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Ein Lockdown verändert das Leben von sechs Frauen. Nichts ist mehr wie es war. Unter dem Druck von Distanz und Einsamkeit zerbröseln Beziehungen und lieb gewonnene Routinen. Jede ist gefangen zwischen einem vergangenen Alltag und neuen Herausforderungen. Nach wenigen Wochen stehen sie vor den Scherben ihres bisherigen Lebens. Auf sich allein gestellt schlittern sie hilflos auf eine Katastrophe zu. Doch sie kämpfen für ihre Träume, Familien und Werte. Ein Buch über Krisen und ihre Ursachen, über starke Frauen und ihren Mut zur Veränderung.
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Seitenzahl: 306
Ein Lockdown verändert das Leben von sechs Frauen. Nichts ist mehr wie es war. Unter dem Druck von Distanz und Einsamkeit zerbröseln Beziehungen und lieb gewonnene Routinen. Jede ist gefangen zwischen einem vergangenen Alltag und neuen Herausforderungen. Nach wenigen Wochen stehen sie vor den Scherben ihres bisherigen Lebens.
Auf sich allein gestellt schlittern sie hilflos auf eine Katastrophe zu. Doch sie kämpfen für ihre Träume, Familien und Werte.
Ein Buch über Krisen und ihre Ursachen, über starke Frauen und ihren Mut zur Veränderung.
Lang, lang ist’s her (Friedas Lied)
Irische Volkslied (18. Jh.)
Silke Mahrt studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Braunschweig und Hamburg. Heute lebt, arbeitet und schreibt sie in Bad Oldesloe. Ihre Themen sind starke Frauen und gesellschaftliche Anforderungen, die das Leben jeder Einzelnen prägen.
Kontakt: [email protected]
An einem Freitag im März
Charlotte
Frieda
Karin
Anna
Josefine
Jana
Charlotte
Frieda
Anna
Josefine
Jana
Zwei Wochen später
Charlotte
Frieda
Karin
Anna
Josefine
Jana
Vier Wochen später
Charlotte
Frieda
Anna
Josefine
Jana
Charlotte
Frieda
Anna
Josefine
Jana
Zwei Wochen später
Charlotte
Karin
Anna
Josefine
Jana
Zwei Wochen später
Charlotte
Karin
Anna
Josefine
Jana
Ein Jahr später
Charlotte
Anna
Karin
Josefine
Jana
Nachwort
Danke
Charlotte bückte sich und reichte ihrer Tochter die Sandalen.
„So, Mia. Die Schuhe kannst du dir allein anziehen. Die haben Klettverschlüsse. Das schaffst du.“
Sie stöhnte und richtete sich langsam auf. Ihr Rücken brannte. Die Muskeln waren steinhart. Sie warf einen Blick auf ihren Sohn Jakob. Er war auf dem Weg vom Auto zur Kita im Buggy eingeschlafen und schnarchte leise. Sie hatte ihn vor zwanzig Minuten aus der Krippe abgeholt. Er war total übermüdet. Sie schafften es dort nicht, dass er mittags vernünftig schlief. Nachmittags nickte er ständig kurz ein und war nörgelig. Abends war er überdreht und wollte nicht ins Bett. Jeden Tag dasselbe Theater. Sie strich sich die verschwitzten Haare aus der Stirn.
„Frau von Mülensiefen, bitte denken Sie daran, dass Sie unbedingt mit Mia basteln und regelmäßig Schwungübungen machen. Sie spielt sehr schön mit den anderen Kindern, aber an ihrer Feinmotorik müssen Sie wirklich arbeiten. Sie kann immer noch keine Schleife binden und auch beim Ausschneiden benötigt sie viel Unterstützung.“
Frau Fischer, Mias Erzieherin, stand vor ihr. Charlotte hatte ihr Kommen nicht bemerkt. Sie zuckte zusammen und schlug die Augen nieder. Sie war wieder sechs Jahre alt und hatte geträumt anstatt den Erwachsenen zuzuhören. Am liebsten hätte sie wie Mia eine Schnute gezogen.
„Das habe ich Ihnen ja alles bereits beim letzten Elterngespräch erklärt. Mia kommt im Sommer in die Schule, da wird das verlangt. Bitte üben Sie mit ihr. Ich habe Ihnen hier einige Materialien zusammengestellt.“
Mit diesen Worten drückte Frau Fischer Charlotte einen Stapel Zettel in die Hand.
„Wir wissen ja nicht, wann wir wieder öffnen dürfen. Vorschularbeit ist extrem wichtig. Also jeden Tag fleißig üben.“ Die Erzieherin strich Mia über die blonden Locken und warf Charlotte einen mahnenden Blick zu. „Auf Wiedersehen. Und bleiben Sie gesund.“
Sie stolzierte weiter zur nächsten Mutter und überhäufte diese mit Ratschlägen.
Charlotte hörte nicht, welche Probleme das andere Kind hatte und welche Aufgaben Frau Fischer hier zuteilte. Auf jeden Fall überreichte sie ein Buch und viele Blätter Papier.
Charlotte schüttelte den Kopf. Frau Fischer erklärte ihr bei jeder Gelegenheit, was sie falsch machte. Sie gab ungefragt Erziehungstipps und mischte sich in Dinge ein, die sie nichts angingen. Charlotte schwieg, hörte zu und nickte brav. Später ärgerte sie sich, weil sie sich alles gefallen ließ. Im Beruf war sie anders. Sie wehrte sich und setzte sich durch. Im Kindergarten wurde sie wieder zum Kind. In der Schule bei Emilie, ihrer älteren Tochter, war das genauso. Lehrerinnen und Erzieherinnen lähmten sie und machten sie sprachlos. Bestimmt irgendein Kindheitstrauma.
