Schicksalstage am Deich - Silke Mahrt - E-Book

Schicksalstage am Deich E-Book

Silke Mahrt

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Beschreibung

Zwei Frauen und ein Haus am Meer "Überraschend erbt Katharina eine Pension am Deich. Gegen den Willen ihrer Familie verwirklicht sie ihren Traum vom Leben am Meer. Doch schnell holt sie die Vergangenheit ein. Welches dunkle Geheimnis steckt hinter der Erbschaft? Wem kann sie noch vertrauen? Nur ihr Jugendfreund Ole unterstützt sie. Ein Buch über die Kraft der Liebe und die Sehnsucht nach dem Meer."

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Buchbeschreibung:

Zwei Frauen und ein Haus am Meer "Überraschend erbt Katharina eine Pension am Deich. Gegen den Willen ihrer Familie verwirklicht sie ihren Traum vom Leben am Meer. Doch schnell holt sie die Vergangenheit ein. Welches dunkle Geheimnis steckt hinter der Erbschaft? Wem kann sie noch vertrauen? Nur ihr Jugendfreund Ole unterstützt sie.

Ein Buch über die Kraft der Liebe und die Sehnsucht nach dem Meer."

Über die Autorin:

Silke Mahrt studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Braunschweig und Hamburg. Heute lebt, arbeitet und schreibt sie in Bad Oldesloe. Ihre Themen sind starke Frauen und gesellschaftliche Anforderungen, die das Leben jeder Einzelnen prägen.

Weitere Bücher von Silke Mahrt: "Das Leben ist kalt" BoD 2020, "Harzer Sühne" EPV 2023

www.silke-mahrt.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

5. Juli 1955

Kapitel 2

10. August 1957

Kapitel 3

5. August 1959

Kapitel 4

11. August 1961

Kapitel 5

8. November 1963

Kapitel 6

17. Mai 1964

Kapitel 7

20. September 1964

Kapitel 8

8. März 1965

Kapitel 9

6. März 1966

Kapitel 10

12. April 1968

Kapitel 11

3. Mai 1970

Kapitel 12

15. Juni 1973

Kapitel 13

Nachwort

1

Der Wind trieb Schaumflöckchen über das Watt. Sie tanzten, trudelten, verfingen sich in angespültem Tang und ballten sich an der Lahnung. Die Sonne spiegelte sich in den zurückgebliebenen Wasserpfützen, bis dunkle Wolken ihr Licht verschluckten. Die Möwen kreischten und eine Fahne knatterte im Sturm.

Katharina stand auf dem Deich und hielt ihr Gesicht in den Wind, der ihr die Tränen in die Augen trieb und an ihren Haaren zerrte. Es schien ihr, als wolle er sie vertreiben. Einer der letzten Frühlingsstürme brauste über das Land. Im Moment war Ebbe, doch in drei Stunden kam die Flut. Sie fröstelte.

Sie drehte sich um und ließ ihren Blick über das Landesinnere schweifen. Der Sturm drückte sie fast die Deichkrone hinunter, und kurz schwankte sie. Direkt vor ihr, nur durch eine schmale Straße vom Deich getrennt, lag die reetgedeckte Kate, umgeben von einem urwüchsigen Bauerngarten. Die Osterglocken bogen sich im Wind und kleine Zweige segelten von den Bäumen, die den Garten zum Schafstall hin abgrenzten. Die Schafe drängten sich aneinander und suchten Schutz vor dem Wetter. Etwas weiter in der Marsch lag die Deichschäferei von Ole. Auch hier schwankten die Bäume und Sträucher im Sturm. Obwohl es erst früher Nachmittag war, brannte im Stall Licht. Sicher versorgte er die neugeborenen Lämmer, die noch nicht mit an den Deich konnten. Katharina wandte sich ab und sah zurück auf das tosende Meer.

Eine Regenwolke flog in Windeseile heran. Ein Lamm rief verzweifelt nach seiner Mutter, die mit einem dunklen Blöken antwortete. Die Möwen verstummten, und die ersten dicken Tropfen zerplatzten auf dem Asphalt. Katharina zog die Jacke fester um ihre Schultern und eilte die Treppe hinab. Sie musste zurück ins Haus. Der Regen kam schnell.

Das Gartentor klapperte. Sie hatte mal wieder vergessen, es richtig zu schließen. Sofort hörte sie Femkes Stimme in ihrem Kopf:

Du bist am Meer, nicht mehr in Braunschweig. So eine Nachlässigkeit geiht hier nicht. Der Wind ist eine zerstörerische Kraft, min Deern. Das musst du lernen, sonst wird das hier nichts mit dir!

Sie schlüpfte durch das Tor und schob schnell den Riegel vor. Inzwischen peitschte ihr der Regen von allen Seiten ins Gesicht. Gebückt rannte sie zum Haus.

Sie öffnete die Haustür. Der Sturm riss ihr die Tür fast aus der Hand und fegte einige vergessene Herbstblätter in den Flur. Sie drückte die Tür zu und atmete die plötzliche Stille ein.

