Hauptsache Tanzen! - Petra Lahnstein - E-Book

Hauptsache Tanzen! E-Book

Petra Lahnstein

0,0

Beschreibung

"Sophie ist vierzehn und leidenschaftliche Lateintänzerin. Gemeinsam mit ihrem Bruder Lars steht sie kurz davor, die Hessischen Meisterschaften der Junioren zu gewinnen. Doch ihr Traum von der großen Tanzkarriere scheint beendet, als sich ihr Bruder bei einem Unfall so schwer verletzt, dass er nicht mehr tanzen darf. Als wäre das nicht schlimm genug – gemeinsam mit ihm soll sie für ein Schuljahr zu Oma Anni aufs Dorf ziehen. Mit jeder Menge Vorurteile im Gepäck steigt Sophie schließlich bei einer Garde- und Schautanzgruppe ein, hat aber nur ein Ziel im Sinn: Bei den "Hupfdohlen" will sie sich einen neuen Lateintanzpartner angeln. Aber dann kommt alles ganz anders als gedacht … "

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 323

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



PETRA LAHNSTEIN

HAUPTSACHETANZEN!

Eine Haftung des Autors oder des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

1. Auflage November 2016© Gute Ideen VerlagNeue Straße 2, 65599 Dornburgwww.gute-ideen-verlag.deISBN 978-3-945067-12-3

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Autor:

Petra Lahnstein

Lektorat:

Julia Kämpfer

Layout & Satz:

Guerra Design, www.guerra-design.de

Testleser:

Jana Müller, Leoni Müller, Lena Schäfer

Umschlag:

Collage aus Motiven von Michaela Kavalek und www.fotolia.de: Stephi (sport), Naturestock (Jumping People), 007 (Partypeople), annzakharchen ko (Background).

Dieses Buch ist auch als Softcover erhältlich. ISBN 978-3-945067-13-0

Inhalt

1 · Tanzträume

2 · Alles anders

3 · Was für ein Kaff

4 · Der Plan

5 · Tanzpartnersuche

6 · Wer macht schon Gardetanz?

7 · Einen Versuch wert?

8 · Das Training

9 · Einmal Latein, immer Latein

10 · Naturtalent

11 · Gar nicht so einfach

12 · Training, Training, Training

13 · Oma Annis Geheimnis

14 · Schautanz-Ideen

15 · Erwischt!

16 · Aus und vorbei?

17 · Noch mal auf Anfang

18 · Hauptsache Tanzen!

19 · Dance, Dance, Dance

20 · Turnierfieber

Niemand kann mir nehmen,was ich getanzt habe.

Aus Spanien

1 · Tanzträume

Sophie betrachtete sich zufrieden im Spiegel: Pink stand ihr wirklich gut. Da hatte die Kostümschneiderin wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Mit den vielen bunten Glitzersteinchen und den rosafarbenen Fransen, würde ihr heute keiner die Show stehlen können.

Sophie schaute sich um. Warum waren die Umkleidekabinen selbst bei einer Hessenmeisterschaft so klein und unkomfortabel? Nicht einmal sechs Quadratmeter maß dieser Abstellraum. Ihren Schminkkoffer hatte sie notdürftig auf einer Kiste platziert, nicht einmal einen Tisch gab es hier. Egal, diese Abstellkammer-Atmosphäre war sie von den meisten Turnieren und Auftritten gewohnt. Hinter den Bühnen und Tanzflächen sah es eben nie so schön aus wie im Festsaal. Sophie zog ihren Lippenstift nach und sprühte noch einmal lange und kräftig über ihren Kopf. Ihr Bruder Lars saß auf einem Stuhl und bearbeitete seine Tanzschuhe mit schwarzer Politur. Typisch Lars. Immer alles auf den letzten Drücker.

»Beeil dich, sonst musst du noch in schmutzigen Schuhen auf die Tanzfläche gehen«, drängelte Sophie.

»Na und? Ich will mit dir als bestes Tanzpaar überzeugen und keinen Preis als bester Schuhputzer gewinnen!«

Sophie musste grinsen. »Du weißt ganz genau, dass das Gesamtpaket zählt.«

»Warum sonst lasse ich mich in diesen Pinguin-Anzug pressen und mir die Haare mit Gel zukleistern?«

Sophie schüttelte den Kopf. Während sie es liebte, sich für die Showbühne aufzuhübschen, lästerte ihr Bruder immer wieder über das in seinen Augen »aufgesetzte Brimborium«.

Sophie ging in Gedanken noch einmal die Reihenfolge der Figuren durch, die sie seit Monaten einstudiert hatten. Der Jive war ihr absoluter Lieblingstanz. Spritzig, schnell und ideal zum Austoben. Erst vor wenigen Tagen hatte Sophie ihren Trainer darum gebeten, noch eine zusätzliche Schwierigkeit einzubauen. Wer Hessenmeister werden wollte, musste bereit sein, alles zu geben. Auch wenn das hieß, dass zu den üblichen sieben Trainingseinheiten pro Woche weitere Übungsstunden hinzu kamen. Sophie lächelte zufrieden. Den Jive hatte sie drauf. Nachdenklich schaute sie zu Lars. Hoffentlich patzte ihr Bruder nicht wieder an der neuen Stelle.

Nur ihrer schnellen Reaktion hatten sie es zu verdanken, dass keiner der Wertungsrichter in der Vorrunde etwas bemerkt hatte. Lars hatte eine Mischung aus alten und neuen Schritten getanzt, aber zum Glück hatte Sophie rechtzeitig reagiert und war seiner Führung gefolgt. Auf noch so eine Schrecksekunde konnte sie wirklich verzichten.

»Wie wäre es, wenn du das Handy weg legst und den Jive durchgehst?«

Lars schaute gebannt auf sein Smartphone.

»Bruderherz, ich spreche mit dir.«

Lars tippte mit schnellen Fingern auf dem Display herum.

Wenigstens hatte er den Ton ausgeschaltet.

»Wenn du uns die Meisterschaft versaust, ist was los!«

Lars hob den Kopf. »Das wird schon klappen. Wer sollte uns jetzt noch den Sieg wegschnappen?«

»Lizzy und Matteo zum Beispiel, die uns in der Vorrunde beim Cha-Cha-Cha Platz eins geklaut haben?«

Ihr Bruder sagte nichts.

