden verändert.

Batz mischte ausführlich.

»Es gibt Leute, die sind beim Mischen eingeschlafen«, sagte Ratte.

»Sei still, so kriegen wir wenigstens einmal pro Runde ein anständiges Blatt.«

»Schluss, ihr beiden, und, Batz, du willst ja nicht andeuten, dass Friederike und ich schlecht mischen, oder?« Konnis Bassstimme passt zu seinem hünenartigen Körperbau. Über seinen zwei Metern Körperlänge wehen graue Bart- und Haupthaarlocken, über seiner Motorradkutte trägt er meistens stilecht ein rotes Halstuch mit weißen Punkten um den Hals, und aus allem blitzen sehr wache blaue Augen heraus. Er ist der Vorsitzende der Devils und wird es bleiben, solange er lebt, weil sich niemand traut, gegen ihn anzutreten.

Wir sind alle etwa gleich alt, irgendwas zwischen 40 und 50 oder leicht drüber, spielen gern Doppelkopf und sind ansonsten so unterschiedlich, wie man nur sein kann. Vielleicht verbindet uns außer dem Alter und der Vorliebe für Doppelkopf noch der Hang zu einem leicht chaotischen Lebensstil.

Batz und Ratte kabbeln sich grundsätzlich, sind aber im Angesicht eines gemeinsamen Feindes ein Herz und eine Seele. Heute ging es besonders zur Sache, weil sie oft zusammen spielen mussten, was Konni und mich zu Spielpartnern machte. Konni ist ein gerissener Halunke beim Spiel. Er blufft am laufenden Band und hat einen Riesenspaß, wenn er gewinnt.

Ratte reizte wieder mal zu hoch und gab Batz die Schuld, als sie verloren. Er warf die Karten auf den Tisch. »Ich hab die Schnauze voll. Ununterbrochen muss ich mit diesem Volleimer spielen, der sich nicht merken kann, ob das erste oder zweite Herzass auf dem Tisch liegt.«

Batz blieb friedlich und stand auf. »Ich glaube auch, es reicht. Ich hol noch ’n Bier, will noch wer eins?«

Konni rechnete das Ergebnis aus, Ratte trommelte sauer auf dem Tisch herum, bis Batz zurückkam mit einem kleinen Tablett und vier Gläsern, die über den Rand schäumten. Wir drei betrachteten versonnen seinen starklila Auftritt.

Es geht das Gerücht einer Freundin, denn seit ein paar Wochen sind seine schmuddeligen T-Shirts verschwunden, und er prangt stattdessen in kräftig farbigen Hemden unter den wechselnden Farbschattierungen seiner stoppelig geschnittenen Haare. Derartige Regenbogenerscheinungen in der Kleidung – als teure Version allerdings – hatten wir bisher nur an unserem Bürgermeister Kahlhut erleben dürfen.

Konni legte den Bleistift hin, griff sich ein Glas, leerte es bis zum Boden, wischte den Schaum aus dem Bart und sagte: »Ich will morgen ins Krankenhaus, Bulli besuchen. Kommt wer mit?«

»Motorradunfall?«, fragte ich.

Drei Köpfe drehten sich zu mir. Konni machte sich zum Sprecher. »Nee. Bulli ist keiner von diesen bescheuerten Fahrern.« Er legte einen Zehner auf den Tisch. »Hier, ich könnte noch eins vertragen.«

Batz machte eine Kopfbewegung zu Ratte, der gehorsam aufstand. Das dünne braune Haarschwänzchen auf seinem Rücken wippte, als er sich flink Richtung Theke entfernte. Sein Gang erinnert an ein huschendes kleines Nagetier, ein Eindruck, der durch die leicht vorstehenden schmalen Oberzähne verstärkt wird, die er oft zeigt, denn er ist ein außerordentlich freundlicher Mann, wenn ihn nicht gerade der Jähzorn packt.

»Bulli ist Zufäller.«

Ich sah ihn verständnislos an.

