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Die Zeit heilt keine Wunden 38 Jahre lang hat Hanka Altmann aus der DDR vergeblich nach ihrem Sohn Sascha gesucht, der mit 4 Jahren während eines Ausflugs im Thüringer Wald entführt wurde. Eines Tages begegnet ihr ein Mann, der ihr Sohn sein könnte. Sie reagiert zu spät und der Mann verschwindet. Hanka engagiert den Detektiv Stefan Blume, der Sascha aufspüren soll. Der Gesuchte lebt unter dem Namen Erik Galland im Harz. Dort sammelt er als V-Mann des Verfassungsschutzes Informationen in der Neonazi-Szene. Als drei von Eriks Nazi-Kameraden ermordet werden, fürchtet auch er um sein Leben. Dann begegnet Erik seiner vermeintlichen Mutter und dem Detektiv Blume. Gemeinsam begeben sie sich auf die Spuren ihrer jeweiligen DDR-Vergangenheit und kommen dabei dem Mörder der Nazis bedrohlich nahe ...
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Seitenzahl: 400
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Für die Mütter, Väter und Kinder, deren Familien in der DDR durch staatliche Willkür zerrissen wurden.
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2020 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8389-7
Roland LangeHarzkinder
Über den Autor:Roland Lange, Jahrgang 1954, lebt in der Nähe des Harzes in Katlenburg-Lindau. Er studierte in Hamburg Vermessungskunde und arbeitete als Vermessungsingenieur in den Katasterämtern in Göttingen und Osterode am Harz. Nebenher begann er zu schreiben: Romane, Liedtexte und Theaterstücke, seit 2010 auch Kriminalromane. 2014 beendete er seine Tätigkeit als Ingenieur und widmete sich ganz dem Schreiben. Roland Lange ist so etwas wie ein krimineller Botschafter des Harzes, denn auf seine Initiative fand 2011 das erste Mordsharz-Krimifestival statt. Seither gehört er zu den Organisatoren, die jedes Jahr im September hochkarätige deutsche und internationale Krimi-Autorinnen und -Autoren in den Harz einladen.Lange ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS), bei den 42erAutoren e.V. und im SYNDIKAT, Autorengruppe deutschsprachige Kriminalliteratur.
On and on the rain will fallLike tears from a star On and on the rain will sayHow fragile we are (aus dem Song „Fragile“ von Sting)
Prolog
August 1980
Es war der vorletzte Tag ihres Urlaubs im FDGB-Ferienheim „Hermann Danz“ in Friedrichroda im Thüringer Wald.
Das Ehepaar Hanka und Ulrich Bartko war zusammen mit seinen Kindern Kerstin und Sascha zum Nachbarort Georgenthal gefahren und vom Ortsrand aus die gut drei Kilometer zur Waldgaststätte Wechmarer Hütte, einem bekannten Ausflugsziel, gewandert. Nach einer Rast an der Hütte wollten sie den Rückweg antreten.
Als die Familie das Lokal am späten Vormittag erreichte, herrschte dort bereits reger Betrieb. Sowohl in der Gaststube als auch vor dem Haus waren fast alle Plätze besetzt. Am Rand des abgegrenzten Außenbereichs fand sich noch ein freier Tisch. Eilig steuerten die beiden Kinder darauf zu, gefolgt von ihren Eltern.
Erleichtert seufzend ließen sie sich auf den Bänken nieder und packten ihren mitgebrachten Proviant aus. Als nach einer gefühlten Ewigkeit endlich eine gehetzt wirkende Bedienung zu ihnen kam und missmutig die Bestellung entgegennahm, hatten die Kinder ihre Brote bereits verschlungen und rutschten unruhig auf ihren Sitzplätzen herum.
„Mama, Durst!“, quengelte der vierjährige Sascha. „Ich will trinken!“
„Einen Moment wirst du dich wohl noch gedulden müssen.“ Vater Ulrich warf der Kellnerin einen zweifelnden Blick hinterher.
„Dürfen wir spielen?“ Kerstin, Saschas knapp sechs Jahre alte Schwester, hatte keine Lust, am Tisch auf ihre Limonade zu warten.
„Von mir aus.“ Hanka Bartko seufzte. „Aber bleibt in der Nähe, damit ich euch sehen kann.“
Kerstin nickte und forderte ihren Bruder auf, mitzukommen. Gemeinsam liefen sie über die freie Fläche hin zum Waldrand.
Ein Paar näherte sich dem Tisch der Bartkos. Die elegant-luftige Sommergarderobe der beiden deutete darauf hin, dass sie den Weg vermutlich mit dem Auto und nicht zu Fuß bewältigt hatten. Der Mann mochte um die Dreißig sein, seine Begleiterin schien einige Jahre jünger. Mit ihrem auffallend gepflegten Äußeren wirkten sie ein wenig fehl am Platz zwischen all den anderen Gästen, hauptsächlich Wanderern. Hanka blickte ihnen skeptisch entgegen, ahnte bereits die Frage, die der Mann auch gleich darauf stellte: „Entschuldigen Sie bitte, sind hier noch zwei Plätze frei?“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. „Ist ja ordentlich was los.“
Hanka drehte sich zu ihren Kindern um, die ein Stück entfernt irgendeiner Spur auf dem Waldboden nachgingen und die Welt um sich herum vergessen zu haben schienen.
„Aber natürlich, setzen Sie sich ruhig“, hörte sie ihren Mann sagen. Sie unterdrücke ihren Einwand, dass die freien Plätze auf der Bank ja für ihre Kinder reserviert seien, nickte den Fremden stattdessen nur stumm zu.
„Vielen Dank“, entgegnete der Mann erleichtert. Er stellte sich als Joachim Aschoff und seine Begleiterin als seine Ehefrau Renate vor.
„Angenehm. Ich heiße Ulrich Bartko, das ist meine Frau.“ Er deutete auf Hanka, die freundlich nickend ihren Namen nannte.
„Sie stammen nicht aus der Gegend“, stellte Renate Aschoff lächelnd fest. „Ihr Zungenschlag ...“
Sie wurde von der Kellnerin unterbrochen, die mit den Getränken kam und sie auf dem Tisch abstellte. Ehe sie wieder verschwand, orderte Joachim Aschoff zwei Tassen Kaffee.
„Kerstin, Sascha! Eure Limonade!“ Hanka Bartko winkte ihren Kindern zu. Schmunzelnd sah sie ihnen entgegen, als sie im Sturmlauf auf den Tisch zugerannt kamen. Außer Atem griffen sie nach den Gläsern und tranken gierig.
„Langsam, langsam“, mahnte Hanka, „oder wollt ihr euch verschlucken?“
Die Kinder schielten kurz über die Glasränder hinweg zu ihrer Mutter, tranken aber bis zum letzten Tropfen weiter. Sascha musste von der Kohlensäure aufstoßen. Laut, und ohne dass er sich die Hand vor den Mund hielt, rutschte ihm der Rülpser heraus.
„Sascha! Kannst du dich nicht benehmen?“
Der Junge reagierte nicht auf die Ermahnung seiner Mutter. Stattdessen deutete er auf das Ehepaar Aschoff. „Wer sind die?“, fragte er.
„Man zeigt nicht mit dem Finger auf andere Leute“, entgegnete Hanka energisch. Das Verhalten ihres Sohnes war ihr sichtlich unangenehm.
„Lassen Sie nur, ist doch nicht schlimm“, beschwichtigte Joachim Aschoff und stellte sich und seine Frau erneut vor. Diesmal den Kindern.
„Aha“, antwortete Sascha knapp, dann war sein Interesse an den Fremden erloschen. Er zupfte seine Schwester am Arm. „Komm, weiterspielen.“
„Nette Kinder haben Sie“, sagte Renate Aschoff und sah den Geschwistern nach, die sich wieder Richtung Waldrand entfernten.