»Ich meine ja nur, die neue Stelle ist nicht ohne, das war ganz schön knapp in der Vorrunde.«

Lars nickte mit dem Kopf. Sophie musste sich zusammenreißen, um ihm nicht sofort das Handy aus der Hand zu nehmen. Was war nur los mit ihm? Seit Wochen war er unkonzentriert im Training und schaute in jeder kleinsten Pause auf sein Handy. Mit wem schrieb er da überhaupt? Seit wann hatte er Geheimnisse vor ihr? Wieso begriff er nicht, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um mit irgendjemandem zu texten? Er wollte diesen Sieg und die Qualifikation für die Deutsche Meisterschaft doch genauso sehr wie sie, oder nicht?

Lars stand auf. »Ich muss nochmal kurz weg«, sagte er leise.

»Du musst was?« Sophie war fassungslos. »In zwanzig Minuten müssen wir wieder auf der Tanzfläche stehen.«

»Bis dahin bin ich zurück.«

»Wo willst du denn hin?«

»Erkläre ich dir später.«

»Du kannst doch nicht mit den Tanzschuhen nach draußen!«

Schneller als Sophie nachdenken oder sich ihm in den Weg stellen konnte, war ihr Bruder schon verschwunden.

Sophie ging unruhig in der Umkleidekabine umher. Was zum Teufel war ihrem Bruder wichtiger als diese Meisterschaft? Er hatte doch nicht? Nein! Das hätte er ihr gesagt. Aber was, wenn doch? Das würde zumindest erklären, warum er das Tanztraining in der letzten Zeit nicht mehr ganz so ernst genommen hatte wie früher. Natürlich! Es gab keine andere Erklärung: Er hatte eine Freundin! Für wen sonst ließ man in so einer Situation alles stehen und liegen?

Sophie setzte sich auf die Kante des Stuhls. Diese neue Erkenntnis musste sie erst einmal verdauen. Seit ihrer Kindheit verbrachte sie so gut wie jede freie Minute mit Lars. Zwei bis drei Stunden trainierten sie mindestens pro Tag. Und oft analysierten sie danach noch stundenlang ihre Tanzvideos oder schauten sich andere Tanzpaare auf Youtube an. Für Eis essen oder ins Kino gehen blieb ihr so gut wie nie Zeit. Und ins Schwimmbad fuhr sie nur, wenn ihr ganzer Körper vom vielen Training so schmerzte, dass nur ein Ausdauertraining im Wasser in Frage kam. Sophie seufzte. Nein, sie hatte nichts vermisst. Sie und ihr Bruder waren viel mehr als nur Geschwister, sie waren allerbeste Freunde, da brauchte man keine anderen Freundschaften! Sophie rutschte mit ihrem Po noch etwas weiter nach hinten – ein bisschen zu viel: Der offene Schminkkoffer, der auf einer Kiste auf dem Stuhl stand, kippte um. Lippenstifte, Haarspray, Make-up, Haargummis und jede Menge Klämmerchen fielen heraus.

»Scheiße!« Das hatte Sophie gerade noch gefehlt.

Lars rannte durch die engen Gänge der Stadthalle. Nicht nur, dass überall Kisten, Schuhe und Kostüme herumlagen, er musste sich auch zwischen den vielen Tänzern hindurch schlagen, die auf kleinster Fläche noch einmal ihre Schrittfolgen durchgingen.

Als Lars im Innenraum der Halle ankam, schaute er zur Tanzfläche. Die Endrunde der Kinder würde bald fertig sein. Danach gab es höchstens eine fünfminütige Pause. Er würde sich ganz schön beeilen müssen!

Als Lars die schwere Eingangstür hinter sich zufallen ließ, erschrak er. Heute Morgen war es ihm gar nicht so kalt vorgekommen, jetzt pfiff der eisige Wind durch seinen dünnen Tanzanzug. Lars schaute sich um, überall lagen Schnee- und Eisreste. An der Wand lehnte ein Mountainbike. Wer kam denn bei diesem Wetter mit dem Rad hierher?

Sein Handy brummte. Eileen hatte ihm die GPS-Koordinaten zugeschickt.

Mist, das war weiter weg als gedacht! Zu Fuß würde er es niemals rechtzeitig hin und zurück schaffen. Er schaute noch einmal zu dem Mountainbike. Das war es!

Lars zögerte. Er hatte noch nie etwas geklaut. Aber das hier war ein Notfall. Er musste seinem Mädchen helfen!

Er lächelte, als er losfuhr. Sein Mädchen. Wer hätte gedacht, dass er das einmal sagen konnte.

Lars stellte den Ton seines Handys auf maximale Lautstärke, in der Hoffnung, die Anweisungen von Google Maps hören zu können. Fehlanzeige! Er konnte nur ein dumpfes Genuschel vernehmen. Lars griff in die Jackentasche. Dann musste er es eben festhalten. Das Fahrrad würde er auch mit einer Hand lenken können. Außerdem konnte er so auch die Richtungsanweisungen auf dem Bildschirm verfolgen. Lars war zuversichtlich: Schon in wenigen Minuten würde er bei Eileen sein!

Aber dann war es doch schwerer als gedacht. Der Typ, dem das Bike gehörte, musste um einiges größer sein als er. Lars kam mit den Füßen gerade so an die Pedale, wenn er sich streckte – locker zurücklehnen und wie geplant mit einer Hand fahren, kam nicht in Frage.

Lars hielt sein Smartphone fest mit den Fingern umschlungen und presste Daumen und Zeigefinger gleichzeitig gegen den Lenker.

Mist, das war gar nicht so einfach. Wieso hatte jemand, der so ein teures Bike fuhr, nicht auch eine Halterung am Rad, mit der man in Sekundenschnelle sein Handy festklemmen konnte?

Lars schaute auf das Display. Nur noch drei Straßen, dann hatte er es geschafft. Schnell würde er gleich Eileens abgesprungene Fahrradkette wieder aufziehen und dann könnten sie zusammen in wenigen Minuten zurück in der Stadthalle sein.

Endlich könnte Eileen ihn dann mit seiner Schwester tanzen sehen.

