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Nach einem schweren Autounfall hängt das Leben von Friederike Wolkenreichs Lebensgefährten Christian Neuville buchstäblich am seidenen Faden. Schnell wird klar: Das war ein Mordanschlag! Woran hat Christian zuletzt gearbeitet? Und über welche Informationen verfügt er, für die andere über Leichen gehen würden? Friederike will unbedingt Licht ins Dunkel dieser mysteriösen Angelegenheit bringen und ermittelt zunächst auf eigene Faust. Ihre Nachforschungen führen sie vom Oberharz ins Braunschweiger Land. Dort trifft sie auf Charlotte, die gerade die Caplingenburg, einen alten Sitz der Tempelritter, geerbt hat. Die beiden Frauen müssen sich durch ein Chaos von Fälschung, Drohbriefen, Brandanschlägen und Mord arbeiten, bevor es ihnen schließlich gelingt, eine Verbindung zwischen den Untaten zu finden. Daneben erhebt sich die spannende Frage, ob sie das wichtige Dokument finden, das den Beweis dafür liefern würde, dass es tatsächlich Heinrich der Löwe war, der vor 900 Jahren den Templern die Caplingenburg geschenkt hat. Und wieder einmal zeigt sich, dass Friederike sich auf ihre Freunde verlassen kann: Konni, Sandra, Ratte und nicht zuletzt der Clausthaler Motorradclub, die Flying Devils, haben ihren Anteil daran, für Ordnung zu sorgen und die Verantwortlichen ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Andrea Illgen legt mit »Vom Goldenen Segel« ihren 6. Friederike-Wolkenreich-Krimi vor. In einem spannenden Bogen erzählt die Autorin eine Geschichte vom Oberharz bis hinunter zum fruchtbaren Land zwischen Braunschweig und Elm. Dort verortet sie die Caplingenburg, eine Komturei, damals Sitz eines Ritterordens, heute ein Gut in privater Hand.
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Andrea Illgen
Harzkrimi
Vom Goldenen Segel
Wolkenreich im Harz 6
ISBN 978-3-96901-005-1
ePub V1.0 (09/2020)
© 2020 by Andrea Illgen
Abbildungsnachweise:
Cover Frontseite (Siegel) © Wolfgang Claussen | #1463802 | pixabay.com
Cover Rückseite (Statue) © Hans Linde | #2284945 | pixabay.com
Porträt der Autorin © Ania Schulz | as-fotografie.de
Lektorat & DTP:
Sascha Exner
Verlag:
EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH
Postfach 1163 · 37104 Duderstadt · Deutschland
Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Titelseite
Impressum
Vorweg
Starker Schneefall und kein Grog
Zigarillo und Burgkatze
Pfefferminz und Schaukelstuhl
Kupferpfannen und ein Vertrag
Tabledance und Schwangerschaft
Albträume und Pantoffeln
Der Dritte Mann und Lockenwickler
Schneebruch und Sackgasse
Mettwurst und der Gral
Akne und ein Leichenfund
Spitzenkragen und ein Plan
Gypsy-Jazz und Landmaschinen
Piercings und ein Mettwurstbrot
Brötchen und eine Inkamütze
Ein Koala und ein Leinentuch
Lackfarbe und ein Gemeinschaftsgrab
Holzgraf und Sakramentshäuschen
Unglückliche Liebe und Keramik
Brandbeschleuniger und Weihnachtskekse
Rosinenbrot und ein Siegel
Kalbsfilet und Rattenkopf
Läuse und ein mürrischer Koala
Ein Telefongespräch
Faust mit Blitz und Blut aus dem Ohr
Gelber Turban und Rattenschiss
Tintenklecks und Pandaaugen
Hundeshampoo und türkischer Kümmel
Feuerlöscher und Marmeladenbrot
Träume und ein Russischer Terrier
Vierter Advent und ein Sohn
Ostpreußische Rosinenkekse und ein Komplott
Vaterstolz und kurzläufige Gewehre
Ringelrock und Fischbrötchen
Krambambuli und ein kleiner Flying Devil
Krampfadern und ein Abschied
Eine kleine Bitte
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Teufel und Skorpion
Karlas Geheimnis
Harzer Freischütz
Mord auf dem Bergbauernmarkt
Rückkehr nach Falconcross
Auch dieses Buch widme ich W., dem Fixpunkt in meinem Leben, Meister im Lösen erzählerischer Knoten, und Tröster, wenn ich wieder mal über logische Löcher stolperte.
Ich danke Thomas J., der bereitwillig juristische Fallgruben zu umschiffen half, Brigitte L., die Friederike und mich über längere Zeit mit hilfreichen Kommentaren begleitete, und auch der wunderbaren Einrichtung Wikipedia. Hier fand ich wichtige Details über die Sintifamilien, ich las mit roten Ohren über Heinrich den Löwen und seine Stiftungen und lernte das Notwendige über die Waldnutzung des Höhenzuges Elm im ausgehenden Mittelalter. Und nicht zuletzt danke ich meiner netten Nachbarin Tiny, die mich genau zur rechten Zeit technisch wieder in Schwung brachte.
Komtureien oder Kommenden wie die Caplingenburg gab es tatsächlich mehrere im Braunschweiger Land. Ein Beispiel ist die Süpplingenburg, die in Teilen noch heute existiert und als geschichtliches Vorbild für Charlottes Ordensburg diente. Alles aber, das ich drumherum gesponnen habe, ist reine Fiktion. Sollten sich Parallelen ergeben, sind sie zufällig und absolut unbeabsichtigt. Dasselbe gilt auch für den Teil der Geschichte, der im Oberharz spielt: Alle Personen sind munter meiner Fantasie entsprungen. Zwar findet sich der Kronenplatz in Clausthal, das Tango-Café wird man aber vergeblich suchen. Obwohl – das hat schon mancher vermisst!
Friederike fuhr hoch. Sie lag auf dem Sofa im matt beleuchteten Hinterzimmer des Tango-Cafés. Es dauerte einen Moment, bis sie wusste, wo sie war. Café, Verabredung mit Christian ... Sie musste eingeschlafen sein, und Konni ...
Auf dem Tisch lag ein Zettel, vor dem Wegfliegen gesichert mit einem Glas Wasser. Wir lassen dich schlafen, schließt ab, wenn ihr geht, Konni und ein küssender Smiley.
Wie spät war es? Friederike knipste die Lampe über dem Sofa an. 01:10 Uhr? Wieso? Sie setzte sich gerade und nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas. Christian wollte um 23 Uhr spätestens hier sein. Wir müssen auch mit Konni und Sandra reden, ich komme ins Café – das war seine letzte SMS gewesen. Herrgott, das war zwei Stunden her. Wo war Christian? Sie drückte die Schnellruftaste. Nichts, Mailbox. Christian ... Was war passiert? Nochmal. Blöd, dachte sie, als ob es beim zweiten Mal besser funktioniert. Mailbox.
