Harzer Schuld - Silke Mahrt - E-Book

Harzer Schuld E-Book

Silke Mahrt

0,0

Beschreibung

Bei Rodungsarbeiten finden Forstarbeiter in der Nähe der Okertalsperre das Skelett einer jungen Frau. Bald darauf wird die Leiche eines Mädchens entdeckt. Die Spuren führen zu einem längst geschlossenen Kinderheim. Hauptkommissarin Carla Altmann und ihr Kollege Tom Steiger setzen alles daran, die beiden Toten zu identifizieren. Doch dann verschwindet wieder eine junge Frau.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 362

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Silke Mahrt

Harzer Schuld

Impressum

ISBN 978-3-96901-101-0

ePub Edition

V1.0 (08/2024)

© 2024 by Silke Mahrt

Abbildungsnachweise:

Umschlag (Front) © Zwiebackesser | #571529338 | depositphotos.com

Umschlag (Back) © HayDmitriy | #309592648 | depositphotos.com

Porträt der Autorin © Silke Mahrt | silke-mahrt.de

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Schauplätze dieses Romans sind reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Titelseite

Impressum

Mittwoch, 4. Oktober

Donnerstag, 5. Oktober

Freitag, 6. Oktober

Samstag, 7. Oktober

Montag, 9. Oktober

Dienstag, 10. Oktober

Mittwoch, 11. Oktober

Donnerstag, 12. Oktober

Freitag 13. Oktober

Samstag, 14. Oktober

Sonntag, 15. Oktober

Montag, 16. Oktober

Dienstag, 17. Oktober

Nachwort

Über die Autorin

Mehr von Silke Mahrt

Eine kleine Bitte

Mittwoch, 4. Oktober

»Musst du nicht los?« Niklas schnappte sich seine gefüllte Brotdose vom Frühstückstisch.

Carla brummte vor sich hin und spielte weiter mit ihrem Smartphone. Sie blickte nicht auf. Sollte sie Rolf anrufen? Er hatte sich immer noch nicht gemeldet.

»Mutsch, es ist gleich acht!« Niklas stupste gegen ihren Oberarm. »Erde an Mutter! Du hast Dienst!«

»Tom ist immer überpünktlich. Er schreibt bestimmt schon Parksünder auf. Das kann er auch alleine. Und du? Keine Schule heute?« Sie seufzte leise.

Ihre Schultern sanken nach vorne. Seit Wochen war sie in den gleichen Routinen gefangen. Sie fühlte sich wie ein Raubtier im Käfig. Parksünder rechts, Parksünder links, Verkehrskontrolle hier, verlorene Portemonnaies dort. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, ihre alte Stelle beim LKA in Hannover nicht wieder anzunehmen. Nun saß sie in der kleinen Polizeistation in Altenau fest.

»Ich muss erst zur dritten Stunde. Deutsch fällt aus. Und die Schule ist gleich um die Ecke.« Er hob die Augenbrauen und sah plötzlich seinem Vater Paul verblüffend ähnlich. »Geht es dir nicht gut?«

Carla verzog das Gesicht.

»Ist schon in Ordnung. Im Revier herrscht totale Langweile. Der einzige Höhepunkt ist Gustavs Nerverei. Schau dich doch mal hier um! Es sieht aus, als wären wir gestern erst eingezogen. Das reine Chaos.«

Sie zeigte auf die nicht ausgepackten Kartons. Vor zwei Monaten waren sie aus der Ferienwohnung auf dem Glockenberg in Altenau in diese Mietwohnung in Clausthal-Zellerfeld gezogen. Die Räume waren eng und dunkel. An den Fenstern hingen keine Gardinen. Der Wohnung fehlte jede persönliche Note. Sie war noch immer nicht in ihrem Leben angekommen. Seit dem Umzug musste sie täglich mit dem Auto zur Arbeit fahren, anstatt auf dem kurzen Fußweg mit Blick auf die umliegenden Berge vom Glockenberg in die Stadt zu schlendern. Ihr graute es schon vor dem Winter. Hier im Oberharz waren die Straßen dann oft unpassierbar.

Nach dem Überfall auf Hassan Sayed und sie sowie der Aufklärung des Mordes an Heinrich Voigt hatte sich die Entscheidung, im Harz zu bleiben, richtig angefühlt. Jetzt, fünf Monate später, hatte sie die Langeweile eingeholt. Es reichte ihr einfach nicht, Verkehrssünder aufzuschreiben und mal einen Diebstahl zu Protokoll zu nehmen.

Niklas stand auf und legte einen Arm um ihre Schulter.

»Wird schon wieder werden. Wir können ja mal gemeinsam Kartons auspacken. Aufregung hattest du früher genug.«

Sie zuckte mit den Achseln.

Er musterte sie von der Seite. »Tut mir leid wegen gestern. Aber dieses Volksmusikgedudel war megakrass. Ehrlich, Mutsch, der Typ nervt total.« Er senkte den Blick.

»Okay, dass mit der Musik verstehe ich. Das war wirklich keine gute Idee. Aber was hast du gegen Rolf?«

Gestern war sie mit Niklas und Rolf auf das Harzfest zum ›Tag der Deutschen Einheit‹ nach Thale gefahren. Jedes Jahr trafen sich an einem anderen Ort im Harz die Heimatvereine der verschiedenen Gemeinden, um die Wiedervereinigung zu feiern. Es gab ein traditionelles Fest mit Umzügen, Volksmusik und Trachtengruppen. Sicher nicht das Richtige für einen Dreizehnjährigen, der in Hannover aufgewachsen war.

Anfangs hatte sie das Gefühl gehabt, Niklas und Rolf würden sich in ihrer Ablehnung der Harzer Traditionen gegen sie verbünden, doch nach kurzer Zeit hatten die beiden sich ständig angegiftet wie zwei Amselmännchen im Frühlingsrausch. Schließlich war Rolf beleidigt abgedüst. Der verabredete gemütliche Abend fiel aus. Gedankenverloren spielte Carla mit ihrem Smartphone. Seit Rolfs Aufbruch herrschte Funkstille. Nicht mal einen Gute-Nacht-Gruß hatte er ihr geschickt. Das tat er sonst jeden Abend.

»Der macht total einen auf Kumpel und schleimt sich ein. Mir ist egal, mit wem du in die Kiste steigst, aber der soll nicht so tun, als würde er zu uns gehören.«

»Niklas!« Carla lief rot an. Sie hatte Rolf bei den Ermittlungen zu ihrem ersten Mordfall in Altenau kennengelernt. Er war Fanbetreuer bei den Eintracht-Braunschweig-Ultras. Über ihn hatte sie Kontakt zu Ulf Voigt aufgenommen, den sie lange verdächtigt hatte, seinen Großvater erschlagen zu haben. Sie waren schnell ein Paar geworden. Das musste Niklas akzeptieren. Schließlich traf er bei Paul, ihrem Ex-Mann und seinem Vater, ständig auf neue, sehr viel jüngere Freundinnen. Inzwischen war es bereits die dritte, wenn sie sich nicht verzählt hatte.