»Die fällen da Bäume, wo ein Harvester nicht arbeiten kann, ohne dass ein Haufen Unterholz oder kleine Bäume draufgeht. Der Harvester macht dann den Rest, entasten, vermessen und kappen.«

Batz wollte sicher gehen, dass ich alles begriff. »Kappen heißt fällen.«

Ich nickte und hoffte, dass ich nicht noch mehr Einzelheiten über das Holzfällen im Oberharz lernen musste. »Ist er sehr krank, euer Bulli, meine ich?« Mein Eindruck die paar Mal, die ich ihn gesehen hatte, war der eines außerordentlich robusten Menschen gewesen.

»Nix, der doch nicht. Nee, es war, weiß nicht, vielleicht doch eine Art Unfall.«

Ich verstand gar nichts mehr. »Ich denke, nicht.«

Ratte war zurückgekehrt und mit Batz’ Interpretation des Vorgangs nicht einverstanden. Er kommentierte ihn in seiner eigenen Ausdrucksweise. »Unfall – am Arsch. Das war voll Mord.«

»Ja, gut. Na ja, Mord – weiß ich nicht.«

Ich versuchte, Ordnung in die Geschehnisse zu bringen. »Vielleicht erzählt einer von euch die Sache mal so, dass ich es begreife.«

»Da war einer mit ’ner Knarre«, sagte Ratte und regte sich furchtbar auf. »Eine Riesensauerei, wenn ich den erwische, ich sage euch...«

»Ruhig, Ratte, es ist doch gar nicht gesagt, dass der Typ Bulli umbringen wollte. Die Bullen sind an der Sache dran. Und bisher ist es nichts weiter als Körperverletzung, vielleicht fahrlässig.«

Unser Ratte war nicht zu bremsen. »Wenigstens versuchter Totschlag.«

»Könnte nicht einer von euch –« Ich versuchte es noch mal.

Konni nahm sich der Sache an. »Also, Bulli arbeitet für die Forst, weißt schon, Forstverwaltung.« Ich nickte. »Die waren dahinten in der Nähe von Buntenbock so am Sägen und Fällen, als sie einen LKW gehört haben. Holzabfuhr ist ja eigentlich ganz normal, aber sie wussten nun zufällig, dass die Firma, die den Holzstapel in der Nähe abholen wollte, Betriebsferien hatte.« Ich nickte, bis hierhin war es nicht schwer zu verstehen. »Also – da klaut wer, das war ihr Gedanke. Und sofort springen sie hin und machen einen Riesenkrach. Die beiden aus dem LKW, der eine saß oben auf dem Kran und war am Laden, der andere stand rauchend daneben, sahen Bulli und seinen Kumpel kommen, und weil ihnen klar war, dass sie so schnell nicht wegkamen, haben sie’s auf einen Kampf ankommen lassen. Nur dass sie Schlagringe hatten und Bulli und sein Kumpel sich in diesen Anzügen nicht richtig bewegen konnten.«

Mein Ausdruck musste ihn zu Erklärungen genötigt haben. »Diese Anzüge – weißt schon, Waldarbeiteruniform mit Bauhelm und Sicherheitsschuhen.«

»Eine echte Schweinerei und voll feige, sage ich.«

Ratte schob sein kurzes Kinn vor. »Ich und die Jungs würden die Leute gern mal in die Finger kriegen.«

»Hat der dicke Stoff nicht einen Teil Prügel abgehalten? Und habt ihr nicht was von Schüssen erzählt?« Ich habe diese verkleideten Männer oft im Wald gesehen, sie sehen aus wie orange gekleidete Astronauten und bewegen sich auch ähnlich.

