Mord auf dem Bergbauernmarkt - Andrea Illgen - E-Book

Mord auf dem Bergbauernmarkt E-Book

Andrea Illgen

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Beschreibung

Das geschäftige Treiben auf dem Zellerfelder Bergbauernmarkt wird unversehens gestört: Ein Hotelier liegt erstochen in seinem Blut, und wieder werden Friederike Wolkenreich und ihre Freunde in den Strudel der Ermittlungen gezogen. Hat der Mord mit der neuen Freundin des windigen Rudolph Kahlhut zu tun? Carolin Kirsch, Escortdame und Bordellchefin, hat auf jeden Fall ihre Finger im Spiel. Aber wie groß ist das Interesse eines Braunschweiger Mafia-Clans an den Filetstücken im Oberharz? Es geht um viel: da sind die Golfplatzpläne des ehrgeizigen Bürgermeisters, eine illegale Cannabisplantage und nicht zuletzt der brutale Mord an einer Zeugin. In ihrem 5. Wolkenreich-Krimi versteht es die Autorin Andrea Illgen, Spannung, Witz und eine unerwartete Liebesgeschichte zu einem unterhaltsamen Mix zu verquirlen.

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Seitenzahl: 256

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Mord auf dem Bergbauernmarkt

Wolkenreich im Harz 5

Harzkrimi

Copyright © 2018 by Andrea Illgen

ePub-Edition, Version 1.0, 05/2018

ISBN 978-3-947167-26-5

ABBILDUNGSNACHWEISE:

Umschlagmotiv »Death of an apple« © JGade | # 27711615 | depositphotos.com

Umschlagmotiv »Blood stains« © Mizina | # 53932771 | depositphotos.com

Porträt Autorin © Ania Schulz | as-fotografie.com

LEKTORAT:

Sascha Exner

DRUCK:

Frick Kreativbüro & Onlinedruckerei e.K., Krumbach

VERLAG:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Postfach 1163 · 37104 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

Natürlich hat auch diese Geschichte keinen Bezug zu tatsächlichen Ereignissen. Alle Personen sind frei erfunden, auch wenn man vielleicht Ähnlichkeiten feststellen mag. Die Orte gibt es in der Mehrzahl, sind aber möglicherweise erzählerischen Notwendigkeiten angepasst.

Ich widme meinen 5. Krimi an erster Stelle W., der mich unablässig inspiriert und ermuntert. Ich danke außerdem der Frau mit dem hellblauen Hanomag auf dem wunderbaren Zellerfelder Bergbauernmarkt, die mehr für dieses Buch getan hat, als sie ahnt, und Thomas J. dafür, dass er mich geduldig vor juristischen Fehleinschätzungen bewahrt.

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Vorwort

1: Ein Auto im Graben

2: Haushaltsauflösung

3: Der Jugendclub

4: Donnerstag auf dem Bergbauernmarkt

5: Der Stall brennt

6: Der neue Kellner

7: Die Trauerfeier

8: Golfmania

9: Im Supermarkt

10: Der Donnertrank

11: Ein Zeitungsartikel

12: Rathaus und Goldener Löwe

13: Stiftungsfest der Silberhütte

14: Kauf-bei-uns

15: Der Brief

16: Rainer und Lilly

17: Blue Moon

18: Der Geschäftsführer

19: Das Hinterhaus

20: Der schwarze Tag

21: Nach dem Überfall

22: Ein Plan

23: Suzuki VZR 1800

24: Die Sache spitzt sich zu

25: Der heilige Hubertus

26: Geburtstag im Blue Moon

27: Finale

Über die Autorin

Wolkenreich im Harz - Die Buchreihe

1: Ein Auto im Graben

Der kleine blaue Wagen lag schräg im Graben.

»Der kann sich freuen, dass er nicht zur anderen Seite weggekippt ist«, sagte Christian und fuhr scharf rechts ran.

Fand ich auch, denn auf der anderen Seite fiel die Innerstetalstraße kräftig ab Richtung Prinzenteich, beliebter Badesee der Umgebung mitten im Buntenbocker Forst, von hohen Tannen umgeben, mit kleinen Liegewiesen, die zum dunkelgrünen Wasser hin abfallen. Jetzt war niemand da, denn es war Anfang September und schon ganz schön kühl. Wir stiegen aus und gingen auf die Frau zu, die gerade versuchte auszusteigen, was sich als recht mühsam erwies, denn sie musste ziemlich steil nach oben. Wir hielten die knarrende Tür auf und zogen an ihr, bis sie neben uns stand.

»Da kam ein Idiot mir mitten auf der Straße entgegen, ich musste in den Graben fahren, sonst wären wir kollidiert.« Die dunklen Haare fielen ihr ins Gesicht, von dem wegen der dunklen Brille nicht viel zu sehen war. »Ich hab schon überall gesucht, weil ich jemand anrufen wollte. Ich komme hier doch nicht allein raus. Aber ich kann mein Handy nicht finden.« Sie hielt sich am Autodach fest.