Sie zog ihre Gummistiefel aus und stellte sie auf die langgestreckte Schuhablage, auf der einsam ihre Turnschuhe standen.

Morgen, dachte sie, morgen geht es los. Dann füllt sich das Haus wieder mit Leben. Dann stehen hier viele Schuhe, große und kleine. Dann gibt es Kinderlachen und den Duft von frisch gebackenem Kuchen. Und nicht nur Femkes Schweigen.

Ein Schauer rann ihr über den Rücken.

Du stellst dir das alles viel zu einfach vor, min Deern. Du wirst schon sehen. Jeder Gast ist eine Last, raunte Femke ihr ins Ohr.

Katharina hängte die Jacke an die geräumige Garderobe und strich sich die verwehten Haare aus dem Gesicht. Ihre Frisur war unpraktisch für das Leben an der Küste.

Stopp, dachte sie. Du hörst dich genauso an wie Femke.

«Jetzt koche ich mir einen heißen Tee.» Ihre Stimme hallte durch den Flur. Sie schüttelte den Kopf. Nun sprach sie schon mit sich selbst. War sie wirklich so einsam? Sie gab sich einen Ruck. Es war noch so viel zu tun. Sie hatte keine Zeit für trübe Gedanken. Sie musste sich um die Gästezimmer kümmern und den Aufenthaltsraum herrichten. Femke kam erst morgen Nachmittag. Letzte Woche hatte sie aus heiterem Himmel verkündet, zu ihrer Freundin nach Niebüll zu fahren. Plötzlich stand Katharina mit den ganzen Vorbereitungen allein da, obwohl alles anders besprochen war.

Das Klingeln des Telefons durchbrach die Stille. Sie zuckte zusammen und fischte ihr Smartphone aus der Jackentasche.

«Moin. Pension Deichblick, Katharina Peters.»

«Hallo Mama. Hier ist Finn!»

Katharina lächelte, als sie die vertraute Stimme ihres Sohnes hörte.

«Jana und ich kommen Ostern doch nicht. Ihre Eltern haben uns zu einem Städtetrip nach Berlin eingeladen, First Class. Abends gehen wir ins Musical. Sie haben uns gestern mit den Karten überrascht.» Er redete schnell.

Katharinas Hände zitterten. Sie schluckte die aufsteigende Angst hinunter und räusperte sich.

«Aber Finn ...», begann sie.

«Mama, ich muss Schluss machen. Jana wartet. Ich melde mich.»

Er beendete das Gespräch, bevor sie noch etwas sagen konnte.

Ein Ring legte sich um Katharinas Brust. Sie atmete stoßweise ein und aus. Ein scharfer Pfeil bohrte sich in ihr Herz. Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Seit einem halben Jahr hatte sie ihre Kinder nicht mehr gesehen. Auch die Telefonate waren selten geworden. Nicht einmal Weihnachten hatten sie gemeinsam gefeiert. Sie besuchten sie nicht, und nach einigen vergeblichen Einladungen hatte sie Finn und Deetje auch nicht mehr gebeten, zu kommen. Sie lebten bei ihrem Vater in Braunschweig und studierten. Zumindest in den Semesterferien hätten sie sicher Zeit gehabt.

Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt und die Frühstückspension, die sie von ihrer Tante Elisabeth geerbt hatte, allein renoviert. Natürlich hatte sie Handwerker beauftragt, aber die liebevollen Kleinigkeiten, die die in die Jahre gekommene Pension zu etwas ganz Besonderem machen sollten, hatte sie selbst entworfen und gefertigt. Sie hatte alte Regale aus Trödelläden aufgearbeitet, Bilder neu gerahmt und in den vielen kleinen Läden an der Küste nach Dekorationsstücken gesucht. Wie gern hätte sie ihre Pläne mit jemandem besprochen, mit Finn über die richtige Holzbearbeitung gestritten, wäre mit Deetje auf Schatzsuche gegangen. Doch die Kinder mieden jeglichen Kontakt. So blieb ihr nur Femke, die bei jeder Idee, bei jedem neu erworbenen Schmuckstück mit dem Kopf schüttelte und unwillig brummte. Wie auch zu allen Umbaumaßnahmen.

Endlich hatte sie sich getraut. Zu Ostern hatte sie Finn und Deetje mit ihren Partnern eingeladen. Sie sehnte sich nach ihren Kindern, ihren Stimmen, ihrem lauten Lachen. Sogar der Streit zwischen den Geschwistern, über den sie sich immer so geärgert hatte, fehlte ihr. Und nun hatte Finn abgesagt.

Tränen schossen ihr in die Augen.

Hoffentlich kommen Deetje und Lennard, sprach sie ein stilles Gebet.

Sie ließ die Hände sinken und blickte in den Spiegel. Sie hob das Kinn und atmete tief ein. Es war so ungerecht. Jahrelang hatte sie alles für ihre Familie getan, ihre eigenen Bedürfnisse zurückgestellt. Jetzt saß sie mutterseelenallein hier in der Kate, feierte allein Weihnachten und nun auch noch Ostern. Sie knallte das Smartphone auf den kleinen Tisch im Eingangsbereich. Sie würde sich dadurch das Leben nicht vermiesen lassen. Sie hatte sich entschieden. Nicht gegen ihre Familie, aber für ihre Träume. Die Entscheidung war richtig gewesen.