»Ja doch, warte ab. Es gab erst mal ordentlich was auf die Mütze. Dann, während der eine noch in die Schlägerei

verwickelt ist, holt der andere aus der Fahrerkabine eine Knarre und schießt auf Bulli und seinen Kumpel. Dann kriegen sie endlich ihren LKW in Gang und sind weg. Bulli hat einen Schuss in der Schulter, knapp an der Lunge vorbei, der andere einen Streifschuss am Oberarm, und beide haufenweise geplatzte Haut.«

Irgendwie konnte ich es nicht fassen. »Für mich klingt das unglaublich dreist. Holzklau am helllichten Tag unter den Augen der Förster. Was hat denn der Dritte gemacht, der auf dem Harvester?«

»Weiß nicht. Von dem war keine Rede. Der hat bei dem Krach, den seine Maschine macht, wahrscheinlich gar nichts gehört.«

»Und warum ist Bulli im Krankenhaus? Musste die Kugel rausoperiert werden oder ist es ein glatter Durchschuss?«

»Nee, es gab Komplikationen. Sie mussten operieren, und irgendwie – keine Ahnung, er liegt jedenfalls völlig flach. Der andere springt schon wieder rum.«

»Wenn ich dabei gewesen wäre –« Ratte fuchtelte mit den Händen in der Luft. »Ich hätte –« Mit seinen engstehenden flinken Augen, aus denen jetzt der Jähzorn blitzte, sah er aus wie ein zorniger kleiner Marder. Sein heftiges Temperament hatte ihm zusammen mit ein paar Eigentumsdelikten einige Zeit in vergitterten Räumlichkeiten eingebracht. Er war zwar nach wie vor auf Bewährung unter uns, arbeitete aber seit längerem in makelloser Lebensführung in meinem Café als Kellner.

»Was hättest du?« Konni fühlt sich grundsätzlich für ihn verantwortlich. »Du hättest lieber gar nichts, du würdest nämlich stehenden Fußes wieder einfahren.«

Batz sagte freundlich: »Und uns würde der vierte zum Doppelkopf fehlen. Auch wenn du beschissen spielst, spielst du doch wenigstens.«

»Du blöder Sack –«

»Hört jetzt auf, es reicht. Prost.« Konnis Glas war schon wieder leer. »Also – wer kommt mit?«

Ich verstand irgendwie gar nichts. »Ich begreife immer noch nicht, wie jemand so dreist sein kann, am helllichten Tag Holz zu klauen und dabei auch noch um sich zu schießen. Fahren die Förster nicht Streife oder so was? Die Leute haben sich doch sicher das Nummernschild gemerkt, was?«

»Gefälscht.« Konni kaute auf einer Bartsträhne, was ich hasse. Es kommt gleich nach Popelschießen. »Die Farben vom LKW haben sie sich gemerkt, rot und blau, der Nachläufer grün.«

Der Ausdruck begeisterte Ratte. »Nachläufer, hähä, Batz, wenn du deiner Schnalle hinterherläufst, bist du ein lila Nachläufer.«

»Und du bist ein Riesenidiot. Ein Nachläufer ist eine Art Anhänger und fährt hinterm LKW her, wenn du Überlängen transportieren willst.«

»Ja, Mann, reg dich nicht auf, Herr Scheiß-Lehrer, weiß ich doch.«

»Dann red nicht so einen Dreck, ehrlich, du kannst einem ganz schön auf den Sack gehen.« Batz war sauer. Ich würde sehr gern wissen, was es mit seiner Freundin auf sich hatte.

Ich versuchte mich neutral. »Ein Tieflader in Rot und Blau mit grünem – wie heißt das Ding – Nachläufer müsste doch zu finden sein. Weiß jemand, wie weit die Polizei ist?«

Allgemeines Schweigen, Kopfschütteln.

