He Who Drowned the World (Der strahlende Kaiser II) - Shelley Parker-Chan - E-Book

He Who Drowned the World (Der strahlende Kaiser II) E-Book

Shelley Parker-Chan

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Beschreibung

Zhus epische Reise geht weiter und findet seine Vollendung in der Fortsetzung des internationalen Bestseller SHE WHO BECAME THE SUN. Zhu Yuanzhang, der "strahlende König", strebt nach ihrem Sieg über die mongolischen Herren in Südchina nach einem neuen Ziel: dem Kaiserthron. Doch sie ist nicht allein mit diesen Ambitionen. Die Kurtisane Madame Zhang aus dem Süden plant dasselbe für ihren Mann – und sie ist stark genug, Zhu auszulöschen. Noch ein weiterer Thronanwärter steht bereit: Wang Baoxiang, ein verschmähter Gelehrter, der sich in die Hauptstadt eingeschlichen hat und das Reich durch tödliche Hofintrigen bedroht. Um im Spiel zu bleiben, muss Zhu alles auf ein riskantes Bündnis mit einem alten Feind setzen: dem talentierten, aber labilen Eunuchen-General Ouyang. Jeder Anwärter ist bereit, alles zu tun, um zu gewinnen. Doch wenn die Gier und der Ehrgeiz schier unendlich sind, könnte der Preis selbst für das rücksichtsloseste Herz zu hoch sein.

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Seitenzahl: 865

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Die Fraktionen im Reich Groß-Yuan

China, 1356

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Zweiter Teil

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Dritter Teil

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Danksagungen

Die Fraktionen im Reich Groß-Yuan

KAISERHOF

Der Großkhan – der Kaiser des Reichs Groß-Yuan. Er regiert von der Hauptstadt Khanbaliq aus. Er hat das Himmelsmandat, aber es heißt, die blaue Flamme sei sehr schwach geworden.

Die Kaiserin – die erste Gemahlin des Großkhans. Sie ist die Tochter Bolud Temürs, des Militärgouverneurs der Provinz Shanxi, und die Schwester Altan Baatars. Da ihr Bruder durch Betreiben Wang Baoxiangs verbannt wurde, hegt sie einen Groll gegen ihn.

Die Herrin Ki – einst eine Konkubine des Großkhans, die zu seiner Lieblingsgemahlin aufgestiegen ist. Sie ist außerdem die Mutter des dritten Prinzen.

Der dritte Prinz – der Sohn der Herrin Ki und einzig überlebende Sohn des Großkhans. Da er noch immer nicht mit dem Mandat gesegnet worden ist, ist er nicht der Kronprinz. Es wird erwartet, dass die Kaiserin früher oder später einen würdigen Thronfolger zur Welt bringt.

Der Kanzler – der Feldherr des kaiserlichen Hauptheeres.

DER HOF DES STRAHLENDEN KÖNIGS

Der strahlende König Zhu Yuanzhang – einst ein Bauernmädchen, das den Namen und das bedeutende Schicksal seines Bruders Zhu Chongba gestohlen hat. So wurde Zhu erst Novize und dann Mönch im Kloster Wuhuang. Nach der Zerstörung des Klosters ging sie nach Anfeng und stieg rasch in der Rebellenbewegung der Roten Turbane auf. Durch einen Coup gewann sie die Führung und ist heute der strahlende König. Ihre Hauptstadt ist Jiankang. Sie hat das Himmelsmandat, eine weiße Flamme.

Die Königin Ma Xiuying (Yingzi) – ist eine Semu-Frau und ehemalige Rebellin. Sie ist die Tochter General Mas und war mit Klein-Guo verlobt. Nach seinem Tod vertraute Zhu ihr ihr Geheimnis an. Anschließend heirateten die beiden.

General Xu Da – ein ehemaliger Mönch aus dem Kloster Wuhuang und Zhus Freund aus Kindertagen. Nach dem Fall des Klosters lebte er als Bandit. Seit er Zhu wiedergetroffen hat, dient er ihr treu als ihr General. Er kennt ihr Geheimnis.

Kommandeur Chang Yuchun – ein ehemaliger Dieb aus Anfeng. Unter Zhus Anleitung ist er zu einem äußerst fähigen Krieger herangewachsen.

Jiao Yu – ein Techniker. Er folgt stets dem, dessen Sieg er für wahrscheinlich hält. Zhu hat er das Leben gerettet, dabei aber ihr Geheimnis herausgefunden.

DER HOF DER FAMILIE ZHANG

Zhang Shicheng / Der Reiskübel – ein ehemaliger Salzschmuggler, der sich vom Reich Groß-Yuan und dem mongolischen Herrscherhaus abgewandt hat. Er ist der selbsterklärte König des Salzkönigreichs. Seinen Spitznamen hat er bekommen, weil er so nutzlos ist wie ein Kübel Reis. Die Hauptstadt seines Reichs ist Pingjiang.

Die Herrin Zhang – eine ehemalige Kurtisane aus Yangzhou, die Reiskübel Zhangs Herz gewonnen hat. Heute ist sie die Salzkönigin und die eigentliche Machthaberin. Es ist weithin bekannt, dass sie alle Geschäfte tätigt.

General Zhang Shide – der jüngere Bruder des Reiskübels. Er ist der Geliebte der Herrin Zhang und besitzt das Himmelsmandat, in seinem Fall eine orange Flamme.

DER HOF DES FÜRSTEN VON HENAN

Changhan Temür – der ehemalige Fürst von Henan. Lange Jahre schlug er mit seinem Heer die Rebellionen der Bauern im Süden des Reichs nieder. Bei der Frühjahrsjagd des Großkhans stürzte er zu Tode.

Esen Temür – der älteste und einzige leibliche Sohn Chaghans. Nach dem Tod seines Vaters übernahm er den Titel und führte das Heer gegen die Rebellen. In Bianliang wurde er von Ouyang, seinem General, verraten und ermordet.

Wang Baoxiang – der jüngere Bruder Esen Temürs. Eigentlich ist er der leibliche Sohn der Schwester Chaghans und eines adeligen Hanren. Er half bei der Ermordung seines Bruders, indem er Ouyangs Spuren verwischte. Er scheint das Himmelsmandat zu besitzen, aber die Farbe der Flamme ist bisher unbekannt.

General Ouyang – ein Eunuch. Der Großkhan verurteilte seinen Vater wegen Verrats zum Tode und ordnete an, dass jeder männliche Ouyang bis zum neunten Grad hingerichtet werde. Die Aufgabe fiel Chaghan Temür zu. Der Knabe Ouyang bettelte um sein Leben, mit dem Ziel, später Rache zu nehmen.

DIE ROTEN TURBANE

Der strahlende Prinz – der verheißene Vorbote eines neuen Anfangs. Er besaß das Himmelsmandat, eine rote Flamme. Nachdem Zhu selbst zum Symbol der Bewegung geworden war, brachte sie den Knaben ums Leben.

Liu Futong – der erste Minister. Er verdankte seine Stellung in der Bewegung der Tatsache, dass er den strahlenden Prinzen in seiner Obhut hatte. In seinem Verfolgungswahn orchestrierte er General Mas Tod. Er verlor den strahlenden Prinzen an Zhu und starb durch ihre Hand.

Chen Youliang – der machthungrige und grausame Minister zur Linken. Innerhalb der Rebellenbewegung intrigierte er, um seinen Rivalen Guo Zixing auszuschalten und an die Spitze der Roten Turbane zu gelangen. Er verlor den ersten Minister und den strahlenden Prinzen an Zhu und musste aus Bianliang fliehen. Er hat sich in Wuchang niedergelassen.

Guo Zixing – der Minister zur Rechten. Er verlor den Machtkampf innerhalb der Roten Turbane, konnte seinen Sohn nicht retten und wurde nach einem gescheiterten Aufstand von Chen Youliang öffentlich und bei lebendigem Leibe gehäutet.

Guo Tianxu – der Sohn des Ministers zur Rechten, genannt Klein-Guo. Er war Mas Verlobter und seit dem Tod ihres Vaters der General der Roten Turbane. Mas Warnungen vor Chen Youliang schlug er in den Wind und fiel somit seiner Intrige zum Opfer.

Sun Meng – ein Kommandeur der Roten Turbane und Klein-Guos und Mas Freund. Nach Klein-Guos Hinrichtung stand er dessen Vater beim Aufstand gegen Chen Youliang zur Seite und wurde ebenfalls hingerichtet.