Ulrich Bartko nickte. „Ja, aber manchmal sind sie auch ganz schön anstrengend. Na ja, kleine Wildlinge eben. Das ist übrigens unser erster richtiger Urlaub, den wir als Familie zusammen machen. Drüben, in Friedrichroda im Ferienheim. Morgen reisen wir ab. Dann ist die schöne Zeit wieder vorbei.“ Er seufzte.
„Ihr allererster Urlaub mit den Kindern?“ Renate Aschoff zog verwundert die Augenbrauen hoch.
Hanka zuckte mit den Schultern. „Wir dachten schon, es würde nie etwas werden. Doch dann haben wir aus heiterem Himmel den Ferienscheck erhalten. Nachdem wir Jahr für Jahr vergeblich unsere Anträge gestellt haben.“ Sie lächelte verlegen.
„Da sind Sie den Genossen in der Betriebsleitung wohl hin und wieder mal kräftig auf die Füße getreten, wenn man Sie so lange hat zappeln lassen, wie?“ Joachim Aschoff lachte und drohte scherzhaft mit dem Finger.
Ulrich und Hanka Bartko lächelten verlegen zurück, wollten sich aber nicht näher dazu äußern. Der Mann hatte, ohne es zu wissen, ihre wunde Stelle getroffen. Es fiel ihnen beiden schwer, in den Chor der vorgegebenen, hohlen Phrasen einzustimmen und ein Hohelied auf Partei und Staat zu singen. Schon immer. Sie gehörten nicht unbedingt zu den Menschen, die man als linientreu bezeichnen konnte. Besonders Ulrich war in der Vergangenheit des Öfteren auf der Arbeit durch das eine oder andere falsche Wort unangenehm aufgefallen. Hanka und ihr Mann waren im selben Betrieb beschäftigt, sie als Freizeitpädagogin, er als Fahrer. Also durfte sie die Konsequenzen von Ulrichs unvorsichtigem Verhalten mit ihm gemeinsam ausbaden. Ganz sicher war es seinem vorlauten Mundwerk zu verdanken, dass ihre Urlaubsanträge immer wieder abgelehnt wurden. Aber einmal hatte es ja klappen müssen. Hanka und Ulrich hatten sich keine Gedanken darüber gemacht, woher der plötzliche Sinneswandel rührte. Sie hatten endlich den begehrten Scheck und einen Platz im Ferienheim erhalten! Nur das hatte gezählt!
Joachim Aschoff, der zu spüren schien, dass die Bartkos nur ein geringes Interesse zeigten, das Gespräch richtig in Gang zu bringen, übernahm das Wort und plauderte munter drauf los. Er sei Facharzt für innere Medizin an der Poliklinik Eisenach, sagte er, und Renate, seine Frau, sei Lektorin in einem kleinen Kinderbuchverlag. Eigene Kinder hatte das Ehepaar noch nicht.
Die Aschoffs zog es immer wieder mal auf einen Kaffee zur Wechmarer Hütte. Es sei mit dem Auto ja nur ein Katzensprung von Eisenach, wo sie in einem kleinen Eigenheim wohnten. Auch heute habe sie das herrliche Sommerwetter nach draußen gelockt. Und wo könne man einen der seltenen freien Tage besser genießen als hier, in der Natur, fernab vom städtischen Trubel?
Joachim Aschoff sog tief die würzige Waldluft ein und breitete die Arme aus. Er schien den ganzen Wald umfassen und an sich drücken zu wollen. Seine Frau warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu, vielleicht war es aber auch ein geheimes Signal unter Eheleuten, jedenfalls erhob sie sich gleich darauf und verschwand mit einer knappen Entschuldigung in Richtung Toiletten. Ulrich Bartko sah ihr hinterher. Mit einem Blick, der seiner Frau nicht verborgen blieb. Hanka kannte diesen Blick. Die Lektorin gefiel ihm. Zugegeben, sie war attraktiv und man musste als Mann schon blind sein, um das nicht zu bemerken. Trotzdem brauchte Ulrich ihr nicht so ungeniert auf den Hintern zu starren! Mehr, um sich von ihrer aufsteigenden Eifersucht abzulenken als aus Sorge, drehte sie sich nach ihren Kindern um.
Kerstin und Sascha tauchten gerade in den Wald ein, drohten aus ihrem Blickfeld zu verschwinden. Sie rief nach ihnen, wollte, dass sie zurückkamen.
„Lassen Sie die zwei doch“, wurde sie von Joachim Aschoff unterbrochen, „was soll ihnen schon passieren? Der Wald da hinten ist ein idealer Spielplatz. Keine Gefahrenstellen, weder Klippen, ein reißender Bach oder eine viel befahrene Straße.“
Hanka nickte. Der Mann hatte ja recht. Ihre Angst um die Kinder war zuweilen etwas übertrieben.
Zehn Minuten später war die Frau des Mediziners immer noch nicht zurück. Joachim Aschoff hatte ununterbrochen geplaudert und die Bartkos mit amüsanten Anekdoten in seinen Bann gezogen. Jetzt unterbrach er sich selbst in seinem Erzählfluss, schaute auf die Armbanduhr. Abrupt erhob er sich von seinem Platz.
„Ich denke, ich sehe mal nach meiner Renate. Sie wird ja wohl nicht in die Toilette gefallen sein.“ Er lachte glucksend. „Und dann müssen wir auch schon wieder fahren. Es wird höchste Zeit für uns. Schön, dass wir uns kennengelernt haben.“ Mit einem flüchtigen Abschiedsgruß wendete er sich ab und entfernte sich mit schnellen Schritten.
„Nette Leute“, sagte Ulrich Bartko zu seiner Frau gewandt.
„Vor allen Dingen sie“, entgegnete Hanka giftig. „Mit ihrem prallen Hintern!“ Sie konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen.
„Hanka, bitte!“, brauste Ulrich auf. „Nicht schon wieder!“
Sie hörte nicht hin, wandte sich zu ihren Kindern um. Kerstin und Sascha waren nirgends zu sehen. Sie kniff die Augen zusammen, versuchte, die bunten Jacken der beiden zwischen den Bäumen zu entdecken. Nichts.
„Uli, siehst du sie?“
„Wen?“, fragte ihr Mann begriffsstutzig.
„Die Kinder! Sie sind verschwunden!“
„Blödsinn! Sie können doch nicht weg sein! Wahrscheinlich spielen sie nur Verstecken.“
Hanka sprang auf. „Los, komm. Wir müssen sie suchen.“ Ihre Stimme klang schrill.
„Jetzt beruhig dich mal. Sie werden gleich wieder auftauchen.“ Ulrich Bartko konnte die Sorge seiner Frau nicht verstehen.
„Dann bleib doch sitzen! Ich suche sie allein“, fauchte Hanka und rannte los. Seufzend erhob sich ihr Mann und lief ihr hinterher. Er hatte Mühe, ihr zu folgen.
Sie erreichten den Waldrand. Von den Kindern keine Spur. Hanka rief ihre Namen, Ulrich stimmte lautstark in das Rufen ein, hatte sich von Hankas Angst anstecken lassen. Auf dem Platz vor dem Ausflugslokal waren etliche Gäste auf sie aufmerksam geworden und beobachteten ihr Treiben. Niemand machte Anstalten, ihnen zu helfen.
„Mami!“
Endlich! Es war Kerstins helle Stimme, die sie hörten, noch bevor sie das Mädchen sahen. Aufgeregt kam die Kleine zwischen den Fichten hindurch auf sie zugestolpert.
„Kind, da bist du ja!“, rief Hanka erleichtert und fing ihre Tochter auf, die sich in ihre Arme stürzte.
„Mami, Mami, da hinten gibt es Rehe und Hasen und einen Fuchs und ...“
„Wo ist dein Bruder? Wo ist Sascha?“, unterbrach Ulrich Bartko das aufgeregte Plappern des Mädchens.
Hanka warf ihrem Mann einen irritierten Blick zu, schien erst in diesem Moment zu begreifen, dass ihre Tochter allein zurückgekommen war. Ohne ihren Bruder. Sie schob das Mädchen auf Armlänge von sich weg, blickte ihr fest in die Augen. „Wo ist Sascha?“, fragte sie ernst.