»Ist doch wahr!« Auch Niklas Wangen röteten sich. »Wir brauchen doch niemanden. Du hast doch mich!«

Carla wuselte ihm durchs Haar.

»Noch«, lächelte sie. »Aber es dauert nicht mehr lange, dann hast du eine Freundin und schaust deine alte Mutter nicht mehr an.«

»Sehe ich dann genauso bescheuert aus wie Tom gestern?« Niklas grinste.

»Was war mit Tom?«, erkundigte sich Carla, erleichtert über den Themenwechsel.

»Der ist die ganze Zeit hinter so einer aufgestylten Tusse hinterher. Beide in Tracht, sah echt goldig aus.« Niklas schüttelte den Kopf. »Dann ist sie mit einem anderen abgezogen und Tom sah aus wie ein begossener Pudel. Danach hat er ein Altenauer nach dem nächsten getrunken. Er hat heute bestimmt verschlafen.«

»Er wird doch jeden Morgen von seiner Mutter geweckt. Genau wie du!« Nun grinste Carla auch. »Okay, ich muss jetzt wirklich los«, beendete sie die Diskussion. »Räum den Tisch ab, bevor du gehst, und denk an die Hausaufgaben. Bis heute Abend.«

Sie griff nach ihrer Motorradjacke, warf einen letzten Blick auf ihr Smartphone, bevor sie es in ihre Jeanstasche schob, und verließ die Wohnung. Im Frühjahr würde sie sich endlich ein Motorrad kaufen. Dann würde wenigstens die Fahrt zu Arbeit Spaß machen.

* * *

Eine halbe Stunde später schloss Carla die Tür der Polizeistation in Altenau auf. Alles war still. Tom war tatsächlich noch nicht da und auch Gustav, der stundenweise im Revier aushalf, war nicht zu sehen. Der pensionierte, ehemalige Revierleiter kam meistens erst nach einem ausgiebigen Frühstück in der Bäckerei Moock und brachte Brötchen für das Mittagessen mit.

Carla zog die Motorradjacke aus und startete den PC. Sie hörte den Anrufbeantworter ab. Der Kollege aus Braunlage erinnerte sie an das Treffen der Dienststellenleiter am Nachmittag, Tom erklärte wortreich, dass er verschlafen hatte und heute später kommen würde. Ansonsten nichts.

Eigentlich ist es sinnlos, die Polizeistation überhaupt zu besetzen. Mein ganzes Leben ist sinnlos.

Sie scrollte durch ihre Mails, blickte immer mal wieder auf ihr Smartphone. Rolf meldete sich nicht. Vielleicht sollte sie ihn doch anrufen? Sie waren schließlich keine Teenager mehr.

Einen Augenblick später stürmte Tom herein.

»Guten Morgen. Tut mir wirklich leid. Gut, dass du schon da bist. War das nicht ein tolles Fest gestern in Thale?« Er strahlte. »Hast du den Wettbewerb im Peitschenknallen gesehen? Das war so knapp.« Er hielt Daumen und Zeigefinger eng beieinander. »Der Typ aus Hahnenklee war wirklich gut. Aber nicht gut genug für mich!« Seine Wangen färbten sich rot.

»Bist du wieder Meister geworden?«, heuchelte Carla Interesse.

»Ja, zum fünften Mal hintereinander. Deshalb habe ich heute Morgen auch den Wecker nicht gehört. Alle haben mir gratuliert und wollten mit mir anstoßen. Das war dann wohl ein Bier zu viel.« Er lächelte schief. »Hast du meinen Auftritt gesehen?«

Carla winkte ab.

»Tut mir leid. Wir sind früh weg. Niklas und Rolf ...« Sie zuckte mit den Schultern.

»Verstehen die beiden sich immer noch nicht?«

»Nee, die sind wie Hund und Katze.«

»Bestimmt sind sie eifersüchtig aufeinander«, meinte Tom. »Kann ich verstehen. Wenn meine Mutter ...«

In dem Moment klingelte das Telefon. Tom griff nach dem Apparat.

»Polizeimeister Tom Steiger, Polizeistation Altenau. Was kann ich für Sie tun?«

Immer, wenn Carla den Spruch hörte, kam sie sich vor wie in einem Callcenter.

Er lauschte, nickte mit dem Kopf, reckte die Faust in die Luft wie sicher gestern nach dem Gewinn der Meisterschaft und knallte das Telefon auf den Tisch.

»Einsatz«, erklärte er wichtig. »Eine Leiche an der Okertalsperre!«

»Eine Leiche? Hast du weitere Informationen? Wer war das am Telefon?«

»Das war Volker von den Forstarbeitern. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Sie haben eine Leiche gefunden, hat er gesagt. Sonst nichts. Bestimmt müssen wir wieder ermitteln.« Wie immer, wenn er aufgeregt war, sprach er zu viel und zu schnell.

Er griff nach seiner Dienstwaffe, die im Holster steckte und stürmte los.

Carla erhob sich, nahm ihre Waffe aus dem Schreibtischsafe, zog ihre Motorradjacke an und folgte ihm.

Typisch, dass er nicht nachgefragt hatte. Eine Leiche konnte alles Mögliche bedeuten. Ein Unfall, ein Suizid, ein Mord.

Am Dienstwagen holte sie ihn ein. Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

»Na, schauen wir mal besser, was da los ist, bevor wir Meyerding informieren. Leichen sind normalerweise eine Sache für die Kripo. Das weißt du doch«, bremste sie ihn.

»Altenau ist unser Revier. Hier ermitteln wir«, zitierte Tom Gustav und erinnerte Carla damit an den Mordfall Voigt im Frühjahr. Damals hatte sie sich mit Händen und Füßen gegen die Ermittlungen gewehrt. Heute verspürte sie fast ein wenig Vorfreude und Hoffnung. Vielleicht war es tatsächlich ein neuer Fall. Sie seufzte. Ein ungeklärter Todesfall ist nicht mehr meine Aufgabe, sondern die von Meyerding, ermahnte sie sich.

* * *

An der Zufahrt zur Okertalsperre stand ein Forstarbeiter und winkte mit beiden Armen.

»Das ist Volker!« Tom bremste den Polizeiwagen.

Auf Blaulicht und Sirene hatte er schweren Herzens verzichtet, nachdem Carla ihn darauf hingewiesen hatte, das bei Leichen grundsätzlich keine Gefahr in Verzug war.

Tom ließ die Autoscheibe herunter.

»Fahrt einfach immer geradeaus bis zum Holzlagerplatz. Dort könnt ihr parken. Das letzte Stück müsst ihr zu Fuß. Ich hoffe, ihr habt feste Schuhe an. Ist alles matschig nach dem Regen. Etwa hundert Meter weiter ist die Böschung abgerutscht. Da haben wir die Knochen gefunden.«

Tom fuhr die Scheibe wieder hoch und folgte dem Forstweg über das Wehr der Talsperre.

Carla runzelte die Augenbrauen.

»Knochen? Hast du nicht was von einer Leiche gesagt?«

»Doch, am Telefon hat er Leiche gesagt!«, versicherte Tom.