Im dreiundzwanzigsten Jahr der Herrschaft Toghan Temürs, des fünfzehnten Großkhans der mongolischen Yuan-Dynastie, erlitten die Mongolen derart schwere Niederlagen gegen die inländischen Feinde Groß-Yuans, dass sie die Gewalt über den Süden des Reiches verloren.

Nur ein Jahr zuvor hatte den Rebellen im Süden die Vernichtung durch die gefürchteten Verteidiger des Reichs gedroht: den mongolischen Prinzen und Feldherrn Esen Temür und seinem Eunuchengeneral Ouyang. Doch hatten die Rebellen, die sogenannten Roten Turbane, dank des jungen ehemaligen Mönchs Zhu Chongba den Yuan solche Verluste beigebracht, dass sie gezwungen gewesen waren, sich zurückzuziehen.

Esen Temür und General Ouyang suchten den Beistand der mächtigen Familie Zhang, Salzhändlern, die den Yuan treu ergeben waren und die Ostküste beherrschten. In der Zwischenzeit stieg Zhu Chongba in der Rebellenbewegung auf. Er fand Verbündete – seinen selbstgewählten Bruder Xu Da und seine Gemahlin Ma Xiuying – und machte sich Feinde, auch unter den Anführern der Roten Turbane. Ermuntert von ihrem Erfolg gegen die Yuan und trotz interner Machtkämpfe erstürmten die Rebellen im Süden eine Stadt nach der anderen. Den Höhepunkt stellte die Eroberung der einstigen kaiserlichen Hauptstadt Bianliang dar, an der Grenze zum Norden des Landes.

Esen Temür und General Ouyang trachteten danach, die Stadt mithilfe der Familie Zhang für die Yuan zurückzugewinnen. Doch hinter Esen Temürs Rücken hatte dessen langjähriger Freund Ouyang einen geheimen, schmutzigen Handel mit der Familie Zhang geschlossen. In Bianliang ermordete der verräterische Eunuch seinen Herrn, mit der Hilfe General Zhangs und Esens eigenen Bruders, Prinz Wang Baoxiang. Sodann übernahm er die Befehlsgewalt über das Heer, um gegen die Hauptstadt Groß-Yuans zu ziehen und Rache am Mörder seines Vaters zu nehmen: dem Großkhan.

Ein Verrat ermöglichte den nächsten: Unbarmherzig beseitigte Zhu Chongba die Führungsfiguren der Roten Turbane – den ersten Minister sowie den strahlenden Prinzen – und setzte sich selbst an die Spitze der Bewegung.

Yingtian am Fluss Yangzi bestimmte er zu seiner Hauptstadt. Um seinem Bestreben, Kaiser zu werden, Ausdruck zu verleihen, nannte er sich fortan Zhu Yuanzhang. Er gerierte sich als der strahlende König und tat kund, er sei im Besitz des Himmelsmandats.

Die Familie Zhang sagte sich von den Yuan los und erklärte die rohstoffreiche Ostküste zu einem unabhängigen Königreich. Die befestigte Stadt Pingjiang sollte die Hauptstadt sein.

Der letzte noch lebende Anführer der Roten Turbane, der kultivierte, aber grausame Chen Youliang, entkam dem Massaker in Bianliang und nahm in Wuchang Zuflucht, flussaufwärts von Zhu Yuanzhangs Herrschaftsbereich.

Von vielen unbemerkt übernahm Prinz Wang Baoxiang den Titel seines verstorbenen Bruders – Fürst von Henan – und erhob Anspruch auf das größte Landgut Groß-Yuans.

Dies war der Stand im fünfundachtzigsten Jahr der Dynastie, gegründet vom ersten Großkhan und Kaiser Kublai Khan, um das ewige mongolische Reich Groß-Yuan.

GRENZE DER KÖNIGREICHE ZHU YUANZHANGS UND DER FAMILIE ZHANG 1356, ACHTER MONAT

»Gewisslich bedarf diese Angelegenheit keiner endlosen Erwägung«, sagte die Frau hinter dem hauchdünnen Vorhang der Kutsche. »Gebt mir Eure Antwort hier und jetzt, Zhu Yuanzhang, und spart uns beiden Zeit.«

Das Meer war noch fern, doch die Ebene am Fuß des Hügels leuchtete weiß von Salz, als flösse dort der sagenhafte Reichtum der Frau über. Der heiße Spätsommer hatte den flachen See ausgetrocknet, der gewöhnlich die Grenze zwischen den beiden Herrschaftsgebieten markierte. Hier standen die Heere einander gegenüber. Wehende Banner ließen Farbreflexe über die Salzkruste tanzen: Gelb stand für die Rebellenarmee des strahlenden Königs, grün für die Händlerfamilie Zhang. Einst waren die Zhangs dem mongolischen Herrscherhaus treu ergeben gewesen, doch nun hatten sie ihm den Rücken gekehrt und die Regentschaft über das Salz und die Schifffahrtsstraßen der Ostküste ausgerufen.

Zhu Yuanzhang war den Hügel hinaufgeritten, um der Kutsche zu begegnen. Das Gras unter den Hufen ihres Pferdes war so golden wie ihre Rüstung und die Prunkhand. Sie beobachtete, wie die Generäle der beiden Heere sich einander mit größter Höflichkeit näherten. Ihre kurzen Mittagsschatten glitten über die Salzschicht, die bei jedem ihrer Schritte einbrach.

Beide trugen Flügelhelme nach Art der Nanren und Lamellenrüstungen. Das dunkle Leder schluckte die Sonne; die metallenen Schulterstücke in Form von Löwenköpfen hingegen blitzten, als gäbe jemand Lichtsignale mit einem Spiegel. Auf den ersten Blick unterschieden sich die beiden fernen Gestalten kaum voneinander. Zhu konnte sie dennoch leicht auseinanderhalten, denn einer der Generäle war der Bruder ihres Herzens. Xu Da war groß und keinesfalls wie ein Mönch gebaut. Fröhlich schritt er aus, ein junger Mann, der es kaum erwarten konnte, mehr von der Welt zu sehen. General Zhang war kleiner und drahtiger, doch seiner Haltung sah man eine zurückhaltende Zuversicht an. Er hatte denn auch mehr Lebenserfahrung als Zhu und ihr General zusammengenommen. Nachdem sich seine Familie von den Yuan losgesagt hatte, war er entschieden zur Tat geschritten: Innerhalb weniger Monate hatte er die verbleibenden Städte südlich des Großen Kanals eingenommen und das befestigte Pingjiang am Ostufer des Tai Hu zur neuen Hauptstadt der Familie Zhang erklärt. Zwischen Zhus Reich im Westen und dem Hoheitsgebiet der Zhang lag nun nur noch ein Streifen Flachland in einer Biegung des mächtigen Flusses Yangzi.

»Ergebt Euch mir«, sagte die Frau hinter dem Vorhang. Sie sprach ein wenig kehlig – leise und verführerisch. Solch einen Ton hätte man eher hinter verschlossenen Türen erwartet; er schien anzudeuten, dass sie Fremde sein mochten, einander jedoch schon in wenigen Augenblicken sehr, sehr nah sein könnten. Eine Strategie wie diese konnte nur aufgehen, wenn einem das Kalkül dahinter verborgen blieb, doch Zhu durchschaute das Manöver. Zudem betrachtete sie sich als recht unempfänglich für sinnliche Reize. Interessiert stellte sie nun allerdings fest, dass sie ein leichtes Ziehen im Bauch spürte. Da es ihr selbst an Weiblichkeit mangelte, war ihr noch nie in den Sinn gekommen, dass man sie als Waffe einsetzen könnte. Es war eine gänzlich neue Erfahrung, und sie war in gleichem Maße belustigt und beeindruckt.

Auf der Salzebene neigten die beiden Generäle respektvoll die Häupter voreinander, tauschten Förmlichkeiten aus und zogen sich dann wieder zurück. Ihre Spuren im Salz wirkten blau.

Endlich wandte Zhu sich ihrer Gesprächspartnerin zu. »Seid gegrüßt, vielgeschätzte Herrin Zhang.«

»Ihr verweigert mir meinen Titel?«, fragte die Frau herausfordernd.