„Die ... die Frau“, stammelte Kerstin verschüchtert, „die wollte uns die Tiere zeigen.“
„Welche Frau? Los, sag schon!“ Hanka schüttelte ihre Tochter unsanft an der Schulter.
„Die Frau von unserem Tisch“, greinte das Mädchen, „die mit dem Mann da gesessen hat. Ich durfte nicht mit. Weil die Tiere Angst kriegen, wenn zu viele Leute kommen, hat die Frau gesagt. Erst sollte Sascha die Rehe sehen, dann ich. Ich sollte warten. Da hinten.“ Kerstin drehte sich um, deutete auf einen unbestimmten Punkt zwischen den Bäumen.
„Sascha!“ Hanka stürzte, von plötzlicher Panik getrieben, vorwärts. „Sascha!“ Ihre Verzweiflung wurde vom Wald verschluckt.
„Komm!“ Ulrich Bartko schnappte sich seine Tochter, nahm sie auf den Arm, stolperte mit ihr seiner Frau hinterher.
Hanka stoppte abrupt. „Wo lang?“, fragte sie keuchend. Sie drehte sich um, blickte ihre Tochter an. Verzweiflung in den Augen. „Wo habt ihr mit der Frau gesprochen?“
„Da ...“ Kerstin deutete zögernd in eine Richtung, dann in eine andere. „Ich weiß nicht mehr.“
Sie liefen weiter. Ziellos. Rufend. „Sascha! Sascha ...!“
Dann, plötzlich, ein leises Motorengeräusch. Nicht das helle Zweitakt-Hämmern eines Trabbis. Mehr ein Brummen, voller und dunkler. Irgendein größeres Fahrzeug. Sie änderten ihre Richtung, liefen dem Geräusch entgegen. Genau in dem Moment, als sie den Waldweg erreichten, fuhr die dunkelblaue Limousine an ihnen vorbei. Ein Moskwitsch. Am Steuer saß eine Frau. Die Lektorin? Und hinten auf der Rückbank ein Kindergesicht, das ihnen durch die Scheibe entgegenblickte. Das Gesicht eines kleinen Jungen? Dann war der Wagen um eine Biegung aus ihrem Blickfeld verschwunden. Es war alles so schnell gegangen.
„Sascha! Das war Sascha!“ Hanka sah sich panisch nach ihrem Mann um. Der stand nur da, wie zur Salzsäule erstarrt. Kerstin, seine Tochter, rutschte durch seine Arme langsam zu Boden. „Ich weiß nicht“, murmelte er tonlos, „ich habe kaum etwas erkannt. Vielleicht war das jemand anderes. Ein anderes Kind.“
Sie schüttelte den Kopf, kroch auf allen vieren hastig die kleine, steile Böschung zum Weg hinauf, rannte wie eine Verrückte dem Auto hinterher. Zwanzig, dreißig Meter vielleicht, dann wurde sie langsamer, torkelte noch ein paar Schritte vorwärts, blieb stehen. Sie hielt sich die Arme vor den Bauch, beugte sich krampfhaft vor. Ihr Gesicht war schmerzhaft verzerrt, sie hatte Tränen in den Augen. „Der Junge in dem Auto ...“, keuchte sie. „Das war Sascha!“
1. Kapitel
Ende August 2018
Der Spätsommer trug diesen besonderen Duft in sich, den sie so sehr liebte. Überfluss, Süße, Reife und auch ein wenig Trägheit und Melancholie angesichts des nahen Sterbens und Abschiednehmens.
Hanka Altmann blickte in den Rückspiegel und ließ ihre Augen eine Sekunde lang auf den Kisten im Laderaum ihres Škoda Yeti ruhen, ehe sie sich wieder auf den Verkehr konzentrierte. Zufrieden lauschte sie dem leisen Klicken der Einweckgläser, die das Vibrieren und Schwingen der Karosserie aufnahmen und, dem Rhythmus des welligen Straßenbelags folgend, aneinanderschlugen.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Immer, wenn sie, wie jetzt, unterwegs war, um ihre Waren auszuliefern, verspürte sie diese seltenen Glücksgefühle. Ihre Marmeladen und ihr Eingemachtes waren heiß begehrt. In den nahe gelegenen Städten Braunschweig und Wolfsburg sowieso, aber auch etwas weiter entfernt, im Harz. Gaststätten, Hotels und Supermärkte gehörten zu ihren Hauptabnehmern. Doch es waren auch ein paar Privatkunden darunter, vornehmlich in den etwas abgelegeneren Ecken des Mittelgebirges.
Sie verkaufte nur sehr kleine Mengen, so viel, wie sie zusammen mit ihren drei Helferinnen aus der Nachbarschaft eben ernten und verarbeiten konnte. Doch das war immer noch weit mehr als das, was sie damals, vor ihrem Renteneintritt, hergestellt hatte. Gelegentlich packte auch ihr Mann mit zu, wenn es sein Gesundheitszustand erlaubte. Aber eine wirkliche Hilfe war er nicht.
Hankas Produkte zeichneten sich dadurch aus, dass sie echt und natürlich waren, eingekocht zu Hause in der geräumigen Kellerküche. Nach den alten sorbischen Rezepten ihrer Mutter. In die Gläser kam nur das, was der Garten hinter dem Haus und die Obstbäume auf der gepachteten Wiese hergaben. Sie kaufte kein importiertes Obst und Gemüse ein, um es zu verarbeiten. Sie warb mit Echtheit, Ehrlichkeit und Natürlichkeit – keine Chemie, keine industrielle Massenware. Und es steckte ein Stück Erinnerung in jedem einzelnen Glas, Erinnerung an die gute alte DDR-Zeit, die bei Licht betrachtet alles andere als gut gewesen war – zumindest für sie. Aber den Kunden gefiel es, sie mochten die Ostalgie, diese rosaroten Träume von einer untergegangenen Republik, die sie mit den Aufklebern auf ihren Produkten verkaufte – das Emblem mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz und darunter die Aufschrift „Natur im Glas – so schmeckt der Osten!“ Solche Sachen gingen weg wie warme Semmeln. Wurden gehandelt wie Andenken, standen für Bodenständigkeit und Zusammenhalt der kleinen Leute in der ehemaligen DDR. Auch jetzt noch, knapp drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall.
Zusammenhalt – oh ja! Gepaart mit der Angst vor Verrat. Misstrauen. Lügen. Wem konnte man glauben, wem nicht? Sie konnte ein Lied davon singen, hatte am eigenen Leib die Konsequenzen ihrer vermeintlichen Fehltritte erfahren, wusste nur zu gut, zu welchen niederträchtigen Schandtaten die Handlanger eines durch und durch verdorbenen Staatsapparates fähig gewesen waren. Und dennoch betrieb sie mit ihren Einmachgläsern diese absurde Schönfärberei. Eigentlich müsste sie sich vor sich selbst und vor allen, die ebenfalls Opfer des Systems geworden waren, in Grund und Boden schämen! Galle stieg in ihrer Speiseröhre auf. Bitterer Geschmack im Mund. Sie schluckte heftig. Nicht schon wieder. Nicht jetzt! Der Tag war so schön verlaufen. Warum ihn zum Schluss mit düsteren Gedanken verderben?