Friederike nahm sich zusammen und versuchte, einen zusammenhängenden Satz hinter dem Piepton aufzusprechen. »Muschel, wo bist du? Du wolltest um elf hier sein, es ist jetzt eins, zum Teufel ... Mann, melde dich, verdammt.«
Sie stand auf und begann zwischen dem Kühlschrank fürs Personal und der Küchentür auf und ab zu laufen. Mit wem konnte sie sprechen? War es dringend genug, um Konni zu benachrichtigen? Und wenn Christian irgendwo lachend an einer Bar saß? Und wenn er tot war? Sie konnte kaum atmen. Privatdetektive sterben in ihrem Job. Aber doch Christian nicht. War er nicht immer und überall heil rausgekommen? Konnis Nummer saß auf der 2.
»Konni, entschuldige, aber Christian ist nicht nach Hause gekommen. Ich habe Angst ... Er ist zwei Stunden überfällig.«
»Bist du noch im Café? Ja? Bleib da, ich bin in 5 Minuten da.« Bevor er auflegte, hörte sie, wie er leise etwas zu Sandra sagte, die neben ihm im Bett lag.
Friederike knipste die Lampe über der Bar an und ging durch die Schwingtür in den Gastraum, ohne dass sie wahrnahm, was sie tat. Sie lief und lief, erst hin und her, dann einen Kreis um den Langen Tisch herum, der so hieß, weil ... Das war doch egal, oder? Die Hände zusammengepresst vor dem Mund, ein Pochen im Kopf ... Es ist was passiert ... Es ist was passiert ... Lieber Gott, lass ihn leben ... Sinnlos, denn sie glaubte nicht an Gott. Aber es tat so gut, jemand zu haben, den man um Hilfe bitten konnte. Vielleicht wurde sie gewährt ... Christian ... bitte, sei stark ...
Ein Auto, abruptes Bremsen, war das ...? Nein, der Alfa klang anders. Da war Konni, der breite, große, starke Konni. Verteidiger gegen alles Böse.
»Er meldet sich nicht.« Friederike brachte es nur schluchzend hervor. »Er meldet sich nicht. Er wollte ...«
»Setz dich doch erst mal hin. Hier, aufs Sofa. Ruhig, Friederike, ruhig, alles wird gut.«
Sie konnte nicht mehr sprechen. Nur mühsam holte Konni aus ihr heraus, was er wissen wollte. Christian hatte sich zuletzt aus – ja, woher? Friederike konnte sich nicht an den Namen des Ortes erinnern. Kapp... Irgendwas mit Kapp... Aber Kappeln lag doch da oben in Schleswig-Holstein. Da wäre er doch nicht rechtzeitig ... Er würde noch eine Stunde brauchen, dann nach Hause aufbrechen, hatte er gesagt. Gegen elf wäre er sicher bei ihr. »Ich treffe dich im Café, ich würde gern noch kurz mit Konni reden, falls er noch da ist.« Oder so ähnlich. Am Schluss: »Ich freue mich auf dich, Rübe. Setz das Wasser auf für einen Grog, es ist lausig kalt.« Das erzählte sie Konni nicht, etwas wollte sie für sich behalten.
Sein Telefon klingelte. Nach den ersten Worten, die sein Gesprächspartner sagte, stand er schnell auf. »Ja...« Ein schneller Blick zu Friederike.
Sie stand auch auf. Das war sie, die Nachricht, er war tot. Oh, Gott, nein. »Was ist? Rede, was ist los?«
Konni legte nach ein paar Worten auf und drehte sich zu ihr um. »Das war Sven von der Feuerwehr. Sie haben kurz vor der Abzweigung nach Festenburg ...«
»Lebt er?« Friederike schrie ihn an.
»Ja, aber er ist bewusstlos. Er ist eingeklemmt, sie müssen ihn rausschneiden.«
»Sein Alfa hat doch ein Stoffdach, ist es da nicht leicht ...«
»Nein, die Tür muss …«
»Ich will hin.«
»Du kannst ihnen nicht helfen, lass das, Friederike, du stehst nur im Weg rum. Wir fahren hin, sobald sie ihn raus haben, ich verspreche es dir, dann kannst du mit ihm ins Krankenhaus fahren.«
Friederike betete, wie sie in ihrem ganzen Leben nicht gebetet hatte. Wenn es einen Gott gab, sollte er gefälligst jetzt eingreifen. Lass ihn leben ... lass ihn leben ... Ich will auch ganz bestimmt ...
Wieder schrillte Konnis Telefon. »Ja. Oh, das ist gut. Ja, wir kommen direkt dorthin.« Er drückte das Gespräch weg. »Sie haben ihn raus, schieben ihn gerade in den RTW, und ... « Er holte tief Luft, »er hat reagiert. Er wird jetzt nach Goslar runtergefahren. Komm, wir müssen dein Auto nehmen, bei diesem Wetter gehe ich nicht auf den Bock, wenn ich nicht muss. Aber ich fahre.«
Es war ein Albtraum. Konni saß neben ihr wie ein Fels, der ihr fast die Luft nahm, seine Körpermasse füllte den Raum zwischen Lenkrad und Sitzlehne vollständig aus. Er beugte sich vor und versuchte in höchster Konzentration, den Weg durch das dichte Schneetreiben zu finden. Friederike fuhr in Gedanken mit. Es sieht aus, als ob da vorn ein großes schwarzes Loch ist, das uns durch die Schneemassen ansaugt, dachte sie. Ich will glauben, dass er wieder ganz gesund wird. Er wird wieder gesund. Er wird wieder ... Was heißt eigentlich, er hat reagiert? Hat er gezwinkert, oder hat er was gesagt? Oder den Sanitäter in den Arm gekniffen?
Die Fahrt dauerte ewig nach ihrem Gefühl. Konni konnte die vielen Kurven nur mit größter Vorsicht nehmen, denn die Schneeschicht auf der Straße war nass und inzwischen auf fast 15 Zentimeter angewachsen. Niemand war vor ihnen gefahren, der Schnee lag rein, weiß und unschuldig.
Wieso war Christian verunglückt? Ein so sicherer Fahrer, der sich regelmäßig lustig machte über Leute, die im Straßenverkehr ihr Leben wagten durch riskante Manöver oder überhöhte Geschwindigkeit. Als ob sie Punkte sammeln könnten, hatte er gesagt. Niemand lobt sie am Ende dafür. Es gibt auch keinen Pokal, alles, was sie gewinnen, sind vielleicht drei Minuten. Und die sind doch kein Leben wert.