Charlotte fröstelte. Trotz der frühlingshaft frischen Temperaturen klebte die Bluse an ihrem Körper und der Schweiß sammelte sich zwischen ihren Brüsten. Den Blazer hatte sie im Auto gelassen. Ein Fehler, denn so sah jeder die Schweißflecken unter ihren Achseln. Sicher müffelte sie ordentlich. Zu Hause musste sie als Erstes raus aus den verschwitzten Klamotten, diese blöden Pumps ausziehen und duschen. An der Ferse hatte sie eine dicke Blase. Ihr Kopf pochte seit dem hastigen Mittagessen und ihr Rücken schmerzte. In den letzten Tagen hatte sie die Übungen aus ihrem Pilates-Kurs vernachlässigt und war vor lauter Stress nicht zum Joggen gekommen.
Ihre Gedanken wanderten zurück. Der ganze Tag war die reinste Katastrophe gewesen. Kurz vor der Mittagspause war ihr Chef in ihr Büro gestürmt. Die Regierung hatte angekündigt, dass ab Montag Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen auf unbestimmte Zeit geschlossen würden. Außerdem verhängte sie eine strikte Ausgangssperre. Alle durften ihre Wohnungen nur zum Einkaufen und für Arztbesuche verlassen. Ausnahmen gab es lediglich für diejenigen, die in lebensnotwendigen Berufen arbeiteten.
Kaum hatte der Chef die Ankündigungen der Regierung bekannt gegeben, war Chaos ausgebrochen. Alle redeten durcheinander, jeder hatte irgendwelche Ideen, Vorschläge oder Probleme. Niemand wusste, wie das funktionieren sollte. Charlotte war Leiterin der Marketingabteilung eines namhaften Kosmetikherstellers und traf ständig Entscheidungen. Heute jedoch war ihr alles über den Kopf gewachsen. Viele ihrer Mitarbeiterinnen hatten kleine Kinder und würden parallel im Homeoffice arbeiten. Sie klärte die technischen Voraussetzungen mit der IT, motivierte und beruhigte die Kolleginnen und teilte die Aufgaben neu ein. Dabei blieb keine Zeit für ihre eigene Planung. Das rächte sich jetzt. Sie war mit ihren Nerven am Ende.
Auch sie würde ab Montag von zu Hause arbeiten. Sie hatte die Unterlagen des aktuellen Projekts zusammengestellt und an ihren privaten Account gemailt. Auf die Daten des Betriebs hatte sie keinen Zugriff mehr. Hoffentlich hatte sie nichts vergessen.
Kurz vor Arbeitsende hatte sie ihren Mann Leon angerufen. Er war Unternehmensberater und würde ebenfalls im Homeoffice arbeiten. Sie würden sich die Kinderbetreuung teilen. In Gedanken stellte sie bereits einen festen Plan auf, um alles zu organisieren. Planung war das halbe Leben, nicht nur im Beruf, sondern auch bei der Organisation des Familienalltags mit drei Kindern. Gemeinsam würden sie es schaffen.
„Frau von Mülensiefen. Haben Sie noch eine Frage? Ich will jetzt abschließen.“
Charlotte zuckte zusammen. Da stand sie herum und guckte Löcher in die Luft.
„Nein, alles gut. Entschuldigen Sie. Ich war in Gedanken.“
Jetzt entschuldigte sie sich schon bei Frau Fischer. Was war heute mit ihr los?
Sie musste dringend einkaufen. Die Geschäfte sollten ab morgen lediglich stundenweise öffnen. Was machte eigentlich Mia die ganze Zeit? Suchend sah sie sich nach ihrer Tochter um.
Mia saß träumend auf der Bank. Sie hatte sich die Sandalen falsch herum angezogen.
„Mia, nun beeil dich. Das sind Entenfüße! Das musst du doch selber merken.“
Charlotte biss sich auf die Zunge. Erst vergaß sie die Zeit, träumte herum und danach ließ sie ihren Frust an ihrer Tochter aus.
„Entschuldige, Mäuschen. Ich helfe dir.“
Sie half Mia, Sandalen und Jacke anzuziehen und schnappte sich den Kinderrucksack.
„Mia, komm! Wir müssen los.“
Sie griff mit einer Hand nach dem Buggy, in dem Jakob zum Glück weiter friedlich schlief, mit der anderen zerrte sie Mia hinter sich her. Die Kleine hatte Mühe, ihr zu folgen. Sie zog eine Schnute.
„Ich will mit Sophie spielen. Kann Sophie mit zu uns kommen?“
Sophie war Mias beste Freundin und die beiden spielten regelmäßig nachmittags zusammen.
„Mäuschen, heute nicht. Wir fahren jetzt noch schnell zum Einkaufen. Wir müssen uns beeilen.“
In Mias Augen sammelten sich Tränen. Sie schluckte.
Zum Glück holte Leon ausnahmsweise Emilie vom Hort ab, der an ihre Grundschule angeschlossen war. So musste sie bloß Jakob und Mia mitnehmen. Im Autoradio war von Hamsterkäufen berichtet worden. Es war besser, sofort zu fahren.
„Ich kann nicht so schnell!“
Mia hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht an Charlottes Arm.
„Wo ist überhaupt das blöde Auto?“
„Nun komm schon. Beeil dich. Du bist doch ein großes Mädchen.“
Charlotte atmete tief ein. Ruhig bleiben. Nur nicht einen von Mias regelmäßigen Bockanfällen provozieren. Von wegen, die Trotzphase endet irgendwann. Bei Mia hatte sie das Gefühl, dieser Entwicklungsabschnitt würde ewig dauern und direkt in die Pubertät übergehen.
Endlich erreichten sie das Auto. Charlotte hob den schlafenden Jakob in den Kindersitz und schnallte ihn an. Mia kletterte in den Sitz.
„Mama, hilfst du mir?“
Mias Stimme klang weinerlich. Sie kämpfte mit dem Gurtverschluss. Charlotte seufzte. Die Feinmotorik mussten sie wirklich üben. Im Grunde war das die Aufgabe der Erzieherinnen. Was machten die den ganzen Tag mit den Kindern? Zügig schnallte sie Mia an. Üben konnten sie ein anderes Mal. Heute war dafür keine Zeit. Sie stieg ins Auto und sank in den Sitz.