Der Edeka-Markt in Elbingerode war die letzte Station auf Hankas heutiger Harz-Tour. Sie hatte die Bestellung, Kirsch- und Erdbeermarmelade, Pflaumenmus, Mixed Pickles und Gurken nach Spreewälder Art, in der Warenannahme abgeliefert, jeweils zehn Gläser, von den Marmeladen die doppelte Anzahl. Danach hatte sie noch ein paar schnelle Worte mit dem Marktleiter, Dietmar Knoche, gewechselt, hinten, vor seinem Büro. Knoche war ein gutmütiger, kleiner Mann, Mitte vierzig, korpulent und mit schwammigem, rosafarbenem Gesicht. Um seine Glatze lag ein Kranz dünnen, hellblonden Haares. Seit Knoche den Supermarkt vor einem Jahr übernommen hatte, war sie schon öfter mit ihm zusammengetroffen. Für gewöhnlich hatte Knoche reichlich Zeit für sie übrig. Immer war er begierig, mit ihr über die alten Zeiten zu sprechen. Auch er war ein Kind der DDR und schien ein wohlbehütetes Zuhause gehabt zu haben. Obwohl die Wende ihn, nach allem, was sie von ihm wusste, nicht ins soziale Abseits gespült und er sich im kapitalistischen System durchaus seinen Platz erobert hatte, schien seine Sehnsucht nach der guten alten DDR-Zeit nicht abklingen zu wollen. In Hanka und ihren Einweck-Produkten fand er ein Stück dieser Zeit wieder.
Sie nahm ihm seine Schwärmereien nicht übel, hatte durchaus Verständnis. Auch sie kannte die Zeiten, als sie ein beschauliches, zufriedenes Leben geführt hatte. Mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Bis zu jenem Tag, an dem sich alles binnen weniger Minuten geändert hatte. Aber das konnte Dietmar Knoche nicht wissen und sie hatte nicht vor, es ihm jemals zu sagen. Deshalb ließ sie sich auf seine schwärmerischen Erinnerungen ein, plauderte nett mit ihm und hielt ihre wahren Empfindungen verborgen.
Heute hatte sie sich nicht verstellen müssen. Knoche hatte keine Zeit für alte Geschichten gehabt, hatte irgendwie unter Druck gestanden. Zumindest war es ihr so vorgekommen. Na ja, er war der Marktleiter, trug Verantwortung. Hatte vielleicht die Konzernleitung im Nacken. Wer wusste das schon?
Sie war nach vorn und durch den Haupteingang in den Verkaufsraum gegangen, um die Einkäufe für das bevorstehende Wochenende zu erledigen. Wenn sie schon hier war, konnte sie das eine gleich mit dem anderen verbinden.
Zielstrebig schob sie den Einkaufswagen durch die Gänge, sammelte alles ein, was sie an Lebensmitteln und anderen Haushaltswaren benötigte. Dann steuerte sie auf die Spirituosenabteilung zu. Sie gönnte sich nur selten einen guten Tropfen. Aber heute war ihr danach.
Unentschlossen ließ sie ihre Augen über die Reihen mit Hochprozentigem gleiten, griff sich hier und da eine Flasche, nur um sie nach kurzem Zögern wieder ins Regal zurückzustellen. Vielleicht sollte sie es mit einem der Weine versuchen, die ein Stück weiter rechts in unüberschaubarer Vielfalt aufgereiht waren. Eine Spätlese von der Mosel, gut temperiert, wäre nicht schlecht.
Sie machte einige energische, schnelle Schritte in die entsprechende Richtung, die Augen fest an die aufgereihten Flaschen geheftet, als sie mit dem Wagen gegen einen Mann prallte, der plötzlich wie aus dem Nichts vor dem Regal aufgetaucht war. Sie sah den Mann straucheln und dann zu Boden gehen. Reflexartig versuchte er, sich an einem kreisförmig aufgebauten Display mit einem Sonderangebot spanischer Weine festzuhalten. Der Griff ging ins Leere, seine Hand streifte lediglich ein paar der Flaschen, die ins Schwanken gerieten, aber nicht herunterfielen. Einen Moment lag der Mann da auf dem Rücken und starrte seine Unfallgegnerin mit weit aufgerissenen Augen an.
Hanka klammerte sich erschrocken mit einer Hand an den Griff des Wagens, fasste sich mit der anderen an ihr Herz.
„Mein Gott! Entschuldigen Sie bitte!“, rief sie aus. „Ich habe Sie gar nicht kommen sehen!“
Der Mann erwiderte nichts. Ein, zwei Sekunden hing sein Blick noch an Hanka, lange genug, um eine Erinnerung in ihr wachzurufen. Dann rappelte er sich umständlich auf, wobei er sich mit der rechten Hand am Boden abstützte – die Anomalie war für einen Augenblick deutlich zu erkennen. Er brummte etwas Unverständliches in seinen schwarzen Vollbart und drückte sich an ihr vorbei.
Hanka sah ihm nach, die Augen auf seine Strickmütze geheftet, unter der drahtige Haare hervorquollen, die, von einem Gummiband zusammengehalten, bis auf den Kragen seines hellgrauen Overalls reichten. Dann war der Mann hinter einer der Regalwände verschwunden.
Die Augen, dachte sie, diese hellen blauen Augen, die passten nicht. Sie standen in einem merkwürdigen, leuchtenden Kontrast zu den schwarzen Haaren, die sein Gesicht einrahmten und seinen Kopf bedeckten. Sie passten auch nicht zu den Augenbrauen, zwei dicken, dunklen Balken, die seinen ohnehin düsteren Gesichtsausdruck zusätzlich verstärkten. Die Augen des Mannes erinnerten sie vielmehr an den kleinen vierjährigen Jungen mit seinem strohblonden Schopf, dem von Geburt an der kleine Finger der rechten Hand fehlte. An ihren Sohn, den sie vor fast vier Jahrzehnten verloren hatte. Ihr kleiner Sascha, den alle Welt für tot hielt. Aber er lebte! Sie hatte es immer gewusst. Sie war seine Mutter! Sie hatte die Suche nie aufgegeben. Und jetzt dieser Mann. Seine Augen, der fehlende Finger. Sie hatte doch richtig gesehen? Der kleine Finger an seiner Hand hatte gefehlt, ganz sicher! Oder doch nicht? Es war alles so schnell gegangen.
Sie wendete ihren Einkaufswagen, schob ihn eilig vor sich her, blickte links und rechts in die Regalgänge, bog in einen der Gänge ab, rempelte Kunden an, die ihr im Weg standen, drückte sich mit einer flüchtigen Entschuldigung an ihnen vorbei. Den Mann mit den blauen Augen konnte sie nirgends entdecken.
Dann sah sie ihn doch. Vorn an einer der Kassen. Hinter ihm hatte sich eine beträchtliche Schlange gebildet, sodass sie ihn erst bemerkte, als er sich zur Kassiererin vorbeugte und mit ihr sprach. Er nahm etwas in Empfang, vermutlich Wechselgeld, und steuerte mit einem kleinen Stoffbeutel in der Hand auf den Ausgang zu.
Hanka wollte ihm hinterherrufen, seinen Namen – Sascha, ihn zum Warten bewegen. Im letzten Moment begriff sie, wie aussichtslos das war. Stattdessen ließ sie ihren Einkaufswagen einfach stehen, hetzte zur Kasse und drängelte sich, ohne Rücksicht zu nehmen, an den Kunden in der Schlange vorbei. Die verärgerten Proteste überhörte sie. Es interessierte sie nicht, was die Leute ihr zuriefen. Sie musste dem Mann hinterher, ihn aufhalten, mit ihm sprechen!
Vor dem Eingang stoppte sie ab, sah sich suchend um, ließ ihre Augen über den Parkplatz gleiten. Weg! Er war weg! Sie konnte ihn nirgends entdecken. Hinten links stieß ein klappriger silbergrauer Kastenwagen rückwärts aus der Reihe der parkenden Autos, der Vorwärtsgang wurde eingelegt und der Wagen rollte auf sie zu. Langsam fuhr er an ihr vorbei. Die tief stehende Sonne blendete sie und so erkannte sie die Person hinter dem Steuer erst im letzten Moment. Es war der Mann!