»Na, hoffentlich hat nicht jemand ein verendetes Reh verbuddelt«, murmelte Carla. Im gleichen Moment schämte sie sich. Ist mir schon so langweilig, dass ich mich über einen getöteten Menschen freue? Sie presste die Lippen zusammen.

Tom stoppte den Wagen und sie stapften durch den Matsch zu einer Gruppe Forstarbeiter, die schweigend vor einem Hangabrutsch standen.

»Guten Morgen. Carla Altmann und Tom Steiger von der Polizeistation Altenau. Was haben Sie denn nun gefunden?«

Die Männer traten zur Seite und gaben den Blick auf ein gut erhaltenes Skelett frei, das noch halb im Hang hing. Es war eindeutig menschlich. Aus den leeren Augenhöhlen des Schädels ringelte sich ein dicker Wurm, die Knochen waren bräunlich verfärbt.

Tom wurde blass und wandte sich ab.

Carla verstand ihn. Die Knochen im Morast, die verkrampfte Hand, die aussah, als würde sie sich in die feuchte Erde krallen, waren ein verstörender Anblick. Wer immer dieser Mensch einmal gewesen war, er wirkte im Tod verletzlich.

Sie griff nach Toms Arm. »Ruf Meyerding in Goslar an. Er soll kommen und die Spurensicherung mitbringen. Selbst hat sich sicherlich niemand hier im Hang vergraben. Einen Arzt brauchen wir nicht. Eine Todesursache kann er hier nicht mehr feststellen. Es ist besser, wenn du ihn anrufst«, fügte sie hinzu.

Sie verspürte nicht die geringste Lust, mit dem arroganten Kripobeamten aus Goslar zu sprechen. Außerdem war es gut, wenn Tom etwas zu tun hatte.

»Ich rede inzwischen mit den Forstarbeitern.« Sie überlegte kurz. »Und ruf Gustav an. Er soll das Revier besetzen, bis wir wieder da sind. Wer weiß, wie lange Meyerding uns hier beschäftigt. Aber quatsch nichts von Leichen, sonst weiß es gleich ganz Altenau. Erst mal sehen, was hier wirklich passiert ist.«

Tom entfernte sich ein paar Schritte und griff nach seinem Smartphone. Carla wandte sich an die Forstarbeiter.

»Erzählen Sie mal. Wie haben Sie das Skelett gefunden? Haben Sie irgendetwas Auffälliges bemerkt?«

»Durch den Regen in der letzten Woche ist der Hang abgerutscht. Ein Baum war auf den Weg gestürzt und wir wollten ihn heute freischneiden. Dann haben wir die Wurzel freigeschleppt und der Hang ist nachgerutscht. Da haben wir die Knochen gesehen und die Arbeit sofort eingestellt. Sonst war nichts. Wenn Sie mich fragen, das liegt schon ziemlich lange da. Vielleicht ein altes Grab.« Der Mann zuckte mit den Achseln. »Die Fichten hier sind etwa vierzig Jahre alt. So lange hat hier keiner mehr gebuddelt.«

»Danke. Bitte warten Sie, bis mein Kollege von der Kripo da ist. Bestimmt hat er noch ein paar Fragen.«

Carla trat näher an die Böschung und sank in die Knie. Die Stille des Waldes bedrückte sie plötzlich. Nicht einmal ein Vogel zwitscherte. Aus dem Boden stieg der Geruch von feuchter Erde auf. Einige Ameisen krabbelten über die verfärbten Knochen. Kurz schloss sie die Augen, wie immer, wenn sie an einen Tatort kam. Sie atmete tief ein und aus. Dann zog sie ihr Smartphone aus der Tasche und fotografierte den Fundort. Natürlich würden die Kollegen von der Technik später alles dokumentieren, doch ihre eigenen Fotos waren ihr im Laufe ihres Berufslebens zur Gewohnheit geworden.

Der Forstarbeiter hatte recht. Der oder die Tote musste bereits lange hier liegen. Das Skelett war intakt, was dafür sprach, dass die Leiche eingegraben worden war. Sonst hätten die Tiere des Waldes Knochen verschleppt. Damit schieden ein Unfall oder ein Suizid aus. Sie erkannte eine silberne Gürtelschnalle und aus dem Boden ragte etwas hervor, was aussah wie die Sohle eines Turnschuhes. Plastik zerfiel auch in hundert Jahren nicht. Die Spurensicherung würde viel zu tun haben. Die Bergung eines Skelettes war kompliziert. Ob die wenigen Gegenstände zur Identifizierung ausreichen würden, bezweifelte sie. Wenn sie die Liegezeiten kannten, könnten sie die Vermisstenfälle durchgehen. Vielleicht half das.

»Na, schon wieder über eine Leiche gestolpert!« Meyerdings Stimme dröhnte durch den stillen Wald. »Seit Sie hier sind, Frau Altmann, stapeln sich in Altenau die Leichen ja nur so. Und nun machen Sie Platz. Wir übernehmen! Warum ist die Fundstelle noch nicht ordentlich abgesichert?«

Meyerding schob sich an Carla vorbei, rempelte sie dabei an, sodass sie fast das Gleichgewicht verlor. Sein Gesicht glänzte und war rot angelaufen. Schon der kurze Fußweg hatte ihn zum Schwitzen gebracht. Schnell erhob sie sich. Das hatte gerade noch gefehlt, dass sie vor dem dicklichen Kommissar kniete. Ihr Blick blieb an seinem vorgewölbten Bauch hängen. Wie es aussah, hatte er seit ihrer letzten Begegnung weitere Kilos zugenommen.

»Guten Morgen Herr Kriminaloberkommissar Meyerding.« Sie betonte seinen Dienstgrad, der für einen Kommissar kurz vor der Pensionierung viel zu niedrig war. »Lange nicht gesehen. Spuren gibt es sicher nur im direkten Umfeld des Skeletts.«

Meyerding winkte ab und warf einen Blick auf den abgerutschten Hügel.

»Und dafür rufen Sie uns! Vielleicht so ein armer Kerl von den Todesmärschen damals«, spielte er auf ihren letzten gemeinsamen Fall an. »Nichts für die Mordkommission, aber bestimmt etwas für eine gelangweilte ehemalige LKA-Ermittlerin.« Er grinste.

»Müller, guck mal. Ein altes Grab!«

Meyerdings Kollege trat heran.

»Schön, dass Sie nicht nach Hannover zurückgekehrt sind.« Er lächelte und reichte Carla die Hand. »Wie geht es denn Dr. Sayed? Ist er noch in Altenau?«, fragte er.

»Hallo Herr Müller. Ich freue mich auch, Sie zu sehen. Dr. Sayed hat sich gut von dem Angriff erholt. Sein Forschungssemester in Deutschland ist vorbei. Er ist im September weiter nach Großbritannien. Dort hat er seinen nächsten Lehrauftrag.« Carla lächelte. »Können Sie an dem Skelett etwas erkennen? Gebrochene Knochen, irgendetwas, was auf die Todesursache hindeutet?«

Müller trat näher an die Fundstelle heran. Gemeinsam beugten sie sich über das Skelett.