Schließlich stand Konni auf. »Die Frage ist ja, ob LKW und Anhänger immer in dieser Kombination unterwegs sind.« Er griff seine Lederjacke. »Muss los, Sandra abholen.«

Christian bleibt ungenau

Als ich nach Hause kam, saßen Mario und Christian draußen vor den Spitzbogenfenstern der Bergmannskapelle, die ich seit einem Jahr bewohne, und hoben die Gläser. Nachdem sich der Lärm gelegt hatte – Herr Karl bellte und sprang um mich herum, als wäre ich nach einer monatelangen Expedition endlich wieder zuhause angelangt – stand mein lieber Mann auf und zeigte auf die Flasche: »Corvo, samtig und rund, Christian lässt sich nicht lumpen. Ich hole dir ein Glas.«

»Was willst du denn hier?« Christians Anwesenheit bringt mich meistens dazu, gerade zu sitzen. Ich kenne niemanden mit einem derart ungerührten Pokergesicht – es ist ausgeschlossen zu ahnen, was er vorhat.

»Friedchen, wie unhöflich. Einen Gast begrüßt man nett und schenkt ihm nach. Man küsst ihn sogar auf die Wange, um zu zeigen, wie sehr man sich über seinen Anblick freut.«

»Nenn mich nicht Friedchen und lass die Schleimerei«, sagte ich. »Du hast wieder irgendwas vor. Und was soll diese plötzliche Freundschaft mit Mario?«

»Nicht so unfreundlich. Wir sind alte Freunde, erinnere dich.« Seine schmalen schwarzen Augen glitzerten und hatten mich fest im Griff.

Ich atmete aus. »Wir vielleicht, wenn du unbedingt willst, aber nicht du und Mario. Mir wäre lieber, du lässt uns in Frieden.«

Mario kam zurück mit einem Glas und einer Schale Erdnüsse. Ich versuche, meist erfolglos, keine zu essen. Herr Karl tanzte um seine Beine herum, ein sicheres Zeichen, dass schon welche für ihn abgefallen waren, und er mehr wollte.

»Seid ihr schon wieder am Kabbeln?« Er sah auf Christians Hand, die auf meiner Sessellehne lag, und lachte. »Und du, lieber Freund, hör auf, meine Frau anzubaggern. Sie ist immun.« Er stellte sich hinter mich und legte seine Hand fest auf meine Schulter, der Daumen streichelte meinen Hals.

Ich seufzte vor Glück. Es war schlicht unfassbar, dass er ganz und gar wieder da war. Ein freundliches Geschick und die Universitätsleitung hatte ihm einen Vertrag für eine Gastdozentur angeboten, was bedeutete, dass er zumindest das nächste halbe Jahr zuhause sein würde. Und ich nicht nur auf dem Papier verheiratet wäre.

»Kann ich noch austrinken, bevor ihr ins Gras sinkt?« Christians träge Stimme riss mich hoch.

»Entschuldigung. Also – du hast doch sicher einen Grund, uns zu besuchen?«

»Eigentlich nicht, hab mal so vorbeigeschaut.«

»Also hör mal, du weißt, dass ich donnerstagabends Doppelkopf spiele, du wolltest also Mario besuchen.« Irgendwas kochte hoch in mir. »Jetzt hör mal genau zu. Wenn du versuchst, meinen Mann in irgendeine deiner finsteren Machenschaften –«

»Friedchen, beruhige dich. Ich hab Mario nur gefragt, ob wir nicht mal eine kleine Männertour machen wollen.«

Männertour bedeutet Besäufnis und Frauen, kommt nicht in Frage.

Ich sah Mario an. Der zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, was er vorhat.«

Gut so, dadurch, dass er in der dritten Person von Christian redete, schloss er ihn aus. »Hast du Mario gefragt, als ich nicht da war, weil es um irgendwas Schmieriges geht?«

Abgesehen von unserer gemeinsamen Vergangenheit, die etwa 30 Jahre zurückliegt, und die ich gern unter Teppichen verstecke, habe ich Christian im vergangenen Jahr meistens als Schlitzohr erlebt. Entweder spielte er falsch, stahl Gemälde, zog ungeahnte Waffen aus dem Jackett oder war im Auftrag von Wer-weiß-wem hinter Verbrechern her. Auf jeden Fall war er ein Meister im Vernebeln, ob es sich um Ergebnisse, Absichten, Pläne oder Informationen handelte.