Doch kein Leben wert ... Was Christian hauptberuflich tat – war das ein Leben wert? Die Suppe für andere Leute auslöffeln gegen Geld? Können die sich nicht selbst drum kümmern? Und sie hatte ihn in letzter Zeit sogar dabei unterstützt. Um was war es eigentlich in diesem letzten Fall gegangen? Friederike holte tief Luft. Sie war so müde gewesen in den vergangenen Wochen und hatte sich deshalb vielleicht nicht genug um seine Arbeit gekümmert. Die verdammten Wechseljahre trugen sicher dazu bei, aber dieses Gefühl des Ausgelaugtseins, der Überdruss und diese ewige Schlappheit – Weihnachten musste endlich kommen und damit das Ende der Konzerte. Zum Glück hatte sie für die Zeit zwischen den Festen kein Engagement angenommen. Es reichte. Hier sitze ich und beklage mich über zu viel Arbeit, dachte sie, während Christian vielleicht schon ... Oder um sein Leben kämpft. Er wird wieder gesund ... er wird wieder gesund ...
Der Wagen begann zu schleudern. »Nein«, murmelte Konni zwischen zusammengebissenen Zähnen, »jetzt werden wir nicht auch noch im Graben landen«, während er die Spur schließlich erfolgreich stabilisierte. Er fuhr jetzt noch langsamer, aber sie hatten die letzte enge Kurve ins Gosetal hinunter zum Glück endlich erreicht. Vorsichtig trat er aufs Gas. Bloß kein Unfall: Die unglückliche Friederike, deren Freund mit dem Leben kämpfte. Und er, der jetzt mit seinen gut 50 Jahren Vater werden sollte. Sandra war gerade in den 9. Monat gekommen – konnte ein Schreck etwa die Geburt vorzeitig in Gang setzen? Vor allem, weil sie sich nicht schonte, sondern munter weiter die Gäste des Tango-Cafés bekochte. War es unfreundlich, dass er jetzt an seine eigene Situation dachte, während die arme Frau neben ihm um ihren Liebsten fürchtete?
Die Einfahrt zur Notaufnahme lag ebenso unberührt und friedvoll vor ihnen wie die Straße von Clausthal herunter. »Sie sind noch nicht da«, murmelte Konni in seinen Bart. »Komm, wir gehen schon rein, hier draußen frieren wir an.« Und gerade in dem Moment blitzte die Nacht blau, der RTW kam um die letzte Kurve.
Flora Krafft zog ihren hoffnungslos verfilzten Wollschal enger um den Hals. Trotz warmem Kleid, Pelzmantel und einem Tuch, das sie sich mehrfach um den Kopf gewickelt hatte, fror sie erbärmlich. »Du schleichst, und ich friere. Vielleicht würde sich die Heizung deines Autos ihren Namen verdienen, wenn du etwas schneller fährst.«
»Hier vorn ist es wärmer.« Charlotte schob die Nase noch dichter an die Windschutzscheibe und hob die rechte Fußspitze eine Idee an. Ihr ging es immer noch zu schnell. Seit dem Unfall ... nicht dran denken. So, da war die Kurve … alles gut gegangen. Jetzt vielleicht den dritten Gang.
»Wie weit ist es denn noch?«
»Weiß ich nicht, stör mich nicht. Und du wolltest unbedingt hinten sitzen.«
»Weil du furchtbar Auto fährst.« Flora seufzte und versuchte, sich dem Schicksal zu ergeben, was ihr erfahrungsgemäß nicht leichtfiel. Wem was nicht gefällt, der muss es ändern, das war ihre Lebensweisheit.
Charlotte Everding war gereizter Stimmung, was nicht nur auf Flora auf dem Rücksitz zurückzuführen war. Es lag auch nicht am außergewöhnlich winterlichen Dezemberwetter. Gerechterweise musste sie zugeben, dass es nicht geholfen hätte, wäre der Tod ihres Vaters in den Sommer gefallen. Na ja, vielleicht doch ein bisschen – vielleicht würde das Leben heller und wärmer sein, jetzt, wo sie dieses blöde, überflüssige, zeitraubende Projekt vor sich hatte: das Erbe ihres Vaters zu verwalten. Nicht verwalten, dachte sie, verkaufen. Ich verkaufe den ganzen Ramsch. Und wieder kochte der Zorn auf ihren Vater in ihr hoch. Sein ganzes Geld hatte er in diese pseudo-romantischen Gemäuer gestopft – Geld, das sie dringend für den Erhalt der Buchhandlung gebraucht hätten. Und als hätte das nicht schon gereicht, hatte sie vor einigen Tagen erfahren, dass er auch Geld von ihrem Konto in dem Burgprojekt versenkt hatte.
Eine Schwester ihrer Mutter hatte ihr Geld hinterlassen, und nicht wenig. Zu diesem Konto hatte ihr Vater Zugang gehabt, weil sie zur Zeit des Erbes noch unmündig gewesen war. Ein dicker Fehler, war der genuschelte Kommentar des Notars gewesen, der ihr den Verlust erklärt hatte. Es habe andere Möglichkeiten gegeben, ein Anderkonto womöglich ... Es war jedenfalls weg, das Geld, nicht alles, aber ein beträchtlicher Teil. Im Gegenzug hatte sie jetzt dieses Ding da am Hacken, die Caplingenburg.
Charlotte war mit der Ritterbesessenheit ihres Vaters aufgewachsen. Ritter und holde Frauen, Gerechtigkeit, Mut, Minnegesang, hohe Werte, aber leider kein Realitätssinn und wenig Selbstdisziplin. Kaum war die Erweiterung der Everdingschen Buchhandlung um ein Wein- und Schreibwarenangebot ein paar Monate gut gelaufen, hatte er unglückseligerweise das Inserat des Liegenschaftsamtes der niedersächsischen Landesregierung gelesen: Die ehemalige Kommende Caplingenburg würde am 6. Januar 2019 versteigert.
Eine Kommende, das Gut eines Ritterordens, was für eine Sache! Das wäre doch sicher preiswert zu haben, denn wer sollte sich schon damit belasten. Nun, ihr Vater hatte es getan. Sich damit belastet. Und jetzt hatte sie es an der Backe. Vielleicht hätte sie wirklich das Erbe ausschlagen sollen.
Das Schneetreiben – hier unten in der Ebene völlig unüblich zwölf Tage vor Weihnachten – ließ etwas nach, was Charlotte dazu brachte, die rechte Fußspitze wieder leicht zu senken. Da, ein gelbes Schild, das nach rechts wies. Caplingenburg, ohne Entfernungsangabe, also nicht weit bis dorthin. Jemand hatte darauf geschossen, kleine silberne runde Vertiefungen mit einem Loch in der Mitte, fünf Stück. Während sie herunterschaltete und das Lenkrad vorsichtig drehte, überlegte sie kurz, welche Idioten so was taten.