Lars freute sich schon auf Sophies Gesicht, wenn sie Eileen kennen lernen würde. Die beiden mussten sich einfach mögen! Eileen konnte zwar nicht tanzen, hatte aber so viele tolle Eigenschaften, die er auch an seiner Schwester mochte. Sicher würden die beiden schon nach wenigen Tagen beste Freundinnen sein und er müsste darum kämpfen, Eileen auch mal für sich zu haben. Lars lächelte.

Was für ein verdammtes Glück er gehabt hatte, Eileen zu begegnen! Ausgerechnet in seiner Lieblings-Dönerbude hatte sie auf einmal neben ihm gestanden und sich darüber amüsiert, dass er sich zwischen den vielen Beilagen nicht entscheiden konnte.

»Nimm einfach alle und lass das Fleisch weg, das schmeckt am besten«, hatte sie gesagt und ihm zugezwinkert.

Tatsächlich hatte Eileen genau so einen »Döner« nur kurze Zeit später gemeinsam mit ihm an einem Stehtisch gegessen. Acht Wochen war das jetzt her. Eileen wohnte eine gute Stunde von Frankfurt entfernt, nutzte aber fast jedes Wochenende dazu, um ihre Tante zu besuchen und »ein bisschen Stadt zu atmen«, wie sie sagte.

Nur wenige Stunden an den Wochenenden und dann noch nicht mal an allen und bis heute auch nur heimlich. Lars war alles andere als glücklich darüber, dass sie sich so selten sehen konnten. Aber solange er täglich mit Sophie trainierte, würde sich daran auch nichts ändern können. Er wollte Eileen am liebsten jeden Tag sehen. Dafür würde er sogar das Training sausen lassen!

Natürlich liebte er das Tanzen, er hatte sein ganzes Leben nichts anderes gemacht. Seit er denken konnte, trainierte er jeden Tag, und das mehrere Stunden. Aber jetzt war er fast sechzehn – war doch klar, dass man sich da auch für andere Dinge interessierte. In einem Jahr dürfte er mit seiner Schwester sowieso nicht mehr bei den Junioren starten, dann mussten sie sich mit den Großen messen. Auf diese Konkurrenz hatte er keine Lust. Dann lieber nur noch zum Spaß ein bisschen tanzen, ganz ohne Stress und Turnierdruck.

Außerdem wollte er endlich mal Urlaub machen und nicht die ganzen Ferien wieder in einem Trainingslager verbringen. Und Ski fahren wäre toll! Das wollte er schon so lange! Aber seine Mutter war strikt dagegen. Er könnte sich ja verletzen und nicht mehr tanzen können.

Es würde schwer werden, Sophie und seiner Mom zu erklären, dass er den Turniersport nach der Deutschen Meisterschaft aufgeben wollte. Lars‘ Muskulatur spannte sich an. Seit Monaten dachte er darüber nach, wie er es den beiden beibringen konnte.

Lars schaute auf das Display. In wenigen Metern musste er rechts abbiegen, dann war er so gut wie da. Oh nein, jetzt sprang auch noch die Ampel auf Rot! Egal, dann musste er eben über den Bürgersteig abkürzen.

Lars steckte sein Handy in die Tasche, den Rest würde er auch so schaffen. Aber da hörte er den typischen Messenger-Ton, den er für Eileen hinterlegt hatte. Lars griff wie automatisiert nach dem Handy und versuchte, von der Straße auf den Gehweg zu wechseln. Mist, der Bürgersteig war höher als gedacht. Mit einer Hand würde es nicht klappen. Das Vorderrad rutschte am Bordstein entlang. Lars konnte es kaum noch unter Kontrolle halten. So schnell er konnte, zog er die Hand aus der Jackentasche, das Handy rutschte ihm fast aus der Hand.

Lars wollte gleichzeitig das Handy packen und bremsen. Aber es gelang ihm nicht. Nur mühsam konnte er das Gleichgewicht halten, an Abbiegen oder auf den Gehsteig fahren war nicht mehr zu denken. Lars blieb nichts anderes übrig, als geradeaus zu fahren – über die rote Ampel. Lars schaute nach rechts – war das da hinten nicht Eileen? Lars hörte ein Auto hupen und sah es auf sich zukommen. Dann sah er nichts mehr.

Sophie schaute gebannt auf ihr Handy.

»Wo bleibst du? In fünf Minuten geht’s los!«

Wieso antwortete ihr Bruder ihr nicht? Sonst griff er doch immer sofort zum Handy, wenn ihm jemand schrieb.

Sophie ging unruhig in der Umkleide hin und her, zog erneut den Lippenstift nach und sprühte sich zum wiederholten Mal eine Ladung Haarspray über den Kopf.

Da, endlich ging die Tür auf! Sophie war erleichtert.

Aber nicht Lars, sondern ihr Trainer stand wenige Sekunden später im Raum.

»Seid ihr bereit?«, fragte Adrian, als er die Umkleide betrat.

Zuversichtlich schaute er Sophie an.

»Wo ist Lars?«

Sophie zögerte.

»Jetzt sag bloß nicht, dass er auf Toilette ist!«

»Ja, genau«, antwortete Sophie mit leiser Stimme.

»Ich habe euch schon hundertmal gesagt, dass Timing alles ist! Und die letzten fünfzehn Minuten vor eurem Auftritt solltet ihr ganz bei euch sein und euch konzentrieren!«

Sophie nickte. »Ich weiß!«

»Verdammt! Das hier sind die Hessischen Landesmeisterschaften! Hier geht es um alles!«

Sophie hatte einen Kloß im Hals. Am liebsten würde sie Adrian die Wahrheit sagen und ihrer Wut auf Lars freien Lauf lassen.

Sie verbrachten so viel Zeit zusammen und er war längst viel mehr als nur ein Trainer. Sie sollte ihn nicht anlügen. Andererseits konnte sie aber auch ihrem Bruder nicht in den Rücken fallen. Sicher gab es einen guten Grund dafür, dass Lars noch nicht da war. In all den Jahren hatte sie sich immer auf ihn verlassen können. Bestimmt würde er noch rechtzeitig kommen.