Ungern gebe ich zu, dass da einige Situationen waren, in denen er sich als nützlich erwiesen hat, wie zum Beispiel im richtigen Moment einen Flachmann zur Hand zu haben – aber diese Gedanken waren mir schon wieder viel zu positiv. Er ist ein Blödmann, der wahrscheinlich für irgendeine Behörde arbeitet, LKA, BKA, MAD, BND – weiß der Kuckuck. Und wieso schleimte er sich jetzt an Mario ran? Kann man denn als Agent, wenn er tatsächlich einer war, einfach so einen Gehilfen anheuern?

Christian schüttelte langsam den Kopf. Sein langer grau-schwarz melierter Pferdeschwanz fiel auf seine linke Schulter.

»Friedchen, was du von mir denkst. Solltest du mich nach all dem nicht besser kennen? Nach unserer schönen gemeinsamen Vergangenheit?«

»Das ist doch wirklich... Wir haben keine gemeinsame Vergangenheit, du Armleuchter.« War ehrlich gesagt schlicht gelogen. »Genauso wenig wie eine gemeinsame Gegenwart und schon gar keine gemeinsame Zukunft. Und wenn du versuchst, –« Mir blieb die Spucke weg vor Ärger. Das war eine halbe Erpressung.

»Friederike«, Mario rückte seinen Sessel näher und legte seinen Arm um meine Schulter. »Also erstens hat er mich nur gefragt, ob ich mal mit ihm nach – wie hieß das Kaff? Hohenegelsbach? Egal. Er will jemanden besuchen und bei der Gelegenheit Holz kaufen. Und zweitens – wenn ihr beide früher mal was gehabt habt, ist das doch lange her und kein Grund, sich aufzuregen. Weder für einen Streit noch für eine kleine Erpressung.«

Den zweiten Teil seines letzten Satzes sprach er sehr freundlich in Richtung Christian, aber mit einem leicht klirrenden Unterton. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass Mario sehr stark ist, gut trainiert und schnell. Und sehr mutig.

Herrn Karl wurde das alles zu viel. Er drängte sich an meinen Oberschenkel und wollte gestreichelt werden. Mit vielen schlaflosen Stunden auf beiden Seiten haben wir ihm angewöhnt, im Holzschuppen die Nächte zuzubringen, denn es war ausgeschlossen, in seiner Gegenwart zu schmusen. Es zerriss den ganzen Hund vor Eifersucht.

»Holz kaufen? Willst du dir etwa ein Regal bauen?« Niemals. Christian kauft sich seine Sachen. Ich zweifele sogar daran, dass er je eins seiner schönen weißen Hemden gewaschen hat.

Er stand auf und streckte sich. »Nett bei euch. Schade, muss los. Ja, Friedchen, auch Leute wie ich haben ab und zu einen Hang zum Heimwerken, der sich einfach nicht unterdrücken lässt. Du hast noch nie einen meiner selbstgeschnitzten Löffel gesehen.« Und pfeifend zog er ab. Kurz bevor er um den Förderturm herum war, drehte er sich noch mal um.«„Ich rufe an, wenn ich so weit bin, okay, Mario?«

Ich war alarmiert. Was hatte er vor? Genauer gefragt: Woran arbeitete er und warum zum Kuckuck plötzlich nicht mehr allein? Und das Wichtigste: Wie gefährlich würde es werden?

Eigentlich will ich nicht

Der Leiter der Polizeidienststelle Oberharz in Clausthal-Zellerfeld heißt Horst Lorenz und sieht aus, wie ein Polizist aussehen sollte – breitschultrig, groß, mit Schnauzbart. Eine Eigenschaft hebt ihn allerdings aus der Menge seiner breitschultrigen, schnauzbärtigen Kollegen heraus – er singt.

Seit einem halben Jahr hat er bei mir Gesangsunterricht und ist mein einziger Privatschüler. Ich hab’s nicht so mit Unterrichten außerhalb der Musikschule. Man rennt hinter dem Geld her und – was das Schlimmste ist – man muss das Haus aufräumen, bevor der Schüler kommt. Ich hatte mich breitschlagen lassen, weil er zu meiner Freude ein großer Fan von Kunstlied und Oper ist.