»Nun, Ihr verweigert mir den meinen«, erwiderte Zhu. Lebenslust durchströmte sie – der Rausch der Macht, vermischt mit Verspieltheit, so aufregend wie der Meeresgeruch und der wilde heiße Wind, der Banner knallen ließ und das Gras auf den Hängen der Hügel zum Wogen brachte. Ebenso herausfordernd wie die Herrin fügte sie hinzu: »Vielleicht sollte ich mit demjenigen über Kapitulation sprechen, der den Titel tatsächlich trägt: mit Eurem Gemahl, dem König! Lieber würde ich von Angesicht zu Angesicht mit einem Gleichgestellten verhandeln als mit seiner ehrenwerten Gattin, die sich schicklich hinter einem Vorhang verbirgt.«

Die Frau lachte sanft. »Seid unbesorgt: Ihr erklärt Eure Kapitulation an der richtigen Stelle! Meinem Gemahl mag sein Ruf vorauseilen, doch ein schwacher Mann, gut geführt, ist die größte Stärke einer Frau.« Hinter der Gaze bewegte sich ein Schatten, als lehnte sich die Frau zum Fenster hin. Sie sprach nun so leise, dass es einer Einladung gleichkam: Zhu sollte sich herabbeugen und ihr Ohr näher an diese wispernden Lippen bringen. Dann hätte sie, wäre der hauchzarte Vorhang nicht gewesen, jede Silbe auf der Haut spüren können.

»Ich glaube nicht, dass Ihr ein schwacher Mann seid, Zhu Yuanzhang. Aber Ihr befindet Euch in einer prekären Lage. Was könnt Ihr ausrichten gegen mein Heer, das so viel größer ist als Eures? Gegen meinen General, den selbst der gefürchtete General Ouyang als ebenbürtig ansieht? Ergebt Euch und unterstellt Eure Streitkräfte meinem Kommando. Und dann warten wir nicht, bis die Yuan ihren Kanzler mit dem Hauptheer schicken, um uns niederzumachen, sondern ziehen gemeinsam gegen Dadu! Wir nehmen ihnen die Hauptstadt und den Thron. Und ist mein Gemahl erst Kaiser, verleiht er Euch jeden Titel, den Ihr Euch nur wünschen könnt. Herzog? Fürst? Rang und Würden sollt Ihr besitzen!«

»Die Geschichtsschreiber werden beeindruckt sein«, sagte Zhu trocken. »Gewiss werden sie mich als großen Mann begreifen.«

Die beiden Armeen, die sich in der Ebene gegenüberstanden, waren bloße Schau. Dies war eine Zusammenkunft, keine Schlacht. Aber Zhu machte sich nichts vor, was ihre Lage anging. Ihr Heer bestand vor allem aus Fußvolk, das sich aus den ehemaligen Roten Turbanen und zusätzlich rekrutierten Bauern zusammensetzte, und war kaum halb so groß wie das gut ausgerüstete Berufsheer der Zhangs. Und mit Ausnahme Yingtians konnte keine ihrer ein Dutzend Städte im Süden auch nur mit dem ärmsten Handelsplatz der Familie Zhang am Großen Kanal mithalten. Es stand außer Frage, wie ein Waffengang enden würde. Wären die Rollen vertauscht gewesen, so hätte Zhu es wie ihre Gegnerin gemacht: Sie hätte ihren Sieg erklärt und eine Kapitulation verlangt.

»Danach hungert es Euch?«, raunte die Herrin Zhang. »Nach Größe?« Ihr Ton war so zärtlich wie Fingerspitzen, die nackte Haut liebkosten. »Schwört mir Gefolgschaft, und ich erfülle Euer Begehren!«

Größe. Beinahe ihr ganzes Leben lang sehnte Zhu sich schon danach, und sie wusste mit absoluter Gewissheit: Nie würde dieses brennende Verlangen erlöschen. Sie richtete sich im Sattel auf und blickte nach Osten, wo am gelbbraunen Horizont das Reich der Familie Zhang lag. Der Wind wehte ihr entgegen, und es schien, als trüge er das ferne Land näher und immer näher heran, bis sie es beinahe greifen konnte. Der Gedanke erfüllte sie mit heftiger Freude. Ihr war, als stünde sie in großer Höhe und blickte auf den Weg hinab, der in ihre Zukunft führte. Von dieser Warte aus sah sie, dass es keine ernsten Hindernisse gab – bloß kleine Unebenheiten, die sie kaum von ihrem Ziel abhalten würden.

»Groß will ich nicht sein«, sagte sie wonnevoll zu der gesichtslosen Frau hinter dem Vorhang. Dann schwieg sie. Sollte die Herrin grübeln, was sie falsch gedeutet hatte, wieso ihre kunstvolle Verführung misslungen war! Ihre Unsicherheit war ein Genuss.

Zhus Armstumpf schmerzte in der zu engen Manschette ihrer Holzhand. Aber diese Unannehmlichkeit wie auch die Schwierigkeiten, denen ein Mann mit nur einer Hand tagtäglich begegnete, waren lediglich der Preis ihres Verlangens, und sie war stark genug, ihn zu zahlen. Alles konnte sie ertragen, alles Nötige tun, um zu bekommen, was sie wollte.

»Dann …«, setzte die Herrin Zhang an.

»Nein, groß will ich nicht sein«, wiederholte Zhu. Ihr Verlangen strahlte wie die Sonne; so unermesslich war es, dass es sie ganz und gar erfüllte. Wer sonst kannte die Gewalt hinter dem Gefühl, etwas mit dem ganzen Selbst zu wollen? »Ich will der Allergrößte sein.«

Der Wind jagte Strudel aus funkelnden Kristallen über die Ebene. Lebenserhaltendes Salz, in dieser Konzentration lebensfeindlich.

»Ich verstehe«, sagte die Herrin Zhang nach einem Augenblick. Trotz aller Koketterie war ihr die Verachtung nun deutlich anzumerken; Zhu sah im Geist die Tür eines Gemachs vor sich, die ihr vor der Nase zugeschlagen wurde. »Ich vergaß, wie jung Ihr noch seid. Junge Leute sind immer zu ehrgeizig. Sie kennen ihre Grenzen noch nicht.«

Die Herrin klopfte mit ihren – ohne Zweifel makellos lackierten – Fingernägeln von innen gegen den Rahmen der Kutsche, um dem Fahrer ein Zeichen zu geben. »Wir sehen uns wieder«, sagte sie. »Doch einen Rat will ich Euch noch mit auf den Weg geben. Richtet einmal Euer vorzüglichstes Augenmerk auf meinen General dort unten. Man achtet ihn weithin: sein Auftreten, seine Erscheinung, seine Leistungen. Ein Mann wie er steht naturgemäß über anderen. Ihr tätet gut daran, Euch zu fragen, wo Ihr naturgemäß steht, Zhu Yuanzhang. Die Welt erträgt es schon kaum, einen derart mangelhaften Menschen auch nur anzuschauen. Und Ihr glaubt, man würde Euch auf dem Thron dulden? Nur ein Narr würde alles für das Unmögliche aufs Spiel setzen!«

Zhu schaute der Kutsche nach. Mangelhaft … Nahm man die männliche Anatomie als Grundlage, so fehlte ihr mehr als nur die rechte Hand oder ein breites Kreuz. Hätte die Herrin Zhang um alle ihre Mängel gewusst, sie hätte sicher schon Zhus bisherige Errungenschaften als undenkbar erachtet. Doch gab es andere Wege, das Unmögliche zu erreichen. Belustigt und trotzig zugleich dachte Zhu: Man verändert die Welt, sodass es möglich wird!

YINGTIAN

Im Gewühl auf dem Palastgelände kamen einzig ein König und eine Königin ungehindert voran, da ihnen jeder aus dem Weg sprang und sich verneigte. Dennoch gab die schiere Masse der Bauarbeiter Zhu das Gefühl, ein Boot zu sein, das sich durch einen zugewucherten Teich schob. Und schon wieder kamen sie an einem Gebäude vorbei, um das sich ein Bambusgerüst zog … »Ich war nicht einmal so lange weg«, sagte sie bewundernd. »Wie fleißig du warst!«

Ihre Gemahlin Ma Xiuying warf ihr einen ungehaltenen Blick zu. »Das versteht sich von selbst. Oder hast du etwa geglaubt, dein standesgemäßer Palast baut sich von ganz allein?«

Nicht nur der Palast war im Entstehen begriffen. Als Zhu in die Stadt zurückgekehrt war, hatte sie das Fundament der neuen Wehrmauer gesehen. Sie war durch die sommerheißen Straßen geritten und hatte die Baumsetzlinge bestaunt, die erst in Jahrzehnten Schatten spenden würden. Der Geruch nach Sonnenschein und Sägemehl, der leichte Wind, der ungehindert über die Baustellen strich, der klare Himmel, weiter und blauer als überall sonst, wo Zhu bisher gelebt hatte. In all dem Neuen steckten so viele Möglichkeiten, dass es sie in helle Begeisterung versetzte.