Oder doch nicht? Egal, es gab keinen Weg zurück. Energisch machte sie sich auf den Weg in die Küche.

Sie setzte Wasser für ihren Tee auf und sank auf einen Stuhl am Küchentisch. Draußen schepperte es. Sie zuckte zusammen. Bestimmt hatte der Sturm einen der Gartenstühle umgeweht. Sie goss den Tee auf und wischte sich mit den Händen über das feuchte Gesicht. Tränen oder Reste des Regens?

Sie dachte zurück an den Tag vor fast einem Jahr, an dem alles begann.

Der Brief vom Amtsgericht Husum hatte ganz harmlos in der Post gelegen. Neugierig hatte sie ihn geöffnet, ohne zu ahnen, dass sich ihr gesamtes Leben verändern würde.

Ihre Tante Elisabeth war gestorben und hatte ihr die Pension am Deich vererbt. Die Nachricht war sachlich und nüchtern und brachte doch ihr ganzes Leben ins Wanken.

Niemand hatte es für nötig gehalten, sie über Elisabeths Tod zu informieren. Sie konnte nicht einmal zur Beerdigung gehen. Ihre Eltern hatten es bestimmt gewusst. Oder hatte ihre Mutter den Kontakt zur Schwester abgebrochen?

Katharina hatte die glücklichsten Tage ihrer Kindheit bei ihrer Tante im Haus am Deich verbracht. Als junge Frau flüchtete sie noch einmal für ein paar Wochen ans Meer zu Elisabeth, doch es kam zu einem furchtbaren Streit. Ihr Verhältnis veränderte sich, die bösen Worte ließen sich nicht mehr zurücknehmen. Sie telefonierten nur zu Weihnachten und zu Geburtstagen. Dann waren ihre Gespräche förmlich und plätscherten an der Oberfläche. Die alte Vertrautheit war vorbei. Und nun war Elisabeth gestorben, ohne dass sie noch einmal miteinander sprechen konnten.

Elisabeth betrieb die Pension mit acht Gästezimmern gemeinsam mit ihrer Freundin Femke. Katharina konnte nicht verstehen, warum ihre Tante nicht Femke als Erbin eingesetzt hatte. Wahrscheinlich verstand auch Femke es nicht. Sie war gleich nach dem Tod der Freundin nach Husum gezogen und hatte die Pension geschlossen. Nur widerwillig war sie zurückgekehrt, als Katharina sie bat, ihr zu helfen. Dabei hatte sich Elisabeth in einem letzten Brief, der dem Testament beilag, ausdrücklich gewünscht, dass Femke sie unterstützen sollte.

Katharina hatte das Schreiben des Amtsgerichts mehrmals gelesen. Schließlich hatte sie angerufen und der Nachlassverwalter hatte den Inhalt bestätigt. Erst da waren die Tränen gekommen.

An jenem Abend erzählte sie Ralf und den Kindern von der Erbschaft. Die drei planten sofort, welche Träume sie sich mit dem Verkaufserlös der Pension erfüllen konnten. Endlich eine Rundreise mit dem Wohnmobil durch die USA, ein Schwimmbad im Garten, ein neues Auto. Die Vorschläge prasselten wie Hammerschläge an Katharinas Ohr. Ralf, Finn und Deetje redeten durcheinander, übertrumpften sich mit immer bizarreren Ideen. Ein Flugschein, eine Safari, Studium im Ausland. Nach ihren Wünschen fragte niemand, keiner erkundigte sich nach Tante Elisabeth und was ihr Tod für sie bedeutete. Sie freuten sich nur über den plötzlichen Geldsegen. Es ging ihnen ausschließlich um das Geld, ihr Geld. Katharina stand wortlos auf und verschwand im Schlafzimmer.

Sie sank auf das Bett und verbarg ihr Gesicht in den Kissen. Sie lauschte. Noch immer redeten Ralf und die Kinder wild durcheinander. Niemand vermisste sie. Sie schluchzte, weinte um Elisabeth, aber auch um ihre Träume. Sie hatte so viel versäumt. Das spürte sie mit einem Mal überdeutlich. Das Leben war an ihr vorbeigezogen wie Wolken im Wind. Sie hatte von einem Haus am Meer geträumt, von einem eigenen kleinen Café. Stattdessen machte sie die Buchführung für einen Handwerksbetrieb, sie, die Zahlen immer gehasst hatte.