„Und dann hat der Julian die Sophie ...“
Mia plapperte vor sich hin. Charlotte hörte nur mit halbem Ohr zu. Hatte sie die Blumen gegossen? Wer weiß, wann sie wieder ins Büro kam. Sie schüttelte den Kopf. War das überhaupt wichtig?
Mist, sie hatte sich gar keine Gedanken über ihren Einkauf gemacht. Samstags kaufte sie erst in Ruhe auf dem Wochenmarkt ein. Anschließend fuhr sie zum Bioladen und trank dort zusammen mit ihrer Freundin Martina in dem kleinen Café einen Latte macchiato. Die restlichen Besorgungen erledigte sie bei Rewe. Am liebsten bummelte sie durch die Läden und suchte nach Leckereien, auf die sie gerade Appetit hatte, die besonders frisch und köstlich aussahen. Viel brauchten sie in der Woche nicht. Die Kinder aßen in Schule und Kita, Leon und sie in der Kantine oder mit Kollegen beim Italiener in der Stadt. Aber heute war alles anders. Drei Mahlzeiten für eine fünfköpfige Familie, das musste sie planen. Wann konnte sie überhaupt das nächste Mal einkaufen? Charlotte hasste Unsicherheit. Sie liebte ihren geplanten, geregelten Alltag. Am besten, sie kaufte Fertiggerichte, Müsli und Aufbackbrötchen.
„Mama, wann fahren wir denn endlich los?“
Charlotte zuckte zusammen. Sie hatte schon wieder die Zeit vergessen. Beinah wäre sie eingeschlafen. Was war nur mit ihr los? Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Ihre langen blonden Haare hingen strähnig herunter. Unter den Augen hatte sie dunkle Ringe. Waren da die ersten Fältchen? Sie fühlte sich alt und ausgelaugt.
Ihr neuer Chef hatte alles umgekrempelt. Hoffentlich wurde es im Homeoffice ruhiger. Immerhin musste sie nicht mehr täglich persönlich bei ihm Meldung machen. Oder erwartete er den Bericht jetzt per Mail? Bestimmt würde er ihre Arbeit pedantisch überwachen. Er war ein totaler Kontrollfreak. Zum Abschied hatte er einen blöden Spruch losgelassen, von wegen Arbeitsleistung mit drei Kindern.
Sie startete das Auto. Viel Verkehr heute. Am besten fuhr sie einfach schnell zu Rewe.
„Ach, hier bist du, Mama. Ich habe dich überall gesucht.“
Frieda zuckte zusammen. Irritiert schaute sie sich um. Wo war sie? Langsam kam die Orientierung zurück. Sie saß auf der Bank hinter dem Seniorenheim und war eingeschlafen. Sie richtete sich auf.
„Was machst du denn hier, Karin. Du kommst doch immer am Samstag. Ist heute schon Samstag?“
Frieda zog die Strickjacke enger um ihren dünnen Körper. Trotz der Sonne fröstelte sie. Sie rieb sich die Augen und sah ihre Tochter verwundert an. War diese unscheinbare Frau tatsächlich ihr Kind? Karin könnte sich ruhig jugendlicher und moderner kleiden. Diese gedeckten Farben und die ausgeleierten Stoffhosen machten sie alt. Dabei war sie schlank mit Rundungen an den richtigen Stellen. Sie hatte eine tolle Figur, obwohl sie in den letzten Monaten ein bisschen zugenommen hatte, aber das war normal in den Wechseljahren. Trotz ihres beschaulichen Lebens sah Karin alt und abgespannt aus.
„Ich dachte, ich komme heute noch mal kurz vorbei. Hast du nicht gehört? Ab morgen gilt ein Besuchsverbot, überhaupt eine Ausgangssperre. Dann kann ich nicht mehr kommen.“
Karin ließ sich neben ihrer Mutter auf die Bank fallen. Sie verschränkte die Arme vor ihrem Körper.
„Das kannst du dir nicht vorstellen, was heute los ist.“
Sie stöhnte. Ohne Frieda zu beachten, redete sie weiter.
„Ich habe zwei Stunden zum Einkaufen gebraucht, dabei war ich bloß beim Edeka um die Ecke. Die Straßen sind verstopft, überall in den Läden drängeln sich die Leute. Manche sind richtig aggressiv. Und alle kaufen Toilettenpapier. Mehl natürlich auch, alles, was haltbar ist. Ich bin total fertig. Was das noch alles werden soll? Naja, du hast es ja gut hier. Du brauchst dich um nichts zu kümmern.“
Karin kniff die Lippen zusammen. Sie sah aus, als wolle sie gleich anfangen zu weinen. Frieda schüttelte den Kopf. Karin fand immer einen Grund zum Jammern.
„Ach, hier sind auch alle verrückt. Erst wollten sie mich gar nicht mehr aus dem Haus lassen. Stell dir das mal vor! Ich musste versprechen, auf dem Gelände zu bleiben. Das ist doch hier kein Gefängnis! Ich zahle hier viel Geld. Emma und ich wollten einen ausgiebigen Spaziergang machen. Das durften wir nicht. Dann ist ihr Sohn gekommen, und ich habe mich alleine auf die Bank gesetzt. Ich bin wohl eingeschlafen. Wie spät ist es denn?“
Frieda setzte sich aufrecht hin und sah ihre Tochter an.
„Gleich halb sechs. Es wird langsam kalt. Wollen wir nicht lieber reingehen?“
Karin rutschte auf der Bank nach vorn.
Frieda verdrehte die Augen.
„Ach Kindchen, lass uns noch ein bisschen draußen sitzen. Es ist warm genug. Vielleicht lassen sie mich morgen wirklich nicht mehr vor die Tür.“
Karin lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen. Frieda schaute resigniert in den Himmel. So war es immer. Sie redeten aneinander vorbei. Stille breitete sich aus.