„Halt! Stopp!“, rief sie dem Kastenwagen hinterher, hob die Arme, winkte verzweifelt. Zwecklos. Der Fahrer machte keine Anstalten zu bremsen oder gar zu halten. Vielleicht hatte er sie nicht gesehen oder er wollte sich nicht von ihr aufhalten lassen. Der Wagen verließ den Parkplatz, bog in die Straße ein, beschleunigte und war wenige Sekunden später aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Hanka senkte den Kopf, drehte sich um und schlich enttäuscht in den Markt zurück. Nein, es war vermutlich eines ihrer Hirngespinste gewesen, gestand sie sich ein. Wieder einmal. Und dennoch – bei allem, was dagegen sprach, so eine starke innere Gewissheit hatte sie noch nie gehabt, in all den Jahren nicht, in denen sie nach Sascha suchte. Oder hatten diejenigen doch recht, die ihr eine massive psychische Instabilität bescheinigten und sie am liebsten aus dem Verkehr ziehen würden? Diejenigen, die ihr klarzumachen versuchten, dass sie mit ihrer Penetranz und ihrem neurotischen Verhalten eine Zumutung für ihre Mitmenschen war? Wurde sie langsam tatsächlich verrückt?
2. Kapitel
Hanka erreichte unversehrt ihr Zuhause, was an ein kleines Wunder grenzte. Hätte sie an Gott geglaubt, wäre sie ihm ein Dankeschön schuldig gewesen dafür, dass seine Engel sie auf der Rückfahrt von Elbingerode bis vor ihre Haustür in Königslutter vor einem Unfall bewahrt hatten.
Etwa anderthalb Stunden waren vergangen, seit sie in den Edeka-Markt zurückgelaufen war, zu ihrem Einkaufswagen, der immer noch dort stand, wo sie ihn hatte stehen lassen. Sie hatte den Wagen zur Kasse geschoben, sich in die Schlange der Kunden eingereiht und vom zähen Strom mitziehen lassen. Wie paralysiert war sie gewesen, der Kopf wie leer gefegt, zu keinem klaren Gedanken fähig. Sie hatte die Frau an der Kasse nach dem Mann mit dem fehlenden Finger gefragt, hatte wissen wollen, ob sie ihn kenne, ihr hastig zu erklären versucht, dass es sich möglicherweise um ihren vermissten Sohn handele. Doch die Kassiererin hatte nur mit halbem Ohr zugehört, dabei stoisch die Waren über den Scanner gezogen und ihr bei der Herausgabe des Wechselgeldes mit knappen Worten zu verstehen gegeben, dass sie keine Ahnung habe, wer der Mann gewesen sei. Dann hatte sie sich auch schon der nachfolgenden Kundin zugewandt gehabt.
Hanka war in ihr Auto gestiegen und mit ihr der Mann aus dem Markt. Sein Bild war ihr einfach nicht aus dem Kopf gegangen, hatte Erinnerungen in ihr wachgerufen, sie in einen Strudel sich widersprechender Gefühle hineingezogen, gepaart mit unangenehmen körperlichen Missempfindungen. Sie hätte irgendwo anhalten und ihre Fahrt unterbrechen müssen, bis Herzrasen, Atemnot und das heftige Zittern abgeklungen gewesen wären. Stattdessen war sie weitergefahren. Streckenweise wie im Blindflug hatte sie einige brenzlige Situationen heraufbeschworen und war jedes Mal nur knapp einer Kollision entgangen.
Umständlich fummelte Hanka den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Haustür. Je einen prallvollen Einkaufsbeutel in jeder Hand, trat sie in den düsteren Flur und schloss die Tür hinter sich, indem sie ihr mit dem Hacken des rechten Fußes einen Tritt versetzte.
„Rudi ...! Hallo, bist du da?“, rief sie. Eine überflüssige Frage, reine Gewohnheit. Ihr Mann verließ seit einiger Zeit kaum mehr das Haus. Seine Knochenschmerzen ließen es nur noch selten zu, dass er sich allein für längere Zeit aus seinem häuslichen Umfeld entfernte.
Sie stellte die Beutel in der Küche auf dem Tisch ab und ging ins Wohnzimmer. Die Stimmen, die sie bereits leise im Flur vernommen hatte, kamen aus dem Fernseher, gehörten zu den aufgeregt plappernden Personen einer Vorabend-Serie. Rudolf saß in seinem geliebten Fernsehsessel. Einige Haare seines grauen Schopfes ragten wirr über die Rückenlehne hinaus. Mehr war nicht von ihm zu sehen. Sie ging hinüber, stellte sich seitlich neben den Sessel.
„Ich bin wieder zurück“, sagte sie.
„Hmhm ...“, brummte er, ohne seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden.
Hanka sah sofort, dass es ihm schlecht ging. Sein Gesicht war grau vor Schmerzen, seine ganze Haltung starr und verkrampft. Sein Blick ging ins Leere. Schwer zu sagen, ob er überhaupt wahrnahm, was sich vor seinen Augen abspielte.
„Es hat sich gelohnt heute. Ich bin fast alle meine Gläser losgeworden“, versuchte sie, Rudolf für sich zu interessieren. Seine Antwort war ein mürrisches Grunzen, die Augen hielt er weiter geradeaus gerichtet, ohne jede Reaktion.
„Ich habe Sascha gesehen!“, platzte es aus ihr heraus. Hanka hatte die Neuigkeit für sich behalten, Rudolf nicht damit überfallen wollen angesichts seines Zustandes. Es gelang ihr nicht. „Im Edeka-Markt in Elbingerode!“
Ihr Mann verharrte in seiner starren Haltung. „Ach ...“, presste er nur hervor.
Hanka erkannte das plötzliche nervöse Zucken in seinen Mundwinkeln. Es hätte ihr eine Warnung sein müssen. Doch sie konnte sich nicht zurückhalten. Sie musste darüber reden, um den Druck loszuwerden, der sich in ihr aufgestaut hatte. „Diesmal war er es wirklich. Keine Einbildung. Seine Augen. Diese hellen blauen Augen. Und die Hand, weißt du. Der Finger! Der kleine Finger hat gefehlt! Ich habe das zu spät kapiert, habe ihn nicht aufgehalten! Ich ...“
„Sei doch mal ruhig, verdammt!“, unterbrach Rudolf sie schroff. „Ich kann nicht verstehen, was die im Fernseher sagen, wenn du dazwischenquatschst.“
„Hast du nicht verstanden? Ich habe Sascha gesehen! Meinen Sohn!“
In den scheinbar leblosen Körper kam plötzlich Bewegung. Rudolf stemmte seine Hände auf die Sessellehnen, drückte sich hoch und wandte sich Hanka ächzend und mit schmerzverzerrtem Gesicht zu. „Mal wieder, ja? Hast deinen Sascha mal wieder gesehen?“ Er legte eine verächtliche Betonung auf das Wort „deinen“ und schnaubte wütend. „Du bist ja verrückt! Wie lange willst du mich eigentlich noch mit deinen Halluzinationen nerven, hä? Das ist doch nicht mehr normal!“
Hanka ignorierte seine Worte. Zu oft hatte sie schon hören müssen, dass sie verrückt sei und mit ihren Wahnvorstellungen in die Hände von Psychologen gehöre, nicht nur von Rudolf. In der Vergangenheit hatte sie sehr unter derartigen Bezichtigungen gelitten, hatte sich verkrochen und sich manche Nacht die Augen ausgeheult. Mittlerweile gelang es ihr immer besser, mit den Angriffen und Unterstellungen umzugehen, sie an sich abtropfen zu lassen.
„Glaub es oder nicht! Dieses Mal habe ich mich nicht getäuscht“, beharrte sie. „Eine Mutter spürt es, wenn sie ihrem Sohn gegenübersteht!“
„Ach? Tut sie das?“
„Allerdings! Aber davon hast du natürlich keine Ahnung! Du weißt ja nicht, wie das ist, eigene Kinder zu haben! Sonst würdest du dich mit mir freuen, dass ich Sascha endlich wiedergefunden habe!“
„Oh ja, natürlich! Und was ist mit deinem Ex? Dem Erzeuger deines Bengels? Warum hat der dich sitzenlassen? Der hätte dann ja auch überall nach seinem verschollenen Sohn Ausschau halten und irgendwann halluzinieren müssen! Hat er aber nicht! Er hat im Gegensatz zu dir nämlich akzeptiert, dass der Junge tot ist. Und er ist geflüchtet vor dir. Weil er deine Psychomacke nicht mehr ertragen konnte!“ Rudolf schnappte nach Luft, ließ sich stöhnend in seinen Sessel zurücksinken.