Nach einer Weile erhob sie sich und öffnete den Kleiderschrank. Ganz unten lag eine Blechdose, in der sie alle Schätze ihres Lebens gesammelte hatte. Muscheln, vom Meer geformte Steine, ihre wenigen Liebesbriefe, die ersten Haarsträhnen ihrer Kinder. Auf dem Boden der Dose lag ein Bild der Deichpension. Liebevoll strich sie mit den Fingern über das Foto, das irgendwann Ende der siebziger Jahre aufgenommen worden war. Tante Elisabeth stand in Kittelschürze mit Kopftuch vor der weiß gekalkten Kate und strahlte über ihr rundes Gesicht. Neben ihr saß ein Border Collie. Katharina überlegte. Ja, das war der alte Hütehund. Bobby hieß er, und sie hatte ihn über alles geliebt. In den Ferien hatte der Hund sie überallhin begleitet. Sie waren praktisch unzertrennlich gewesen, nachts hatte er am Fußende ihres Bettes geschlafen. Ihre Tante hatte den Arm um ein kleines Mädchen mit langen, weißen Kniestrümpfen und geflochtenen Zöpfen gelegt. Katharina lächelte. Wie glücklich sie auf dem Foto aussah. Ein winziges Lamm lag in ihren Armen und kuschelte sich eng an sie. Im Hintergrund war ein Junge mit blonden Locken und Schiffermütze zu sehen. Ole, der Freund ihrer Kindertage.

Das Foto hatte sie vergrößern lassen. Es hing jetzt über der antiken Bauernkommode im Eingangsbereich der Pension. Das Original stand auf der Vitrine in der Küche. Katharina erhob sich und griff nach dem Bild. Sofort erfüllte Wärme ihr Herz. Zärtlich strich sie über das Gesicht ihrer Tante.

Sie trank einen Schluck Tee. Inzwischen war er kalt geworden. Sie schüttelte sich.

Ach, Elisabeth! Du konntest ja nicht wissen, was diese Erbschaft alles auslösen würde.

Es hatte Streit gegeben, gehässige Bemerkungen, Worte wie Pfeile, die mitten ins Herz trafen, alte Verletzungen wieder aufrissen. Das unerwartete Erbe war kein Glücksfall, sondern hatte die Gräben in ihrer Familie, zwischen ihr und Ralf, verbreitert, bis niemand sie mehr überqueren konnte. Noch heute blutete Katharinas Herz, wenn sie daran dachte.

Sie schüttelte den Kopf. Die Frage nach dem Sinn der Erbschaft stellte sich nicht mehr. Sie hatte sich entschieden. Für die Deichpension, für ein Leben am Meer. Aber nicht gegen ihre Familie, auch wenn die Kinder ihr das vorwarfen.

Sie atmete tief ein und straffte die Schultern. Genug gegrübelt. Sie goss den kalten Tee in den Abfluss und packte die Tasse in die Spülmaschine. Es lag noch viel Arbeit vor ihr.

Katharina strich ein letztes Mal mit der Hand über das Bettzeug und zupfte das Kopfkissen zurecht. Sie sah sich in dem Gästezimmer um und lächelte. Neben der Pension hatte sie ein gut gefülltes Bankkonto geerbt, und so konnte sie im vergangenen Winter alle Zimmer liebevoll renovieren. Jeden Raum hatte sie individuell eingerichtet. An den Wänden hingen Bilder, die Elisabeth in vielen Jahren fotografiert hatte. Ihre Tante hatte die verschiedenen Stimmungen der Nordsee, die Meerestiere und die Blumen im Bauerngarten mit einem wunderbaren Blick für die Details aufgenommen. Die Motive prägten die restliche Ausstattung und gaben den Zimmern ihre Namen. Für alle hatte Katharina helle Kiefernmöbel gewählt.

So ein Tüddellütt. Kost bloß bannig viel Geld und Arbeit und bringt nichts ein. Schon wieder Femkes Stimme in ihrem Ohr. Dabei war sie froh, dass der Hausdrachen nicht da war. Bereits als Kind hatte sie sich manchmal vor Femke gefürchtet.

Das «Möwenzimmer» war Katharinas Lieblingszimmer. Die Möwe auf dem Foto schaute sie mit weit geöffnetem Auge wissend an. Jede einzelne Feder hob sich vor dem blauen Himmel ab, und sie hatte plötzlich das Gefühl, als könne sie den sanften Wind spüren, der an diesem Tag geweht haben musste.

Sie rückte die Vase mit den Osterglocken und Ribiszweigen zurecht und verließ den Raum. Sie musste noch die restlichen Blumen im Aufenthaltsraum verteilen und die Schafe versorgen.

Am Abend wollte sie noch einmal ans Meer. Die Flut war bei diesem Sturm sicher hoch. Morgen Vormittag würde sie die Sturmschäden im Garten beseitigen. Die Pension sollte die ersten Gäste freundlich empfangen. Im Radio hatten sie für die nächsten Tage Sonnenschein angekündigt. Hoffentlich hielt das gute Wetter bis Ostern. Katharina schluckte trocken. Sie hatte sich so darauf gefreut, mit ihren Kindern auf der windgeschützten Terrasse zu sitzen, endlich mit ihnen darüber zu sprechen, was passiert war. Doch nun kam Finn nicht.