»Sind Sie verletzt?«, fragte ich. Sie wirkte etwas konfus, was ich nicht weiter verwunderlich fand. »Auch mit Handy hätten Sie kein Glück«, sagte ich. »Hier ist keine Mobilfunkdeckung.«

»Und was soll ich jetzt machen? Nein, ich bin nicht verletzt.«

»Christian, glaubst du, wir kriegen ihn da raus?«

Der hatte mir schon den Rücken zugewandt und ging zu seinem kleinen sinnlosen weißen Alfa Romeo. Es ist so ein Ding, mit dem man nicht durch Schnee fahren kann und, klappt man unvorsichtigerweise das Dach auf, von jedem LKW auf der Autobahn die Abgase mitten ins Gesicht geblasen kriegt. Außerdem sieht es lächerlich aus, wenn er seine langen Beine unter der Lenksäule verstaut.

Christian ist ein Freund aus der Schulzeit, den ich vor drei Jahren hier oben wiedergefunden habe. Nicht, dass ich ihn gesucht hätte. Unsere zarte, bisweilen auch durchaus heftige Studentenliebe hatte er übel verraten. Hier oben auf den Hochebenen des Oberharzes in Clausthal-Zellerfeld waren wir zu einer Art Waffenstillstand gekommen. Ich bin inzwischen anderweitig verheiratet, wovon ich allerdings nicht viel habe. Denn mein lieber Mario tourt seit einem halben Jahr durch verschiedene Universitäten in Zentral- und Südafrika, wo er Vorträge und Seminare abhält. Es geht immer um Fördertechniken in Berg- und Tagebau. Ich verstehe nicht, wieso er nicht zwischendurch mal nach Hause kommt, aber das ist eine andere Geschichte.

Christian setzte mit einer eleganten Flanke über die Tür des Alfas, was seinem langen grau-schwarzen Pferdeschwanz einen kräftigen Schwung gab. Das macht er übrigens immer, wenn er angeben will. Wir waren zusammen unterwegs, weil ich mein eigenes Auto wegen einer Auspuffreparatur in die Werkstatt bringen musste. Christian hatte sich erboten, mich aus Osterode abzuholen. »Es sei denn, du willst lieber Bus fahren, Friedchen.« Ich hasse es, wenn er mich Friedchen nennt. Aber weil er zur Abwechslung mal etwas Nettes anbot, schluckte ich es herunter. Natürlich mussten wir mit offenem Verdeck fahren, was regelmäßig meine Haare verzottelt und mich bei diesen Temperaturen in eine dicke Jacke zwingt.

Er drehte sein Auto an der nächsten Gelegenheit und setzte sich vor den blauen Wagen, der immer tiefer zu sacken schien, denn der Boden des Grabens war aufgeweicht von den langen Regenfällen der letzten Woche. In Windeseile war ein Abschleppseil an beiden Autos befestigt, was dazu führte, dass seine ursprünglich weiße Hose mittlerweile eine Art Tarnfarbe angenommen hatte. Er blitzte mich kurz an aus seinen schmalen schwarzen Augen. »Gute Werke fordern Opfer, Friedchen.« Damit stieg er wieder ein und begann zu ziehen. Außer dass seine Reifen durchdrehten und es in und an beiden Autos unangenehme Knackgeräusche gab, tat sich gar nichts. Er stellte den Motor ab und stieg aus. »Das wird leider nichts.« Das Seil wurde abmontiert, was die letzten weißen Stellen der Hose beseitigte. »Wir schicken wen, der Sie rauszieht.«

Die Frau und ich hatten weitgehend stumm dem Fortschritt der Dinge zugesehen.

»Danke«, sagte sie, »nur blöd, dass ich mein Handy nicht finden kann. Ich muss es in dem Haus in Buntenbock liegengelassen haben. Wenn ich es hätte, könnte ich ja selbst anrufen. Weiter oben gibt es sicher ein Netz. Ich war auf einer Haushaltsauflösung. Irgendwer hat gesagt, es gäbe dort einen Tanner-Mehlhaus.«

»Tanner-Mehlhaus? Den Harzer Maler?«, fragte ich. »Er hat früher in meinem Haus gewohnt.« Genau genommen in der umgebauten Bergmannskapelle am Barbaraschacht, die ich seit damals bewohne, als ich in den Harz zog. Das kann man aber den Leuten nicht in zwei Sätzen erklären, deshalb lasse ich es und rede von ›meinem Haus‹.

»Ja, war aber nichts. Es gab nur den üblichen Plunder alter Leute.«

Sie öffnete ihre Autotür, was nicht ganz ohne Kraftanstrengung möglich war. Vielleicht gab es in dem Moment einen kleinen Windstoß, was eine notwendige Luftbewegung verstärkte, jedenfalls fand ich, dass es aus der offenen Autotür heraus süßlich roch.