„Und Birte, geht es ihr gut?“, erkundigte sich Frieda nach einer ganzen Weile, um das Schweigen zu brechen.
„Naja, wie es Frauen am Ende der Schwangerschaft geht. Sie hat schon 25 Kilo zugenommen, zu viel, sagt ihr Arzt. Jonas darf nicht mit ins Krankenhaus. Stell dir vor, sie muss ganz allein entbinden. Man kann es mit der Vorsicht auch übertreiben.“
Entrüstet schüttelte Karin den Kopf.
Frieda hielt lieber den Mund. Sie hatte ihre Tochter ohne die Unterstützung ihres Mannes zur Welt gebracht. Väter hatten bei einer Geburt nichts zu suchen. So ein neumodischer Kram. Das konnte sie Karin allerdings schlecht sagen und ihrer Enkelin Birte erst recht nicht.
Beide schwiegen. Dieses Mal durchbrach Karin die Stille.
„Hoffentlich ist der Spuk in zwei Wochen vorbei. Sonst dürfen wir Birte und unser Enkelkind nicht in der Klinik besuchen. Ich habe zu meinem Chef gesagt, wenn mein Enkelkind kommt, brauche ich frei. Ich muss meine Tochter unterstützen, habe ich gesagt. Hoffentlich klappt das. Ab Montag habe ich zwangsfrei. Und wenn ich Urlaub brauche, heißt es bestimmt: Geht nicht, ist zu viel liegen geblieben.“
Sie sah Frieda empört an. Wieder schwiegen beide.
Ein Spatzenpärchen landete vor der Bank und suchte eifrig nach Kekskrümeln. Sofort kamen weitere Spatzen angeflogen. Frieda öffnete ihre Handtasche. Vielleicht hatte sie noch ein paar Kekse. Die Vögel waren so possierlich.
„Sind schon komische Zeiten im Moment. Und bei dir, alles klar? Was hast du die Woche gemacht?“
Karins Stimme verscheuchte die Spatzen.
Frieda überlegte. Viel passierte im Heim nicht und Karin interessierte sich gewiss nicht dafür, wie Emma ihren Mann kennengelernt hatte. Diese Geschichte hatte Emma ihr schon hundert Mal erzählt. Sie hörte gar nicht mehr zu. Dass Herr Hoop letzte Woche im Schlafanzug zum Frühstück erschienen war, würde sie ihrer Tochter nicht erzählen. Das zeigte nur, in welchem Irrenhaus sie lebte. Da fiel ihr etwas ein.
„Wir proben mit dem Chor im Moment Frühlingslieder von Rolf Zuckowski. Den fand Birte als Kind doch so toll. Wart ihr nicht sogar mal auf einem Konzert? Jedenfalls kenne ich im Gegensatz zu Emma die meisten Melodien. Sie hat ja keine Enkel. Wir wollen am Donnerstag vor Ostern in den Kindergarten fahren und den Kindern ein Ständchen bringen. Als Dankeschön. Sie kommen doch alle zwei Wochen mit ihrer Kindergärtnerin vorbei und singen für uns. Da haben wir gedacht, wir revanchieren uns mal.“
Die Worte sprudelten aus Frieda heraus.
Karin reagierte nicht. Sie saß mit geschlossenen Augen auf der Bank. Ob sie eingeschlafen war?
„Karin?“, fragte Frieda und stieß ihre Tochter in die Seite. „Schläfst du?“
Karin seufzte.
„Ach, ich mache mir solche Sorgen! Wie soll das nur alles werden, mit der Ausgangssperre und so?“
Ihre Stimme klang weinerlich und kraftlos.
Typisch Karin. Sie hatte sich schon als Kind ständig um alles gesorgt, alles negativ gesehen und grundlos gegrübelt. Ihre Tochter war voller Angst und traute sich kaum etwas zu. Dabei hatte sie sich bemüht, sie abzuhärten, sie auf das Leben vorzubereiten.
„Das geht bestimmt schnell vorbei. Wirst schon sehen. Nächsten Samstag sitzen wir hier wieder zusammen auf der Bank oder trinken oben im Saal gemütlich einen Kaffee. Ausgangssperren, das hat sich nicht mal Hitler getraut. Natürlich durften wir nicht raus, wenn die Bomben fielen. Aber wegen einer Krankheit? Nach dem Krieg gab es eine Grippewelle und Typhus ging um. Auf die Idee mit der Ausgangssperre ist da niemand gekommen.“
Karin reagierte nicht. Hörte sie ihr überhaupt zu? So ging das jedes Mal, wenn sie versuchten, sich zu unterhalten. Eine redete und die andere schwieg. Sie hatten sich seit Jahren nichts mehr zu sagen. Frieda überlegte. Hatten sie jemals richtig miteinander geredet? Wie war das damals gewesen, als Karin noch ein Kind war?
Schweigen breitete sich aus. Die Spatzen kehrten zurück und suchten erneut nach Kekskrümeln.
„Ach, hier sind Sie!“
Frieda schreckte auf. Die Vögel flogen davon. Schwester Birgit stand vor ihnen.
„Hätte ich mir ja denken können, dass Sie bei dem schönen Wetter hier draußen sitzen. Es ist längst Abendbrotzeit.“
Die Altenpflegerin schmunzelte, aber das Lächeln erreichte ihre Augen nicht.
„Hallo Frau Schrader“, wandte sie sich an Karin. „Ihre Mutter zieht es immer nach draußen. Man merkt ihr an, dass sie früher viel im Freien gearbeitet hat. Wollen wir hoffen, dass das in den nächsten Wochen noch gestattet ist.“
Sie zog die Schultern hoch und fröstelte.
„Leider dürfen Sie nicht mehr mit rein, Frau Schrader. Verabschieden Sie sich bitte hier draußen von Ihrer Mutter.“
Kaum hörbar fügte sie hinzu: „Wer weiß, wann Sie sich wiedersehen.“
Diskret drehte sie sich um und eilte zurück ins Haus.