»Wir sind gleich da«, sagte sie überflüssigerweise, falls Flora auf dem Rücksitz das Schild nicht gesehen haben sollte. Ihre – ja, was eigentlich? Gouvernante, Freundin, Kindermädchen, Genossin? – Genossin, das passte am besten, schlief manchmal unvermittelt ein. Was ihr wohl die notwendige Energie verlieh, trotz ihrer schlechten Lunge halbwegs beschwerdefrei durchs Leben zu kommen.
Eine einspurige Straße mit reichlich Schlaglöchern. Nach ein paar Hundert Metern begann eine graurosa Mauer auf der rechten Seite die Straße zu begleiten. Ab und zu nickten kahle Zweige, hier und da auch ein grüner Efeutrieb, über die bröckelige Mauerkrone, alles vom neuen Schnee bestäubt.
Vom Rücksitz leises Schnarchen. Da erschien eine Lücke, ja, ganz richtig auch ein Tor, schief in den Angeln, eine verrostete Pracht. Die beiden Buchstaben im verschnörkelten Schmiedeeisen der beiden Flügel ließen sich als C und B identifizieren, sie standen vermutlich für Caplingenburg. Drum herum angeordnet vier Kreuze, zwei gleichlange Balken, das Ende jedes Balkens lief in zwei nach außen gebogenen Spitzen aus. So wurde das Kreuz zum Stern. Das Johanniterkreuz. Die Caplingenburg hatte, bevor sie verstaatlicht worden war, dem Johanniterorden gehört, so viel hatte sie von den schwärmerischen Beschreibungen ihres Vaters behalten.
Charlotte bremste und hielt an. Geradeaus ein langgestrecktes Fachwerkgebäude, daran angrenzend nach rechts ein dicker quadratischer Turm aus Bruchsteinen gemauert. Oben, wahrscheinlich in die Vertiefungen ehemaliger Zinnen gesetzt, ein paar kleinere Fenster, die grünen Läden geschlossen, nach oben als Gaube ins Dach fortgesetzt. In der Etage darunter, weitgehend fensterlos, ein merkwürdiger kleiner runder Erker. Charlotte wusste, dass es den sogenannten Klo-Erker in Burgen gab, ein Plumpsklo, das seinen Inhalt direkt in den Burggraben weiterschickte. Hier gab es aber keinen Graben, diese Seite des Turmes zeigte zum Gutshof.
Charlotte musste zugeben, dass der Anblick der Burggebäude, wie sie im letzten schwachen Schneetreiben erschienen, selbst eine Hardcore-Verachterin von Ritterromantik wie sie nicht kaltließ. Sie fasste das Lenkrad fester. Das hier war pure und echte Geschichte.
Sie legte den Gang ein und ließ den Wagen langsam um die Ecke rollen. Was war denn das? Sie stieg aus. Das Schneetreiben hatte nun fast völlig nachgelassen, aber der Wind wehte kräftig und ließ die dunkelblauen Rockschöße des heruntergekommenen Militärmantels tanzen, den ein Mann mit kräftigem Bartwuchs und schwarzem Hut trug. Mitten auf dem beschneiten Pflaster des Gutshofes stand er, seine Haare in einer undefinierbaren Farbe wehten ihm aus der Stirn, als er sich zu ihr umdrehte. Der Hund neben ihm, eine Mischung aus Border Collie und allem Möglichen, lief auf sie zu und bellte.
Ein scharfer Pfiff, und er trottete zurück. Charlotte ging mit vorsichtigen Schritten auf den Mann zu, denn die dünne Schneelage machte das Kopfsteinpflaster glatt. »Was machen Sie hier bitte?« Von seinem Gesicht war unter der nassen Hutkrempe wegen starkem Haar- und Bartwuchs nicht viel zu sehen.
»Sie sind Charlotte Everding, nehme ich an?« Beim Reden entwickelte er Fältchen um seine tiefliegenden grünblauen Augen, die merkwürdig hell und scharf in der dunklen Haut wirkten. Den Hut hatte er wie ein Pistolenheld gerade aufgesetzt, weder nach vorn noch nach hinten geschoben. Er war mal schwarz gewesen, jetzt glänzte er speckig, das ehemals braune Band zerschlissen. Vom Mund war nicht viel zu sehen im Gestrüpp des grau-braunen Bartes.
»Eventuell. Und Sie?« Sie nahm den nicht gerade milden Geruch wahr, der aus der Kleidung des Mannes drang.
Eine leichte Verbeugung. »Quinn Voigtländer, wenn Sie erlauben, auf dem Weg nach Tschenstochau.«
Charlotte wurde blümerant. Stand sie einem Irren gegenüber? Unter seinem langen Militärmantel ein schmutzig-weißes T-Shirt, darüber eine Weste, beides eindeutig lange nicht gewaschen und an den Rändern ausgefranst. Ein Tippelbruder, ein König der Landstraße, ein Klinkenputzer, schlichtweg ein Penner. Und warum starrte er sie derart intensiv an? Hatte er noch nie eine Frau gesehen? Hatte sie einen Popel an der Nase?
Sie wischte sich sicherheitshalber übers Gesicht. »Wandern Penner nach Tschenstochau?« Das kam gröber heraus, als es geplant war. Wahrscheinlich, weil er nicht aufhörte zu starren. Die Schneeflocken begannen auf ihrem Kopf zu tauen.
Etwas Entspannung in seinem Gesicht, und es erschienen noch mehr Fältchen um die Augen. »Weiß ich nicht. Ich tu´s.«
»Aber jetzt gerade offensichtlich nicht. Wohnen Sie hier etwa? Und wenn ja, wo?«
Wieder knickte er leicht in der Hüfte ein. »Scharfes Auge. Dieser Hund und ich haben eine Nacht hier im Stroh geschlafen. Im gesunden Duft abgeernteter Felder.«
Woher wusste er ihren Namen?
»Ich wurde gestern für wert befunden, einen Brief für Sie entgegenzunehmen. Keine Zauberei, dass ich Ihren Namen weiß. Hier, bitte.«
Er quoll aus der Brusttasche. Charlotte warf einen kurzen Blick darauf. Eine Rechnung vom Stromversorger. Also hatte es wohl geklappt, sie würde Licht haben in diesem Gemäuer.