Christian stand wieder neben mir. »Es riecht ein bisschen süßlich aus Ihrem Auto«, sagte er grinsend. »Vielleicht lüften Sie kräftig, falls sich ein empfindlicher Mensch nähert.« Er legte einen Arm um meine Schulter. »Was meinst du, Friedchen, sollen wir nicht der Frau zu ihrem Handy verhelfen?«

Vertraut, aber ärgerlich, ärgerlich, aber vertraut – so war es, seinen Arm um mich zu fühlen. Doch die Zeiten sind vorbei. Ich schüttelte ihn ab. »Von mir aus, ich muss nur gegen sieben spätestens im Café sein.«

Das Tango-Café, am Clausthaler Kronenplatz gelegen, gehört mir. Da ich häufig unterwegs bin, mache ich da nicht mehr viel außer Buchführung und springe ein, wenn vom Personal jemand ausfällt. Wir sind eine Art Familienbetrieb. Allerdings ohne verwandt zu sein. Ich habe keine näheren Verwandten mehr. Meistens bin ich irgendwo und singe, denn damit verdiene ich mein Geld.

»Das ist nett.« Die Frau öffnete die Heckklappe zur Ladefläche und setzte sich hin. Sie saß zwar recht schief, aber sie fand es wohl bequemer, als im Stehen auf uns zu warten. Mit einer nervösen Bewegung strich sie sich halbherzig die dunklen Haare hinters Ohr, wo sie aber nur teilweise landeten und auch gleich wieder zurückfielen. Ich fand ihren Dank etwas lauwarm. Ich wäre enthusiastischer gewesen. Aber gut, wir hatten ihr Telefon ja noch nicht. »Wenn Sie nach Buntenbock reinfahren, ist es gleich links.« Sie beschrieb das Haus und auch den Platz, wo sie es liegengelassen haben könnte. »Gleich hinter dem Hof mit dem Harzer Höhenvieh. Zuständig ist so ein Kraftprotz. Dessen Opa ist glaube ich gestorben.«

2: Haushaltsauflösung

Zu unserem Erstaunen trafen wir auf Joschi.

»Dein Opa ist tot?«, fragte ich und überlegte zum zigsten Mal, was man angemessenerweise bei solchen Gelegenheiten sagt.

Christian zeigte sich als Herr der Lage. »Du hast doch keinen Opa mehr, oder? Was machst du hier?«

Joschi ist ein Freund von uns, Mitglied im lokalen Motorradclub der Flying Devils. Wie soll man ihn beschreiben, ohne ins Klischee zu verfallen? Er ist groß und breit, mit wirklich sehr vielen Muskeln, die er hingegeben pflegt durch seine schweißtreibenden, selbstquälerischen Ausflüge ins Zellerfelder Fitnessstudio. Sein sorgfältig glattrasierter Kopf, um nichts breiter als der Hals, ist recht klein im Vergleich zum massigen Körper. Um seinen Mund verläuft eine dünne quadratische Bartlinie, eine schwarze Schlangentätowierung ringelt sich den Hals herauf und endet mit aufgerissenem Maul vor dem linken Ohr. Was aus den engen T-Shirts heraussieht, die er mit Vorliebe trägt, ist immer braungebrannt. Obwohl man es nicht vermuten möchte, ist Joschi eine Seele von Mensch, wie man so schön sagt, ein Mann, der alten Frauen die Tasche trägt und verwundeten Tieren hilft. Aber er ist auch der unglaublichste Schürzenjäger, den ich kenne, und hat einen kulturellen Hintergrund, der gegen Null tendiert. Ich kenne ihn über meinen Barkeeper Konni, Präsident der Flying Devils. Das sind alles nette Motorradfahrer, nicht solche, die einem den Arm brechen, Rennen durch Spielstraßen fahren und Drogen verkaufen. Obwohl – Drogen ... ich fand, dass es auch hier leicht süßlich roch.

Christian brachte es auf den Punkt. »Kiffst du hier etwa, während du ...«

»Nix, Alter, hier riecht es nur nach alten Leuten.«

Was ich unverschämt fand. Ich bin allergisch gegen unfreundliche Ausdrücke über alte Menschen. »Und was machst du dann also hier?«, fragte ich.

»Nur ´n bisschen aufpassen, Leuten Sachen erklären und so.« Seine Augen sind groß, braun, rund und unschuldig. Was erheblich trügt, wie wir aus Erfahrung wissen.

»Ich sehe niemanden.« Christian drehte eine Unsäglichkeit in den Händen, eine nackte Dame, die einen Schleier um sich wirbelt, gefertigt aus weißem Porzellan, an vielen Stellen abgestoßen, hier und da mit unregelmäßigen Goldverzierungen. »Was soll dies Ding kosten?«

»´n Fünfer, Alter.«

»Christian, stell das Ding weg und such das Telefon, verdammt«, sagte ich.