Meyerding watschelte zu Tom und Carla hörte, wie er ihn barsch mit der Absicherung des Hanges beauftragte.

»Ich kann nichts erkennen«, erklärt Müller nach einiger Zeit. »Vielleicht können die Kollegen der Spurensicherung ja noch etwas entdecken. Dann gehen die Knochen in die Rechtsmedizin. Die Techniker sollen sich den ganzen Bereich mal ansehen. Mit etwas Glück finden sie ja etwas, was uns bei der Identifizierung hilft. Was meinen Sie, wie lange liegt das Skelett schon hier?«

»Der Forstarbeiter sagt, die Bäume hier sind vierzig Jahre alt. Meyerding tippt allerdings auf den 2. Weltkrieg.«, fügte sie spöttisch hinzu.

»So lange liegt das da bestimmt nicht«, mischte sich einer der Waldarbeiter ein. »Dann hätten sie das Skelett bei den Bauarbeiten zur Talsperre gefunden.«

Carla nickte. »Und wo führt der Weg hin?« Sie deutete auf den schmalen Waldweg, der sich am Ufer eines kleinen Baches tief durch die Bäume schlängelte.

»Etwa drei Kilometer von hier liegt ein altes, verlassenes Anwesen. Das war während der Nazizeit ein Erholungsheim und später war da eine Irrenanstalt drin. Das steht aber schon lange leer. Schon seit dem letzten Jahrhundert, soviel ich weiß. Die Autozufahrt erfolgt über einen Stichweg von der Bundesstraße.«

»Danke!« Carla lächelte. »Ich glaube, Sie und Ihre Kollegen können jetzt Feierabend machen. Die Kollegen haben bestimmt länger zu tun.«

»Feierabend wäre schön«, grummelte der Mann. »Die nächsten umgestürzten Bäume warten schon. Die kranken Fichten fallen im Wind um wie Streichhölzer.«

Er sammelte Stricke und Werkzeuge auf, die noch auf dem Weg lagen, und rief seine Kollegen zusammen. Kurz darauf ertönten laute Rufe und das Kreischen einer Säge.

Inzwischen war das Team der Spurensicherung eingetroffen. Meyerding wandte sich an Carla: »Zeigen Sie den Kollegen von der Technik das Skelett. Im Gegensatz zu Ihnen haben wir viel zu tun. Oder müssen Sie noch dringend ein paar Falschparker aufschreiben? Zu irgendetwas müssen die kleinen Polizeistationen ja nützlich sein.« Er klopfte Carla jovial auf die Schulter. Sie schüttelte sich kurz. Müller lächelte ihr zu und zuckte mit den Achseln.

Die Spurensicherer hatten inzwischen ihre weißen Overalls übergezogen und warteten auf ihren Einsatz. Carla begleitete sie zurück zum Fundort. Nach einer kurzen Einweisung durch den Leiter des Teams entfernten sie vorsichtig die dunkle Erde von den Knochen. Jeder Arbeitsschritt wurde fotografiert. Carla beobachtete sie genau, doch es sah nicht so aus, als würden sie etwas Wichtiges entdecken. Niemand sprach mit ihr und sie war sich selten so überflüssig vorgekommen.

Sie warf einen letzten Blick auf das Skelett. Ich finde heraus, wer du bist und was mit dir geschehen ist, versprach sie lautlos.

Sie stapfte durch den Matsch zurück zu Tom.

Er stand rauchend neben dem Dienstwagen und wackelte von einem Fuß auf den anderen.

»Lass uns fahren. Vielleicht weiß Gustav etwas, was bei der Identifizierung hilft. Schließlich war er sein Leben lang Polizist in Altenau.«

* * *

In der Polizeistation wartete Gustav sehnsüchtig auf die beiden. Er saß an Carlas Schreibtisch. Sein Gesicht mit dem gepflegten grauen Bart strahlte. Vor ihm standen ein Pott Kaffee und ein Tablett mit Mettbrötchen. Am Rand lag ein einsames Brötchen mit einer Käsescheibe, die sich bereits wellte.

»Na ihr zwei! Haben wir endlich einen neuen Fall?«

Tom nickte aufgeregt, Carla schüttelte den Kopf.

»Wenn, dann hat der Meyerding einen Fall.«

»In Altenau ermitteln wir. Das ist unser Revier!« Tom und Gustav protestierten gleichzeitig.

»Ehrlich, Leute.« Carla verdrehte die Augen. »Noch ist das gar kein Fall. Ein Skelett und keine weiteren Spuren. Das ist erst mal eine Aufgabe für die Techniker. Wer weiß, wie lange die Leiche da schon liegt.«

Tom griff nach einem Mettbrötchen. »Aber wenn die Ergebnisse der Spurensicherung vorliegen, dann können wir ermitteln.«

Carla hockte sich auf die Kante ihres Schreibtisches. Gustav machte keine Anstalten, aufzustehen. Für einen dritten Arbeitsplatz war das Büro zu klein. Der ehemalige Revierleiter setzte sich immer wie selbstverständlich an ihren Tisch. »War ja mal meiner«, hatte er gemurmelt, als sie ihn einmal darauf angesprochen hatte.

»Mich interessiert in erster Linie, wer das war. Jeder Mensch ist eine kleine Welt und wenn jemand einfach verschwindet, dann bricht diese Welt zusammen. Bestimmt gibt es Menschen, die ihn vermissen. Die hoffen, die bangen, die sich einfach fragen, was damals geschehen ist.« Carla spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken rieselte. Schon immer fühlte sie sich den Toten verpflichtet.

»Wir wissen ja noch nicht mal, ob es eine Frau oder ein Mann war«, platzte es aus Tom heraus. »Das konnte man an den Knochen nicht erkennen. Vielleicht war es eine Frau und irgendwo lebt noch ein Kind, das seine Mutter vermisst.« Er schwieg betroffen.

»Das erkennen die Rechtsmediziner ziemlich schnell anhand des Knochenbaus. Und dann werden die alten Vermisstenfälle gesichtet. Mit Hilfe eines DNA-Abgleichs sollte es möglich sein, die Leiche zu identifizieren, wenn sie einen Anhaltspunkt haben. Aber das dauert.«

»Nun erzählt doch erst mal, was da oben überhaupt passiert ist. Ich verstehe gar nichts.« Gustav blickte von Carla zu Tom.

Bevor Carla antworten konnte, schilderte Tom ausführlich den Fund des Skeletts.

»Also haben wir einen Mordfall«, schloss er seinen Bericht.

»Wieso meinst du, es war Mord?«, brummelte Gustav. »Vielleicht war es einfach ein Unfall oder ein Selbstmord.«

Carla schüttelte den Kopf.

»Mord oder Totschlag oder vielleicht auch Körperverletzung mit Todesfolge, was weiß ich. Eine natürliche Todesursache können wir ausschließen. Niemand buddelt sich selbst ein. Sag mal, Gustav, erinnerst du dich an einen Vermisstenfall aus den letzten Jahren. Oder sonst etwas Außergewöhnliches?«

Er schüttelt den Kopf, ohne nachzudenken, und lief rot an.