Während sie die Blumen auf den Tischen im Aufenthaltsraum verteilte, summte sie leise vor sich hin. Sie drehte sich einmal im Kreis. Der Raum war gemütlich, passte in die Kate und ans Meer. Hier konnten sich die Gäste wohl fühlen und bei schlechtem Wetter einen Kaffee trinken, in Ruhe ein Buch lesen oder gemeinsam etwas spielen. Mit einem letzten Blick verließ sie den Raum.

Im Flur zog sie Regenjacke und Gummistiefel an und öffnete die Haustür. Der Sturm brauste um die Ecke, die alten Bäume bogen sich im Wind und knarrten. Fast pustete er sie um.

Ihr erster Weg führte zu den Schafen. Zur Deichpension gehörte seit ewigen Zeiten eine Schafherde, und Katharina hatte es nicht übers Herz gebracht, die Tiere abzuschaffen. Der größte Teil von ihnen würde im Sommer zusammen mit Oles Tieren auf dem Deich weiden. Nur zwei Schafe mit ihren Lämmern würden weiterhin hinter der Pension grasen, damit die Gästekinder sie streicheln und betüddeln konnten. Nächste Woche wollte sie zusätzlich ein paar Kaninchen kaufen. Ole hatte ihr gestern den Stall aufgebaut. Außerdem plante sie, Hühner anzuschaffen. So hatte Elisabeth es früher gehalten.

Je länger Katharina in der Deichpension lebte, desto mehr Erinnerungen an ihre glücklichen Kindertage tauchten auf. Mit Ole hatte sie bereits als kleines Mädchen gespielt und sie erinnerte sich genau an den Tag, an dem sie ihrer Tante stolz verkündete, Ole und sie würden später heiraten. Elisabeth hatte gelacht und sie in den Arm genommen.

«Dat mok man, mien Deern. Ole is ein Guter», hatte sie gesagt.

Damals war sie noch nicht zur Schule gegangen. Manchmal kam es ihr vor, als sei es gestern gewesen.

Die Schafe kamen blökend an den Zaun. Katharina griff in ihre Jackentasche und fütterte die Vorlautesten mit ein paar Pferdeleckerli. Dann ging sie in den Stall und füllte den Fressnapf der Stallkatze mit Trockenfutter. Von dem Tier war nichts zu sehen.

Katharina wunderte sich. Die Katze war zwar scheu, aber sehr verfressen. Meistens wartete sie abends sehnsüchtig auf ihr Futter und strich ihr mauzend um die Beine. Wahrscheinlich hatte sie sich wegen des Wetters irgendwo verkrochen.

Sie schnappte sich eine Klappe Heu und trug sie nach draußen. Das Gras war noch knapp und sie fütterte die Mutterschafe zusätzlich. Sie warf das Heu in den Trog. Der Sturm wehte einzelne Bündel über die Koppel und die Lämmer tobten hinterher, als wollten sie das Abendbrot für ihre Mütter erjagen. Sie kontrollierte den Wasserzufluss. Kurz überlegte sie, die Tiere in den Stall zu bringen, doch Ole hatte ihr abgeraten. Sie hatte ihn am Nachmittag angerufen und gefragt, ob das Wetter nicht zu schlecht sei. Er hatte nur gelacht. Sie war halt doch ein Stadtmensch.

Sie zog die Mütze über die Ohren und wickelte sich den Schal fest um den Hals. Dann kämpfte sie sich gegen den Wind den Deich hinauf.

Auf der Deichkrone warf sie der Sturm fast um. Es roch nach Tang und Meer. Die Wellen peitschten gegen die Steinbefestigung, und die aufspritzende Gicht glitzerte im Schein des Vollmondes. Die Wolken hatten sich verzogen und unzählige Sterne funkelten am Himmel. Katharinas Augen schweiften zum Horizont. Eine Sternschnuppe wäre jetzt ein gutes Zeichen. Doch so sehr sie auch suchte, sie konnte keine entdecken. Es ist einfach die falsche Jahreszeit, tröstete sie sich.

Mit einem letzten Blick auf das Meer kehrte sie zur Kate zurück. Der Wind ließ langsam nach und morgen würde sicher ein schöner Tag werden.

Sie schloss die Tür hinter sich und betrat ihren kleinen Wohnbereich. Sie hatte nur zwei Räume für sich hergerichtet. Das Wohnzimmer, das gleichzeitig als Büro diente, und eine winzige Kammer zum Schlafen. Elisabeth und Femke hatten vier Räume bewohnt und nur die Zimmer im Obergeschoss vermietet. Katharina hatte unten ein zusätzliches Familienappartement geschaffen. Sie brauchte nicht viel Platz, und wenn die Kinder sie besuchen kamen, könnten sie dort leben. Die Einnahmen aus der Vermietung würden ihr helfen, ihre weiteren Träume für die Deichpension zu verwirklichen. Vor ihren Augen sah sie eine verglaste Veranda. Auch ein gemütlicher Ofen im Speiseraum gehörte zu ihren Plänen. Sie verzog das Gesicht. Erst einmal musste sie diese Saison überstehen. Wenn Femke weiterhin nur sporadisch half, blieb ihr keine andere Wahl, als eine weitere Hilfe einzustellen. Die Kosten hatte sie nicht eingeplant. Und ihre Kinder? Wie es aussah, würde Deetje Ostern allein in dem Appartement wohnen. Hoffentlich sagte sie nicht auch noch ab.