»Du hingegen«, fügte Ma spitz hinzu, »bist offenbar bloß zur Grenze geritten, um dich in Positur zu werfen.« Ihr ausladendes besticktes Seidengewand verlangsamte sie kaum. Da sie zu den Semu-Nomaden gehörte, waren ihre Füße so groß wie die einer Bäuerin, und sie lief um ein Vielfaches schneller als die adeligen Nan-Frauen, die man oft unter Sonnenschirmen die Straßen entlangtrippeln sah.

Zhu musste sich beeilen, um Schritt zu halten. »Lieber posiert man ein bisschen, als gleich in die Schlacht zu reiten. Die Herrin Zhang sieht es übrigens genauso: Sie wollte meine Kapitulation erwirken.«

»Was euch beiden gedient hätte. Deshalb hast du natürlich abgelehnt.«

Zhu entging die Spitze nicht. Doch solange man höher aufsteigen, mehr Größe erreichen konnte, würde es sie danach verlangen. Und dieses Verlangen konnte sie ebenso wenig aufgeben wie das Atmen. »Unter diesen Umständen hätte es uns beiden gedient. Und diese Umstände muss ich eben ändern!«

»Ach, das ist alles! Vielleicht musst du’s dir bloß wünschen, und mit einem Mal ist dein Heer doppelt so groß.«

Zhu zwinkerte ihr zu. »Das mag sogar sein! Aber ich brauche deine Hilfe.«

Ma blieb stehen und blickte sie prüfend an. »Meine Hilfe.«

»Wieso bist du so überrascht? Du bist eine überaus patente Frau!« Zhu machte eine weit ausholende Geste, die das Chaos ringsum einschloss, all die hämmernden, schreienden Männer. Dann wechselte sie in eine der Sprachen, die sie im Kloster gelernt, allerdings nie ernsthaft gesprochen hatte. Eher schlecht als recht fragte sie: »Du beherrschst Uigurisch, oder?«

Ma sah sie groß an. Dann lachte sie und antwortete in derselben Sprache: »Besser als du, wie’s scheint!«

Uigurisch unterschied sich nicht allzu sehr vom Mongolischen. Prompt dachte Zhu an den Eunuchengeneral Ouyang: Er sprach Han’er mit einem monotonen, fremdartigen Akzent, den sie nicht gerade schön fand. Aber Mas Uigurisch hätte sie den ganzen Tag zuhören können. Wie reizvoll es war, eine neue Facette an jemandem zu entdecken, den man schon so gut kannte!

»So lange ist das jetzt schon her … Ich dachte, ich hätte vielleicht schon alles vergessen.« Ein wehmütiger Ausdruck lag auf Mas Gesicht. Wieder auf Han’er sagte sie: »In Dadu, als mein Vater noch ein General im Hauptheer der Yuan war, haben wir zu Hause unsere eigene kiptschakische Sprache gesprochen, mit den Mongolen aber Mongolisch und Uigurisch mit den anderen Semuren. Versteht man eine der drei Sprachen, lernt man auch die anderen beiden schnell. Aber Han’er ist vollkommen anders. Ich kannte kaum ein Wort, als mein Vater mit mir nach Anfeng gegangen ist und mich in den Guo-Haushalt gegeben hat.«

Mas Vater, der den Yuan die Treue gebrochen und sich den Roten Turbanen angeschlossen hatte, war seinerseits verraten worden und im Kampf gegen General Ouyang gefallen. Es gab Zhu einen Stich, an das Leben zu denken, das Ma geführt hatte, ehe sie einander begegnet waren. General Mas Tod hingegen ließ sie kalt, und auch dem alten Guo und seinem Sohn Klein-Guo, Mas unglückseligem Verlobten, weinte sie keine Träne hinterher. »Was waren sie alle blind! Keiner hat gesehen, wozu du fähig bist.«

Das war zu gefühllos gewesen: Sie sah Schmerz in Mas Augen aufblitzen. Offenbar trauerte sie noch immer. Nicht weil ihr Vater und die Guos so gut zu ihr gewesen wären oder ihr so viel bedeutet hätten, sondern einfach, weil auch sie Menschen gewesen waren. Selbst nach einem vollen Ehejahr staunte Zhu noch immer über Mas unerschöpfliches Mitleid. Manchmal, wenn sie beisammen waren, glaubte sie es beinahe zu verstehen – oder gar zu spüren, als flösse Mas Zartgefühl aus ihr heraus und sickerte Zhu in die Brust. Doch sobald sie voneinander getrennt waren, verlor sie die Gabe wieder.

Sie wechselte das Thema. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie damit verbracht, ihrer Vergangenheit zu entkommen, und solch unangenehm klebrige Empfindungen wie Trauer oder Wehmut weckten in ihr immer noch das Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen. »Kannst du ein Dutzend Semuren für mich auftreiben, die Uigurisch beherrschen?«, fragte sie. »Nicht bloß Männer, auch Frauen, wenn du welche findest. Und wenn du schon dabei bist: ein paar Kamele dazu!«

Erfreulicherweise schien diese Bitte Ma von ihrem Kummer abzulenken: Sie sah völlig fassungslos aus.

»Wer braucht nicht ab und an ein Kamel?«, fragte Zhu gutgelaunt. »Bestimmt kannst du gut mit ihnen umgehen – diese Anlage haben dir deine Ahnen doch sicher vererbt. Ach, und Seidenballen … So viele du nur in die Finger kriegen kannst!«

»Die Schildkröte, die dich gelegt hat, hat dir wohl nichts vererbt!«, rief Ma. »Na schön: Semuren, Kamele, Seide. Dazu die Sonne, den Mond und alle Elstern, die über den Himmelsfluss fliegen. Wann brichst du auf?«

»So rasch wie möglich. Es ist ein langer Marsch. Ich muss Xu Da bitten, die Vorbereitungen für einen Feldzug zu treffen … Aber eines hast du falsch verstanden.« Eine kleine Schar Palastdienstmädchen kam herangeflattert. Als die Mädchen den strahlenden König und seine Gemahlin erblickten, fielen sie eilig auf ein Knie. Wohlwollend bedeutete Zhu ihnen, wieder aufzustehen. »Die Frage muss lauten: Wann brechen wir auf!«

Verwirrt runzelte Ma die Stirn.

»Ich will bestimmt nicht so töricht sein wie die Guos und die kluge, fähige Frau in meinem Haus übersehen.« Ihre eigene Kühnheit jagte ihr Schauer über die Haut. »Wir machen das zusammen!«

Vor ihrem inneren Auge erschien ein schönes, jadekaltes Gesicht, und sie erbebte, überkommen von jenem unheimlichen Gefühl des Wiedererkennens: Es gab noch einen Menschen auf der Welt, der weder das eine noch das andere war. Ihr Armstumpf klagte in erinnertem Schmerz.

»Zhu Yuanzhang«, sagte Ma – leise, damit niemand hörte, wie informell sie den strahlenden König ansprach. »Was hast du vor?«

Zhu lächelte sie an. »Ich brauche ein zweites Heer. Deshalb holen wir uns das aus Bianliang.«

Nach langem Schweigen sagte Ma: »Der Eunuchengeneral …«

»Du musst dir keine Sorgen ma…«

»Keine Sorgen!«

»Ich begebe mich nicht einfach in die Höhle des Tigers! Ob du’s glaubst oder nicht, ich habe aus der Vergangenheit gelernt.« Zhu lachte. »Das wird ein Einsatz ohne Schlacht! Aber wir müssen schnell sein. Stell dir vor, du seist er: Dein ganzes Leben lang hast du warten und Treue heucheln müssen – ausgerechnet denen, die deine Familie umgebracht haben! Doch nun sind sie tot, und du kannst endlich Rache nehmen: am Großkhan, der die Schuld an allem trägt, was du erlitten hast! Du könntest es kaum erwarten, oder?