»Du weißt, dass ihr mein bestes Tanzpaar seid und ich nur mit dem obersten Treppchenplatz zufrieden bin.«

Sophie fiel es schwer, ihn anzulächeln.

»Denkt bitte an die neue Stelle im Jive – dann kann nichts schief gehen! Sag das deinem Bruder, ja? Ich muss jetzt zu den anderen Tanzpaaren, die brauchen noch mehr Unterstützung als ihr Profis.«

Adrian zuppelte noch einmal an Sophies Kostüm herum. Dann gab er ihr ein Küsschen auf die Stirn und spuckte drei Mal über ihre linke Schulter.

»Toi, toi, toi.«

»Danke«, sagte Sophie kleinlaut und wählte erneut Lars‘ Nummer.

»Nicht bedanken, das bringt Unglück«, sagte Adrian und zwinkerte ihr zu.

»Quatsch!«, sagte Sophie, »an so was glaube ich nicht!«

»Meine sehr verehrten Damen und Herren. Freuen Sie sich jetzt mit uns auf die Endrunde der diesjährigen Hessischen Landesmeisterschaften in der Klasse Junioren II B. Am Start sind sechs wundervolle Paare, die wir jetzt alle mit einem großen Applaus begrüßen wollen!«

Sophie hörte den Aufruf des Turniersprechers. Wenn Lars nicht sofort auftauchen würde, konnten sie die Meisterschaft vergessen! Sie starrte zur Tür, der Türgriff bewegte sich nach unten. Gott sei Dank! Da war er!

Aber wieder war es nicht Lars – stattdessen stand ihre Mutter in der viel zu kleinen Umkleide. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte Sophie sofort, dass etwas nicht stimmte.

Wortlos griff Sophies Mutter nach Lars‘ Sporttasche und räumte seine Jeans, die Turnschuhe und all die anderen Sachen, die auf einem Stuhl lagen, zusammen.

»Was ist denn los?«, fragte Sophie.

»Lars hatte einen Unfall, wir müssen sofort ins Krankenhaus«, sagte ihre Mutter monoton.

Sophie schaute an sich herunter. Mit dem pinken Tanzkleid und der Trainingsjacke, der dicken Schminke und den falschen Wimpern sah sie hier völlig deplatziert aus. So als wäre sie aus Versehen am falschen Ort. Und genauso fühlte sich Sophie auch. Sie sollte jetzt zusammen mit ihrem Bruder auf dem Siegertreppchen stehen und den Hessenmeister-Pokal in den Händen halten. Stattdessen teilte sie sich mit rund fünfzehn anderen Menschen diesen kleinen Raum der Notaufnahme. Ein Raum voller Menschen, die schlimmste Nachrichten befürchteten und sich nichts mehr wünschten als einen Arzt, der ihnen sagte, dass alles gar nicht so schlimm war. Es roch unangenehm nach Schweiß und die Frau neben ihr hatte deutlich riechbaren Mundgeruch. Es gab kein Fenster. Ein trostloser Raum. Es gab nicht einmal die in Wartezimmern üblichen Frauenzeitschriften und Klatschblätter, stattdessen nur eine Handvoll Informationsflyer über das Krankenhaus mit Erklärungen darüber, in welche Dinge man bei der Notaufnahme eines Angehörigen einwilligen musste. Zum Glück hatte sie nichts damit zu tun – ihre Mutter füllte gerade die Sachen am Empfang aus.

Sophie nahm sich einen Flyer aus dem Ständer und starrte auf die Worte, ohne sie wirklich zu lesen. Ein Sturz mit dem Fahrrad – was sollte Lars da schon passiert sein? Ein geprelltes Bein vielleicht oder eine verstauchte Hand. Sicher könnten sie in ein paar Tagen wieder mit dem Training beginnen. Mussten sie auch – schließlich stand in einem halben Jahr der wichtigste Termin ihrer bisherigen Tanzkarriere an: Der große Show-Auftritt beim Ball des Sports im Kurhaus von Wiesbaden! Den durften sie auf keinen Fall verpassen! Nicht nur, dass sich dort die Elite des deutschen Sports traf, auch die amtierenden Weltmeister der Hauptgruppe würden vor Ort sein und sie durften sogar gemeinsam mit ihnen auf der Tanzfläche stehen! Außerdem hatte ein Privatsender angefragt, die Proben und den Auftritt für eine TV-Dokumentation begleiten zu dürfen.

Sophie lächelte, als sie sich an den Tag der Anfrage zurück erinnerte. Ob sie neben dem Mitschnitt des Auftritts auch mit dem Dreh des Trainings und mit einem Interview einverstanden wären, hatte der Produktionsleiter sie gefragt. Warum hätten sie dieses einmalige Angebot ablehnen sollen?

»Sophie?«

Sophie nahm die fremde Stimme gar nicht wahr. Aber dann fragte Eileen noch einmal lauter: »Du bist Lars‘ Schwester, oder?«

Sophie schaute auf.

Vor ihr stand ein Mädchen, etwa fünzehn oder sechzehn Jahre alt. Sie hatte schulterlanges braunes Haar. Eigentlich ganz hübsch, wenn da nicht dieser Schrecken in ihrem Gesicht gewesen wäre. Dieser Blick, als wäre etwas Fürchterliches passiert.

»Was weißt du denn von meinem Bruder?«

»Ich bin Eileen, die Freundin von Lars. Er war gerade auf dem Weg zu mir, also nicht zu mir nach Hause, sondern dahin, wo mir die Kette vom Rad abgesprungen ist. Aber dann ist dieser schreckliche Unfall passiert.«

»Mein Bruder hat keine Freundin«, sagte Sophie unfreundlich, obwohl sie längst ahnte, dass es anders war.

»Ich weiß, dass er noch nichts von mir erzählt hat. Aber heute wollte er uns einander vorstellen. Egal. Ich … Es geht ihm ziemlich schlecht.«

Sophie erstarrte. Sie war unfähig, etwas zu sagen.

Wieso auch? Wieso sollte sie ausgerechnet mit der Person sprechen, die an dem ganzen Desaster Schuld war? Das Mädchen, das dafür gesorgt hatte, dass sie und ihr Bruder heute nicht Hessenmeister geworden waren!