Katharina schlenderte in die angrenzende Küche und trat an den Kühlschrank. Heute Abend reichte ihr ein Salat. Sie nahm drei Tomaten, eine Gurke und eine leicht verschrumpelte Paprika heraus und schnitt alles in kleine Stücke. Am Ende bröselte sie etwas Schafskäse darüber, fügte Essig und Öl dazu und zupfte einige Kräuter von den Töpfen in der Fensterbank ab. Ein herrlicher Duft breitete sich aus.

Sie setzte sich an den großen alten Küchentisch. Er war schon zu Elisabeths Zeiten der Mittelpunkt der Küche gewesen und sie konnte sich nicht von ihm trennen, auch wenn er viel Platz einnahm und etwas im Wegstand. Sie strich mit der Hand über die Tischplatte, spürte die Riefen, die entstanden waren, als sie die Äpfel nicht auf dem von Femke gereichten Brett, sondern direkt auf dem Tisch geschnitten hatte. Sie schob einen Happen Salat in den Mund und kaute genüsslich. Die Tomaten schmeckten etwas fad. Sie würde im Garten selbst welche anpflanzen. Nicht nur für sich, auch als Delikatesse für ihre Gäste.

Bis auf den Tisch war die Küche modern und funktional eingerichtet. Der Raum trennte den privaten Bereich vom Gästebereich und grenzte an den Aufenthaltsraum. Wieder fiel ihr Blick auf das alte Foto. Sie lächelte und goss sich ein Glas Wein ein. Kurz hob sie ihr Weinglas in Richtung des Fotos.

«Prost Elisabeth, und danke für alles!» Sie trank einen Schluck.

Sie trug ihr Glas und den Rest Salat in ihr Wohnzimmer und stellte beides auf den runden Couchtisch. Sie zog ein Buch aus dem reichlich gefüllten Regal. Ihre Bücher hatte sie aus der Wohnung in Braunschweig mitgenommen, ebenso ihre Kleidung und einige Erinnerungsstücke. Ansonsten hatte sie alles Ralf überlassen. Sie setzte sich in den gemütlichen Ohrensessel und schlug den Gedichtband von Goethe auf. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte er keine Gedichte über das Meer geschrieben, aber sehr viele über die Liebe.

Plötzlich fröstelte sie. Sie klappte das Buch zu. Am besten machte sie sich eine Wärmflasche und legte sich ins Bett. Morgen würde ein anstrengender Tag werden.

5. Juli 1955

Liebes Tagebuch,

heute ist mein Geburtstag und du bist mein liebstes Geschenk. Naja, ehrlich gesagt, habe ich weiter nichts bekommen. Ich hatte mir so sehr ein Fahrrad gewünscht, nicht unbedingt ein neues, das können wir uns nicht leisten, aber ein eigenes gebrauchtes. Bis jetzt nehme ich immer das Rad von Karin. Es ist viel zu groß. Und jedes Mal, wenn ich sie frage, braucht sie es plötzlich selbst ganz dringend. Das nervt. Mutti hat mir erklärt, dass ich nicht so etwas Teures erwarten darf, aber bis heute morgen habe ich auf ein Wunder gehofft.

Dabei hatte Mutti schon letzte Woche gesagt, ich dürfe als Geschenk drei (!) Mädchen zu meinem Geburtstag einladen. Ich hatte noch nie eine Geburtstagsfeier. Ich wollte auch nie eine. Hat sie denn nicht gemerkt, dass ich überhaupt keine Freundinnen habe? Ich werde nie eingeladen und ich treffe mich nie nachmittags mit jemandem. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin unsichtbar, wie ein Geist. Dabei sehe ich völlig normal aus, finde ich jedenfalls. Früher, in der Grundschule, hatte ich ganz viele Freundinnen, aber jetzt ist alles anders.

Auf jeden Fall habe ich letzte Woche Helga, Edith und Sigrid aus meiner Klasse gefragt. Ich habe drei Tage gebraucht, bis ich mich endlich getraut habe. Ich war bestimmt rot im Gesicht und gestottert habe ich auch. Wie peinlich!

Helga und Edith sind eigentlich ganz nett. Sie sind beste Freundinnen und manchmal reden sie mit mir. Also nicht richtig, aber sie sagen «Hallo» und sehen mich dabei an. Sie kichern nicht so viel wie die anderen Mädchen aus meiner Klasse. Ich dachte, wenn ich sie beide einlade, klappt es vielleicht. Sie haben auch genickt, aber heute war Helga krank und Edith muss sie am Nachmittag unbedingt besuchen, damit sie nicht so einsam ist. Das hat sie mir in der Pause zugeflüstert, als niemand geguckt hat. Bestimmt hatte sie keine Lust, allein zu kommen.