Er grinste, wie nur Christian grinsen kann. »Ich wollte sie dir zum Geburtstag schenken, schade, jetzt ist die Überraschung vorbei.« Er drehte sich zu Joschi, der völlig deplatziert zwischen den Scheußlichkeiten eines Haushaltes stand, die weitgehend aus den 60er Jahren stammten. »Hier soll irgendwo ein großes Bild hängen, eine Harzlandschaft oder so was.«

»Hinten vorm Durchgang rechts. Ich mach dir Licht an, warte.«

Ich setzte mich auf etwas, was bei meinen Großeltern Clubsessel geheißen hatte, ein benopptes Etwas mit schrägen Beinen ohne Armlehne. »Und du verkaufst dies Zeug hier?«

»Na ja, war kaum wer da. Der Besitzer dachte, es wäre eine gute Idee, vor dem Abtransport morgen einen Tag einzuschieben, wo einzelne Sachen vielleicht noch verkauft werden. Morgen wird dann der ganze Scheiß ausgeräumt.«

»Und wie kommst du an den Job?«

»Einfach so, weiß nicht.«

Das war die Höhe. »Du weißt doch, wie du an den Job kommst.« Ich sah, dass Joschi unruhig wurde. »Und hier riecht es nach Cannabis. Hast du einen durchgezogen?«

In dem Moment kam Christian zurück. »Ich hab´s. Wir können los.«

»Hör mal, das stinkt doch zum Himmel.« Ich wollte mich jetzt richtig aufregen, was aber nicht klappte, weil Christian mich zur Haustür zog.

»Wir müssen los, Friederike, du hast selbst gesagt, du hast es eilig. Wir sehen uns, Joschi.«

»Klar doch, alles cool, Alter.«

Aber das hörte ich nur noch halb, denn Christian hatte mich aus der Haustür gezerrt.

»Ich hab schon Halmers in Wildemann angerufen, der will gleich kommen und die Frau aus dem Graben ziehen. Los jetzt, wir müssen dort sein, ehe sie weg ist.«

Während wir auf der Bundesstraße die vorgeschriebenen 70 km/h Richtung Einmündung Innerstetalstraße fuhren, arbeitete ich mich an Christian ab.

»Wieso lässt du mich nicht in Ruhe meine Fragen stellen? Das stank doch zum Himmel. Joschi wollte noch nicht mal sagen, wieso er in dem Laden stand und Ramsch verwaltete. Und er hat gekifft, das roch man zehn Meilen gegen den Wind.«

»Ich weiß, Friedchen, ja, ich hab´s auch gerochen. Und ja, es ist merkwürdig, dass Joschi da steht. Aber er wollte nicht reden, verstehst du, er wollte nicht. Wir hätten ihn nur ...«

»... in Verlegenheit gebracht, ich weiß. Er hätte wahrscheinlich gelogen oder Müll erzählt. Du hast ja Recht.« Was ich sehr ungern zugebe.

»Was du sehr ungern zugibst, gib´s zu.« Über seinen schönen Satz lachten wir, bis wir an der Pannenstelle ankamen. Halmers war schon da und befestigte gerade ein dickes Seil an dem blauen Auto im Graben.

»Hier hab ich schon mehr Leute aus dem Graben geholt. Vor allem im Sommer, wenn die Leute Hunderte von Metern die Straße lang parken. Das führt regelmäßig dazu, dass sie nur noch einspurig befahrbar ist. Wenn dann einer rauffährt und es kommt ihm wer entgegen, ist es aus. Na ja, alle können kommen und baden«, er wischte sich mit dem schmutzigen Handschuh über die Nase und hinterließ eine Ölspur, »Einheimische wie Touristen, aber um eine anständige Verwaltung der Ergebnisse von Harzwerbung kümmert sich keiner. Vielleicht gibt´s hier ja irgendwann genug Parkplätze abseits der Straße.« Halmers brachte seine Beschwerden ausgesprochen munter vor, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Er wollte sich eigentlich gar nicht beklagen, es war seine Art, ein Gespräch zu führen und die Anwesenden bei Laune zu halten.

Die Frau wollte Christian einen Zehneuroschein in die Hand drücken als Dank für das wiederbeschaffte Handy, aber er wehrte sich. »Geben Sie Halmers den für die Kaffeekasse, der freut sich«, sagte er. Christian, der Ritter.

Wir beobachteten noch, wie der Unimog – sanft wie den Finger aus der Butter – das Auto aus dem Graben zog, und verschwanden dann schnell Richtung Clausthal zum Tango-Café.

3: Der Jugendclub

Zwei Tage später fragte mich Christian, ob ich nicht vielleicht Lust hätte mitzukommen zur Eröffnung des neuen Zellerfelder Jugendclubs. »Es gibt ein deftiges Buffet, Friedchen, das ist doch was für dich. Mettbrötchen mit Zwiebeln und Schwarzbrot mit Harzer Käse, du weißt schon.«

Dafür bin ich zwar empfänglich, kann aber gut darauf verzichten, es auf diese Art und Weise unter die Nase gerieben zu bekommen. Er betrachtete mich amüsiert, weil er wusste, dass ich zusagen würde. Ich hasse Angelegenheiten wie Johannisbeersößchen an Hechtschaum und ähnlich hochtrabende Restaurantangebote, wo man eine einsame Garnele unter einer stählernen Kuppel präsentiert kriegt. Ich mag deftiges Essen, und Fleisch gehört für mich – in Maßen natürlich – nun einmal zur normalen Ernährung.