»Die Ärzte sagen mir nichts, weil ich nicht zur Familie gehöre, aber ich habe den Unfall gesehen. Ich war nur wenige Meter entfernt. Ich bin sofort hingerannt und habe den Krankenwagen gerufen und deiner Mutter Bescheid gesagt. Er … er war nicht ansprechbar und überall war Blut.«

»Wo ist er?«

»Er wird gerade operiert. OP zwei – wir sollen hier warten.«

»Ich warte hier mit meiner Mom, du kannst jetzt nach Hause gehen.«

Eileen blieb.

Sophie dachte nach. Wieso hatte diese dumme Kuh nicht sie angerufen? Wieso hatte sie sie eine Ewigkeit auf ihn warten lassen? Wieso hatte sie zugelassen, dass Sophie immer und immer wieder die neuen Schritte des Jives durchgegangen war? So lange, bis plötzlich ihre Mutter mit hochrotem Kopf vor ihr stand.

Wenn sie wirklich seine Freundin war, musste sie doch wissen, dass sie und nicht ihre Mutter der wichtigste Mensch in Lars‘ Leben war! Diese Tussi mit der hässlichen Stupsnase sollte sich bloß nicht einbilden, dass sie ihrem Bruder jemals mehr bedeuten würde als sie!

2 · Alles anders

Sophie ging unruhig auf und ab. Jetzt warteten sie schon über zwei Stunden. Was war nur los mit ihrem Bruder? Wann würde sich endlich mal ein Arzt dazu herablassen, ihnen zu sagen, woran genau Lars operiert wurde? Warum dauerte diese blöde OP so lange?

»Ich hole mir in der Cafeteria was zu trinken. Magst du auch was?«, fragte Sophie.

Sophies Mutter schüttelte den Kopf.

So ruhig hatte Sophie sie noch nie erlebt. Eigentlich erzählte ihre Mutter immer irgendetwas. Von einem stressigen Projekt auf der Arbeit, den neuen Nachbarn, die sonntags scheinbar bis mittags bei geschlossenen Rollläden im Bett lagen oder der Fernsehserie, die sie sich seit vielen Jahren anschaute und allzu gerne Parallelen zu ihrem Familienleben zog.

»Ich komme mit«, sagte Eileen und marschierte hinter Sophie her.

Auch das noch!

»Sophie, meinst du nicht, Lars würde sich freuen, wenn wir die Chance nutzen, uns kennen zu lernen, anstatt uns stundenlang anzuschweigen?«

Sophie runzelte die Stirn und schwieg.

Wollte die ihr jetzt noch ein Gespräch aufdrücken? Das konnte sie vergessen! Sophie ging noch etwas schneller. Auch Eileen beschleunigte ihren Gang. So leicht würde sie nicht aufgeben.

»Jetzt warte doch mal«, sagte Eileen und legte ihre Hand auf Sophies Oberarm.

»Fass mich nicht an!«

Sophie ging einen Schritt zur Seite.

Eileen schaute sie erschrocken an.

Leise sagte sie: »Sophie, bitte, lass uns doch reden. Mir geht es doch genauso wie dir. Ich mache mir auch große Sorgen um Lars.«

»Du hast keine Ahnung, wie es mir geht.«

»Nicht gut, sonst würdest du mich nicht so runterputzen, obwohl ich dir nichts getan habe.«

»Nichts getan? Du hast Lars und mir die Hessenmeisterschaft versaut! Seit langem werden wir als absoluter Favorit in unserer Klasse gehandelt. Und du blöde Kuh lockst ihn aus der Halle wegen einer beschissenen Fahrradkette! Jetzt liegt er da hinten auf dem OP-Tisch und keiner weiß, wie es ihm geht! Ich denke, du hast wirklich genug getan!«

»Aber das war ein Unfall! Das wollte ich doch nicht!«

»Wenn du dein Gehirn auch nur mal für fünf Minuten angestrengt hättest, dann hättest du Lars nicht eine halbe Stunde vor der Finalrunde angeschrieben.«

»Es war ihm so wichtig, dass ich ihn mit dir tanzen sehe.«

»Ach ja? Er hat die letzten zehn Jahre getanzt, ohne dass du dabei warst.«

»Er wollte, dass wir uns kennen lernen. Er war sich sicher, dass wir uns mögen würden.«

»Falsch gedacht!«

»Was hätte ich denn machen sollen? Mir ist die Kette vom Rad abgesprungen!«

»Jemanden anderen um Hilfe bitten! Das Rad einfach schieben oder zu Fuß gehen und das Rad nach dem Turnier holen. Bist du so blöd oder tust du nur so?«

»Das ist nicht fair.«

»Was ist schon fair? Dass mein Bruder da drin jetzt vielleicht um sein Leben kämpft?«

Sophie reichte es. Sie wollte und konnte mit dieser Person nicht weiter diskutieren.

Sophie schaute wieder und wieder auf ihr Handy. So langsam wie heute war die Zeit selten vergangen. Eine Schwester hatte sie darüber informiert, dass die OP noch mindestens eine Stunde dauern würde. Eine Stunde! Wie schnell verging beim täglichen Tanztraining eine Stunde! Jetzt schien es die Zeit ihr noch schwerer machen zu wollen, als es ohnehin schon war.

Sophie steckte zum x-ten Mal ihr Handy in die Tasche, als sie ein vertrautes Gesicht sah. Sie stand auf und lief ihrem Vater entgegen.

»Lars«, schluchzte sie, »Lars wird operiert und die sagen uns nicht, was mit ihm los ist«.

Ihr Vater nahm sie in den Arm und streichelte ihr über den Kopf. »Ist schon gut«, sagte er, »ist schon gut«.

Was daran sollte gut sein? In Sophies Kopf schwirrten die Gedanken nur so hin und her. Aber sie war auch zu müde und zu erschöpft, um all diese Gedanken zu sortieren, geschweige denn auszusprechen.

Sophie konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter sie das letzte Mal umarmt hatte. Gut, dass ihr Vater jetzt da war. Die Umarmung fühlte sich verdammt gut an. Endlich konnte sie ihre Tränen ungehindert laufen lassen. Vor ihm musste sie sich nicht verstellen.