Sigrid hat wie ich keine Freundin. Bei ihr ist es fast noch schlimmer als bei mir. Ich werde nicht beachtet, aber sie wird geärgert. Sie ist sehr dick und hat einen riesigen Busen, der beim Gehen mit ihrem Bauch um die Wette schwabbelt. Manchmal hänsele ich sie auch und ich mag sie nicht. Aber ich wusste nicht, wen ich sonst fragen könnte. Sigrid ist tatsächlich gekommen. Dazu nachher mehr.

Heute Morgen hat Mama einen Kuchen auf meinen Platz am Frühstückstisch gestellt. Mit Schokoladenguss und einer «14» aus Zuckerperlen. Das sah sehr schön aus. Daneben lag ein kleines Paket. Ich dachte erst, es wäre ein Buch, aber das warst du, liebes Tagebuch. Du bist in grünes Kunstleder eingeschlagen und hast sogar ein Schloss mit einem winzigen Schlüssel. Daran habe ich gleich erkannt, dass du kein Poesie-Album bist. Außerdem habe ich schon eines, aber es haben nur wenige Mädchen hineingeschrieben. Eigentlich nur meine Freundinnen aus der Grundschule. Von Karin habe ich ein Paket Buntstifte bekommen. Das klingt wie ein Geschenk für ein kleines Kind, obwohl ich ja jetzt eine junge Dame bin, wie Papa immer sagt. Aber ich male gern und so kann ich die Seiten in dir bunt gestalten. Ein Fahrrad war natürlich nicht dabei.

Wir haben alle zusammen gefrühstückt. Vati ist extra später zur Arbeit gegangen, weil ich Geburtstag habe. Das fand ich sehr nett von ihm und es war richtig gemütlich. Doch dann hat er das Radio eingeschaltet. Der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow hat erklärt, dass es zwei eigenständige deutsche Staaten gibt. Vati hat sich furchtbar aufgeregt. Er ist ganz rot im Gesicht geworden, und Mutti hat immer geseufzt: «Walter, ach, Walter, nun reg dich nicht so auf. Das ist nicht gut für deinen Blutdruck.»

Vati hat die Zeitung auf den Tisch geknallt und ist zur Arbeit verschwunden. Mutti hat geweint. Muttis Schwester Elisabeth – sie ist meine Patentante und deshalb heiße ich wie sie – lebt im Osten und Mutti vermisst sie sehr. Ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern. Jedenfalls war die tolle Geburtstagsstimmung weg.

Ich bin dann zur Schule. Herr Stölzel, unser Klassenlehrer, hat auch gleich über Chruschtschow gesprochen und darüber, dass das Vaterland nicht geteilt werden dürfe und der Russe schon merken würde, was er davon hat.

Ich verstehe die Aufregung nicht, obwohl es natürlich blöd ist, dass wir Tante Elisabeth nicht besuchen dürfen und sie uns nicht. Aber Deutschland hat nun mal den Krieg verloren und von so was kommt so was. Vati sagt, Frauen haben keine Ahnung von Politik und den wirklich wichtigen Dingen. Sie sollen schön aussehen, den Haushalt führen und ihren Kopf nicht überanstrengen.

An meinen Geburtstag hat niemand gedacht. Nur Sigrid hat mir in der Pause schüchtern gratuliert. Das fand ich nett. Sie ist heute Nachmittag tatsächlich zum Kaffee gekommen. Die anderen haben mich wie immer überhaupt nicht beachtet.

Mutti hat den Geburtstagskuchen auf den Tisch gestellt, alles mit dem besten Porzellan eingedeckt und sogar bunte Servietten und eine Kerze besorgt. Das sah toll aus. Ich glaube, Mutti war enttäuscht, dass nur Sigrid gekommen ist. Das war dann ein bisschen blöd. Der geschmückte Tisch für vier junge Damen und da saßen nur die dicke Sigrid und ich. Wir wussten nicht, was wir reden sollten. Als Karin von der Arbeit kam, hat sie sich zu uns gesetzt. Sie ist schon neunzehn und eine junge Dame. Als sie mit ihrer Ausbildung im Büro fertig war, hat sie ihre Zöpfe abschneiden lassen und hat nun einen Bubikopf. Das sieht schick aus und sehr erwachsen. Wenn sie aus dem Haus geht, trägt sie seidene Strümpfe. Vati schimpft dann immer und sagt, sie schmeißt sein Geld aus dem Fenster. Karin ist das egal. Sie wird manchmal richtig frech. Das würde ich mich nie trauen.

«Es ist mein Geld, Vater. Und zu Hause gebe ich genug ab. So viel kann ich gar nicht essen», erklärt sie ihm jedes Mal.

Wenn sie einundzwanzig ist, will sie ausziehen, hat sie mir verraten. Sie hat einen Verehrer. Er arbeitet bei ihr im Büro und ist schon fünfundzwanzig. Vati weiß nichts davon. Ich glaube nicht, dass er es erlauben würde.