Frieda und Karin standen auf. Verunsichert strich Karin ihrer Mutter über den Arm. Es kam selten vor, dass sich die beiden Frauen berührten.
„Mach‘s gut Mama und pass auf dich auf.“
Frieda trat einen Schritt zurück. So nah war sie ihrer Tochter schon lange nicht mehr gekommen.
„Sei nicht so sentimental, Karin. Bis nächsten Samstag, und grüß Birte von mir.“
Frieda zog die Strickjacke fest um ihre Schulter und hastete zurück ins Heim, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie hatte richtigen Hunger.
Karin schlenderte zum Parkplatz. Die Sonne war hinter den Bäumen verschwunden. Es wurde kalt.
Geschafft. Dieser Tag zog sich unendlich hin. Wenigstens den Besuch bei ihrer Mutter konnte sie auf ihrer To-do-Liste abhaken. Erleichtert öffnete sie die Autotür und setzte sich hinter das Steuer. Sie verschränkte die Arme und legte ihren glühenden Kopf auf die kühlen Hände. Sie fröstelte. Gleichzeitig durchströmte Hitze ihren Körper. Hoffentlich die Wechseljahre und nicht das Virus.
Zum Glück musste sie ihre Mutter in absehbarer Zeit nicht wieder besuchen. Eine Verpflichtung weniger. Die wöchentlichen Pflichtbesuche zerrten an ihren Nerven. Eine Stunde die Woche. Das hatte sie sich fest vorgenommen, als Frieda vor zwei Jahren in die Senioreneinrichtung gezogen war, weil sie nicht mehr ohne Betreuung leben konnte. Frieda vergaß ihre Tabletten und hatte sich mehrmals verlaufen. Sogar die Polizei hatte sie einmal aufgegriffen. Karin musste ihr bei fast allen Dingen des Alltags helfen, sich dauernd um irgendetwas kümmern. Nichts schaffte Frieda ohne Unterstützung. Sie rief ständig wegen irgendwelcher Kleinigkeiten an. Karin fragte sich immer öfter, was da falsch gelaufen war. Die Mutter hatte sie zur Selbständigkeit erzogen, um nicht zu sagen gezwungen, und nun verlangte Frieda in einem fort nach Hilfe. Friedas Hausärztin diagnostizierte eine beginnende Demenz und sprach von Einsamkeit. Ihre Mutter brauche Menschen und Anregungen um sich. Karin bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Dabei verbrachte sie viel zu viel Zeit mit ihrer Mutter. Frieda hatte ständig etwas an ihr auszusetzen und verunsicherte sie total. In ihrer Gegenwart fühlte sie sich klein und unscheinbar.
Seit Frieda im Heim wohnte, war es besser. Wie es Frieda damit ging, wusste Karin nicht. Über Gefühle sprachen sie nicht. Allerdings fingen mit dem Umzug die anstrengenden Besuche an. Eine Stunde die Woche, das musste sein. Im Normalfall blieb sie eine halbe.
Sie hatten sich nichts zu sagen. Bereits während Karins Kindheit lebten sie auf zwei verschiedenen Planeten. Frieda verstand sie nicht. Ihre Worte erreichten sie nicht. Wenn sie sich mit ihr unterhielt, hatte sie das Gefühl, sie redete gegen eine Wand oder in einer fremden Sprache. Früher sehnte sie sich nach einem netten Wort, nach Anteilnahme und Berührung. Stattdessen stellte Frieda Anforderungen und lobte nie. Die Mutter war ein Eisklotz. In ihrer Nähe fror Karin ständig, selbst heute noch. Doch jetzt machte ihr das nichts mehr aus. Sie hatte ihr eigenes Leben, einen lieben Mann, eine wohlgeratene Tochter und bald ihr erstes Enkelkind. Frieda war nicht weiter wichtig.
Karin hatte Bücher über verwaiste Eltern gelesen. Dabei ging es nicht nur um Eltern, die ein Kind durch den Tod verloren hatten, sondern auch um Kinder, die den Kontakt zu ihren Eltern vollständig abbrachen. In vielen Schilderungen hatte sie sich wiedererkannt. Vor einigen Jahren hatte sie eine Therapie gemacht, um die Erinnerungen an ihre Kindheit, ihre Erfahrungen mit Frieda aufzuarbeiten. Sie wollte die Fehler ihrer Mutter nicht bei ihrer Tochter wiederholen. Geholfen hatten die Gespräche mit der Therapeutin kaum. Ihren Rat, das Gespräch mit ihrer Mutter zu suchen, konnte sie nicht umsetzen. Sie hatte damals ernsthaft darüber nachgedacht, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen, sich nicht mehr um Frieda zu kümmern, jede Begegnung zu vermeiden. Doch den Gedanken hatte sie wieder verworfen. Zu anstrengend. Was sollten die anderen denken, besonders Rolf und Birte. Sie hätte viel erklären müssen. Es war bequemer, die verantwortungsbewusste Tochter zu spielen. Vielleicht war sie auch einfach nur zu feige.
Wenn sie ihre Mutter im Seniorenheim besuchte, unterhielten sie sich über Belanglosigkeiten, redeten über das Wetter. Meistens schwiegen sie. In der letzten Zeit erzählte sie von Birte und dem ungeborenen Enkelkind. Über ihre Gefühle sprachen sie nie. Auch nicht über die Vergangenheit, ihr gemeinsames Leben. Karin fühlte sich nach jedem Treffen ausgelaugt, als hätte Frieda alle Kraft aus ihrem Körper und ihrer Seele gezogen.