Sophies Vater suchte den Blickkontakt zu seiner Frau. Sie nickte und gab ihm zu verstehen, dass es okay war, dass er sich jetzt mehr um seine Tochter als um sie kümmerte.

Sie standen eine Ewigkeit so da, eng umschlungen und schluchzend, mitten im Gang des Krankenhauses. Erst nach einer Weile bewegte er sich mit langsamen Schritten zu den Stühlen an der Wand, ohne dabei die Umarmung zu lösen. Sophie folgte ihm wortlos, ohne dabei aufzuschauen.

»Ist das eine Freundin von dir und Lars?«, flüsterte ihr Vater ihr ins Ohr.

Sophie schaute auf. Jetzt saßen sie auch noch ausgerechnet der Person gegenüber, die für den ganzen Scheiß verantwortlich war.

»Das? Das ist niemand!« Sophie erschrak selbst, dass ihre Antwort so laut aus ihr herausgeplatzt war.

»Herr und Frau Westermann?«

Sophie hob den Kopf. Wo kam der Arzt so plötzlich hergeschlichen? Das sollte Lars‘ Arzt sein? Der war doch höchstens Ende Zwanzig. Woher sollte der wissen, was gut für ihren Bruder war? Hatte der ihn etwa operiert? Sophie sprang auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Was ist mit Lars? Geht es ihm gut? Wird er wieder tanzen können?« Der Arzt schaute Sophie an, ohne ihr zu antworten, und wandte sich dann ihren Eltern zu.

»Ich würde gerne mit Ihnen alleine sprechen.«

»Was soll das? Ich bin seine Schwester! Verdammt! Wieso darf ich nicht zu ihm?«

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Ich sollte das zunächst mit deinen Eltern besprechen.«

Eileen stand auf und stellte sich demonstrativ neben Sophie. Sie atmete tief ein und aus.

»Niemand ist Lars so nahe wie Sophie«, sagte sie mit klarer und deutlicher Stimme.

Sophie schubste Eileen mit dem Ellenbogen weg.

»Danke, aber ich kann schon gut für mich alleine sprechen!«

Der Arzt schaute Sophie in die Augen. »Dein Bruder schläft noch. Wenn er wach ist, darfst du zu ihm.«

Sophies Mutter nickte ihrer Tochter zu. Sophie kannte diesen Blick.

Er duldete keine Widerworte. Na gut, dann sollten sie halt erst mit dem Arzt alleine reden. Aber sie würde keine Ruhe geben, bis sie jedes Detail des Gesprächs kannte.

Ihr Vater legte seine Hand kurz auf Sophies Schulter.

»Bis gleich«, sagte er leise.

Es dauerte genau neun Minuten und 28 Sekunden, bis sich die Zimmertür des Arztes wieder öffnete. Nicht einmal zehn Minuten nahm sich dieser Typ für ihren Bruder Zeit? Alles, wirklich alles schien an diesem Tag falsch zu laufen.

»Wir können jetzt zu ihm«, sagte Sophies Mutter und unterbrach ihre Gedanken. Sophie stand auf und folgte dem Arzt und ihren Eltern zu Lars‘ Zimmer.

Sophie hörte Schritte hinter sich und sah sich um. Jetzt dackelte diese blöde Tussi auch noch mit ins Krankenzimmer. Das war ja wohl das Letzte!

Sophie war geschockt. Ihr Bruder sah wirklich schlimm aus. Sein rechter Arm war gebrochen und in einen blauen Gipsverband verpackt. Um den Hals trug er eine dicke beigebraune Halskrause. Sein Gesicht war blass, das linke Auge sah aus, als hätte ihm jemand ein Veilchen verpasst, und er hatte mehrere Schrammen im Gesicht. Seine Beine lagen unter einem Bettlaken, aber an seiner Körperhaltung konnte Sophie erahnen, dass er auch hier etwas abbekommen hatte. Lars war an einen Tropf und an ein Gerät angeschlossen, das neben seinem Puls und seinem Blutdruck vermutlich auch andere Dinge kontrollierte.

Lars öffnete die Augen. Aber es schien ihm sehr schwer zu fallen. Irgendwie sah er noch gar nicht richtig wach aus. Sophie setzte sich mit einer Pobacke zu ihm aufs Bett und streichelte vorsichtig seine Hand, an der ein Zugang gelegt war. Er versuchte zu lächeln, aber es sah gequält aus. Lars drehte den Kopf weg und suchte Blickkontakt zu Eileen. Er streckte den linken Arm in ihre Richtung.

Nur zögernd ging Eileen näher zu Lars‘ Bett.

Vielleicht war es falsch, dass sie der Aufforderung von Lars‘ Mutter gefolgt und mit ins Krankenzimmer gekommen war. Sollte dieser Moment nicht seiner Familie vorbehalten sein?

Eileen fühlte sich fehl am Platz, aber Lars nickte ihr aufmunternd zu und griff nach ihrer Hand, als er sie erreichen konnte.

»Sophie, Mom, Dad – das ist meine Freundin Eileen. Der wunderbarste Mensch, den ich kenne.«

Sophie zuckte zusammen. Das mussten noch die Nachwirkungen der Narkose sein. Der wichtigste Mensch in seinem Leben? So ein Blödsinn! Irgend so ein dahergelaufenes Mädchen, das er vermutlich erst sein ein paar Tagen kannte.

»Na, dir scheint es ja schon wieder gut zu gehen«, sagte Sophies Vater und zwinkerte seinem Sohn zu.

»Willkommen in der Familie«, sagte Sophies Mutter und lächelte Eileen an. Noch bevor diese aufstehen und nach der ausgestreckten Hand ihrer Mutter greifen konnte, mischte Sophie sich ein.

»Wollt ihr hier jetzt eine Willkommen-in-der-Familie-Party feiern oder sollten wir vielleicht langsam mal darüber sprechen, wie es Lars geht und welche Verletzungen er hat?«

Lars drückte Sophies Hand jetzt etwas fester und schaute sie versöhnlich an.

»Das mit mir wird schon wieder«, sagte er.

Aber es klang nicht sehr überzeugend.

»Was genau ist denn jetzt mit dir und wann kannst du wieder tanzen?«, fragte Sophie.

Lars schwieg und zog mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schultern nach oben.