Hanka stemmte ihre Fäuste in die Hüften. „Und du? Warum hast du mich überhaupt geheiratet?“ Ihre Stimme bebte. „Du wusstest von Sascha. Du wusstest, dass ich ihn nie aufgeben werde, solange mir keiner seine Leiche bringt. Wenn ich dir so zuwider bin, warum bist du dann immer noch bei mir?“
„Das frage ich mich auch“, brummte Rudolf erschöpft.
„Ich sage dir, warum“, ging Hanka zum Angriff über, „du bist ein Wrack, brauchst meine Fürsorge mit deinem scheiß Rheuma, kommst alleine nicht mehr klar. Du weißt, dass du langsam zum Krüppel wirst. Darum bist du noch bei mir!“ Sie wollte ihn verletzen, es ihm mit gleicher Münze heimzahlen. Das hatte er verdient.
„Halt den Mund, verdammt!“, fauchte er mit letzter Kraft. „Verschwinde! Ich kann dein blödes Geplärre nicht mehr hören!“
Hanka drehte sich um, stapfte wütend aus dem Wohnzimmer, knallte die Tür mit voller Wucht hinter sich zu. In der Küche blieb sie vor dem Tisch stehen, stützte sich auf der Lehne des Stuhls ab, der ihr am nächsten stand. Sie atmete tief durch, starrte auf die vollen Einkaufstüten. Rudolfs Abfuhr tat weh, bereitete ihr körperliche Schmerzen. Sie zog den Stuhl vom Tisch ab, setzte sich, vergrub ihr Gesicht in den Händen. Dann kamen die Tränen. Sie ließ ihnen freien Lauf, wehrte sich nicht dagegen. Unter heftigen Zuckungen ihres gekrümmten Oberkörpers flossen ihr ganzes Leid, die Enttäuschungen, die erlittenen Beleidigungen und Demütigungen aus ihr heraus.
Zehn, fünfzehn Minuten mochten vergangen sein, als ihr Tränenstrom versiegte, sie sich aufrichtete, sich schnäuzte, dann aufstand und sich daran machte, ihre Einkäufe hinter Schranktüren und in Schubläden zu verstauen. Ohne nachzudenken, erledigte sie die gewohnten Handgriffe, ließ damit ein klein wenig Normalität zurückkehren. Sie spürte, wie sich ihr Inneres allmählich beruhigte. Die Wut auf Rudolf legte sich. Es waren die Schmerzen. Nur deshalb war er so ekelhaft zu ihr gewesen, rechtfertigte sie sein Verhalten vor sich selbst. Rudolf war kein Tyrann. Im Grunde seines Herzens war er ein gutmütiger, verständiger Mensch. Wäre es anders gewesen, sie hätte ihn nie geheiratet. Aber als irgendwann die Krankheit anfing, veränderte sich sein Wesen. Ganz allmählich. Dieses elende Rheuma!
Die Bilder aus dem Supermarkt verschafften sich wieder Raum und drängten die Auseinandersetzung mit ihrem Mann in den Hintergrund. Sie musste etwas unternehmen, konnte nicht tatenlos bleiben. Die Begegnung dort am Weinregal einfach vergessen? Unmöglich! Dieses Mal war es etwas anderes. Sie hatte Sascha gesehen! Leibhaftig hatte er vor ihr gestanden, war nicht mehr nur das Phantom gewesen, dem sie nachjagte.
Was immer sie bisher unternommen hatte, ihren Sohn wiederzufinden – und es gab kaum etwas, das sie unversucht gelassen hatte – es war ohne Erfolg geblieben. Nicht den geringsten konkreten Anhaltspunkt hatte es gegeben, dass er noch lebte. Die Zahl derer, die mit ihr geglaubt, geträumt und gebangt hatten, war stetig geschrumpft, bis ihr irgendwann niemand mehr hatte Beistand leisten und Mut machen wollen. Wie oft war sie nahe daran gewesen, aufzugeben, den Stimmen Glauben zu schenken, die ihr einflüstern wollten, dass es keinen Sinn habe, sich an ein Hirngespinst zu klammern. Doch sie war standhaft geblieben, aller Schwarzmalerei und Widerstände zum Trotz. Dafür war sie jetzt belohnt worden. Für ihr unbeirrtes Festhalten an einem Strohhalm.
Er war es gewesen! Sascha, ihr Sohn! Sie spürte eine Gewissheit in sich, die sich durch nichts würde ins Wanken bringen lassen. Himmel und Hölle würde sie in Bewegung setzen, den Mann aufzuspüren, den sie im Supermarkt noch hatte entwischen lassen. Weil die Überraschung zu groß gewesen war und sie gelähmt hatte.
Sie verließ die Küche, ging energischen Schrittes durch den Flur, verließ das Haus. Das Auto musste noch in die Garage gefahren, die leeren Kisten aus dem Laderaum in den Schuppen getragen werden.
Während sie mechanisch die gewohnten Arbeiten erledigte, dachte sie über ihre Möglichkeiten nach. Diejenigen, denen sie schon in der Vergangenheit die Türen eingerannt hatte, brauchte sie nicht mehr um Hilfe bitten. Zu vielen war sie auf die Nerven gegangen, ohne dass etwas Zählbares dabei herausgekommen wäre.
Welche Mittel und Wege blieben ihr also? Wieder zur Polizei gehen, die missbilligenden Blicke der Beamten ignorieren, ihre ablehnende Haltung aufbrechen und sie dafür gewinnen, nach dem Mann aus dem Supermarkt zu suchen? Sinnlos! Niemand von denen würde noch einen Finger für sie krumm machen.
Die letzten Kisten waren verstaut, als sie sich plötzlich wieder an ein Gespräch erinnerte, das schon ein paar Jahre zurücklag. Kerstin, ihre Tochter, hatte damals ebenfalls noch daran geglaubt, ihren Bruder Sascha eines Tages lebend wiederzusehen. Sie hatte irgendeinen Privatdetektiv erwähnt, den man möglicherweise mit der Suche nach dem Vermissten beauftragen könne. Ein Vorschlag, den sie, Hanka, jedoch abgelehnt hatte. So ein Privatdetektiv kostete viel Geld – Geld, das sie damals nicht hatte ausgeben wollen.
Heute war es ihr egal. Und wenn sie den letzten Cent in die Suche nach Sascha investieren musste, sie würde es tun.
Es behagte ihr nicht, sich an Kerstin zu wenden. Ganz und gar nicht! Ihre Tochter hatte sich längst denen angeschlossen, die vom Tod ihres Bruders überzeugt waren. Darüber war es seinerzeit zwischen ihnen beiden zum Bruch gekommen und sie hatten nie wieder ein Wort über Sascha verloren. In letzter Zeit hatte sich ihr Verhältnis zum Glück ein wenig zu normalisieren begonnen. Da war es vielleicht nicht sonderlich klug, Kerstin wieder mit den alten Geschichten zu konfrontieren. Und doch sah sie keine andere Möglichkeit. Sie musste es wagen!
3. Kapitel
Knapp zehn Minuten mit der S-Bahn hatte Hanka vom Hauptbahnhof gebraucht, um zu der Adresse zu gelangen, die Kerstin ihr nach einer fruchtlosen und anfangs ziemlich lautstarken Diskussion schließlich gegeben hatte.
Hier, in diesem Haus in der Scheidestraße, sollte der Mann seine Detektei betreiben? Aber wo, bitteschön? Sie starrte auf das Schaufenster, das vollgestopft war mit gebrauchten elektrischen Apparaten aller Art, angefangen von Rasierern über diverse Haarföhne, Bügeleisen, Toaster und Handmixer bis hin zu Kofferradios, CD-Spielern und Uralt-PCs. Auch verschiedene Steinzeit-Handys lagen ganz vorn in der Auslage aufgereiht.