Seine Stimmlage ist Bariton, also irgendwo zwischen Bass und Tenor. Schon seine Naturstimme war weich und kräftig gewesen, und hatte sich, weil er gut übte, in der kurzen Zeit außerordentlich schön entwickelt. Natürlich amüsierten sich seine Kollegen gewaltig über sein Hobby, und wäre er nicht ihr Chef, hätte er wahrscheinlich nichts zu lachen.

Ich habe den Unterricht zeitlich so gelegt, dass Mario in der Uni ist. Er hat zwar gesagt, es macht ihm nichts, denn Gesangsübungen kennt er von mir. Horst aber – und ehrlich gesagt auch mir – ist es lieber, wenn keiner zuhört. Herr Karl sieht unseren Polizisten nicht als Gefahr für meine Tugend und schläft grundsätzlich bei den ersten Tönen ein. Irgendwann fängt er an, leise zu schnarchen.

Wir waren durch mit den Übungen und hatten mit Literatur angefangen. Horst stand mit dem Rücken zum großen steinernen Kamin und legte sich gewaltig in die Kurve bei seiner Loewe-Ballade. Er sang die Geschichte von Prinz

Eugen mit großer Hingabe und funkelnden Augen, und ich bin immer wieder erstaunt, welche Mengen an Temperament er beim Singen auspackt.

Nach dem ersten Durchgang klingelte mein Mobiltelefon. Es war Winni Müller, der Chorvorstandsvorsitzende vom Internationalen Chor der Uni Clausthal.

Wir hatten schon früher miteinander zu tun gehabt, als es ein Hin und Her gab, ob ich nun die Leitung übernehmen sollte oder nicht. Mal wollten sie, aber ich nicht, mal war es umgekehrt. Ihr Chorleiter war ein sprunghafter Mensch, der sich ständig anderswo bewarb, aber nie genommen wurde, gleichbedeutend damit, dass er vorsorglich kündigte, dann aber alles wieder rückgängig machte, weil ein Engagement nicht geklappt hatte. Der letzte Stand war, dass ich den Job abgelehnt hatte, weil ich mich mit dem Café und dem Schreiben ausgelastet fühlte. Was mich zu dem Bekenntnis zwingt, dass mein Buch, das ich über die letzten Ereignisse geschrieben habe, leider abgelehnt worden ist. Allerdings hat mich die Nachricht auch nicht so niedergeschmettert, dass ich das Schreiben lasse.

»Frau Wolkenreich, hallo. Es ist wieder so weit. Vor fünf Minuten habe ich erfahren, dass unser Chorleiter krank ist, scheinbar recht ernst. Und Sie sind meine letzte Rettung.«

Mit der „letzten Rettung“ überzeuge ich auch gern Leute, deshalb funktioniert das bei mir nicht. »Wir waren uns doch einig, dass Sie sich jemand anders suchen, wenn Ihre Leitung ausfällt.«

»Dies ist ein ganz anderer Fall.«

Ich sah Horst an, der mit seinen Noten in der Hand ungeduldig dastand. Vielleicht dachte ich aber nur, er sei ungeduldig, weil ich es an seiner Stelle wäre. »Ich habe nicht viel Zeit, machen Sie’s kurz.«

Winni Müller holte tief Luft. »Sie haben doch von dem Freischütz-Projekt gehört.« Ja, hatte ich, war nicht zu vermeiden gewesen. »Wir sollen den Opernchor stellen.« Oh, oh. »Und wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, brauchen wir eine Chorleitung vor Ort. Extraproben, Bühnenproben, Sie wissen schon.« Ja, sicher, aber ob das ein Laienchor schaffen könnte? »Wir haben die Zusage von Roman Faust, Ihr Honorar zu übernehmen, Sie erinnern sich, das, was wir damals verhandelt haben, aber 50 % mehr.«