»Ja, wie genau steht es eigentlich um mich?«, fragte Lars und schaute in Richtung seiner Eltern.

»Hat der Arzt nicht mit dir gesprochen?«, fragte Sophies Mutter.

»Schon, aber da war ich noch im Halbschlaf. Irgendwas von einer Platte hat er erzählt, kann das sein?«

Lars‘ Eltern fiel es sichtlich schwer, zu wiederholen, was der Arzt ihnen gesagt hatte. Was wie ein lustiger Schlagabtausch zwischen Lars und seinen Eltern begonnen hatte, endete in der absoluten Katastrophe. Der gebrochene Arm war das harmloseste seiner Verletzungen – in seinem Knie war nicht nur das Kreuzband gerissen, auch der Meniskus hatte einen Riss. Aber das Schlimmste war sein Becken, das an mehreren Stellen gebrochen war und mit Platten fixiert werden musste.

»Du wirst etwa vier Wochen das Bett hüten müssen«, sagte Sophies Vater leise, »erst dann kann man mit der Reha im Wasser und mit der Physiotherapie beginnen.«

Sophie nickte. Ein ganzer Monat also. Sie hatte mit Schlimmerem gerechnet.

»Wann kann er wieder tanzen?«, fragte Sophie erneut. Sie schaute ihrem Vater direkt in die Augen.

Sophies Vater wich ihrem Blick aus und schaute zu seiner Frau hinüber. Keiner sagte ein Wort. Trotz der piepsenden Geräte schien es mit einem Mal absolut und unerträglich still zu sein.

»Das Wichtigste ist erst einmal, dass die Brüche wieder heilen«, sagte Sophies Mutter nach einer Weile.

»Und das werden sie«, fügte Sophies Vater hinzu, »der Arzt ist guter Dinge, dass Lars in einem halben Jahr wieder schmerzfrei gehen kann.«

»In einem halben Jahr? Aber da ist doch schon der Auftritt beim Ball des Sports!«

»Den werden wir absagen müssen«, sagte Sophies Mutter leise.

Sophie war geschockt. Nach der vermasselten Hessenmeisterschaft sollte sie auch noch darauf verzichten müssen? Das konnte doch alles nicht wahr sein!

»Aber er wird doch wieder tanzen können?«, fragte Sophie nach einer Weile unsicher.

»Das müssen wir abwarten«, sagte Sophies Mutter und traute sich nicht, Lars und Sophie dabei in die Augen zu schauen.

Sophie rannte aus dem Zimmer. Die Flure des Krankenhauses schienen Kilometer lang zu sein. Erst nach einer Ewigkeit erreichte sie die Eingangstür des Krankenhauses und atmete frische Luft ein.

3 · Was für ein Kaff

Sophie schob beim Abendessen die Paprikastreifen auf ihrem Teller hin und her. Wie konnten ihre Eltern jetzt etwas essen?

»Wir sollen was? Zu Oma auf dieses Kaff hinterm Mond ziehen? Nicht in diesem Leben!«

Sophie konnte nicht fassen, was ihre Mutter ihr soeben offenbart hatte.

»Es geht nicht anders«, mischte sich ihr Vater mit ruhiger Stimme ein. »Deine Mutter und ich müssen den ganzen Tag arbeiten, aber Oma hat Zeit und kann sich um Lars kümmern. Es ist ja nur für ein Schuljahr – bis Lars wieder richtig laufen kann.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

»Du, mein Fräulein, verbringst seit deinem ersten Lebensjahr am liebsten jede Minute mit deinem Bruder. Willst du ihn jetzt, wo es ihm schlecht geht, im Stich lassen?«

Das saß! Schlimmer hätte Sophie auch eine Ohrfeige nicht treffen können.

»Und was sagt Lars dazu?«

»Es ist okay für ihn«, sagte Sophies Vater leise.

Sophies Gedanken wurden durch das Klingeln des Telefons unterbrochen.

»Westermann«, sagte Sophies Mutter und ging mit dem Telefon am Ohr Richtung Küche, »danke, Adrian, dass du zurückrufst.«

»Adrian? Er will sicher mit mir sprechen«, sagte Sophie und wollte ihr nachgehen, aber ihr Vater berührte ihr Handgelenk und hielt sie zurück.

Sophies Vater erläuterte ihr ausführlich, warum sie sich gegen eine stationäre Reha und für die Unterbringung bei Oma mit ambulanter Therapie entschieden hatten. Aber Sophie hörte ihm nicht richtig zu. Angestrengt versuchte sie das Telefonat ihrer Mutter zu verfolgen.

»Wir melden uns bei dir, Adrian. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich wenig Hoffnung, dass Lars je wieder tanzen wird.«

Sophie war geschockt. Dann war es schon sicher, dass Lars nicht mehr tanzen können würde? Was um alles in der Welt sollte sie den ganzen Tag machen, wenn sie nicht mehr mit ihrem Bruder tanzen konnte?

Sophie sprang auf. »Das könnt ihr vergessen!«, schrie sie laut, »Niemals werde ich zu Oma aufs Kaff ziehen und aufhören zu tanzen!« Laut polternd rannte sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

Sophie starrte auf den Krankenwagen vor ihnen, der im Schneckentempo zu fahren schien.

»Vielleicht hätten wir doch vorfahren sollen«, murmelte Sophies Mutter. »Dann hätten wir Lars‘ neues Zimmer auch schon ein bisschen wohnlicher einrichten können. Sicher hängen überall noch diese schrecklichen Hirschgeweihe von Opa rum.«

Sophies Vater musste lachen. Sophie war so gar nicht zum Lachen zumute.

»Also, ich verbringe keine Nacht da mit einem toten Tier an der Wand«, verkündete sie bestimmend.

»Dabei würden sich die toten Viecher in Gegenwart einer Vegetarierin bestimmt wohl fühlen«, frotzelte Sophies Vater.

»Haha, wird schwierig genug sein, Oma davon zu überzeugen, dass man auch ohne Schnitzel und Gulasch überleben kann.«

»Alles wird gut«, mischte sich Sophies Mutter ein, »es wird dir bei Oma gefallen, du wirst schon sehen.«

Alles wird gut. Sophie konnte diese Phrase noch nie ausstehen. Sie ausgerechnet jetzt zu äußern, während sie hinter dem Krankenwagen her fuhren, der ihren kranken Bruder liegend zu Oma transportierte, war typisch. Nichts war gut! Aber durch Empathie und Feingefühl hatte ihre Mutter ja noch nie geglänzt!