»Nun überlegt doch mal. So viele Vermisste kann es hier doch nicht gegeben haben.«

»Bevor du hergekommen bist, ist hier nie was passiert.« Er stand auf und griff nach seiner Zeitung.

Carla holte tief Luft. Er hörte sich an wie Meyerding. Was sollte das? Erst war er ganz aufgeregt, weil es womöglich einen neuen Fall gab, und jetzt diese Reaktion?

»Nun setz dich wieder hin. Du arbeitest hier, schon vergessen?«, sagte sie barscher als beabsichtigt. »Weißt du etwas über dieses Heim, von dem Volker erzählt hat? Ich kenne hier nur das alte Schullandheim auf dem Berg.«

»Das war bis Mitte der 90er Jahre ein Kinderheim«, brummte Gustav.

»Und warum sprachen die Waldarbeiter von einem Irrenhaus?«

»Na ja ...« Er senkte den Blick. »Die Kinder da, die waren halt nicht normal. Auffällig irgendwie. In den Ort sind die nie gekommen. Das war eine Welt für sich da oben.«

Er wandte sich zur Tür. »Ich mache Feierabend für heute. Ich habe genug Überstunden.« Er nickte Tom zu und verschwand. Die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloss.

»Was war das denn?« Carla schaute ihm nach.

Tom seufzte. »Manchmal ist er so. Das kenne ich noch von früher. Vielleicht geht es ihm nicht gut. Du weißt doch, er hatte schon mal einen Herzinfarkt.«

Carla schüttelte den Kopf. Das war bestimmt nicht das Herz. Der Stimmungsumschwung war gekommen, als sie ihn nach den Vermisstenfällen gefragt hatte. Sie würde mal unter vier Augen mit Gustav reden. Gab es da etwas in der Vergangenheit, das ihnen helfen konnte, die Identität des Skeletts zu klären? Aber warum reagierte er dann so empfindlich?

»Tom, kannst du mal in den alten Akten nach ungeklärten Vermisstenanzeigen gucken. Vielleicht findest du was. Und recherchiere mal zu dem Kinderheim. Ich kann mich an kein Heim erinnern. Recherche ist wirklich deine Stärke«, fügt sie hinzu. Sie sollte ihre Mitarbeiter öfter loben, fiel ihr ein. Vielleicht war Gustav deshalb so empfindlich. Weil sie die beiden zu selten lobte.

Toms Wangen färbten sich rot. »Und was machst du?«

»Ich fahre nach Braunlage zur Dienstbesprechung und anschließend gleich nach Hause. Heute können wir sowieso nichts mehr ausrichten. Erstmal muss die Spurensicherung mit ihrer Arbeit fertig sein und dann müssen wir irgendwie die Ergebnisse bekommen. Meyerding sagt uns bestimmt nichts.«

»Wir ermitteln also wieder?« Tom strahlte.

»Mal sehen!« Carla griff nach ihrer Motorradjacke »Ohne uns schafft Meyerding das sowieso nicht.« Sie grinste.

* * *

Tom schnitt ein großes Stück von seinem Jägerschnitzel ab und schob es in den Mund. Er hatte den ganzen Nachmittag vor dem Computer gesessen und recherchiert. Er wollte Carla unbedingt beweisen, wie gut er war. Allerdings hatte er nicht viel gefunden. Dabei hatte er völlig vergessen, wie üblich nachmittags Verkehrssünder aufzuschreiben und sich auf diesem Weg ein Stück Kuchen zum Kaffee zu holen. Dementsprechend hungrig war er.

»Nun schling doch nicht so, Junge.« Seine Mutter warf ihm einen strengen Blick zu.

Tom kaute und schluckte. Er griff zum Glas Altenauer Dunkel und spülte den Rest des Schnitzels hinunter.

»Entschuldigung. Sagt mal, wisst ihr etwas über das Kinderheim auf der anderen Seite der Okertalsperre?« Er blickte abwechselnd seine Mutter und seinen Vater an. Die beiden waren immer gut informiert und wussten einfach alles. Das war jedenfalls seine Erfahrung.

»Das ist doch schon lange geschlossen.« Bernd Steiger griff zu seinem Bierglas. »Zum Glück«, fügte er hinzu. »So toll war das da wohl nicht.«

»Was weißt du denn darüber?« Tom sah seinen Vater an.

»Viel nicht. Da wurde nicht drüber gesprochen. Und gesehen hat man von den Kindern auch selten etwas. Das meine ich ja. Die waren da oben total isoliert. Die Kinder waren wohl irgendwie behindert. Aber deshalb musste man sie doch nicht einsperren.« Er schüttelte den Kopf. »Zum Glück ist das heute anders. Warum fragst du?«

»Volker und die Forstarbeiter haben hinter dem Holzsammelplatz bei Aufräumarbeiten ein Skelett gefunden. Carla meint ...«

»Wie schrecklich!«, unterbrach ihn seine Mutter. »Und das war eines von den Kindern?«

Tom zuckte mit den Achseln.

»Das wissen wir noch nicht. Die Leiche muss erst identifiziert werden. Aber bei den Vermisstenfällen habe ich niemanden gefunden.« Er seufzte und schnitt ein weiteres Stück von seinem Schnitzel ab. Er hatte wirklich Hunger.

»Also ermittelt ihr wieder?« Bernd Steiger beugte sich vor.

Tom spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Warum hatte er nur immer das Gefühl, sein Vater würde ihn nicht ernst nehmen. Oder war er wirklich an der Antwort interessiert?

»Na ja, eigentlich ist das wieder Meyerdings Fall.« Er richtete sich auf. »Aber der ist ja ein bisschen dösig. Carla kann das viel besser.«

»Frag doch mal Gustav. Ich weiß, dass es damals ein paar Anzeigen gab. Daran müsste er sich erinnern. Das war eine ziemliche Aufregung.«

Tom stutzte. Warum hatte sein alter Chef das nicht erzählt? Er war überhaupt plötzlich komisch gewesen. Er schob schnell ein weiteres Stück Schnitzel in den Mund.

»Keine Ermittlungen am Abendbrottisch«, rettete ihn seine Mutter. »Das war damals bei den Ermittlungen zum Tod von Heinrich Voigt so und das gilt auch heute. Wer war eigentlich die junge Frau, mit der du dich auf dem Harzfest so lange unterhalten hast?«, wandte sie sich an Tom. »Sie sah nett aus. Siehst du sie wieder?«

Tom verdrehte die Augen. Keine Ermittlungen am Abendbrottisch hätte er am liebsten gebrüllt. Er schob den Teller zurück. Der Appetit war ihm vergangen.