„Elektrogeräte aller Art“ stand in großen, geschwungenen Buchstaben auf dem Schild über dem Schaufenster, und etwas kleiner darunter „Reparaturen, An- und Verkauf“. Das Schild, dessen scharfer Schwarz-Weiß-Kontrast zwischen Schrift und Hintergrund sich über die Jahre unter einer schmierigen Schicht aus Straßenschmutz verkrochen hatte, sah ebenso heruntergekommen aus wie die gesamte Fassade in ihrem tristen Grau und mit den Graffiti-Kritzeleien. Links, direkt neben der Ladentür endete die Häuserfront. Eine schmale Hofeinfahrt schloss sich an, darauf folgte ein frei stehendes baufälliges Fachwerkhaus. Es war von Buschwerk überwuchert. Ein Bauzaun und Absperrplanken deuteten auf den baldigen Abriss des maroden Gebäudes hin.
Wo bin ich hier nur gelandet?, fragte sich Hanka. Die Gegend machte keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Irritiert suchend blickte sie den Straßenzug hinunter, an den wenig verlockenden Ladengeschäften entlang, fummelte den Zettel mit der Adresse aus ihrer Tasche, vergewisserte sich noch einmal. Kein Zweifel, die Straße stimmte und die Nummer des Hauses, vor dem sie stand, ebenso. Sie machte ein paar Schritte zur Seite, sah die nackte Wand am Ende der Hofeinfahrt. Ein Steintritt an der Wand führte zu einer Tür hinauf. Vielleicht dort, dachte sie und ging hinüber. Die Tür war verschlossen. Weder gab es eine Klingel noch eine andere Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen. Ein Firmenschild, das ihr weiterhalf, war auch nirgends zu sehen.
Zurück an der Straße trat Hanka durch die schmale Glastür in das Elektrogeschäft. Warum noch lange herumsuchen? Sie konnte doch einfach den Ladeninhaber nach der Detektei fragen.
Im Verkaufsraum, einem schmalen Schlauch, roch es muffig. Ein schäbiger Teppichboden über knarrenden Dielen, links Regale bis zur Decke, vollgestopft mit Elektrogeräten der Art wie sie im Schaufenster standen. Rechts der Tresen, dessen abgegriffene Holzplatte schon bessere Tage gesehen hatte. Darauf eine vorsintflutliche Registrierkasse zwischen Elektro-Kleinkram. Die Schubläden an der Wand hinter dem Tresen waren vermutlich voll davon.
Hanka machte einige Schritte in den Raum hinein, schaute sich um, schwankte zwischen Faszination und Ablehnung. Der Laden kam ihr vor wie ein Widerstandsnest gegen die Wegwerfgesellschaft. Hier wurde gesammelt, aufgepäppelt und wieder verkauft, was in der Welt draußen vor der Tür schon nach kurzer Zeit als überholt und unbrauchbar galt und entsorgt wurde. Das Sammelsurium um sie herum weckte plötzlich einen sentimentalen Gedanken an die DDR in ihr. Sie schluckte, wollte keine Erinnerungen zulassen, heftete ihren Blick an eine Spieluhr, die wie ein Fremdkörper zwischen all den anderen Sachen wirkte. Neugierig betrachtete sie das Kleinod, spielte für einen Moment mit dem Gedanken, die Uhr zu kaufen. Sie war nicht teuer. Dann wandte sie sich ab, sah zum Vorhang an der rückwärtigen Wand. Noch immer war niemand aufgetaucht. Gab es nirgendwo eine Klingel? Hatte überhaupt jemand ihr Kommen bemerkt?
„Hallo!“, rief sie, und gleich darauf noch einmal: „Hallo, ist da jemand?“
Nichts passierte. Die Spieluhr zog sie wieder in ihren Bann.
„Guten Tag. Entschuldigen Sie bitte, dass Sie warten mussten.“ Hanka fuhr erschrocken herum. Ein Mann tauchte aus einem Raum hinter dem Vorhang auf. „Ich habe gerade eine Platine zusammengelötet. Das konnte ich nicht einfach unterbrechen.“
Er steuerte auf sie zu, deutete auf die Spieluhr. „Ein wirklich schönes Stück, nicht wahr? Und gar nicht teuer. Ich kann Sie Ihnen gern einmal vorführen.“
„Äh ja ... nein, nein, ich ...“ Hanka räusperte sich. „Ich bin nicht wegen der Spieluhr ... also, ich möchte nichts kaufen oder reparieren lassen.“
„Sondern? Haben Sie etwas zu verkaufen?“
„Das auch nicht. Ich suche einen Privatdetektiv, der hier sein Büro haben soll. Stefan Blume. Wissen Sie, wo ich den finde?“
Der Mann zog ein wenig die Augenbrauen hoch, blickte Hanka aus freundlichen braunen Augen an. Sie ahnte seine Überraschung mehr, als dass sie sich in seinem von einem eisgrauen Vollbart eingerahmten Gesicht bemerkbar machte. Seine Mimik wirkte eigenartig starr.
„Tut mir leid“, sagte er dann, „ich kenne keinen Privatdetektiv namens Stefan Blume.“
„Aber er müsste hier irgendwo sein Büro haben. Sehen Sie, ich habe es mir aufgeschrieben.“ Sie hielt ihm den Zettel mit der Adresse hin. „Vielleicht habe ich mich ja nur in der Hausnummer vertan.“
Der Mann fuhr sich mit der Hand durch die dichten Haare, die ebenso grau waren wie sein Bart. „Wie ich schon sagte, ein Privatdetektiv Stefan Blume ist mir nicht bekannt.“ Er versuchte ein Lächeln. Es gelang ihm jedoch nur im Ansatz, verfing sich irgendwo in seinem starren Gesicht. „Wer hat Sie denn auf die Idee gebracht, hier so jemanden finden zu können?“
„Meine Tochter“, entgegnete Hanka. „Sie hat mir die Adresse gegeben. Ich ...“
„Tatsächlich?“, fiel ihr der Mann ins Wort. „Na ja, nichts für ungut. Vielleicht möchten Sie die Spieluhr ja doch ... Ich kann Ihnen auf den Preis noch einen kleinen Nachlass geben. Dann haben Sie den Weg wenigstens nicht ganz umsonst gemacht. Sie kommen nicht aus Hannover, vermute ich.“
„Sieht man mir das an?“ Hanka grinste verlegen, winkte ab. „Lassen Sie mal. Zugegeben, die Uhr ist schön, aber einen weiteren Staubfänger kann ich zu Hause nicht gebrauchen. Vielen Dank.“ Sie ging zur Tür. „Ich verschwinde besser wieder. Entschuldigen Sie die Störung. Auf Wiedersehen.“
„Keine Ursache“, rief der Mann ihr nach.
Auf halbem Weg zur S-Bahn-Haltestelle blieb Hanka stehen. Hatte sie den Weg nach Hannover wirklich umsonst gemacht? Hatte sich Kerstin mit der Adresse vertan? Sie vielleicht sogar bewusst in die Irre geführt? Nein, bei allem, was sie in der Vergangenheit auseinandergetrieben hatte und das bei ihrem Zusammentreffen gestern wieder hochgekommen war, so niederträchtig wäre Kerstin nie gewesen. Vielleicht ermittelte dieser Stefan Blume ja längst nicht mehr. Oder er war umgezogen. Möglicherweise war er auch tot. Seit dem Tag, als Kerstin den Mann das erste Mal ins Spiel gebracht hatte, waren einige Jahre vergangen.
Hanka hatte die Haltestelle erreicht, zögerte jedoch, in die einfahrende S-Bahn einzusteigen. Sie trat vom Bahnsteig zurück, zog ihr Handy aus der Tasche, wählte Kerstins Nummer. Es war nur ein kurzes Gespräch, dann setzte sie sich auf eine der Bänke an der Haltestelle und wartete. Etwa zehn Minuten dauerte es, bis Kerstin sie zurückrief. Sie solle noch einmal in den Laden gehen, dem Mann erklären, wer sie an ihn vermittelt hatte. Sie solle ihm den Namen ihres Bekannten nennen: Daniel Kettler. Das würde helfen.