Ouyang ist nur deshalb noch nicht aufgebrochen, weil der Großkhan den Sommer wie jedes Jahr in Shangdu verbringt und erst im Herbst nach Dadu zurückkehrt. Sobald er hört, dass der Großkhan zurück ist, gibt er den Marschbefehl. Wir müssen es vorher nach Bianliang schaffen!«

»Du sagst, es wird keine Schlacht geben«, sagte Ma zweifelnd. »Willst du ihm anbieten, was die Herrin Zhang dir angeboten hat?«

»Nicht direkt. Aber es wird ein Spaß, das verspreche ich dir!«

Ma bekam keine Gelegenheit zu antworten: Es krachte donnernd, und dort, wo gerade noch ein Gebäude gestanden hatte, stieg eine Staubwolke in die Luft.

»Buddha behüte uns!«, rief Ma. Backsteine regneten auf den Platz nieder. Dort standen bereits die Skelette mehrerer neuer Gebäude. »Es sieht ja schlimmer aus als vorher! Hätten wir nicht doch lieber alles so lassen sollen?«

Dicht hingen Ziegelmehl, gelber Staub und der vertraute Geruch nach Feuerpulver in der Luft, der an Gepökeltes erinnerte. Durch diesen dunstigen Vorhang sah Zhu kurz eine Version des künftigen Yingtians: eine schimmernde Großstadt, die auf eine so freche, geschmacklose und erschütternde Weise neu war, dass sie radikal mit der Vergangenheit brach.

Ihr Stempel auf der neu geschaffenen Welt.

Sie fühlte sich berauscht von der Geschwindigkeit. Ihr war, als rannte sie auf jenen gelbbraunen Horizont zu, so rasch ihre Beine sie trugen. »Vertrau mir, Yingzi. Das wird lustig!«

BIANLIANG

Esen lag in der Aue des Gelben Flusses begraben. Vor Jahrhunderten war das Land bewirtschaftet gewesen, doch Gräser und Wildblumen hatten es längst zurückerobert. Nun glich es ein wenig der Steppe, die Esens Vorfahren einst durchstreift hatten, jenem endlosen, wogenden Grasmeer. Ouyang hatte keinen besseren Ort finden können. In der Ferne erhob sich ein zerklüftetes blaues Massiv: kein Gebirge, sondern die verfallenen Überreste der zerstörten äußeren Mauer Bianliangs.

Ouyang kniete auf dem sumpfigen Boden neben dem frisch gefegten Grab, und ihm war, als würde er langsam versinken. Eines Tages würde alles um ihn her auf diese Weise verschwinden: Bianliangs Mauern, Esens Grab, die ganze wilde Aue. Und er selbst – er würde schneller fort sein als alles andere.

Der Schmerz flackerte auf. Seit Esens Tod war er Ouyangs ständiger Begleiter. Die unerträglichen Qualen seiner Seele schienen das Qi zu zerfasern, das den Geist mit dem Leib verband, mit Muskeln, Knochen und Organen – ihm war, als würde sein innerstes Gefüge zerstört. Doch in den schlimmsten Momenten brach ein rasender, tosender Feuersturm über ihn herein, der die ganze Welt verschlang. Dann war er allein, stand lichterloh in Flammen, und wie er sich auch wand und krümmte, er konnte nicht entkommen.

So brannte er auch jetzt, während er zitternd neben Esens Grab kniete. Verzweifelt wünschte er, die gelben Wasser des Flusses wollten über ihm zusammenschlagen, das Feuer löschen und seinen leblosen Leib zum Meer tragen. Doch es konnte nicht sein. Selbst in diesem Augenblick noch wusste er, dass es nur einen einzigen Ausweg gab. Er würde aushalten, auch wenn er es sich nicht vorstellen konnte – weil er musste. Der Sommer würde vorbeigehen, und war der Großkhan erst in die Hauptstadt zurückgekehrt, würde Ouyang sein Heer gegen Dadu führen. Er würde Vergeltung üben an dem Mann, der Esens Schicksal, sein eigenes Schicksal festgeschrieben und ihnen die Entscheidung genommen hatte, wie sie leben und sterben wollten. Der Mord am Großkhan – dieser letzte Akt in Ouyangs Leben – würde alles, was Ouyang getan und erlitten hatte, rechtfertigen. Am Ende würde es jedes Opfer wert gewesen sein.

Er erhob sich. Sein Schatten fiel über das Gras, und in weitem Umkreis flogen Lerchen auf. In der Ferne, vor einem halb erahnten Schimmer von Wasser, wiegten sich Rohrkolben. Die Hitze brachte ihren Zwiebelgeruch hervor, doch der Sommer neigte sich merklich seinem Ende entgegen. Bald schon würde es so weit sein.

Die Sonne sank bereits, als er die intakte innere Mauer Bianliangs vor sich aufragen sah. Er war beinahe den ganzen Tag fort gewesen. Der Gedanke beunruhigte ihn nicht weiter.

»General Ouyang!«

Er wurde erwartet: Als er das Tor passierte, schloss ein Reiter zu Ouyangs schwarzer Stute auf. Verärgert über die Zudringlichkeit, warf Ouyang dem Mann einen scharfen Blick zu. Sechs Nanren-Kommandeure hatten sich mit ihm gegen die Mongolen verschworen, aber nur drei waren übrig geblieben. Kommandeur Geng war bei Weitem der unscheinbarste. Selbst sein Gesicht, so quadratisch wie das Schriftzeichen für »Reich«, verschwieg seinen Charakter und sprach bloß von seinem Ziel: Groß-Yuan wieder unter einheimische Herrschaft zu stellen. Wie die anderen Kommandeure auch steckte Geng sein Haar nun stolz zu einem Haarknoten auf. Ouyang fragte sich, ob ihnen wohl missfiel, dass er selbst nach wie vor die mongolischen Zöpfe trug. Nicht dass es ihn kümmerte. Anders als sie konnte er seine Nan-Identität nicht retten. Ihm war, als hätten sie sie ihm genommen, zusammen mit allem anderen, was einen Mann ausmachte.

Gengs flehende Miene steigerte Ouyangs Unwillen noch.

»Herr General, was die Angelegenheit mit Kommandeur Lin angeht …« Ihre Armee wurde nun ausschließlich von Nanren geführt, daher sprach Geng Han’er, nicht Mongolisch. »Mit Verlaub, ich möchte Euch inständig ersuchen: Trefft Euch mit ihm und hört ihn an!«

Die Dringlichkeit befremdete Ouyang. Er war nicht einmal sicher, welcher der drei Kommandeure Lin überhaupt war. Ihm war ein Rätsel, wie Geng auf die Idee kam, er könne sich persönlich mit ihm befassen wollen. »Warum belästigt Ihr mich mit solchen Kinkerlitzchen? Oberbefehlshaber Shao soll sich darum kümmern.«

Das Ende zweier der sechs Mitverschwörer stand ihm noch deutlich vor Augen. Er konnte seinen Stellvertreter zwar nicht ausstehen; doch wenn Shao sich Unruhestiftern annahm, dann immerhin so, dass fortan tatsächlich Ruhe herrschte.

Vor ihrem Hauptquartier, der ehemaligen Residenz des Yuan-Gouverneurs, saß er ab. Geng erhob Einwände, aber Ouyang hörte ihn kaum und ließ ihn einfach zurück. Als er durch das splittrige Holztor trat, hob ein streunender Hund den Kopf und knurrte leise.

Er wusste, worauf der Hund ansprach. Es war derselbe Grund, aus dem Vögel flohen, wenn sein Schatten auf sie fiel, oder Flammen sich neigten, wenn er vorüberging.

Es lag an seinen Geistern.

Er selbst konnte sie nicht sehen – anders als offenbar Menschen, die das Himmelsmandat besaßen –, aber sie waren da. Immer waren sie da. Seit Esen tot war, besuchten sie ihn in seinen Träumen: die ermordeten Mitglieder seiner Familie, gekleidet in weiße Lumpen, starrten ihn mit ihren leeren schwarzen Augen an. Sie warteten darauf, dass er sie gehen ließ.

Gequält dachte er: Bald!