* * *

»Hallo, ich bin wieder da!« Carla hängte ihre Motorradjacke an die Garderobe im Flur. Sie wackelte verdächtig. Sie musste sie endlich richtig befestigen und die Kartons auspacken. Vielleicht sollte sie am Wochenende mal nach Goslar fahren und Dekoartikel für die Wohnung kaufen. Aber ob das wirklich Sinn machte? Selbst die Kissen und Kerzen, die sie im Frühjahr in einem der kleinen Lädchen gekauft hatte, waren noch eingepackt. Am besten, sie rief nachher ihre Freundin Martina an. Sie hatten sich lange nicht gesehen. Mit Glück hatte sie am Wochenende frei und konnte sie begleiten. Anschließend könnten sie in Ruhe ein Glas Wein trinken. Seit sie mit Rolf zusammen war, hatte sie ihre Freundschaft vernachlässigt.

»Hey Mutsch.« Niklas stecke den Kopf aus seiner Zimmertür. »Simon ist da. Wir machen Hausaufgaben.«

Es piepte kurz, dann ein unterdrückter Schrei von Simon. Niklas schloss schnell die Tür.

Carla lächelte. Nach Hausaufgaben hörte sich das nicht an. Wahrscheinlich daddelten die beiden am Computer. Niklas war gut in der Schule, selbstständig, und für sein Alter zuverlässig. Sie war froh, dass sich das Verhältnis zu ihrem Sohn in den letzten Monaten verbessert hatte. Das würde sie nicht aufs Spiel setzen. Nicht wegen eines heimlichen Computerspiels und nicht für Rolf.

Sie kochte sich einen Kaffee und setzte sich an den Esstisch im Wohnzimmer. Die Herbstsonne schien durch das Fenster, das dringend geputzt werden musste. Sie vermisste den Balkon der Ferienwohnung in Altenau. Wie gerne hätte sie in der Sonne gesessen und in Ruhe eine Zigarette geraucht. Oder sie wäre zum Hüttenteich gewandert, um den Kopf klar zu bekommen. Ihre Gedanken wirbelten nur so durcheinander.

Wer war die Leiche an der Okertalsperre? Warum hatte Gustav so komisch reagiert? War sie schon so gelangweilt, dass sie versuchte, einen Fall zu konstruieren, wo es keinen gab? Und was war mit Rolf? Hatte ihre Beziehung überhaupt eine Chance, wenn Niklas ihn ablehnte?

Sie zog das Smartphone aus ihrem Rucksack. Während der Besprechung in Braunlage hatte sie es abgestellt und bisher nicht wieder eingeschaltet. Sie gab die PIN ein. Eine Nachricht. Sie öffnete WhatsApp. Paul sagte das Vater-Sohn-Wochenende ab. Gefühlt zum hundertsten Mal. Bestimmt hatte er eine neue Freundin. Sie hatte sich so auf ein paar ungestörte Tage mit Rolf gefreut.

Sie schleuderte das Handy auf den Tisch, sammelte es aber gleich wieder auf. Das war doch zu blöd. Sie war kein dummer Teenager mehr. Sie würde Rolf anrufen und die Sache mit dem missglückten Harzfest klären. Anschließend würde sie mal wieder so richtig lange mit Martina quatschen.

Sie suchte Rolfs Nummer in ihren Kontakten. Sein Foto lächelte ihr entgegen und kurz träumte sie von seinen grünen Augen, die dem Hüttenteich im Sommerlicht glichen. Sie drückte auf die Wahltaste. Schon nach dem zweiten Klingeln hörte sie seine Stimme, die sie an einen dicken, gemütlichen Bären erinnerte, obwohl Rolf dünn und sportlich war.

»Hallo Carla, wie schön, dass du anrufst. Ich habe den ganzen Tag an dich gedacht. Ich vermisse dich.«

Eineinhalb Stunden später zuckte sie zusammen, als Niklas die Tür öffnete.

»Mutsch, was gibt es heute zu essen? Wir haben Hunger. Kann Simon zum Abendessen bleiben?«

Sie verabschiedete sich schnell von Rolf. Sie würden sich am Wochenende treffen, gemeinsam durch Goslar bummeln und er wollte ihr sogar beim Renovieren der Küche helfen. Vielleicht hatte Niklas Lust, am Wochenende bei Simon zu übernachten. Sie spürte die Schmetterlinge in ihrem Bauch flattern, genau wie zu Beginn ihrer Beziehung.

»Kommt mit in die Küche. Wir machen uns Kraut und Rüben. Ihr könnt helfen, dann geht es schneller.«

Niklas grinste. Kraut und Rüben war ein improvisiertes Abendbrot mit allem, was sie in der Küche fanden. Meistens schmeckte es hervorragend.

Nach dem Essen verabschiedete sich Simon. Niklas verschwand in seinem Zimmer. Wahrscheinlich machte er jetzt wirklich Hausaufgaben. Carla begann einen der Kartons auszupacken. Sie summte leise vor ich hin. Den Anruf bei Martina vergaß sie.

Donnerstag, 5. Oktober

Tom stürmte in die Polizeistation und wedelte mit der Regionalzeitung.

»Der Skelettfund ist auf der ersten Seite!«

Carla blickte auf. Sie brütete seit einer Stunde über dem Budget für das nächste Jahr und überlegte, wie sie Gustavs Stelle weiter begründen könnte.

»Was schreiben sie denn? Hat Meyerding wieder etwas ausposaunt? Waren es wieder die Flüchtlinge?«

Im Mai hatte er erst pauschal alle Flüchtlinge verdächtigt und dann Carlas Nachbarn Hassan Sayed verhaftet. Auch Carla hatte lange gebraucht, um die wahren Zusammenhänge zu durchschauen.

»Ist nur eine kleine Notiz«, gab Tom zu. »Also nichts Genaues. Bloß dass bei Waldarbeiten ein Skelett gefunden wurde. Weißt du schon was Neues?«

Carla schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nichts gehört. Mal sehen, was Gustav sagt, wenn er kommt. Bestimmt wimmelt es im Ort nur so von Gerüchten. Hoffentlich ist er nicht wieder so komisch.«

»Er müsste eigentlich etwas wissen. Mein Vater hat gestern Abend erzählt, dass es öfter Anzeigen und Probleme mit dem Kinderheim gegeben hat.«

Tom berichtete, was er von seinen Eltern erfahren hatte.

Carla seufzte. »Bisher wissen wir gar nichts. Ich glaube nicht, dass es sich um ein Kinderskelett handelt. Für mich sah es nach einem erwachsenen Menschen aus.« Sie rieb sich die Wange und griff zum Telefon. »Ich rufe in Goslar an, auch wenn es mir schwerfällt. Spekulieren hilft uns nicht weiter. Mit Glück liegen die Ergebnisse der Spurensicherung schon vor. Bei so einem weit zurückliegenden Fall helfen nur technische Beweise. Ich versuche es erst mal bei Müller.«

Kurzentschlossen wählte sie die Nummer, doch der Kollege ging nicht ans Telefon. Also blieb ihr nichts anderes über, als Meyerding direkt anzurufen. Es klingelte endlos. Gerade als sie auflegen wollte, dröhnte die Stimme des Oberkommissars durch den Hörer.

»Hallo Frau Altmann. Sie sind wohl neugierig?«

Wie immer sprach er sie nicht mit ihrem Dienstrang an.