Dieses Mal musste sie nicht warten, bis der Mann wieder hinter seinem Vorhang hervortrat.
„Sie?“, rief er verwundert aus. „Haben Sie sich das mit der Spieluhr doch noch mal überlegt?“
„Nein, ich ...“ Sie trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. „Ich bin zurückgekommen wegen Stefan Blume, dem Privatdetektiv.“
Der Mann schnaubte ungehalten. „Hören Sie, ich wiederhole mich ungern, aber ...“
„Ich weiß“, unterbrach Hanka ihn. „Es ist nur so, ich habe meine Tochter angerufen und sie meinte, ich soll Ihnen den Namen Daniel Kettler nennen. Dann würden Sie schon verstehen.“
Der Mann erwiderte nichts. Er starrte sie nur mit seinen braunen Augen an. In seinem Gesicht keine Regung. Es schien, als wolle er Hanka mit seinem Blick durchdringen. Unmöglich, zu erkennen, was sich hinter seiner Stirn abspielte. Sie wurde nervös, spürte, wie sich ihr Hals zuzog.
„Kommen Sie“, sagte der Mann plötzlich und ging ihr voran zum Vorhang. Hanka folgte ihm in den Raum dahinter.
Eine vollgestopfte Werkstatt tat sich vor ihr auf. Mattes Licht aus einer Leuchtstoffröhre unter der Decke erhellte den Raum nur notdürftig. Die Tischlampe auf der Werkbank zu ihrer Rechten ergoss dafür umso helleres Licht über die Arbeitsplatte. Werkzeuge, wohin man sah. Dazu die reparaturbedürftigen Elektrogeräte, teils geöffnet, sodass man ihr Inneres erkennen konnte. Hinten, in einer Ecke des Raumes, zwischen all dem Gerümpel kaum zu sehen, stand ein weiterer Tisch. Darauf steuerte der Mann zu, bediente den Schalter einer Wandlampe und bot ihr an, sich auf einen der beiden Stühle zu setzen. Sie nahm Platz, er setzte sich zu ihr.
„Daniel Kettler hat Ihnen also die Adresse verraten?“, fragte er.
„Meiner Tochter. Er ist ein Freund von ihr. Und meine Tochter hat mir den Rat gegeben, Sie um Hilfe zu bitten. Sie sind doch Stefan Blume, der Privatdetektiv?“
Er wiegte leicht den Kopf, sein Lächeln blieb erneut an seiner starren Gesichtsmaske hängen. „Ja, so heiße ich. Aber in erster Linie mache ich das, was Sie hier sehen. Ich repariere, kaufe und verkaufe Elektrogeräte, die sonst als Schrott auf einer Müllhalde gelandet wären. Die andere Sache, na ja, das ist eher ein Hobby von mir, wissen Sie? Nichts, das ich in die Welt hinausposaune. Ab und zu helfe ich mal jemandem, den ich kenne und dem ich vertraue. Wie Daniel Kettler. Und da er mich Ihnen empfohlen hat ... schön, dann erzählen Sie mal.“
Hobbydetektiv? Hanka überkamen plötzlich Zweifel. Für so einen war ihre Sache vermutlich viel zu groß. Daran waren schon die Fachleute von Polizei und diversen Hilfsorganisationen gescheitert. Wenn dieser Stefan Blume nur ab und zu mal einer treulosen Ehefrau oder einem fremdgehenden Ehegatten hinterherspionierte, war das eine Sache. Aber ihren Sascha finden? Egal, es war ohnehin zu spät. Jetzt einen Rückzieher zu machen, wäre blamabel.
„Ich suche meinen Sohn“, begann sie. „Er wird vermisst.“
„Ihren Sohn, aha.“ Sie sah die Zweifel in Blumes Augen. „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich frage, aber wie alt sind Sie?“
Hanka nannte ihm ihr Alter.
„Fünfundsechzig. Schön. Und Ihr Sohn?“
„Sascha ist zweiundvierzig.“
„Also ein erwachsener Mann im besten Alter. Und er ist verschwunden, wenn ich Sie richtig verstehe. Was sagt denn die Polizei? Vielleicht ist er nur untergetaucht, weil er es so wollte. Oder ist er krank, geistig behindert vielleicht? Ist er verheiratet, hat er Kinder, oder lebt er allein? Wohnt er bei Ihnen zu Hause? Wie genau ist seine familiäre Situation?“
So viele Fragen! Und es gab nur eine Antwort: „Ich weiß es nicht.“
Blume riss überrascht die Augen auf. „Was heißt das, Sie wissen es nicht?“
„Er ist verschwunden, als er vier Jahre alt war.“
„Vier Jahre?“ Der Detektiv beugte sich ruckartig vor, kam ihrem Gesicht ganz nahe. „Entschuldigen Sie bitte, ich glaube, das verstehe ich jetzt nicht so ganz.“
„Es war am zweiundzwanzigsten August neunzehnhundertachtzig“, begann Hanka. „Ein Freitag. Ich erinnere mich noch genau. Mein damaliger Mann und ich waren mit unseren Kindern in Urlaub, im FDGB-Heim ,Hermann Danz‘ in Friedrichroda. Es war unser vorletzter Urlaubstag. Wir haben eine Wanderung zur Wechmarer Hütte gemacht. Ein Ausflugslokal mitten im Wald ...“ Sie erzählte Blume von Saschas Verschwinden, ließ kein Detail unerwähnt. Sie konnte sich nach beinahe vierzig Jahren an jede Kleinigkeit erinnern. Als wäre es gestern geschehen. „Und vor ein paar Tagen habe ich ihn gesehen! In einem Supermarkt. In Elbingerode, im Harz“, sprang sie unvermittelt in die Gegenwart.
„Moment, Moment.“ Blume hob abwehrend die Hände. „Ich will die ganze Geschichte hören. Schön der Reihe nach. Was ist in den Jahren dazwischen passiert? Was haben Sie unternommen?“
„Oh, das ist eine ganze Menge. Wenn Sie alles hören wollen, dann dauert das.“
„Egal. Ich habe Zeit.“
Hanka sah ihn an. Auch wenn sein Gesicht keine Regung zeigte, so signalisierten zumindest seine Augen, dass er neugierig geworden war. Seine sonore Stimme und sein offensichtliches Interesse beruhigten sie wieder ein wenig, ließen die Anspannung weichen, die sich in den zurückliegenden Minuten in ihr aufgebaut hatte. Sie schilderte dem Detektiv ihren Leidensweg in den Jahren nach Saschas Verschwinden in allen Einzelheiten. Der Detektiv lauschte aufmerksam. Er ließ sie reden, unterbrach sie nicht.
„Und jetzt glauben Sie also, ihn gesehen zu haben“, beendete Blume schließlich ihren Monolog. „Im Harz. Im Edeka-Markt in Elbingerode.“
„Genau. Das sagte ich ja schon.“ Sie schilderte ihm das Zusammentreffen mit Sascha und wie sie ihn wieder aus den Augen verloren hatte.
„Und allein dieser fehlende Finger hat Ihnen ausgereicht, um zu wissen, dass es sich um Ihren Sohn handelt?“
„Vergessen Sie nicht seine Augen! So leuchtend blau habe ich sie noch nie bei jemandem gesehen.“
„Trotzdem, ein bisschen wenig, um sich nach so langer Zeit gewiss zu sein, finden Sie nicht?“
„Hören Sie, ich bin seine Mutter!“, entrüstete sich Hanka.
„Schon gut. Ich verstehe“, beschwichtigte Blume. Dann sagte er nichts mehr, sah sie nur an, schien nachzudenken.
„Was ist jetzt? Helfen Sie mir?“, fragte Hanka nach einigen Augenblicken ungeduldig.