Sie riss ihn aus seiner Hand. »Danke.«
»Keine Ursache. Soll ich helfen auszupacken? Ich gelte allgemein als recht kräftig.«
Damit er sah, was sie besaß, um es ihr nachts zu stehlen? »Nein, nein, ich bin auch kräftiger, als ich aussehe.«
Dumm. Damit hatte sie ihm eine Vorlage geliefert. »Sie sehen durchaus kräftig aus, kräftig und ansehnlich«, sagte er. Lächelte er dabei?
Sie krauste die Stirn. Das war zu viel des Guten gewesen. »Haben Sie nichts Besseres zu tun, als hier herumzustehen und unerwünschte Kommentare abzusondern?«
Quinn hatte Charlotte fast sofort erkannt, hütete sich aber, etwas zu sagen, bevor er wusste, wie viel sie noch wusste – wissen wollte. Er begann sich zu amüsieren trotz der feuchten Kälte. Sein Mantel war dicht, der Hut hielt die Nässe ab. Charlotte Everding ging ihm bis zur Schulter, sie war schmal, aber sehnig. Dass sie Kräfte entwickeln konnte, traute er ihr durchaus zu, und was ihm gefiel, war der Kampfgeist, den sie vor sich hertrug wie eine Fahne. Nett war auch der Tropfen, der an ihrer Nase hing, dort, wo eine Schneeflocke getaut war. Ihm war klar, dass er nicht besonders vertrauenerweckend aussah, und auch, dass er wahrscheinlich nicht gut roch. Das störte ihn selbst schon lange nicht mehr, da er sich daran gewöhnt hatte.
Unter den schulterlangen dunklen Haaren, die der Wind in alle Richtungen blies, hatte sie kräftig gezeichnete Augenbrauen über großen hellgrünen Augen. Helle Haut mit kleinen Sommersprossen, selbst jetzt im Dezember noch. All das hatte er damals nicht wahrgenommen, Adrenalin hatte das Blickfeld verengt und die Wahrnehmung verändert. Aber sie war es, darauf hätte er sämtliche 80 % der bisher zurückgelegten Kilometer seiner Wallfahrt verwettet. Und jetzt sah Charlotte Everding ihn, das musste er zugeben, nicht ohne Abscheu an.
»Ich rieche besser, wenn ich gebadet habe«, sagte er zu seiner eigenen Überraschung und schien auf sie hinunter zu lächeln. »Und ich helfe Ihnen gern, stehlen werde ich nichts, weil ich genug zu essen habe. Und der Hund auch.«
Charlotte begann weich zu werden. Es wäre nett, wenn jemand helfen würde, ihr hochbepacktes Auto zu entladen, vor allem bei diesem Wetter. Hoffentlich ließ sich etwas wie eine Heizung andrehen. »Aber der Hund bleibt draußen.« Ein letztes Sichern der Autorität.
Es blitzte aus den Haaren heraus. »Selbstverständlich, Ma´m.«
»Was ist denn hier los? Wer sind Sie, junger Mann? Und was machen Sie hier?« Flora war offenbar aufgewacht, hatte sich aus dem Rücksitz herausgequält und stand jetzt breitbeinig vor dem Auto, die Arme in die Hüften gestützt. Die Szenerie gewann an Komik durch den schwarz-weißen Hund, der laut bellend um sie herumsprang.
Charlotte hätte fast angefangen zu lachen. Flora entsprach in der Absurdität ihrer Kleidung vollständig der dieses Mannes vor ihr. Denn seit sie zu ihr gezogen war, hatte sie sich standhaft geweigert, etwas Neues anzunehmen.
»Es reicht, wenn ich dir auf der Tasche liege, Lottchen. Ich brauche keine neuen Kleider, diese sind noch gut, und ich mag sie anhaben.« Flora war lang und hager. Und da sie der Überzeugung war, dass ältere Frauen leicht frieren, trug sie ihre voluminösen Samtkleider mit den gelblichen Spitzendekorationen sommers wie winters unverdrossen, ohne je zu prüfen, ob ihre Annahme der Tatsache entsprach. Seit September Ich fröstele so leicht kam darüber ein mottenzerfressener Wintermantel aus geschorenem Schafsfell mit einer Kapuze aus imitiertem Fuchs.
Ihre gesamte Oberbekleidung, die aus dem Wechsel zweier knöchellanger Samtkleider – eins dunkelrot, eins flaschengrün – bestand, stammte aus dem Fundus eines kleinen Tourneetheaters, bei dem sie ein paar Jahre als Komische Alte mitgewirkt hatte. Als es zumachen musste, weil der Jugendliche Liebhaber alterswegen gestorben war, fiel in der Aufregung beim Verkauf der Requisiten nicht auf, dass Flora mit den erwähnten Kleidungsstücken schon länger über alle Berge war. Danach hatte sie sich mit Straßentheater durchgeschlagen; dann, als es mit der Lunge nicht besser wurde, war sie über pantomimische Darbietungen schließlich zur Bettlerin geworden, frierend, hustend, zusammengekauert auf einer Wolldecke, einen schadhaften Bunzlauer Becher vor sich, in den ab und zu ein paar Centmünzen fielen. Bis Charlotte sie entdeckte.
»Sie sind doch ... du bist doch ... bist du etwa tatsächlich Flora? Meine Flora?« Und hustend und weinend waren sie sich in die Arme gefallen. Flora hatte ihr Kindermädchen wieder, ihre Ersatzmutter. Gebadet, entfloht, von Läusen befreit und mit Antibiotika vollgestopft war sie langsam wieder zu der geworden, die sie gewesen war, die heiß geliebte Tyrannin aus Charlottes Kindheit.
Da standen die beiden Gestalten, und Charlotte konnte das Lachen nicht unterdrücken. Wie in einem Western der 60er Jahre standen sich Pistolenheld und Puffmutter gegenüber, eine bereit, ihre Krallen auszufahren, der andere hochgradig verlegen, weil man ja einer Lady nichts antut.
»Ich weiß nicht, wer das ist, Flora. Er sagt, er heißt ... wie?«
»Voigtländer, die Damen.« Quinn machte eine formvollendete Verbeugung und schwenkte sogar den Hut. »Quinn Voigtländer, Landfahrer, ehemals hier beheimatet, und dies ist Bessie, ein Findelhund.«
»Wie, hier? Auf dem Gut haben Sie gewohnt?« Charotte runzelte die Stirn, sie hatte die Ironie in der Verbeugung durchaus wahrgenommen.