»Dein Zimmer ist oben«, sagte Sophies Oma, »geh ruhig schon mal rauf und schau es dir an«.

Sophie war froh, nicht dabei sein zu müssen, wenn Lars ins Haus getragen wurde. Diesen Anblick wollte sie sich ersparen. Ihn die letzten Tage im Krankenhaus so hilflos sehen zu müssen, hatte ihr schon gereicht. Und dann noch dieser durchsichtige Pinkelbeutel! Sophie konnte nicht verstehen, wie ihr Bruder das aushielt!

Gut, dass Oma sich um diese Dinge kümmern würde. Sie hatte sich stattdessen ganz andere Ziele für ihren Bruder gesteckt.

Sophies Sorgen waren völlig umsonst gewesen. Nicht nur, dass in ihrem Zimmer kein einziges Hirschgeweih herum hing, Oma hatte auch neu streichen lassen! Und anstelle eines muffigen Teppichs, überzeugte das Zimmer mit einem hellen Laminatboden. Wow. Wie cool war das denn? Sophie warf sich aufs Bett mit der hellgrünen Bettwäsche. So ein großes Bett hatte sie noch nie besessen. Sophie drehte sich herum und hatte plötzlich einen Zettel im Gesicht kleben. Sie zog sich den Klebezettel von der Wange und las: »W-LAN Passwort: 12312312, Nutzer: Sophie_Lars. Bei Problemen einfach anrufen! Tom.« Darunter hatte er in großen Buchstaben seine Handynummer geschrieben.

Sophie strahlte. Oma hatte tatsächlich einen Internetzugang einrichten lassen. Offensichtlich hatte sie von jungen Leuten und ihren Bedürfnissen mehr Ahnung, als Sophie geglaubt hatte. Da hatte sie ihr Laptop plus Drucker doch nicht umsonst eingepackt! Schnell kramte sie ihr Handy aus der Tasche, um sich mit dem Internet zu verbinden. Super, das hatte geklappt – als nächstes war der Laptop dran.

Zum Glück hatte Oma auch einen kleinen Tisch in Sophies Zimmer gestellt, keinen richtigen Schreibtisch, aber für ihre Zwecke ausreichend.

Sophie öffnete den Browser. In den letzten Tagen hatte sie bereits einige Seiten gefunden und als Favoriten gespeichert – jetzt wollte sie in Ruhe noch einmal alles durchlesen. Das Schleudertrauma sollte in ein paar Tagen erledigt sein, las sie in einem medizinischen Forum. Ein unkomplizierter Armbruch nach drei bis sechs Wochen. Sophie hatte keine Ahnung, ob Lars‘ Armbruch von der komplizierteren Sorte war oder nicht. Egal, dann plante sie eben anderthalb Monate dafür ein. Das ließ sich auch irgendwie überbrücken! Nur das blöde Becken stand Sophies Plan noch im Weg. Aber sie war sicher, dass sie auch hier eine Lösung finden würde. Ein ganzes Schuljahr würde es sicher nicht dauern, bis sie ihren Bruder wieder fit gemacht hatte! Lars musste einfach die bestmögliche Behandlung bekommen, da war sie sich sicher. Immer wieder las man doch von Leistungssportlern, die innerhalb kürzester Zeit wieder an Wettkämpfen teilnehmen konnten, egal wie kompliziert ihre Verletzung gewesen war.

Auf www.onmeda.de las sie: »Ein vollständiger Beckenbruch muss fast immer operiert werden. Das gilt insbesondere bei Brüchen des Hüftgelenks (Acetabulumfraktur), um einen vorzeitigen Gelenkverschleiß (Coarthrose) zu vermeiden. Nach der Operation müssen Betroffene für einige Wochen das Bett hüten – bei einem komplizierten, mehrfachen Beckenbruch können unter Umständen Monate vergehen, bis der Patient seine Beine wieder belasten darf. Wichtig bei einem Beckenbruch ist es, möglichst früh mit der Mobilisation zu beginnen, um einem Abbau der Muskulatur entgegenzuwirken und das Thromboserisiko zu verringern.«

Frühe Mobilisation! Wusste sie es doch! Lars durfte auf keinen Fall zu lange rumliegen – dafür musste sie sorgen!

»Sophiiieeee, kommst du bitte runter, wir fahren jetzt!«

Sophie hasste es, wenn ihre Mutter ihren Namen in die Länge zog. Zum Glück würde sie wenigstens das in Zukunft kaum noch hören müssen.

»Wir versuchen, so oft wie möglich her zu kommen, aber gerade in den nächsten Wochen wird es sehr schwierig. Du weißt ja, dass ich dieses mega Projekt abschließen muss, und dein Dad ist die nächste Zeit viel im Ausland unterwegs. Aber wir machen möglich, was geht.«

Sophies Mutter schaute Lars aufmunternd an. »Oma und Sophie sind ja da – du wirst sehen, die Zeit geht schneller rum, als du denkst.«

Schneller rum, als du denkst. Wieso nutzte ihre Mutter ständig diese beschissenen inhaltsleeren Phrasen? Den Mist glaubte sie doch selbst nicht!

»Wir rocken das Haus«, sagte Lars und lächelte, »wenn ihr das nächste Mal hier seid, kann ich sicher schon mit links schreiben und mit dem Mund tolle Postkarten malen.«

Sophies Vater lachte. »Solange du deinen Humor noch hast, mache ich mir keine Sorgen, Großer.«

»Musst du auch nicht!«

»Mach das Beste draus«, flüsterte ihr Vater Sophie zum Abschied ins Ohr und streifte mit der Hand sanft über ihren Kopf.

Sophie schluckte. Wieso wusste ihr Vater eigentlich immer, wie sie sich fühlte?

»Sei bitte nicht wieder so egoistisch und kümmere dich um deinen Bruder. Der braucht dich jetzt«, sagte Sophies Mutter so laut, dass alle es hören konnten.