Also ging ich mit, was sich lohnte, denn das Buffet war ein Traum aus hochgetürmten Mettwurststücken, gefüllten Tomaten, Soleiern, sauren Gurken, Harzkäsetalern, kaltem Braten und gehackten Zwiebeln. Das frisch gebackene Brot duftete durch den ganzen Raum.

Es war ordentlich voll. Rudolph Kahlhut, unser Bürgermeister, redete als erster, ein Schlitzohr nach Strich und Faden, der sich mit Vorliebe in teure starkfarbige Anzüge kleidet. Er hat eine Menge mit uns zu tun, denn er beauftragt hier und da Christian mit der Aufklärung verworrener Verhältnisse, wenn er nämlich wieder mal in Schwierigkeiten geraten ist. Was regelmäßig nicht aus Versehen geschieht, sondern durchaus berechnend. Er probiert, wie weit er in seiner Profitgier gehen kann, und wenn er haarscharf abzustürzen droht, muss Christian ran.

Der lungert seit einiger Zeit hier oben herum als eine Art Privatdetektiv und erhält, wie gesagt, die Mehrzahl seiner Aufträge von und über Kahlhut. Wenn es ihm tatsächlich gelingt, den Bürgermeister aus der Schusslinie zu holen, zupft der seine Manschetten gerade und verschwindet pfeifend um die nächste Ecke. Christian gehört zu meinem Leidwesen inzwischen zu meiner Tango-Café-Familie, und erscheint regelmäßig spät am Abend zum gemeinsamen Absacker am Personaltisch.

Kahlhut war heute in Rosa erschienen, kein saftiges Pink, sondern in einem seidenschimmernden Rosa, das ins Gelbliche changierte. Dazu trug er eine orangefarbene Fliege über dem sanftgelben Hemd. Er redete etwas seifig über »die großartige Gelegenheit, sicherlich nicht nur der Zellerfelder Jugend einen Platz zu geben, wo man sich treffen und bätteln kann nach Herzenslust.« Er sprach es so aus, dass man zuerst an betteln dachte. Eine Sekunde später machte es klick in meinem Kopf und – ja – ich kam auf battlen. Er meinte eine Art Wettkämpfe oder? Ein Verb aus battle hergestellt? Kahlhut auf der Höhe der jugendgerechten Sprache. Wahrscheinlich war an Computerspiele gedacht, der Reihe blitzend neuer Monitore an der Wand nach zu urteilen.

Es gab dünnen Applaus, als er fertig war, weil die meisten, genauso wie ich, ihren Pappteller vom Buffet noch in Händen hielten. Wie soll man mit einer Hand klatschen?

Dann lernte ich Anatol Platte kennen. Wie ich von Christian erfuhr, war er der große Sponsor dieser Einrichtung. Er sprang mit einem federnden Satz auf das kleine Podium, das eigens für die Reden aufgestellt war.

»Freunde«, sagte er«, schön, wie unser Bürgermeister das gesagt hat. Mehr brauche ich doch gar nicht sagen. Ein Jugendclub ist eine coole Sache, und ich denke, alle finden das. Und jetzt also – guten Appetit, Leute.«

Der ganze Mensch war der totale Gegensatz zu Kahlhut. Er stand dort in Jeans und knappem gelbem T-Shirt, aus dem braungebrannte kräftige Arme herauswuchsen. Eine weiche blonde Welle über der glatten Stirn und schöne grüne Augen, wie ich bis zu meinem Platz in der zweiten Reihe sehen konnte. Ein hübscher Mensch mit zu hoher Stimme. Er stotterte sich durch seine drei Sätze und zeigte mit jedem Wort, dass ihm dieses Publikum mehr als unheimlich war. Dabei strich er sich jedesmal mit gespreizten Fingern die Tolle zurück, als ob etwas verrutscht war. Was häufig passierte, denn er hatte die Angewohnheit, alles was er sagte, mit ruckartigen Kopfbewegungen zu begleiten.

Ein großer Teil der Oberharzer Verantwortlichen war gekommen. Ich sah neben Kahlhut einige Ratsmitglieder, dazu mehrere Geschäftsleute aus dem Kauf-bei-uns-Verein, der sich in Clausthal-Zellerfeld gebildet hatte zur Förderung von Kauflust im innerstädtischen Bereich. Oberpolizist Horst Lorenz war da, eine Pastorin, ein Zahnarzt, ein Professor und der Geschäftsführer der Stadtwerke. Soweit ich weiß, ist er zur Zeit stellvertretender Präsident der Silberhütte, einem akademischen Verein, äußerst exklusiv, bestehend aus Honoratioren des Oberharzes.

»Weißt du, warum wegen diesem Club ein derartiger Wirbel gemacht wird?«, fragte ich Christian, als Anatol Platte – was für ein Name! – von seinem Podest heruntergefedert war.