»Ja, ganz recht. Mein Vater hat lange Zeit hier gearbeitet.«
»Lottchen, es ist saukalt, lass uns endlich reingehen. Vielleicht können wir einen Tee kochen, die Rumflasche habe ich in der Handtasche.«
Zögernd machte Charlotte ein paar Schritte auf das Herrenhaus zu. Bessie war hinter Quinn in Deckung gegangen, denn auf der zweiten Stufe der kurzen Freitreppe saß in der dünnen Schicht aus frischem Schnee eine kohlschwarze Katze, den Schwanz sauber im Kreis gelegt. Seine Spitze zuckte. Das viele Weiß drumherum ließ ihre großen grünen Augen fast unheimlich leuchten. Charlotte blieb stehen und drehte sich um. »Ist das die Burgkatze?«
»Wenn sie älter als zehn ist, vielleicht. Im andern Fall denke ich, es handelt sich um ein Nachfolgemodell.« Quinns Stimme klang höflich, aber Charlotte hörte durchaus die Ironie darin. Er verteidigt sich, dachte sie. Warum? Weil er sich eigentlich hier nicht aufhalten darf? Oder hat er einen anderen Grund?
Entschlossen steuerte sie auf die Katze zu, die mit einem eleganten Satz über die seitliche Begrenzung der Treppe verschwand. Charlotte ging vorsichtig, das Pflaster war glatt. »Kommen Sie doch mit. Sollten wir einen Tee zustande bringen, tut der Ihnen sicher auch gut.« Nach vier Versuchen mit verschiedenen Schlüsseln war sie schließlich erfolgreich, und die schwere Tür öffnete sich mit lautem Knarren.
Öl in die Angeln, dachte Quinn, die Stufen fegen, unter dem Schnee liegt sicher altes Laub, das sonst ins Haus fliegt. Das kaputte Fensterglas im ersten Stock ersetzen. Und: Diese Frau war noch nie hier.
Christians Augen waren geschlossen, aber er sah unter seinem weißen Kopfverband nicht mehr ganz so grünlich-weiß aus. Sein verbundener linker Arm lag auf der schneeweißen Bettdecke. Friederike hatte den harten Stuhl, den die Krankenhausverwaltung für sorgende Angehörige bereitgestellt hatte, so dicht ans Bett herangezogen wie möglich. Sie saß vorgebeugt, die Hände im Schoß fest geschlossen. Jedes Mal, wenn ihre Augen vor Müdigkeit zufielen, drückte sie ihre Fingernägel ins Fleisch, sie wollte nicht einschlafen, nicht so lange er da so lag.
Christians letzter Auftrag. Woran erinnerte sie sich? Fang ganz von vorn an, dachte sie. Kahlhut hat ihn angerufen. Natürlich. Der Bürgermeister der Samtgemeinde pfiff und Christian sprang, das war die Verabredung in all den Jahren gewesen, seit sie Christian hier oben wiedergetroffen hatte. Rudolph Kahlhut, immer am Rand der Legalität, immer offen für Beteiligungen und Provisionen, immer bemüht ums eigene Ich. Bei diesem Lebensstil brauchte man schon mal hier und da einen Privatdetektiv, der einem Vorteile über einen Geschäftspartner verschaffte, nützliche Informationen, mit denen der andere sanft aber beharrlich dazu zu bringen war, das zu tun, was Rudolph Kahlhut wollte.
Ein Job wie jeder andere, hatte Christian das genannt. Und was war nun dieser letzte Job gewesen? Eine Fälschung hatte er gesagt. Wie sau-, saudumm war sie gewesen, nicht ordentlich zuzuhören. Aber da waren ihre Konzertproben gewesen, die Reisen quer durchs Land zu Engagements, diese ständige Müdigkeit. Eine Müdigkeit wie jetzt. Wieder sackte ihr Kopf nach unten. Wieder holte sie sich mit Hilfe ihrer Fingernägel zurück. Eine Fälschung. Was für eine? Geldscheine? Gemälde? Aktienpapiere? Grundstücksverträge? Herrgott, was war es gewesen? Kahlhut, sie musste selbst zu Kahlhut. Aber erst, wenn ...
Christians Wimpern flatterten. Ein Auge öffnete sich zu einem Schlitz. Sein Mund verzog sich etwas, bevor er mühsam herausbrachte: »Meine Mutter... Mutter, du bist hier ... Wo bin ich?«
Seine Mutter? Friederikes Magen verkrampfte sich. Er war doch nicht ... Dann sah sie, dass der schiefe Mund eine Art Grinsen war. Und eine unbeschreibliche Erleichterung stellte sich ein. Die Tränen schossen in ihre Augen, ohne dass sie es wahrnahm. Sie ergriff seine rechte Hand auf dem Bettrand, drückte sie fest, lachte und weinte gleichzeitig und brachte endlich schluchzend heraus: »Ja, mein Lieber, ich bin deine Mutter, du bist im Himmel«, beugte sich vor und küsste ihn so auf den Mund, dass kein Zweifel darüber bestehen konnte, in welchem Verhältnis sie zu ihm stand.
Schwach kam die Antwort. »Du hast einen niederträchtigen Charakter, Friedchen. Sieche Menschen verführt man nicht.«
Eine Ärztin mit Stethoskop und Hornbrille kam herein. »Er ist wach. Oh, gut.« Ihr Blick wanderte vom Patienten zu der hold erröteten Friederike. »Regen Sie ihn nicht auf, er braucht viel Schlaf und Ruhe.« Sie fühlte Christians Puls. »Alles ein bisschen aus dem Takt, aber keine Sorge, er wird wieder. Kommen Sie mit raus, ich erzähle Ihnen, was mit ihm los ist.«
Sie standen im scheußlich hellgrün gestrichenen Gang. Hinten war der Tresen der Stationsschwester zu sehen, die Betriebsamkeit hin und her laufender Schwestern, Besucher mit Blumensträußen und ein Kind, das kräftig hupend auf einem kleinen roten Plastikauto den Gang hoch sauste. Es roch schwach nach Reinigungs- und Desinfektionsmitteln.
Die Ärztin suchte in ihrer Tasche, fand eine kleine Plastikschachtel, schüttelte ein Pfefferminz hervor und steckte es in den Mund. »Ich bin Doktor Knoche.« Wieder stieg ein Kichern in Friederikes Kehle hoch. Hysterie ist das, dachte sie. Schockverarbeitung. »Ihr Mann hat ein Schädel-Hirn-Trauma und eine robuste Gehirnerschütterung. Außerdem ist der linke Arm angebrochen, das linke Knie schwer geprellt ebenso wie die Rippen. Er scheint ein Glückspilz zu sein. Für die gute Konstitution des Patienten spricht, dass er schon aufgewacht ist. Trotzdem, ganz über den Berg sind wir noch nicht. Gleich morgen früh schieben wir ihn in die Röhre und sehen dann, ob er eventuell eine Blutung im Gehirn hat.«
War das etwa doch Ernst gewesen, das mit der Mutter gerade eben? Nein, niemals. Wenn Christian von Verführung sprach, war er voll da.