Letztens hat ihr Freund Karin bis vor die Haustür gebracht und ich habe gesehen, wie sie sich geküsst haben. Richtig lange. Hinterher hatte sie ein rotes Gesicht und ihre Bluse war verrutscht. Ich finde das ekelig, aber sie meint, ich sei einfach zu jung.

Karin hat sich jedenfalls zu uns gesetzt. Erst fand ich das toll, doch dann hat sie nur von ihrer Arbeit gesprochen. Sie hat richtig angegeben, mit ihrem Büro, ihrer Frisur und der neuesten Mode. Sigrid hat nichts mehr gesagt und schweigend den Kuchen in sich hineingeschaufelt. Mutti hat sich auch noch dazu gesetzt und sich die ganze Zeit mit Karin unterhalten. Es fühlte sich überhaupt nicht mehr nach meinem Geburtstag an.

Nach dem Kaffee, für Sigrid und mich gab es Kakao, nur Mutti und Karin haben Kaffee getrunken, sind Sigrid und ich in mein Zimmer gegangen, also in das Zimmer, das ich mir mit Karin teile. Zum Glück ist sie bei Mutti in der Stube geblieben. Da wurde es doch noch ein bisschen gemütlich. Wir haben über die Mädchen aus unserer Klasse gelästert. Bei uns in der Schule sind nur Mädchen. Die Jungen gehen auf die benachbarte Realschule und viele aus meiner Klasse stehen in der Pause am Zaun und albern herum, in der Hoffnung, dass mal einer der Jungen herüberschaut. Ich mache da nicht mit. Das ist doch peinlich.

Sigrid hat mir ein Paar Zopfgummis geschenkt. Sie waren in eine Serviette eingepackt und ich glaube, sie hat sie schon getragen. Sie sind rosa mit einer dicken Kirsche und passen besser zu einem kleinen Kind. Ich finde sie hässlich, aber das habe ich nicht gesagt.

Sigrids Familie ist arm. Ihr Vater ist erst vor einem Jahr aus russischer Gefangenschaft nach Hause gekommen und er hat keine Arbeit. Er ist total dünn und zittert die ganze Zeit. Bestimmt ist ihm noch kalt, meint Sigrid. Er spricht auch nicht. Sie hat fünf ältere Geschwister und meistens sehen ihre Klamotten aus, als hätten alle anderen sie schon vor ihr getragen. Und sie riecht nicht gut. Vielleicht kommt das, weil sie so dick ist oder weil die ganze Familie in drei Zimmern lebt. Da haben wir das besser, obwohl Vati ja immer sagt, wir haben kein Geld für ein Fahrrad.

Ich habe erwartet, dass Mutti uns zum Abendessen ruft, aber um sechs kam sie ins Zimmer und hat zu Sigrid gesagt, es wäre Zeit. Sie müsse gehen. Ich glaube, Mutti mag Sigrid nicht. Ich fand das echt gemein. Eigentlich sollte es ein gemeinsames Abendbrot geben mit Würstchen und Kartoffelsalat. Schließlich war diese Feier mein Geburtstagsgeschenk. Naja, so schlimm war es auch nicht, dass Mutti sie nach Hause geschickt hat. Ich glaube nicht, dass wir Freundinnen werden können.

Würstchen und Kartoffelsalat gab es dann für Mutti, Karin und mich. Vati musste nach der Arbeit noch zu einer Versammlung. Wir waren kaum fertig mit Essen, da klingelte es an der Tür. Karin ist sofort aufgesprungen. Wahrscheinlich dachte sie, es ist ihr Verehrer. Aber es war Frau Eberhardt von nebenan. Eberhardts haben einen Fernseher und sie hat uns gefragt, ob wir nach der Tagesschau rüberkommen wollen, «Was bin ich?» mit Robert Lembke gucken, weil ich doch Geburtstag habe. Das fand ich total nett. Ich habe die Sendung schon einmal bei Eberhardts gesehen. Vati war dabei. Er hat nur gemeckert. Fernsehen verblödet die Jugend, hat er gesagt. Bestimmt war er nur sauer, weil er die Berufe nicht erraten konnte.

So, liebes Tagebuch. Nun hast du mich ein wenig kennengelernt. Ich muss jetzt Schluss machen. «Was bin ich?» fängt gleich an. Die anderen warten schon.

Ich glaube, ein Tagebuch ist ein wunderbares Geschenk. Viel schöner als ein Fahrrad.

Deine Elisabeth

P.S. Ich werde dich Katy nennen und alles in dich hineinschreiben, was die anderen ihren Freundinnen erzählen. Du bist jetzt meine Freundin. Bis morgen!

2

Katharina schreckte hoch und sah sich um. Es klingelte. Der Wecker. Sechs Uhr. Zeit zum Aufstehen. Sie hatte in der Nacht kaum geschlafen. Die To-do-Listen liefen selbst in ihren Träumen in Endlosschleife. Ralf kam als erster Gast und stellte ständig neue Forderungen an sie: Die Zimmer waren dreckig, das Bett unbequem, die Schafe stanken, das Wetter war schlecht.

Ich habe dir doch gesagt, das Ganze ist eine fixe Idee, schallte es durch ihren Schlaf.