Die Mutter hatte mit neunzehn geheiratet. Bestimmt nicht aus Liebe. Karin hatte ihre Eltern nie zärtlich miteinander umgehen sehen. Sie umarmten sich nicht, küssten sich nicht. War Frieda gefühlskalt, so hatte Karl, ihr Vater, Temperament. Zu viel, schien es ihr oft. Mitunter hatte sie den Verdacht, dass er die Mutter schlug. Frieda hatte oft blaue Flecke, sprach von Ungeschicklichkeit. Etwas, das überhaupt nicht zu ihr passte. Selbst im Sommer trug sie hochgeschlossene Kleider, Blusen mit langen Ärmeln. Das sei ihr Stil, antwortete sie, als Karin ein einziges Mal ihren Mut zusammennahm und sie darauf ansprach. Karin fragte nie wieder.
Ihr Vater war 15 Jahre älter als die Mutter und er trank zu viel. Anfangs entschuldigte Karin ihn damit, dass das Leben mit Frieda anders nicht auszuhalten war. Später war das Trinken ebenfalls ein Grund dafür, dass sie so schnell wie möglich von zu Hause ausgezogen war. Sie hätte nach dem Abitur gerne studiert, aber dann hätte sie weiter in ihrem Elternhaus wohnen müssen, in diesem hochexplosiven Kühlschrank. Also machte sie eine Ausbildung beim Finanzamt. Die Tätigkeit interessierte sie nicht, aber ihre Lehrer hatten ihr geraten, etwas mit Zahlen zu arbeiten. Die Ausbildungsvergütung war gut. Sie suchte sich zusätzlich eine Putzstelle. So schnell wie möglich zog sie von zu Hause aus in eine winzige Einzimmerwohnung. Das erste Mal im Leben hatte sie ihre Ruhe, wurde nicht dauernd kritisiert, musste sich nicht verstellen. Kurze Zeit später lernte sie Rolf kennen. Sie heirateten nach wenigen Monaten. Bald darauf kam Birte zur Welt. Karin blieb einige Jahre zu Hause, dann ging sie wieder arbeiten. Mehr Kinder wollte sie nicht. Beim Finanzamt arbeitete sie bis heute.
Der Vater war schon vor Jahren gestorben. Frieda war nach seinem Tod richtig aufgeblüht. Sie trug ausgeschnittene Kleidung, schminkte sich und war einige Jahre viel unterwegs. Karin erinnerte sich genau an den Tag, an dem die Mutter sie anrief.
„Dein Vater ist die Treppe hinuntergefallen. Ich glaube, er ist tot. Ich habe den Rettungswagen gerufen.“
Unbewegt hatte Frieda geklungen, kühl und sachlich. Ohne ein weiteres Wort hatte sie aufgelegt.
Der Vater starb nicht sofort. Er lag drei lange Monate im Koma, wachte nicht mehr auf. Am Ende hatte Frieda entschieden, dass die Maschinen abgestellt werden sollen.
Es hatte eine polizeiliche Untersuchung gegeben. Frieda hatte den Rettungsdienst erst eine halbe Stunde nach dem Unfall angerufen. Bei früherer Hilfe hätte der Vater vielleicht gerettet werden können.
Frieda hatte für alles eine Erklärung. Sie sei geschockt gewesen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn zu handeln. Karin glaubte ihr nicht. Die rationale, planende, gut organisierte, gefühlskalte Frieda, unfähig zu handeln?
Sie hatten nie darüber gesprochen.
Karin hob den Kopf. Was waren das heute für komische Überlegungen?
Es war ein eigenartiges Gefühl gewesen, Frieda zu berühren. Wie war sie nur auf die Idee gekommen? In diesem Moment war ihr die Mutter klein und zerbrechlich vorgekommen, irgendwie geschrumpft. Wie sie so dastand, in ihrer viel zu großen, abgenutzten Strickjacke und den wenigen grauen Locken auf dem Kopf. Wo war die Frieda, die wie eine Riesin über ihrer Kindheit thronte, geblieben?
Karin zog ihr Handy aus der Tasche. Sie musste dringend auf andere Gedanken kommen. Eilig wählte sie die Nummer ihrer Tochter. Birte nahm das Gespräch sofort an.
„Na Mama, wie war es bei Oma? Habt ihr euch wieder gestritten?“
Karin schüttelte den Kopf, antwortete jedoch schnell. Schließlich konnte Birte sie nicht sehen.
„Nein, nein. Wir streiten nie, das weißt du doch. Eher schweigen wir uns an. Aber jetzt muss ich ja erst mal nicht mehr hin. Das ist das einzig Gute an dem Virus. Wie geht es dir denn? Warst du schon zum Einkaufen? Oder soll ich dir was vorbeibringen?“
„Lieb, das du fragst. Dennis ist gerade los. Meinst du, ich soll Oma mal anrufen? Wie lange darf sie denn keinen Besuch bekommen?“
„Ach, lass mal. Sie wird hier gut versorgt. Du hast genug mit dir selbst zu tun. Sehen wir uns morgen? Oder ist das nicht mehr erlaubt?“
Karin stockte. Bisher war ihr gar nicht klar gewesen, dass sie nicht nur ihre Mutter nicht mehr besuchen konnte, sondern auch ihre Tochter.
„Ich fürchte, wir können uns nicht mehr treffen.“ Klang Birte erleichtert oder bildete sie sich das ein. Hätte sie anstelle ihrer Mutter doch lieber ihre Tochter besucht!
„Aber wir können ja jeden Tag telefonieren. Du, ich muss Schluss machen. Dennis ruft gerade an. Bestimmt hat er Fragen zum Einkauf. Er will noch die letzten Sachen für das Baby besorgen.“
Bevor Karin etwas erwidern konnte, hatte Birte aufgelegt. Sie seufzte. Bestimmt war Birte im Stress. Ihr Verhältnis war gut, nicht so wie zwischen Frieda und ihr.
Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss und ließ den Motor an. Genug Gefühlsduselei und sinnlose Gedanken. Rolf kam gleich nach Hause und sie musste noch kochen. Der Besuch bei ihrer Mutter hatte ihr den ganzen Tag verdorben.
Ohne einen Blick zurück verließ Karin den Parkplatz des Seniorenheims.