»Guten Morgen Herr Kriminaloberkommissar. Hier ist Kriminalhauptkommissarin Altmann«, entgegnete sie und kam sich dabei lächerlich vor. Warum lasse ich mich nur ständig auf seine Spielchen ein?

Tom verdrehte die Augen.

»Sie haben recht. Ich bin neugierig«, fügte sie hinzu. »Gibt es schon Ergebnisse zum Skelettfund?«

Meyerding stöhnte betont laut. »Weil Sie es sind und es bei Ihnen im Bezirk passiert ist. Die Techniker haben alles gründlich abgesucht, aber nichts Nennenswertes gefunden. Der Rechtsmediziner hat schon einen Blick auf das Skelett geworfen. Warten Sie, die Ergebnisse sind gerade gekommen.«

Carla hörte Papier rascheln. Meyerding hatte den Bericht natürlich ausgedruckt. Sie sah Tom an, legte die Finger auf die Lippen und stellte den Lautsprecher des Telefons an.

»Es handelt sich um das Skelett einer jungen Frau oder eines jungen Mädchens. Auf das Alter wollte er sich noch nicht festlegen. Die Liegezeit beträgt mindestens zehn Jahre, höchstens 30. An den Knochen gibt es keine Verletzungen. Die Todesursache ist somit nicht mehr festzustellen.«

Er schnaubte.

»Und was werden Sie jetzt tun?«, fragte Carla, als Meyerding schwieg.

Er lachte auf. »Nichts werde ich tun. Nur weil Sie in Altenau plötzlich über Leichen stolpern, muss ich nicht gleich springen. Nichts spricht für ein Verbrechen. Es gibt nicht den geringsten Ansatzpunkt. In Hannover haben sie eine neue Abteilung für Cold Cases gegründet. Die können sich damit beschäftigen. Vielleicht haben sie dort ja auch eine Stelle für eine ehemalige LKA-Ermittlerin mit Langeweile.« Er klang spöttisch.

Carla schluckte. Bloß nicht reagieren. Darauf wartet er ja nur. »Haben Sie die Vermisstenfälle des betreffenden Zeitraums durchgesehen?«

Meyerding prustete. »Wissen Sie, von wie vielen Jahren wir da sprechen? Und wer weiß, woher die Frau kam. Der Harz ist Tourismusgebiet. Vielleicht stammte sie auch aus der ehemaligen DDR. Was weiß ich denn! Ich will es gar nicht wissen. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich genug zu tun.«

Carla hörte wieder Papier rascheln.

»Auf Wiedersehen, Frau Altmann.«

Bevor sie etwas erwidern konnte, wurde die Verbindung unterbrochen.

»So ein fauler Hund!« Toms Wangen färbten sich rot. »Das war doch mal ein lebendiger Mensch. Da gibt es doch Angehörige und Freunde. Auf den Grabstein muss doch ein Name.«

Carla unterdrückte ein Lächeln. Das mit dem Grabstein war mal wieder typisch für Tom. Ansonsten sprach er ihr aus der Seele.

»Hast du gestern noch etwas herausgefunden?«

Tom schüttelte den Kopf.

»Ich mache gleich weiter. Ich habe bisher nur die Vermisstenanzeigen der letzten zehn Jahre durch. Nun weiß ich ja, dass ich viel länger zurück muss. Eine Zusammenfassung über das Kinderheim habe ich ausgedruckt. Aber das sind nur Zahlen und Fakten. Bestimmt gibt es auch Berichte ehemaliger Heimkinder im Netz. Das Thema ist ziemlich aktuell, habe ich gemerkt. Liegt alles in der Mappe auf deinem Schreibtisch.«

Er startete seinen PC. »Und wer schreibt heute die Falschparker auf?«

»Das kann warten. Genauso wie das Budget.« Sie griff nach der Mappe.

Tom strahlte sie an. »Dann ermitteln wir also wieder?«

Carla schmunzelte. »Wenn sich sonst keiner um die junge Frau kümmert, bleibt uns ja nicht anderes übrig.«

* * *

Annelie Meyer drücke den roten Hörer auf ihrem Smartphone. Minutenlang starrte sie auf den vor ihr liegenden Zettel. Er war mit Kreuzen übersät. Dazwischen tauchte mehrmals der Name ›Sabine‹ auf, mal groß, mal klein, immer wieder durchgestrichen.

Gedankenverloren hatte sie während des Telefonats mit ihrer Mutter auf dem Zettel gekritzelt. Dabei hatte scheinbar ihr Unterbewusstsein den Stift geführt. Konnte das wirklich sein? War Sabine wieder aufgetaucht? Nach so vielen Jahren? Ein Schauer rann ihr über den Rücken und sie fröstelte. Tränen liefen über ihre Wange. Mit einer ruckartigen Bewegung rieb sie sie weg.

Sie öffnete auf ihrem Smartphone die Homepage der Regionalzeitung. Sicher hatte die Zeitung über den Skelettfund berichtet. Viel passierte ja nicht in Altenau.

Seit Mai hatte sie ihre Eltern nicht wieder besucht. Obwohl sie sich damals ausgesprochen hatten, stand die Vergangenheit wie eine undurchdringliche Wand zwischen ihnen. Sie telefonierten regelmäßig, sprachen jedoch nur über Belanglosigkeiten. Wie über einen Fund an der Okertalsperre, der gar nicht belanglos war.

Ungeduldig trommelte Annelie mit den Fingern auf die Tischplatte. »Nur für Abonnenten«. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Kurzentschlossen schloss sie ein Probe-Abo ab. Die Seite öffnete sich. Links unten in der Ecke fand sie die kleine Notiz. Sie knallte das Smartphone auf den Tisch. Hier stand nicht mehr, als ihre Mutter ihr bereits erzählt hatte.

Sie erhob sich und wankte in die Küche. Inzwischen strömten die Tränen wie ein Gebirgsbach über ihr Gesicht. Plötzlich war die Zeit im Kinderheim wieder ganz nah. Sie hörte das Weinen der kleinen Kinder, die Schreie der Erzieher, roch den verkochten Kohl. Sabine sah sie an, die blauen Augen weit aufgerissen, die Hände auf dem deutlich vorgewölbten Bauch. Ihr Mund bewegte sich und Annelie vermeinte, ein Flüstern zu hören.

Du musst mein Kind finden. Du musst es beschützen. Das hast du mir versprochen!

Klirrend fiel die Kaffeetasse zu Boden. Annelie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie zitterte am ganzen Körper. Wann würde sie endlich aus diesem Alptraum erwachen? Sie atmete zehn Mal langsam tief ein, hielt die Luft an und stieß sie dann ruckartig wieder aus, wie sie es in der Therapie gelernt hatte. Sie fegte die Scherben zusammen und warf sie in den Mülleimer.

Als sie sich etwas beruhigt hatte, ging sie ins Bad und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Hinterher schrubbte sie ihre Hände, bis sie sich rot verfärbten und brannten. Sabine hatte recht, sie hatte es versprochen, aber sie hatte dreißig Jahre nichts unternommen. Was war sie nur für eine Freundin? Es wurde Zeit, dass sie sich der Vergangenheit stellte.