Ouyang schnitt ein Stück Ziegenleder zurecht, um ein abgenutztes Trensenbackenstück zu ersetzen. Er saß auf dem Bett; neben ihm stand ein Tischchen mit seinen Werkzeugen und einer brennenden Bienenwachskerze darauf. Eigentlich war es die Aufgabe der Stallburschen, das Zaumzeug auszubessern, aber er übernahm immer häufiger niedere Tätigkeiten, in der Hoffnung, dass so die Zeit schneller verging.

Er hielt das Messer in die Kerzenflamme: Mit einer heißen Klinge ließen sich am leichtesten Rillen für die Nähte ins Leder drücken. Blicklos schaute er in die leckende Flamme, als plötzlich wie durch grausame Alchemie aus den Gerüchen der Kerze, des heißen Metalls und des Leders eine Erinnerung hervorging. Nicht einmal eine bestimmte, dachte er gemartert. Vielmehr war es, als spürte er Esens Gegenwart. Und augenblicklich übermannte ihn der Schmerz.

Unermesslich. Unerträglich. Er konnte nicht mehr denken, konnte nur noch stumm heulen, es möge aufhören, aufhören … Ein verzweifelter Instinkt leitete ihn. Noch ehe er wusste, was er da tat, schob er auch schon den linken Ärmel hoch und drückte die flache Seite der Klinge gegen die empfindliche Haut.

Das tat weh. In stummer Qual starrte er auf das Messer hinab. Es tat so weh, dass der Schmerz die Trauer aus seinem Kopf brannte, bis nichts mehr von ihm übrig war als ein scharfkantiger weißer Schrei.

Lange bevor er Soldat geworden war und alle möglichen Arten körperlichen Leidens kennengelernt hatte, hatte ein glühendes Messer ihn zu dem gemacht, was er war. Diesen Schmerz kannte er. Er wusste, dass er ihn – im Gegensatz zu jenem anderen – überleben konnte. Er nahm die Klinge von der Haut und stieß dabei die Luft zwischen den Zähnen hervor. Nun zog sich ein roter Streifen über sein inneres Handgelenk parallel zu dem Armband aus Esens goldenen und jadenen Haarperlen. Der weiße Schrei in seinem Kopf riss nicht ab, sondern durchdrang ihn ganz und gar. Nun brannte nicht mehr sein Geist, sondern sein Leib, und das Feuer verschlang alles, was ihn ausmachte, was er empfand.

Er schwebte. Wie lange, wusste er nicht. Es kam ihm endlos vor.

»Herr General!«

Ruckartig wandte er den Kopf. Shao stand im Türrahmen, aber wie lange schon? Das Zaumzeug lag vergessen in Ouyangs Schoß. Hastig zog er den Ärmel über die flammend rote Haut und das Armband. Eine unbestimmte Scham hatte ihn erfasst. Die Verbrennung schmerzte noch immer heftig.

Shao kam herein, offenbar der Auffassung, er habe sich den Eintritt verdient, weil er wer weiß wie oft »Herr General« gesagt hatte. Die Kommandeure Geng und Chu, die anderen beiden Urverschwörer, folgten ihm auf dem Fuß. Ouyang erhob sich. Er trug keine Rüstung, und der Schmerz hatte ihn aufgebrochen; er hatte das Gefühl, verwundbarer zu sein als sonst. Der Besuch kam ihm eher wie ein Überfall vor. Ihm wurde bewusst, dass er das Messer noch in der Hand hielt.

»General Ouyang.« Shao machte sich nicht die Mühe zu salutieren. Sein Blick wanderte zu der Klinge, und seine Lippen verkniffen sich zu einer schiefen Linie, die Ouyang an eine Schnittwunde erinnerte. Freudlos und spöttisch zugleich sah er aus, aber das war nichts Neues. Es bedeutete nicht, dass er etwas mitbekommen hatte. »Habt Ihr meine Nachricht nicht erhalten?«

Da fiel Ouyang ein, dass er vorhin einen jungen Soldaten abgewimmelt hatte. Wann war das gewesen? Gegen Morgen vielleicht. Jetzt war es bereits Nachmittag. »Nun seid Ihr ja hier«, sagte er schroff. »Was gibt es?«

»Kommandeur Lin ist heute Morgen nicht zum Appell angetreten. Dasselbe trifft auf die Techniker-Einheit unter seinem Kommando zu.« Wenn Shao aufhörte zu sprechen, blieb sein Mund immer ein wenig offen stehen – dann sah er wie ein Fisch aus, der zubeißen wollte.

War Geng nicht kürzlich wegen Kommandeur Lin auf ihn zugekommen? Vielleicht war es auch Chu gewesen. Ouyang konnte sich nicht entsinnen, worum es gegangen war. »Und?«

»Vor drei Tagen hat er um ein Gespräch mit Euch gebeten, um seine Unzufriedenheit zu äußern. Da Ihr ihn nicht empfangen habt, ist er nun desertiert.«

Widerwillig erwiderte er Shaos Blick. Was kümmerte ihn das Fußvolk? Er wollte bloß in Ruhe gelassen werden. »Uns bleiben immer noch drei Hundertschaften Techniker, sehe ich das richtig? Wo liegt also das Problem?«

Geng und Chu traten unruhig von einem Fuß auf den anderen, aber Shao ließ sich nicht so leicht einschüchtern. »Noch dem diszipliniertesten Heer wird das Warten lang. Euer Heer besteht aus Wehrpflichtigen, von denen gerade erst verlangt wurde, kaltblütig ihre Befehlshaber zu ermorden. Auf Sold besteht für sie nicht mehr die geringste Aussicht. Nun haben sie auch noch beobachtet, wie einhundert Männer sich einfach abgesetzt haben. Ihr könnt sicher sein: Treue wird die übrigen nicht halten.« Sein gleichmäßiger Ton ließ keine Spur von der Verachtung erkennen, doch die Frage stand im Raum: Ein Eunuch wie Ouyang war kaum in der Lage, Männern Respekt abzunötigen – wie sollte er da erreichen, dass sie ihm die Treue hielten? »Wenn sie bleiben sollen, müsst Ihr dafür sorgen, dass es sich für sie lohnt.«

»Wir befreien die Nanren von den Ketten der Mongolenherrschaft«, sagte Ouyang gepresst. »Ist das nicht genug?«

Shao zog die Mundwinkel nach unten. Er hielt nicht viel von ideellen Anreizen.

»Sie sind unserer Sache verschrieben«, warf Chu ein, »aber Ihr dürft nicht vergessen, Herr General, dass es sich um gewöhnliche Männer handelt, die ihre Familien unterstützen müssen.«

Chu reizte Ouyang aufs Äußerste. Sein rundes Murmeltiergesicht, seine übergroße Sanftmut, seine leichten, leisen Tritte – alles an ihm stimmte ihn gewalttätig.

»Erinnert Ihr Euch an die Überschwemmungen im letzten Jahr?«, fragte Geng. »In Henan haben beinahe alle Bauern die Erträge eines Jahres verloren. Auf den Ländereien des Fürsten hatten wir noch Glück: Prinz Wang hat uns unsere Abgaben erlassen. Aber überall sonst haben die Menschen gelitten. Wenn Ihr den Männern etwas geben würdet, um es ihren Familien zu schicken, sei es Gold, Seide oder Salz – dann bleiben sie.«

Hatte Wang Baoxiang sich nicht einmal Soldaten ausgeliehen, um sie Gräben ausheben zu lassen? Ouyang glaubte, sich vage daran zu erinnern. Wahrscheinlich war Esens jüngerer Bruder nun der Fürst von Henan. Und da er vor Esen und Ouyang seine Ruhe hatte, zählte er ohne Zweifel tagein, tagaus goldene Tael und verhätschelte seine Bauern. Beim Gedanken, dass Prinz Wang nach allem, was geschehen war, glücklich sein könnte, stieg ihm die Galle hoch.