„Frau Kuczinski, bitte Kasse besetzen, Frau Kuczinski, bitte.“
Anna setzte sich stöhnend auf. Sie hatte bis vor wenigen Minuten Ware in die leeren Regale geräumt und war in den Pausenraum geflohen. Seit einer Stunde hatte sie Feierabend, doch sie kam einfach nicht weg. Die Menschen strömten in den Laden und kauften, als würde es morgen nichts mehr geben. Seitdem die Regierung die Ausgangssperre verkündet hatte, bildeten sich Schlangen vor dem Geschäft. Der Filialleiter Herr Hausen hatte bereits einen Sicherheitsdienst bestellt, weil die aufgebrachten Menschenmassen sich vor der Tür drängelten. Jeder wollte noch schnell einkaufen.
Am Nachmittag hatte es um ein Haar eine Schlägerei gegeben. Zwei Kundinnen stürzten sich gleichzeitig auf das letzte Paket Mehl. Es gab ein Schubsen und Drängeln, bis die Tüte riss. Das Mehl rieselte auf den Boden, und die beiden Furien waren mit Mehlstaub bedeckt. Trotzdem zeterten sie weiter. Herr Hausen versuchte, sie zu beruhigen und wurde ebenfalls eingemehlt. Anna musste sich ein Lachen verkneifen.
Zum Glück hatte sie ihre Einkäufe bereits am Morgen erledigt. Das machte sie jeden Freitag. Freitag war Haupteinkaufstag, Großkampftag, wie Julia, ihre Freundin und Kollegin, betonte. So etwas wie heute hatte sie allerdings in ihrem ganzen Leben als Verkäuferin noch nicht erlebt.
„Frau Kuczinski, bitte.“
Selbst durch den öffentlichen Lautsprecher klang Herrn Hausen gereizt. Die Lautsprecherdurchsagen hatte er vor zwei Monaten eingeführt, gleich nachdem er als Filialleiter angefangen hatte. Durchsagen waren bei Aldi normalerweise nicht üblich. Anfangs fanden ihre Kolleginnen und sie das hilfreich. Die Arbeit konnte besser eingeteilt und organisiert werden. Inzwischen zuckten alle zusammen, sobald die Stimme von Herrn Hausen durch die Filiale schallte. Er hatte es im Gefühl. Jedes Mal, wenn sich eine von ihnen einen Moment ausruhen wollte, zur Pause oder auf die Toilette ging, wurde sie ausgerufen. Sie hatten den Verdacht, heimlich überwacht zu werden. Nicht ausgeschlossen, dass er Kameras installiert hatte. Zuzutrauen wäre es ihm.
Für Pausen blieb heute keine Zeit. Entweder saßen sie an der Kasse oder räumten Ware in die leeren Regale. Es kam Anna vor, wie Sand von einem Haufen auf den anderen zu schaufeln. Kaum hatte sie Artikel nachgefüllt, war wieder alles weg. Teilweise rissen ihr die Kunden die Sachen direkt aus der Hand, bevor sie die Kartons vollständig geöffnet hatte. Vor allem Produkte, die lange haltbar waren, wurden in Massen gekauft. Und Toilettenpapier.
„Frau Kuczinski an die Kasse!“
Das „bitte“ sparte sich Hausen mittlerweile. Anna zog ihr Handy aus der Tasche. Sie musste Ben anrufen, bevor sie sich wieder an die Kasse setzte, selbst wenn Hausen noch so drängelte. Beim Kassieren blieb dafür keine Zeit. Ihr Sohn war heute Nachmittag nach der Schule mit seinem Freund zum Fußballtraining gefahren. Das Training war längst zu Ende. Er würde gleich nach Hause kommen. Normalerweise wäre sie um diese Zeit bereits da. Hoffentlich hatte er seinen Schlüssel dabei. Hastig drückte sie die Tasten.
„Nun geh schon ran, Junge“, murmelte sie. Sie wollte gerade auflegen, da meldete sich Ben endlich.
„Hallo Mama, keine Sorge. Ich bin noch mit zu Torre gefahren. Wir wollen noch ein bisschen bolzen. Nicht böse sein. Ich wollte dir gerade eine Nachricht schicken. Stell dir vor, die Schule fällt Montag aus. Wir haben ganz viele Aufgaben bekommen. Da musst du mir unbedingt helfen. Mathe verstehe ich schon in der Schule nicht. Und beim Training heute hat der Trainer gesagt, wenn ich weiter so gut dribbele, dann komme ich vielleicht in die Auswahl. Ich muss mich nur richtig reinhängen.“
Es sprudelte aus Ben nur so heraus. Anna presste das Handy ans Ohr. Nervös zuckte sie mit dem Fuß. Ben litt darunter, dass sie so wenig Zeit für ihn hatte. Bens Vater zahlte keinen Unterhalt und kümmerte sich auch sonst nicht um seinen Sohn. Sie war für alles verantwortlich, für das Finanzielle und für die Zuwendung. Je älter Ben wurde, desto schwieriger fand sie es, ihm gerecht zu werden.
„Mama, wenn ich mich anstrenge, darf ich nächsten Monat mit zum Sondertraining. Dafür brauche ich aber endlich die neuen Fußballschuhe.“
Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung. Oder kam er bereits in den Stimmbruch?
Anna zuckte zusammen. Die Schuhe kosteten über hundert Euro. Eigentlich brauchte sie dringend eine neue Sommerjacke. Das würde nichts werden. Fußballschuhe waren wichtiger. Es knackte im Lautsprecher. Sie holte tief Luft.
„Stopp Ben. Da sprechen wir drüber, wenn wir zu Hause sind. Ich muss an die Kasse. Kannst du noch einen Moment bei Torre bleiben? Ich weiß nicht, wann ich hier endlich loskomme. Julia muss auch länger arbeiten. Hier ist heute echt der Teufel los. Ist Kay da?“
Kay war Julias Lebenspartner. Anna freute sich, dass Ben in Torre, dem Sohn von Julia, einen guten Kumpel gefunden hatte. Die Jungen hatten dieselben Interessen, besuchten dieselbe Klasse und spielten gemeinsam im Verein Fußball. Sie waren unzertrennlich.