»Gehen Sie nach Hause, schlafen Sie ein bisschen, der Schock sitzt Ihnen noch in den Gliedern. Haben Sie jemanden, der Sie abholt? Sonst besorgen wir Ihnen ein Taxi.«
Nein, nein, Friederike widersprach energisch. Das konnte sie alles allein. Kann alleine war laut ihrer Mutter der erste mehr oder weniger vollständige Satz ihres Lebens gewesen. Man hatte sie damals füttern wollen. Trotzdem, jetzt stand sie hier ohne fahrbaren Untersatz, und das bei diesem Wetter.
Es war Sonntagnachmittag. Am liebsten wäre sie auf der Stelle umgefallen vor Müdigkeit. Wie lange war sie jetzt wach? Über 30 Stunden sicher. Wer konnte sie abholen? Konni war vor ein paar Stunden mit ihrem Renault nach Hause gefahren, er hatte Angst um seine Sandra und die möglicherweise verfrühte Geburt. Egal. Aber er würde doch sagen, wenn er seine Frau nicht allein lassen wollte, oder? Also: »Hallo, Konni, er ist aufgewacht, kannst du mich jetzt holen?«
»Das ist eine gute Nachricht, super, Friederike, aber klar, ich komme. Sandra sagt, sie hält ganz sicher so lange zu und wartet mit der Geburt wenigstens, bis ich da bin.«
»Weiß man denn schon irgendwas? Wie es passiert ist, meine ich.« Friederike hielt sich am Haltegriff an der Beifahrertür fest. Konni fuhr jetzt schwungvoller, denn der Schneepflug hatte in der Zwischenzeit seine Runde gedreht, und die Schneeflocken wirbelten nur noch vereinzelt herunter. Es wurde kälter.
»Ein Glück ist, dass Sven sofort, als sie ankamen, die Stelle fotografiert hat. Nach der Bergung waren sämtliche Spuren weg. Weggetrampelt, klar.« Er schwieg. Wie machte man einer Freundin klar, dass auf ihren Liebsten möglicherweise ein Mordanschlag verübt worden war? Wenn es einer war, war er missglückt, woraus hervorging, dass eine Wiederholung nicht ausgeschlossen war.
»Also ...«
»Rede schon. Ist er eingeschlafen? Gab es Bremsspuren?« Friederike hörte selbst, wie blöd das klang. Bremsspuren im Schnee, so ein Quatsch.
»Er ...« Konni gab sich einen Ruck. »Die Spuren legen nahe, dass er von der Straße gedrängt wurde.«
Friederike zog scharf die Luft ein. »Ein Mordversuch?«
»Könnte sein. Er ist jedenfalls überholt worden von einem Wagen mit breiteren Reifen als üblich. Er hat Christian überholt und geschnitten, sauber dokumentiert durch die beiden Spuren im Schnee.«
»Und weiter gab es nichts? Keine Spuren?«
»Nein.«
»Vielleicht musste der Überholer irgendwas ausweichen...«
»Es gab nur die beiden Spuren im Schnee.«
»Es muss doch –«, sie rechnete, »es muss doch fast eine Stunde vergangen sein, bis endlich jemand die gleiche Strecke gefahren ist und ihn gefunden hat. Keine anderen Spuren?«
»Sven sagt nein, und auch diese waren nur deshalb deutlich, weil es rechtzeitig aufgehört hat zu schneien.«
Ihr erster Gedanke, dass es früher oder später hatte dazu kommen müssen, tröstete Friederike in keiner Hinsicht. Was ihr aber glasklar vor Augen stand, war, dass sie mit dieser Angst um ihn leben musste. Die einzige Alternative lag darin, ihn zu verlassen. Dass sie weinte, merkte sie erst, als die Tränen auf ihrem Gesicht kalt wurden. Ein Mordversuch, höchstwahrscheinlich. Sie klammerte sich kurzfristig an das Wort höchstwahrscheinlich. Eine ganz andere Qualität als eine verirrte Kugel, oder? Wer hatte eine solche Wut auf ihn, dass er ihn umbringen wollte? Oder wer hatte so sehr Angst vor ihm, dass er ihn umbringen wollte?
Konnis Hand kam herüber und legte sich auf ihren Oberschenkel. »Er wird wieder, Friederike, er ist doch schon aufgewacht.«
Sie schob ihn weg. »Leg lieber beide Hände ans Lenkrad, Mann, sonst landen wir auch noch irgendwo, wo wir nicht hinwollen.«
Friederikes großes Glück war, dass es ihr in allen Krisensituationen ihres Lebens gelungen war, nach vorn zu sehen. Zu weinen über verschüttete Milch hat keinen Sinn, man muss sie aufwischen. Pläne machen hatte immer geholfen, Optionen checken, wie man heutzutage so schön sagte, eine unerfreuliche Situation zum Besseren ändern. Ob es eine schlechte Kritik wegen eines Konzertes gewesen war oder ein abgesprungener Liebhaber – diese Charaktereigenschaft hatte ihr immer geholfen. Also, sie wischte sich energisch übers Gesicht. Also, wo konnte sie anfangen?
»Glaubst du, unser Bürgermeister weiß, an was er als Letztes gearbeitet hat?«
»Höchstwahrscheinlich. Frag Kahlhut doch.«
Da war es wieder, höchstwahrscheinlich. »Heute ist Sonntag.«
»Das sollte dich nicht abhalten.«
Das war ein guter Plan. Kahlhut, der elende Kahlhut, wenn er denn tatsächlich involviert war, sollte keine Ruhe haben an einem Tag, den Christian zwischen Tod und Leben in einem Krankenhausbett verbringen musste.
»Hast du seine Privatnummer?«
»Klar, mein Handy ist in der rechten Brusttasche. Hol´s raus.«
* * *
Friederike erwachte nach fast 12 Stunden tiefem Schlaf. Draußen war es noch dunkel. Ohne Licht zu machen, wählte sie die Nummer von Christians Intensivstation.
Die gehetzte Stimme einer Schwester antwortete. »Ah, wegen Herrn Neuville. Ja, ich weiß, wer Sie sind. Nein, keine Veränderung. Er ist sehr schwach. Warten Sie mit Ihrem Besuch bis heute Nachmittag, dann wissen wir mehr.«
Konnte sie nun erleichtert sein oder nicht? Friederike stand auf, rutschte in ihre Schaffellpantoffeln und zog klappernd vor Kälte ihren Bademantel an. Kahlhut war nicht zu erreichen gewesen, die gesamte Rückfahrt hatte sie es versucht, am Ende waren sicher zehn zunehmend wütende Nachrichten auf seiner Sprachbox gelandet.