»Mag sein«, sagte er. »Wir haben aber kein Gold. Und keine Seide und kein Salz.«

»Dann holen wir uns eben, was wir brauchen«, sagte Shao. »Mehrere von Zhu Yuanzhangs Städten sind von hier aus gut zu erreichen. Dass er von Anfeng nach Yingtian gegangen ist, hat das Randgebiet seines Territoriums geschwächt. Dort haben wir leichtes Spiel.«

»Und den Marsch auf Dadu verschieben wir wohl? Auf keinen Fall!« Die Vorstellung, noch länger zu warten, war unerträglich. Ouyang erstickte beinahe vor Zorn. »Es reicht. Schickt den Deserteuren die leichte Reiterei hinterher. Lasst sie einfangen, häuten und ihre Leichen an der Stadtmauer aufhängen! Die Männer brauchen einen Ansporn? Vielleicht dient ihnen ja das!«

Er wandte sich ab und setzte sich wieder auf sein Bett. Die Kerzenflamme duckte sich ganz unten am Docht zusammen. Er hielt die Klinge hinein. Als sie heiß war und er das Stück Leder wieder aufnahm, waren seine Besucher gegangen.

Ouyang marschierte in die Halle, die ihnen als Kommandozentrale diente. Shao, Geng und Chu standen beisammen und unterhielten sich. »Was ist da draußen los?«, fauchte er sie an. »Wieso liegen überall zerbrochene Dachziegel?« Die vorderen Höfe der Residenz sahen aus, als hätte ein Erdbeben gewütet.

Die drei blickten auf. Dann meldete sich Shao zu Wort. »Um die Frage des Herrn Generals zu beantworten: Die Männer haben ihrer Dankbarkeit Ausdruck verliehen – für die Mauerverzierungen, die Ihr habt anbringen lassen. Dachziegel sind wohl leichter zu werfen als Steine.«

Der heiße Wind trug einen üblen Gestank ins Gebäude – fauliges Fleisch, Abwasser und Rauch –, aber Ouyang wurde nicht so leicht übel. Eisern sah er Shao an. »Aber es ist niemand mehr desertiert. Die Männer haben die Botschaft verstanden.«

»So muss es wohl sein«, sagte Shao gleichgültig. Er hielt Ouyang ein Briefröhrchen hin. »Das kam gerade von unseren Beobachtern im Norden. Ihr werdet erfreut sein.«

Ouyang war so aufgeregt, dass ihm das Röhrchen beinahe aus den Händen fiel. Schließlich bekam er den gerollten Brief doch heraus, konnte sich aber kaum genug konzentrieren, um die mongolische Schrift zu lesen. Es war die Nachricht, die er erwartet hatte. »Der Großkhan hat den Sommerpalast verlassen und ist wieder in Dadu.« Die Heftigkeit seiner Gefühle zwang seine Stimme in die verhasste hohe Lage, aber es scherte ihn nicht. Es war, als hätte er sich unbemerkt in einen jener Irren verwandelt, die schmutzig durch die Straßen taumelten und den Abscheu der Leute gar nicht wahrnahmen. »Es ist so weit: Endlich können wir dieses Loch verlassen! Oberbefehlshaber Shao, bereitet unseren Aufbruch vor!«

Damit überließ er Shao und die beiden Kommandeure sich selbst. Nun war ihm ein wenig leichter zumute. Sicher: Auch unterwegs zu sein, würde den Schmerz nicht lindern. Ihn zu ertragen, würde weiterhin seine gesamte Kraft in Anspruch nehmen. Doch nun konnte er endlich daran glauben, dass ein Ende in Sicht war. Er musste nur noch eine kurze Weile aushalten, dann würde ihm Erleichterung zuteilwerden.

»Herr General.«

Überrascht drehte er sich um, als er die Stimme hörte. In dem langen, leeren Korridor stand Shao, war ihm offenbar gefolgt. Ouyang erschrak, als er seinen hasserfüllten Blick sah. Er hatte Shao nie leiden können, und es war ihm immer so vorgekommen, als wäre ihre Zusammenarbeit von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Doch Shao hatte stets den Eindruck erweckt, Ouyangs Autorität zu akzeptieren. Dass er seine Abneigung offen zur Schau trug, war neu und beunruhigend.

»Hört mir gut zu«, sagte Shao kalt. »Ich weiß: Es kümmert Euch einen Scheißdreck, ob Ihr Dadu überlebt. Aber Ihr müsst aufhören, das an die große Glocke zu hängen! Was glaubt Ihr denn, was Eure Männer tun, wenn sie begreifen, dass dies für Euch ein Himmelfahrtskommando ist? Wenn die Moral noch weiter sinkt, kommen wir gar nicht erst bis nach Dadu, geschweige denn in die Nähe des Großkhans. Wollt Ihr herausfinden, wie schlimm es schon ist? Dann spaziert mal durch das Haupttor nach draußen und schaut, was passiert. Eins will ich Euch verraten: Niemand wird Euch zujubeln.«

Augenblicklich packte Ouyang der Zorn. »Sie müssen mir nicht zujubeln. Gehorchen müssen sie mir! Das haben sie immer, und daran ändert sich auch jetzt nichts.«

Shao hätte ehrerbietig den Blick senken müssen, doch das tat er nicht – stattdessen starrte er ihn herausfordernd an. Ouyang überkam das starke Bedürfnis, Shaos Gehorsam zu erzwingen, als wäre er ein schlichter Wehrpflichtiger: mit der Peitsche.

»Shao Ge, manchmal kommen mir Zweifel. Ihr habt das Mandat noch immer nicht, oder irre ich mich? Es lässt doch recht lange auf sich warten. Deutet dies womöglich darauf hin, dass ich für dieses Unterfangen einen anderen Bundesgenossen brauche?«

Shao und er hatten nie offen darüber gesprochen, was Shao bei der Sache zu gewinnen hatte, aber, dachte Ouyang angewidert, ein Geheimnis war es nicht.

Shaos Lippen wurden blass. »Mir könnt Ihr nichts erzählen – ich weiß, wie dringend Ihr nach Dadu wollt. Und ohne mich und dieses Heer schafft Ihr es nie dorthin!«

Er schaute auf Ouyang herab. Wenn sie nicht im Sattel saßen, war der Größenunterschied zwischen ihnen beträchtlich. Shaos eisige Miene erinnerte Ouyang an jenen Regentag, an dem sie Weiqi miteinander gespielt hatten. Damals hatte er die Kommandeure Yan und Bai zum letzten Mal lebendig gesehen. Sie hatten Zweifel am Gelingen des Komplotts geäußert. Ouyang hätte sie zum Schweigen verpflichtet und gehen lassen, aber Shao hatte eine andere Lösung des Problems vorgezogen. Schon damals hatte er nicht Ouyang gedient, sondern einzig sich selbst.

Nur eins wog schwerer als ihre gegenseitige Feindseligkeit: das Wissen, dass sie einander brauchten.

»Noch habe ich das Sagen«, bemerkte Ouyang. »Ihr fügt Euch mir, dann kommen wir gut miteinander aus. Macht das Heer abmarschbereit – selbst wenn Ihr dafür die Hälfte der Männer vor den Augen der anderen zu Tode prügeln lassen müsst.« Er gab sich keine Mühe, die Verachtung aus seiner Stimme herauszuhalten. »Und wenn wir nach Dadu kommen, sorge ich dafür, dass Ihr Euren Thron bekommt.«

KHANBALIQ (DADU)

»Er also ist der neue Fürst von Henan. Wir müssen gestehen: Sein Bruder war Uns lieber.«

Anmutig richtete sich Wang Baoxiang auf. Die mehrstufige Estrade, vor der er stand, nahm die gesamte Rückseite der Halle ein. Polierte Holzstufen führten nach oben. Als er zum Großkhan aufschaute, sah er, dass Abscheu dessen gewöhnlich so träge Züge belebte. Das kam ihm wie ein Erfolg vor. Der Großkhan glich einem Felsbrocken, der mit jedem Jahr tiefer in den Hang sank; zu Regungen gleich welcher Art neigte er nicht. Der Himmelssohn hatte schwere Wangen, von denen der Blick unweigerlich zu seinen langen, fleischigen Ohrläppchen wanderte und dann weiter zu den schlaff herabbaumelnden Schlaufenzöpfen. Hinter seinem Kopf schlängelten sich gähnende, goldene Drachen über die Rückwand des Throns, zu dem eine breite Treppe hinaufführte.