Horst hatte sich mittlerweile bequem auf ein Bein gestellt, sein Blick war glasig – beides wahrscheinlich hart antrainiert in seinem Job für den Fall, dass es zu langweilig wurde. »Kann ich Sie in 20 Minuten zurückrufen? Ich denke drüber nach.«

Roman Faust ist ein lokaler Mittelstandsunternehmer, der sich ganz außerordentlich für Kultur engagiert. Sein Firmenlogo, ein Erlenmeierkolben für seine gut gehende Industrieglasbläserei, war auf fast jedem Konzertplakat in der Sponsorenecke zu sehen. Wir waren uns schon häufiger begegnet, nicht zuletzt in meinem Café, denn er liebt den Tango. Und der wollte also mein Honorar zahlen.

Als Horst gegangen war, wanderte ich von der Haustür die acht Meter volle Länge meines Kapellenraumes bis zum Klavier an der gegenüberliegenden Wand hin und wieder zurück mit dem Finger an der Nase.

Wie bringt man einen Chor aus, wie es mal eine Kollegin formulierte, fröhlichen Laien dazu, große Oper zu singen? Zuallererst fehlt es im Tenor und im Sopran an der notwendigen Tonhöhe. Ein Laie singt vielleicht ein hohes a, wir mussten aber weit höher, und das nicht nur einmal. Dann brauchte ich – hatte ich ich gesagt? – eine gewisse Klangfülle, was absolut sauberes Singen voraussetzt. Das hat irgendwas mit Obertonreihen zu tun, die die genannte Fülle produzieren, sich aber wie gesagt nur bei sauberem Gesang bilden können. Die notwendige Quantität an Sängern würde kein Problem sein, wahrscheinlich eher im Gegenteil. Ich würde ungeeignete raus komplimentieren müssen. Da war das ich wieder.

Am liebsten würde ich es mit Mario beschwatzen, aber der, ich sah auf die Uhr, hatte gerade mit seiner Vorlesung angefangen.

Dann gab ich mir einen Ruck, rief Winni Müller an und sagte zu, unter Bedingungen, die mit ihm auszuhandeln wären.

»Jetzt gleich?«, fragte er.

»Von mir aus, ja, aber können Sie denn weg?«

»Öffentlicher Dienst, geht schon mal. Bin gleich da, wenn es Ihnen recht ist.«

Gut, dass das Haus aufgeräumt war, es lebe der Privatschüler.

Ich schob den Kaffeeautomaten an und trug zwei Polster nach draußen.

Der Mai hatte gerade erst angefangen, aber es war schon herrlich warm. Meine liebste Zeit, weil die Mücken noch nicht fliegen. Die Tannen um das Zechenhaus mit dem hohen eisernen Förderturm, an das meine Kapelle mit den drei Spitzbogenfenstern nach hinten angebaut ist, hatten zum Teil schon die braunen Hüllen von ihren hellgrünen Spitzen abgeworfen. Von jedem Zweig sang ein Vogel. Die Grasbüschel zwischen der Heide, die sich den steilen Abhang hinter der Kapelle bis zu den engen Serpentinen unten zogen, leuchteten hellgrün, die Luft war leicht dunstig und die Hügel in der Ferne vor Bad Grund verschwammen zartviolett. Die Innerste, die fast 200 Meter unterhalb meines Hauses in einer weichen Linie nach Wildemann strebt, glitzerte hell im Nachmittagslicht.

Kaum hatte ich das Geschirr aus dem Schrank geholt, hörte ich Winni Müllers Auto. Wir nahmen unsere Kaffeetassen und setzten uns nach draußen.

»So, was sind denn Ihre Bedingungen«, fragte er. Winni Müller, weißhaarig, langes Gesicht mit Spitzbart, ist der ideale Chorsänger, gut über 50, also sind die Kinder weitgehend aus dem Haus, öffentlicher Dienst, was gegen Wegziehen spricht, und finanziell nicht schlecht gestellt, womit die Durchsetzung von notwendigen Anschaffungen gesichert ist (»Nun stellt euch mal nicht so an, wenn ihr 10 Euro für Noten ausgeben sollt. Das ist nicht mehr, als zwei Biere kosten.«).