»Kahlhut war sehr eindringlich, als er mich – uns eingeladen hat. Es wäre eine große Sache, sagte er. Und Herr Platte würde zu den Leuten gehören, die mit ihren Spenden und ihrem Einsatz Großes leisten würden. Das Wort groß kam oft vor.«

»Ist irgendwas im Busch?«

»Ich weiß es nicht genau, aber ich denke schon.« Er sprach sehr langsam und beobachtete die Leute um uns. Erstaunlicherweise gab es keinen einzigen Jugendlichen im Raum, sehr merkwürdig angesichts der Funktion dieser Lokalität. Man hatte sicher vergessen, sie einzuladen. Oder man hatte Angst gehabt, sie könnten durch ihr schlechtes Benehmen die Stimmung verderben.

Dann horchte ich auf. Torsten Groß war aufs Rednerpodium gestiegen. Er ist Geschäftsführer der EC, der EventConsult, die seit einiger Zeit die Geschicke der Touristenwerbung lenkt und leitet, nachdem die als zu bieder eingestufte Harzinitiative brutal ausgehebelt worden war. Na ja, vielleicht hatte es etwas zu viel Kungelei gegeben. Trotzdem, was die jetzt machten ...

»Große Dinge leisten wir. So wie wir heute alle zusammenstehen, sind wir in der Lage, noch mehr zu schultern als dieses wunderbare neue Jugendzentrum. Es wird noch weitere große Herausforderungen geben, wir sind auf einem guten Weg.«

Er sah glücklich aus zwischen seiner Glatze und dem obligatorischen schwarzen Rollkragenpullover. Ich fand seine Rede äußerst kryptisch, außerdem tauchte das Wort groß für meinen Geschmack zu oft auf. »Ich darf noch nicht mehr verraten, aber wenn alles so geht, wie wir es uns wünschen –«

Im Augenwinkel sah ich, dass Kahlhut eine abwehrende Bewegung machte, indem er mit der flachen Hand quer über seine Gurgel fuhr. Mit der Geste werden in Gangsterfilmen Leute angewiesen, mit anderen kurzen Prozess zu machen. Torsten Groß – der Name ist Programm – stoppte brav mitten im Satz und verabschiedete sich mit weiteren Glückwünschen.

Ein Murmeln erhob sich im Saal, die meisten Gesichter sahen fragend aus, einige eher abwehrend.

»Was ist denn hier los?«, fragte ich Christian. Christian im schwarzen Armani, weiß der Teufel, wo er das Geld dafür her hat.

Er sah mit unbewegtem Gesicht über meinen Kopf weg. »Keine Ahnung.« Dann grinste er mich an. »Friedchen, mach dir keine Gedanken, das macht Falten.«

WAS? »Bist du bescheuert? Was hat das mit ... Das ist doch die Höhe. Was wird denn da gekungelt? Ich sage dir, Kahlhut und Groß sitzen bis zum Kragen mit drin. Und lass gefälligst meine Falten in Ruhe, die gehen dich überhaupt nichts an.«

»Du kannst dich noch mehr aufregen, wenn du hörst, dass sie Joschi als Geschäftsführer für den Laden hier haben wollten, aber er will nicht.«

Das war zwar eine interessante Information, erleuchtete jedoch nichts von dem, was Torsten Groß angedeutet hatte. Aber ich würde schon herauskriegen, über welches große Projekt der EC-Geschäftsführer versehentlich geredet hatte. Aus Christian war jedenfalls im Moment nichts mehr herauszukriegen. Höchstwahrscheinlich hing er mit drin.

4: Donnerstag auf dem Bergbauernmarkt

Am nächsten Tag nachmittags gegen halb sechs stand Sandra vor mir. Sie ist die Köchin meines Tango-Cafés und mit Barkeeper Konni verbandelt. Beide sind eine ganze Ecke größer als normale Menschen und haben viele Haare, was eine Ähnlichkeit mit klassischen Gottheiten nahelegt, wie ein Gast mal sagte. Sandra war bis vor zwei Jahren sehr unglücklich verheiratet mit einem Schmuggler und Geldwäscher. Bis dahin hatte sie als Graphikerin für einen großen Verlag Comics gezeichnet. Mein Wirtshausschild, ein tangotanzendes Paar, stammt von ihr und hat anfangs die Gemüter engdenkender Leute erregt, in deren Kommentaren alle möglichen Wörter vorkamen von ›lasziv‹ über ›obszön‹ bis ›unzüchtig‹.

Sandra kocht mit Fantasie, ist äußerst verlässlich, und wenn sie sehr kocht, kräuseln sich ihre aschblonden Haare über der runden Stirn. »Hier, Friederike«, sie hielt mir einen Topf mit Deckel hin, der durch ein Gummiband um beide Henkel an seinem Platz gehalten wurde. »Ich schaffe es heute nicht. Siri ist krank und hat mit Sicherheit seit drei Tagen nichts Vernünftiges mehr gegessen. Könntest du ihr das bringen? Bornhardtstraße, weißt du? Goslarsche Straße hoch, kurz vor der Ampel links.«

»Ist heute nicht Donnerstag?«

»Oh ja, Schitt, Bergbauernmarkt. Na, du musst sehen, wo du parken kannst. Zur Not an der Bücherei im Alten Bahnhof.«

»Ja, in Ordnung. Jetzt gleich?«

Denn Herr Karl war eigentlich fällig. Herr Karl ist mein Hund, halbhoch mit vielen hellbraunen Locken und dicken, äußerst imponierenden Augenbrauen, unter denen seine runden schwarzen Augen mich gerade vorwurfsvoll anstarrten.