Sie hatte sich bei der Kapelle absetzen lassen, ihrem Refugium, seit sie vor mehr als vier Jahren in den Oberharz gezogen war. Es war eine ehemalige Bergmannskapelle, in der die Kumpel für eine sichere Rückkehr gebetet hatten, bevor sie in den Berg einfuhren. Ein langer schmaler Raum mit drei hohen Spitzbogenfenstern zum Tal hin, einem breiten steinernen Kamin gegenüber und zwei schmalen Türen rechts und links davon. Eine führte in die winzige Küche, die andere zu ihrem ebenso winzigen Schlafzimmer mit angrenzendem Bad. Die Wände bestanden aus gemauerten Natursteinen, Grauwacke meistens, unverputzt, was das Aufhängen von Bildern zu einem Kraftakt machte.
Friederike stand einen Moment am Fenster. Durch den Schneefall der vergangenen Tage hatte sich über das gesamte Tal, wie es sich tief unten vor ihrer Kapelle ausbreitete, ein dicker weißer Pelz gezogen. Die schwache Wintersonne, die vorsichtig durch die schweren Wolken blinzelte, brachte die ganze Pracht zum Glitzern. Die Hänge rauf und runter, der Tannenkamm hinten auf den Hügeln vor Bad Grund, das kurze Wiesenstück vor ihren Fenstern, die drei hohen Fichten rechts von ihr, alles glänzte und glitzerte in einer einzigen unglaublichen Schönheit. Und Friederike merkte, wie sich langsam eine Ruhe über sie legte, die sie in den gesamten vergangenen Wochen vermisst hatte. Christian wird wieder gesund, dachte sie, und war sich plötzlich ganz sicher. Ich werde eine neue Art finden, mit meiner Arbeit umzugehen, und die verdammten Hitzewellen werden langsam verschwinden.
Glücklicherweise hatte sie sich nach mehreren frösteligen Erfahrungen angewöhnt, den Kamin so zu hinterlassen, dass sich mit einem einzigen Streichholz ein fröhliches Feuer entzünden ließ. Mit einem heißen Kaffee in der Hand wickelte sie sich in ihre Bettdecke, zog den Schaukelstuhl so nah an die Flammen wie möglich und versank in Gedanken. Ein Plan musste her. Erstens natürlich würde sie – egal unter welchen Umständen – herausfinden, wer Christian das angetan hatte. An diesem Punkt und auch an seinem Stellenwert bestand kein Zweifel. Zweitens war da noch ein einziges letztes Konzert, das vor Weihnachten zu absolvieren war. Konnte sie sich vielleicht vertreten lassen? Würde ein schwer verletzter Freund einen Vertragsbruch rechtfertigen? Ja. Oder nicht? Friederike war zu starkem Pflichtgefühl erzogen worden. Grundlos abgebrochene Freizeitaktivitäten waren quittiert worden mit den Worten Das Mädchen macht nichts fertig. Aber die Erleichterung, die sich beim Gedanken an den Rückzug vom letzten Weihnachtskonzert dieser Saison einstellte, war so groß, dass sie begann, gedanklich die Liste ihrer Kolleginnen durchzugehen.
Nach drei Versuchen hatte sie Glück. Das Weihnachtsoratorium gehörte zum festen Repertoire jeder Konzertsängerin, und es war nur darum gegangen, eine Kollegin mit einem entsprechenden Loch im Terminplan zu finden. Beim vierten Telefongespräch erwischte sie Kahlhut.
»Woher haben Sie denn diese Telefonnummer? Oh ja, ich hab es schon gehört, schlimme Sache, Frau äh ...«
»Wolkenreich.« Wieso hörte er nicht auf damit, so zu tun, als ob er sich nicht an ihren Namen erinnern könnte? »Ja, sehr schlimm. Ich würde gern so schnell wie möglich mit Ihnen sprechen.« Nach vier Jahren regelmäßiger, meist unerfreulicher Begegnungen sollte sich der Bürgermeister der Gemeinde Oberharz eigentlich an ihren Nachnamen erinnern.
»Mit mir? Was könnte ich wohl ...«
»Sie können. Selbstverständlich können Sie. Ich möchte Sie wirklich dringend heute noch treffen. So bald wie möglich. Immerhin liegt Ihr Helfer in vielen Lebenslagen schwer verletzt im Krankenhaus.«
»Ja«, schweres Atmen. Was machte er gerade? Saß er auf dem Klo? »Hm, nun habe ich leider gerade heute ... Aber ich hörte schon, dass Herr Neuville keinem Unfall zum Opfer ...«
»Er lebt noch, Herr Kahlhut, er lebt noch, und Sie sollten hoffen, dass er das noch lange tut, denn er wird ja sicher auch in Zukunft Ihre Kastanien aus dem Feuer holen müssen.«
Hüsteln. »Sie stellen die Sachlage ja sehr dramatisch dar. Na gut. Kommen Sie gegen 11 Uhr, ich werde Sie dazwischenschieben«, und legte ohne Weiteres auf.
Flora, Charlotte und Quinn standen in der großen Eingangshalle des Herrenhauses. Charlotte sah sich um. Rechts ein steinerner Kamin, links führte eine breite Holztreppe ins obere Stockwerk. Rechts, links und geradeaus jeweils eine Tür. Kalt und leer, düster, staubig und muffig – ihr wurde immer schlechter. Wer um alles in der Welt sollte dieses Monstrum kaufen? Und wie würden sie es die Tage aushalten, die sich vorgenommen hatten, um die Kommende kennenzulernen und Ordnung zu schaffen? Wer etwas verkaufen will, sollte wenigstens halbwegs damit vertraut sein, oder?
Na, zum Glück waren sie ja ganz gut ausgerüstet. »Haben Sie eine Ahnung, wie man hier heizen kann? Es hieß, hinter dem Haus stünde ein Gastank, und die Heizung sei intakt.«
Quinn zog die Augenbrauen hoch und grinste leicht. Auf seinem Hut taute der Schnee. »Normalerweise dreht man die Heizkörper auf.« Dann hatte er Erbarmen. »Vielleicht fangen wir mit der Küche an, die lässt sich schnell heizen. Wenn sie noch da ist, wo sie war, müsste es hier lang gehen.« Mit langen Schritten wandte er sich nach rechts und öffnete die Tür hinter dem Kamin.
Ein langer Gang tat sich auf, von dem mehrere Türen abgingen. Durch einige Fenster auf der gegenüberliegenden Seite fiel ein schwaches Licht herein, die Sonne war fast untergegangen.
»Hier ...« Quinn öffnete eine kleine Klappe in der Wand, »sollten die Sicherungen fürs Untergeschoss ...« Es wurde hell.