Sie musste herausfinden, ob es sich bei dem Skelett wirklich um Sabine handelte. Das war das Wichtigste. Es gab nur eine Person, die ihr dabei helfen konnte. Sie griff nach ihrem Smartphone und öffnete die Kontaktliste. Schnell hatte sie die Nummer von Carla Altmann gefunden.

* * *

Carla pfefferte den Kugelschreiber, mit dem sie auf einem Blatt Schmierpapier die Budgetplanung für die Polizeistation zum gefühlt hundertsten Mal umgestellt hatte, gegen die Wand. Wie sie diesen Bürokram hasste! Noch ein Grund mehr, Gustav weiter zu beschäftigen. Das war eine wunderbare Aufgabe für ihn. Aber dafür musste sie woanders sparen. Der Etat war einfach zu gering für eine dritte Stelle. Und wenn sie nur noch Teilzeit arbeiten würde? Etwas weniger Parksünder aufschreiben, käme ihr gerade recht. Aber wie sollte sie dann ihre Miete bezahlen? Sie stöhnte laut. Tom reagierte nicht. Er starrte schon die ganze Zeit regungslos auf seinen Bildschirm. Nur ab und zu klackerte seine Tastatur. Er spielte doch nicht etwa wieder Solitäre?

Carla erhob sich und sammelte den Stift auf. Sie zerriss den Zettel und öffnete das Mailprogramm ihres Computers. Vielleicht gab es Neuigkeiten zum Skelettfund. Sie klickte einige Mails an, alles Dienstanweisungen, Zahlen und Verlautbarungen. Nichts Wichtiges, nichts Neues.

Sie griff zum Telefon. Mit etwas Glück konnte ihr Frankie helfen, ihr ehemaliger Kollege beim LKA. Beim Mord an Heinrich Voigt hatte die Zusammenarbeit wunderbar geklappt. Frank hatte bestimmt Zugriff auf die bundesweiten Vermisstenfälle.

Er meldete sich erst nach dem achten Klingeln, als Carla bereits auflegen wollte. Unbewusst hatte sie mitgezählt. Mit dem Stift malte sie bereits wieder Kringel auf die Schreibtischunterlage.

»Was willst du?«, blaffte es aus dem Hörer.

»Hallo Frankie.« Sie kam sofort zur Sache. Scheinbar hatte Frank viel zu tun. »Ich brauche eine Suchabfrage über die Vermisstenfälle. Sagen wir mal die letzten 25 bis 35 Jahre, also nur die unaufgeklärten. Eine junge Frau so zwischen 15 und 25 Jahren. Wir haben eine unidentifizierte Leiche.«

»Ist dir langweilig oder was? Ich habe genug zu tun, auch ohne Hiwi-Dienste für eine winzige Polizeistation im Harz. Falls es dich interessiert: Karl Gundlach hat deine Stelle bekommen. Du wolltest ja unbedingt bei der Trachtentruppe versauern!«

Es klickte in der Leitung. Er hatte aufgelegt, ohne sich zu verabschieden.

Carla seufzte. Ausgerechnet Karl Gundlach, dieser Erbsenzähler. Kein Wunder, dass Frankie gestresst und sauer war. Aber noch lange kein Grund, sie so abzufertigen. Sie malte weinende Smileys auf die Schreibtischunterlage.

Wenn ich mich im Mai für meine alte Stelle entschieden hätte, bräuchte ich mich nicht in Altenau zu langweilen. Ich hätte Zugriff auf alle wichtigen Daten, könnte mit Frank und Martina in der Altstadt von Hannover mal schnell ein Bier trinken. Mein Leben wäre aufregend.

Sie rieb sich über die Augen. Ihr Leben war zu aufregend gewesen, gestand sie sich ein. Genau deshalb saß sie ja jetzt hier in Altenau. Aber es musste doch etwas dazwischen geben, zwischen Langeweile und Burnout. Es war sowieso fraglich, wie lange das Land Niedersachsen ihr noch diese Pause bewilligte. Vielleicht sollte sie häufiger in die Stellenausschreibungen schauen. Wann ging Meyerding eigentlich in Pension?

Sie strich ihr Gekritzel durch, griff nach ihrer Motorradjacke und stampfte zum Ausgang der Polizeistation.

Tom hob den Kopf und warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Was ist los?«

»Ich brauche frische Luft!«

Sie öffnete die Tür.

»Bringst du Mettbrötchen mit?«, rief Tom ihr hinterher.

Sie brummte zustimmend und knallte die Tür ins Schloss. Erst da fiel ihr auf, dass Gustav bisher noch nicht erschienen war. Zum ersten Mal, seit er die Teilzeitstelle angetreten hatte, war er nicht um kurz nach neun mit Brötchen für ein zweites Frühstück in der Polizeistation aufgetaucht. Irgendetwas war mit ihm. Wartete er auf die Zusage für das nächste Jahr oder lag es an dem Skelett? Verheimlichte er ihnen vielleicht etwas?

Sie marschierte zügig den Berg Richtung Bäckerei Moock hinauf, ging nach einem kurzen Blick in die Auslage daran vorbei und bog zum Waldschwimmbad Okerteich ab. Zum Glück war die Badesaison vorüber und der Teich lag einsam im Sonnenlicht. Endlich konnte sie wieder frei atmen. Sie setzte sich auf eine der vielen Bänke. Es raschelte im Unterholz und ein Pärchen Stockenten schwamm ruhig in der Teichmitte. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und schickte Rolf drei kleine Herzchen. Das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht.

Sie holte ihre Zigaretten heraus und hielt ihr Gesicht in die wärmende Herbstsonne. Sie atmete die würzige Waldluft ein. Die ersten Blätter färbten sich und die Feuchtigkeit aus dem Waldboden schwängerte die sonnenwarme Luft. Langsam erhob sie sich und schlenderte an der kleinen Oker zurück nach Altenau.

Auf dem Rückweg kaufte sie bei Moock zwei halbe Mettbrötchen für Tom und ein Frischkäsebrötchen für sich. Dabei sah sie sich aufmerksam im angrenzenden Café um. Keine Spur von Gustav. Er war doch nicht etwa krank?

Bevor sie die Verkäuferin fragen konnte, rief eine der Wollschwalben sie an den Tisch. Die Gruppe traf sich regelmäßig zum Handarbeiten in Moocks Café und Gustav genoss normalerweise die Nähe der älteren, gepflegten Damen, die ihre gestrickten Wollsachen für wohltätige Zwecke verkauften.

»Hallo Frau Altmann. Haben Sie einen Moment Zeit?«

Carla bezahlte die Brötchen und schlenderte mit dem Tablett nach hinten ins Café. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, regelmäßig angesprochen zu werden. Alle kannten sie, auch wenn sie selbst nur wenig Kontakte in Altenau hatte.

»Wissen Sie, was mit Herrn Oberhofer ist?« Die ältere Dame blickte sie erwartungsvoll an. »Er war den ganzen Tag noch nicht hier.«

Carla zuckte mit den Schultern.

»Im Revier war er auch nicht.«