»Kannst du ihn nicht mitnehmen? Oder – lauf doch die Strecke, dann hast du keinen Ärger mit dem Parkplatz, und Herr Karl wird kräftig gelüftet.« Sandra lächelte mich an, und mein Herz ging auf. Sie ist eine der nettesten Frauen, die ich kenne, und ich gönne ihr jedes bisschen Glück mit Konni. Was den Ärger in meinen unteren Bauchregionen weckte, denn ich hatte seit längerem kein Sterbenswort von Mario gehört. Er ging schon ganz schön tief.

Also marschierten wir los. Herr Karl hatte Konnis alten Pantoffel im Maul, ohne den er keinen Schritt aus dem Haus tut, vollständig gerupft und mittlerweile farblich neutral. Wenn er an einer Ecke herumschnüffelt, legt er ihn ordentlich ab und vergisst nie, ihn wieder hochzunehmen, wenn er alles Notwendige gerochen hat und endlich zufrieden ist. Den Topf hatte ich in eine Plastiktüte gewickelt und in einen Korb gestellt, um ihn nicht – wie ein Weiser aus dem Morgenland seine Myrrhe – feierlich vor mir her zu tragen.

Aus der Ferne schon duftete es nach gebratenem Fleisch und frischem Backwerk, was Herrn Karl faszinierte, denn er zog kräftig an der Leine. Parkende Autos standen rechts und links der Goslarschen dicht an dicht. Ich überquerte die Straße auf Höhe der Litfasssäule mit dem blauen Hut, den ich sehr witzig und einfallsreich finde. Dieser Eindruck setzt sich seit Neuerem auch nach unten fort, seit die melancholisch in der Abendbrise flatternden Plakatfetzen durch eine saubere Werbung für unser Bergwerksmuseum ersetzt worden sind.

Die lange Straße mit den Buden und Ständen rechts und links war voller Leute. Gelächter, Rufen und Schwatzen lagen in der Luft. Es duftete nach Grillgewürzen, nach Seife, leicht sogar nach Fisch, nach Sonnen- und Mückenschutzmitteln und süß nach warmem Pfannkuchen. Es war Spätsommer im Oberharz, immer noch babyblauer Himmel über den dunklen Tannen. Die kühle Brise verhinderte genau richtig das Schwitzen und machte Lust auf eine ordentliche Wandertour mit Rucksack und festen Stiefeln, an deren Ende man satt in einer Harzbaude vor einem leeren Teller sitzt, auf dem eben noch eine dicke Schmorwurst gelegen hat. Allerdings deuteten die weißen Schlieren am Himmel nach Südwesten darauf hin, dass die Sommerherrlichkeit bald ein Ende haben mochte.

Ich warf mich ins Gewühl, fasste Herrn Karl an die kurze Leine und und bot meine gesammelte Charakterstärke auf, um nicht wahllos in alles hineinzubeißen, was rechts und links an Essbarem zum Kauf angeboten wurde. Ich war gerade auf Höhe eines Mannes mit Gewürzen und Kräutertees, als ich weiter hinten, wo die Bornhardtstraße ganz leicht ansteigt, eine Bewegung in der Menschenmenge wahrnahm. Herrn Karl gefiel das alles nicht, er zitterte und hielt sich dicht an meinem rechten Knie. Die Bewegung in der Masse der Leute dahinten wirkte wie Wind, der in ein Kornfeld bläst, und sie kam direkt auf mich zu. Begleitet wurde sie von schrillem Geschrei und vom Klirren und Krachen umstürzender Budenteile. Sie war bei mir angelangt, bevor ich in eine Querstraße ausweichen konnte.

Spätestens jetzt war mir klar, dass Sandras Suppe nicht heil bei der armen kranken Frau ankommen würde. Das Gewühl vor mir teilte sich, ein Mann kam hervorgestürzt und verfehlte mich knapp. Er rannte an mir vorbei, wobei man von Rennen kaum reden kann. Er pflügte durch die Menschenmenge, indem er die Leute, die nicht rechtzeitig auswichen, mit ausgestreckten Armen beiseite fegte. In meinem Schrecken drehte ich mich um und sah gerade noch, wie er in der nächsten Seitenstraße verschwand. Der Moment der Unachtsamkeit hatte gereicht, denn im nächsten Augenblick lag ich lang auf der Straße, auf mir ein fluchender Mann, vermutlich der Verfolger des Flüchtenden. Er versuchte aufzustehen, da wir aber ein Knäuel bildeten aus zwei ramponierten Körpern und einer Hundeleine, an deren Ende Herr Karl wie verrückt bellte, ging das nicht so leicht. Beide kämpften wir gegen das Gewicht des anderen, und die Sache funktionierte erst, als ich die Hundeleine losließ.