Ich hatte versucht, mir freundliche Formulierungen zurecht zu legen, merkte aber sofort, dass das umsonst gewesen war. Man kann nicht freundlich sagen, dass man zu tief singende Chorsänger – von mir aus vorübergehend – verabschieden muss, denn eine meiner Bedingungen war, dass ich vollends ungeeignete Chormitglieder beurlauben durfte.

»Aber vorübergehend ist doch eine gute Idee.« Er senkte den Blick auf seine rechte Hand, die seit fünf Minuten ununterbrochen den Löffel in seiner Tasse rührte, und redete langsam weiter. »Wie wäre es denn so: Der Internationale Chor macht bis nach den Freischütz-Vorstellungen im September Pause. Stattdessen gründen wir einen Projektchor, für den man allerdings getestet wird. Und wenn Sie nicht zu streng sind, müsste das funktionieren.«

Ich stand auf und ging die drei Schritte bis zum Abhang. Es würde ein Knochenjob werden. Die musikalische Arbeit mit einem Chor unterscheidet sich von der mit anderen Instrumenten dadurch, dass der Klang vollständig davon abhängig ist, welche Art Sänger natürlich, aber vor allem wie vollständig sie vor einem stehen. Schlimm deshalb, weil man zumindest auf diese zweite Komponente kaum Einfluss hat. Gerade gute Chorsänger sind leider der Ansicht, dass es

völlig reicht, wenn sie zur Generalprobe erscheinen, und vergessen, dass aussichtsreiche Arbeit am Klang nur mit dem vollen Instrument – Chor – möglich ist. Also würde mich neben der fachlichen Arbeit – sauber und richtig singen – ein regelmäßiges Zusammentrommeln der Chormitglieder in Form von Drohen und Locken erwarten. Aber – es war ein Zeitjob, also endlich, und das Projekt reizte mich.

Als ich zu einem vorsichtigen Nicken ansetzte, klingelte sein Telefon. Er sah aufs Anzeigefeld. »Da muss ich ran.«

Er horchte einen Moment und stand auf. »Ja, ich komme gleich. Übrigens –«, er sah hoch und strahlte mich an, »Frau Wolkenreich macht es. Ja, klasse. Also, bis gleich.« Er sah hoch. »Tut mir leid, Frau Wolkenreich –«

»Friederike«, sagte ich. »Wenn man zusammen Musik macht, duzt man sich.«

Er lachte und zeigte spitze, nach innen gebogene Oberzähne. »Freut mich, Winni mein Name. Das beste ist, ich hole die Leute zusammen und erkläre, was wir besprochen haben, dann kommst du dazu und fängst sofort mit den Tests an, in Ordnung? Mittwochabend?«

»Nenn es nicht Tests, sag einfach, ich wollte mich mit jedem kurz einzeln unterhalten. Und ja, Mittwoch passt.«

»Ja, so machen wir das. Ich freue mich höllisch.« Weg war er.

Die erste E-Mail

Mittwochnachmittag fand die erste Komiteesitzung für unser Freischütz-Projekt in den Räumen der Touristeninformation statt.

Pünktlich um 15 Uhr stand ich in der Tür zum Hinterzimmer. Es war schwierig, die Leute, die den Raum bevölkerten, mit der bäuerlich-kargen Atmosphäre des Gebäudes in Einklang zu bringen. Unter den schweren dunklen Balken, die die weiße Rauputzdecke trugen, standen sechs Personen. Mein erster Blick fiel auf unseren Bürgermeister Rudolph Kahlhut, leuchtend in voller Pracht, heute in schillernd violettem Anzug mit orangefarbenem Hemd und dottergelber Fliege, der auf einen Glatzkopf über schwarzem Rollkragenpullover einredete.