„Klar, Kay ist schon lange da. Der muss nicht so viel arbeiten wie du.“
Anna hörte den Vorwurf in Bens Stimme. Sie schluckte.
„Du weißt genau, warum ich so viel arbeite. Denk an die Fußballschuhe. Du, ich muss mich beeilen. Der Hausen drängelt schon. Gibst du mir mal Kay?“
Kay war Zimmermann und hatte freitags oft früher Feierabend. Er versprach, sich um die beiden Jungen zu kümmern. Sie würden „Männeressen“ zum Abendbrot holen: halbe Hähnchen mit Pommes. Erleichtert steckte Anna das Handy in ihre Tasche. Für Ben war gesorgt.
„Frau Kuczinski, so geht das nicht. Sie wissen genau, privates Telefonieren während der Arbeitszeit ist verboten.“
Herr Hausen stand vor ihr und starrte auf sie herunter. Er überragte Anna um mindestens zwei Köpfe. Neben ihm kam sie sich schrecklich klein vor. Eigentlich sah er ganz gut aus mit seinen blauen Augen und den ersten grauen Strähnen im Haar. Wenn er bloß nicht immer so biestig gucken würde. Annas Herz klopfte bis zum Hals. Es war so ungerecht. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen.
„Herr Hausen, ich habe seit einer Stunde Feierabend, ich bin alleinerziehend und mein Sohn ist erst zehn. Ich bleibe ja länger, aber ich muss das organisieren. Dafür habe ich mit meinem Sohn telefoniert. Es war sozusagen dienstlich. Und jetzt gehe ich an die Kasse. Das Regal mit den Nudeln ist übrigens schon wieder leer. Eine Stiege ist noch im Lager, mehr nicht.“
Mit diesen Worten stolzierte sie erhobenen Hauptes an Herrn Hausen vorbei. Ihre Hände waren schweißnass. Ihr Herz hüpfte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er verblüfft den Kopf schüttelte.
Puh, dass sie sich das getraut hatte. Julia, die die Szene zufällig beobachtet hatte, reckte den Daumen in die Höhe und grinste.
Beschwingt öffnete Anna ihre Kasse. Erleichtert fiel sie auf ihren Stuhl und lächelte die wartenden Kunden an. Es hatte sich eine lange Schlange gebildet. Überall verkniffene Gesichter. Endlich hatte sie sich mal gewehrt. Sie ließ sich viel zu viel gefallen. Das war seit ihrer Kindheit ihr Problem.
Für gewöhnlich fluchte sie innerlich, wenn sie kassieren musste. Das war ihr zu eintönig. Die Waren über den Scanner ziehen, abkassieren, der Nächste bitte. Hier bei Aldi in der Stadt gab es so gut wie nie Gespräche mit den Kunden. Gerne sah Herr Hausen das sowieso nicht. Bei Edeka, wo sie ihre Ausbildung gemacht hatte, war das anders gewesen. Die Arbeit hatte ihr Spaß gemacht. Sie kannte viele Kundinnen mit Namen und plauderte und scherzte mit ihnen. Tratsch gehörte dazu. Die alten Leute kamen jeden Tag zum Einkaufen, damit sie andere Menschen trafen und quatschen konnten. Verkäuferin war für Anna ein sozialer Beruf. Sie wäre gerne Kindergärtnerin oder Krankenschwester geworden. Doch dafür reichte ihr Hauptschulabschluss nicht. Deshalb achtete sie sehr darauf, dass Ben ordentlich für die Schule lernte. Er sollte seinen Beruf später frei wählen können.
Seit sie bei Aldi arbeitete, zog sie die Waren über den Scanner und nannte am Ende den Betrag. Das war es. Beim Auspacken der Ware konnte sie wenigstens mit den Kolleginnen quatschen. Heute tat ihr der Rücken vom ständigen Heben und Bücken weh, und sie war froh zu sitzen. Der Stuhl an der Kasse drückte im Kreuz, ihre Füße reichten nicht bis zum Boden, und ihre Arme kribbelten. Trotzdem war die geänderte Körperhaltung eine Erleichterung.
Nach kurzer Zeit wünschte sich Anna, sie würde wieder Regale einräumen. Die Schlange an der Kasse nahm kein Ende. Es wurde geschubst, gepöbelt und gedrängelt. Alle guckten verkniffen, Eltern schimpften mit ihren Kindern, Männer brüllten ihre Frauen an und diese zischten zurück.
Annas Kopf pochte. Ihre Hände zitterten und es fiel ihr zunehmend schwerer, die Waren über das Band zu ziehen. Zweimal gab sie das Wechselgeld falsch heraus. Hoffentlich stimmte nachher die Kasse.
Josefine hob Angelina hoch und versuchte, sie in den Buggy zu setzen. Die Kleine machte sich steif und klammerte sich am Arm ihrer Mutter fest.
„Los, Motte! Sei nicht so bockig. Wir müssen los.“
„Laufen“, schmollte Angie.
„Morgen wieder. Heute hab‘ ich es eilig. Wir müssen noch zur Tafel. Die machen morgen dicht, wegen dem Virus. Und dann kommt Tante Willomeit. Ich muss noch aufräumen. Mann, für so was habe ich jetzt echt keine Zeit.“
Josie drückte ihre Tochter in den Buggy und versuchte, die Arme unter die Gurte zu schieben.
„Nun hilf doch mal mit!“, schnauzte sie Angelina an. Mit einem Lächeln wandte sie sich an ihre Freundin, die ihren Sohn ebenfalls aus der Kita abholte.
„Tschüss Cindy, bis Montag. Drück mir die Daumen, dass die Willomeit heute gute Laune hat.“