»Jetzt ist er weg«, sagte er, als wir endlich beide standen, ich mit dem Fuß auf Herrn Karls Leine, was mir glücklicherweise noch rechtzeitig gelungen war, da es verhinderte, dass ich meinen Hund suchen musste. Um uns hatte sich ein dichter Kreis von murmelnden, fotografierenden Marktbesuchern gebildet.

»Tut mir leid«, antwortete ich. Probehalber bewegte ich Arme und Beine. Alles schien heil, bis auf Prellungen auf meiner Rückseite, die sicherlich zu sehenswerten blauen Flecken mutieren würden. Sehenswert – wer sollte sie schon sehen, angesichts meines Strohwitwentums? Mein Kopf hatte zum Glück nichts abgekriegt, den hatte ich so weit wie möglich oben behalten.

»Sind Sie verletzt?«

»Nein, nicht ernsthaft. Sie?«

Die Leute begannen sich zu zerstreuen. Hier und da flammte Gelächter auf, Klingeltöne waren zu hören, lautes Schwatzen und Anpreisungen von Verkaufsartikeln. Herr Karl, wieder dicht an meinem Bein, schleckte hingegeben den Inhalt von Sandras Suppentopf auf, der sein Dasein als geplante Krankenstärkung in einer breiten Lache auf dem Kopfsteinpflaster beendet hatte. Ein Teil klebte, wie ich zu meinem Ärger sah, an meinem schönen roten Rock. Ich wusste nicht, ob ich lachen sollte, weil ich unverletzt war, oder weinen wegen der Suppe.

»Jetzt ist er weg.« Er keuchte. »Tut mir furchtbar leid.« Sein Blick wanderte an meinem Rock runter. »Oh, wie schrecklich.« Er wanderte wieder hoch. »Ich – dahinten ist jemand verletzt worden, ich muss schnell zurück.« Der Mann, der mich zu Boden gerissen hatte, sah mich mit aufgerissenen Augen an. Silbergrau mit einer Neigung zum Schielen. »Merken Sie sich, wie der Mann aussah. Sind Sie okay? Hoffentlich haben die Leute schon den RTW ...« Und weg war er. Ich sah hinter ihm her. Er rannte wie ein junger Mann, obwohl er mir gar nicht so ganz jung vorgekommen war.

Weiter hinten Richtung Schützenstraße sah ich einen Mann, wie es aussah, zwei Leute knieten daneben, einer schien die Brust zu bearbeiten. Wiederbelebung, dachte ich. So schnell kann man sterben. Und der Mann, der so dicht an mir vorbeigerannt war, hatte damit zu tun? Wie hatte er ausgesehen? Nicht groß, dünn, sehr viele Tätowierungen. An einen Blitz längs über ein Auge erinnerte ich mich und – Tätowierungen einfach überall, aber außer dem Blitz fiel mir nichts Gegenständliches ein. Muster, vielleicht ein Netz? Stoppelbärtiges, schmales Gesicht unter der – was, Pudelmütze? Braun, beige, olivgrün? Ich wusste nie, was Leute anhatten, die ich kurz zuvor gesehen hatte. Selbst wenn ich lang und breit mit ihnen gesprochen hatte. Ich würde eine miserable Zeugin sein. Musste ich mich überhaupt als Zeugin melden, dachte ich, als ich mehrere näherkommende Sirenen hörte. Meine Gedanken schwirrten. Und der zweite Mann, der, der mich umgerannt hatte, mit dem Silberblick? Hatte er ihn verfolgt, weil man einem Angreifer hinterherrennt? Aber allein? Wieso schrie man nicht irgendwas und die Leute halten den Verfolgten fest? Oder gehörten sie zusammen? Nein, er war ja zurückgelaufen.

Ich war zu einer Insel im Fluss der Marktbesucher geworden, man strömte rechts und links an uns vorbei, an mir, meinem Hund und meinem Topf. Herr Karl war mit der Suppe fertig und sah mich auffordernd an. Jetzt war er satt und wollte wissen, was als Nächstes auf dem Programm stand.

Eine näherkommende Sirene machte das Geschehen plötzlich real. Meine Sorge um mich und meinen Suppentopf übertrug sich jetzt auf das Opfer, das an Schläuche angeschlossen werden würde. Er hatte Angehörige, die zu benachrichtigen wären, Ermittlungen würden folgen, Zeitungsartikel mit Fahndungsfotos, und ich müsste mich erinnern, wie der Flüchtende ausgesehen hatte, wenn ich als Zeugin vorgeladen würde. Eine dicke schwarze Wolke senkte sich über mich und nahm mir die Luft. Ich atmete langsam und bewusst so tief in den Bauch, wie ich konnte und versuchte in die Realität zurückzufinden. Dann wischte ich an meinem Rock herum, hob Topf und Deckel auf und verstaute beides in der ramponierten Plastiktüte, die ich in den Korb stopfte. Mein Anrempler hatte draufgelegen oder reingetreten, jedenfalls war eine Seite eingedrückt, er war hin. Was für eine sinnlose Unternehmung!