Als der Hofstaat nach Khanbaliq zurückgekehrt war, hatte er feststellen müssen, dass ein ungewöhnlich heißer Herbst die Hauptstadt im Würgegriff hielt. Nicht einmal die hohe Decke der Halle des großen Glanzes sorgte für Erleichterung. Baoxiangs Mund war staubtrocken, und er hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge: den Geschmack des Nordens. Einer perversen Eingebung folgend, hatte er für seine erste Audienz bei Hofe sein liebstes Gewand gewählt, eine extravagante salatgrüne Provokation. Sein Vater hatte es abgrundtief gehasst. Es war so schwer und warm, dass ihm ein wenig schwindelig war. Da es sein Vorhaben jedoch kaum voranbringen würde, vor dem Großkhan in Ohnmacht zu fallen, zog er seinen Fächer aus dem Ärmel und fächelte sich Kühlung zu. Die mit gewelltem Silber verkleideten Wände warfen vielfach sein Spiegelbild zurück. Es war, als stünden zahllose bleiche, stumme Gestalten in den dunklen Winkeln der Halle.

Der Blick des Großkhans hing an Baoxiangs lasch fächelnder Hand. Seine Miene wurde noch finsterer. So hatten die Leute Baoxiang sein ganzes Leben lang angeschaut: Als wäre seine bloße Existenz eine Kränkung, und der Anblick seiner eigensinnigen, reuelosen Unmännlichkeit könnte sie ihrer Ehre berauben.

Gleich einer Woge stieg sein Zorn. Neuerdings, seit … den Geschehnissen, kam es ihm vor, als brodelte in seinem Innern ein schwarzes Meer. Bei der kleinsten Erschütterung brandete es auf, verwandelte sich in eine Sturmflut aus Raserei und Hass. Er konnte sich kaum noch vorstellen, dass es jemals anders gewesen war. Die Finsternis verschlang ihn, und das fand er wunderbar. Er liebte es, wenn sie sich seiner bemächtigte. Im Gegensatz zu allem anderen war dieses Gefühl nicht vergänglich – es war unendlich, unerschöpflich. Er stellte sich vor, wie er herausfordernd die Zähne bleckte und den Hohn und die Verachtung des Großkhans in sich aufnahm. Nur zu, Eure Hoheit: Schmäht mich!

Der Großkhan war nicht der Einzige, der abfällig auf ihn herunterschaute. Eine Ebene unter dem Drachenthron standen drei prächtige Stühle. Baoxiang erkannte den Kanzler, seines Zeichens Feldherr über das Hauptheer Groß-Yuans, und die liebste Gemahlin des Großkhans, die Herrin Ki. Beide beachteten ihn kaum. Anders die Kaiserin: Sie ließ ihn nicht aus den Augen, und ihre Feindseligkeit schlug ihm geradezu entgegen. Sie trug den hohen roten Hut einer verheirateten mongolischen Edelfrau. Er warf einen Schatten über ihr Puppengesicht, doch der rachsüchtige Ausdruck darauf war dennoch unübersehbar. Die Vergeltung, die ihr vorschwebte, hatte nichts Feines an sich, o nein: Sie wollte sehen, wie ihm die Glieder einzeln ausgerissen wurden und sich seine Eingeweide über den Boden ergossen.

Ihre grimmige Wut hatte er sich zweifellos verdient, aber er erinnerte sich kaum noch an den Anlass. Natürlich wusste er, was er getan hatte: ihren jüngeren Bruder Altan zugrunde gerichtet und ihrer ganzen Familie den Makel des Verrats angehängt. Aber darüber hinaus war ihm nur der vage Eindruck geblieben, dass er sich amüsiert hatte. Eingebrannt hatten sich ihm die Ereignisse danach: wie sein Vater ihn verstoßen hatte. Wie ihm die Schuld an dessen unerwartetem Ableben zugeschrieben worden war. Wie er, ohne es zu wissen, und gegen seinen Willen auf jenen Pfad gestoßen worden war, dem er schließlich in vollem Bewusstsein gefolgt war: auf den Pfad zum Tod seines Bruders.

Sein Bruder. Das war mehr als eine Erschütterung. Schwarzer Zorn wallte auf, übermannte ihn. Esen, der vollkommene Kriegerfürst. Die Inkarnation mongolischer Kultur, körperlich wie geistig. Nie war er Verachtung oder Ablehnung begegnet, und niemals hatte die Welt ihm etwas anderes entgegengebracht als Liebe. Und er hatte sie zurückgeliebt, ja sogar seinen eigenen Mörder – nur nicht den Menschen, von dessen Schlechtigkeit er überzeugt gewesen war.

Des Vatermords hatte Baoxiang sich vielleicht nicht schuldig gemacht, doch am Ende war er so niederträchtig und unehrenhaft geworden, wie er es in Esens Augen immer gewesen war. Er hatte sich als verabscheuungswürdig erwiesen.

Er winkte seinen Diener heran, und der näherte sich mit einem behaubten Steinadlerweibchen auf dem Handschuh. Baoxiang war berauscht von seinem Zorn, jedoch beinahe sicher, dass ihm nichts anzusehen war. »Eure Hoheit, dieser Unwürdige würde sich glücklich schätzen, würdet Ihr dieses höchst unzureichende Geschenk annehmen! Es muss Euch wertlos erscheinen, doch war ebendieser Vogel meinem Bruder Esen Temür lieb und teuer. Er liebte Groß-Yuan von ganzem Herzen und gab sein Leben im Dienste des Reiches – deshalb wage ich zu hoffen, ein Andenken an seine große Untertanentreue könne Eure Hoheit erfreuen.«

»Die Hinterlassenschaft eines Toten als Geschenk für den Großkhan?«, zischte die Kaiserin. Die Spitze ihres säulenartigen Huts neigte sich angriffslustig vor wie der Hals eines aufgebrachten Straußes.

Ihrer hohen Stellung zum Trotz war die Kaiserin von bemerkenswert gewöhnlichem Aussehen: eine junge Mongolin mit rundem Gesicht und roten Wangen. Ihre Lippen waren nach der Mode kleiner geschminkt, sodass ihr Mund gleich noch verkniffener wirkte. Bekanntermaßen war sie nur Kaiserin geworden, weil ihr Vater, der Militärgouverneur der Provinz Shanxi, bedeutende Beiträge zur Schatzkammer der Hauptstadt geleistet hatte; der Großkhan war ihr nicht besonders zugetan und bevorzugte weiterhin die Herrin Ki.

»Das Landgut des Fürsten von Henan besaß einst die Mittel, ein ganzes Heer aufzustellen. Und nun könnt Ihr nicht einmal mit einem anständigen Geschenk für Euren Großkhan aufwarten?« Ihre Schlangenaugen taxierten Baoxiangs schäbig gekleideten Diener. »Ihr werdet doch nicht mitsamt der Achtbarkeit Eurer Familien auch Euren Reichtum verloren haben?«

Die Atmosphäre änderte sich subtil: Es war, als hätte ein Weiqi-Spieler einen Fehler gemacht, den sein Gegner wohl bemerkte. Nur einen Augenblick später lehnte die Herrin Ki sich vor und lächelte Baoxiang voll Wärme zu. Es war eine verblüffende Verwandlung – hochmütige Abneigung wich reiner Güte. Baoxiang gab sich nicht der Illusion hin, dass er dafür verantwortlich war.

»Der Fürst von Henan bringt eine überaus edle Gabe dar!«, sagte die liebste Gemahlin des Großkhans. Da sie aus Goryeo stammte, war ihr Mongolisch von einem charmanten Akzent gefärbt. Sie war die Mutter eines erwachsenen Prinzen und folglich nicht mehr jung; ihre Eleganz war jedoch nahezu unirdisch. Schaute man lange genug fort, so schien es Baoxiang, so müsste sie ihre wahre Gestalt annehmen, zu einem unwirklich leuchtenden Stein werden oder einem weißen Kranich. Ihn sah sie an, doch ihre Aufmerksamkeit war einem Messer gleich auf die Kaiserin gerichtet. »Jeder wohlhabende Tölpel kann ein kostbares Geschenk erwerben. Doch dieser Vogel ist unschätzbar: eine Gabe, die von Herzen kommt.«

Von der Tür her sagte ein junger Mann: »Esen Temürs Treue mag groß gewesen sein – aber wie war es um seine Vernunft bestellt?« Ein breitschultriger Jüngling in einem zerknitterten Reitrock aus Satin kam hereingeschlendert. Im Vorbeigehen warf er Baoxiang einen angewiderten Blick zu. »Nur ein Tor hätte dieser Manji-Schlampe von einem Eunuchen das Kommando über sein Heer anvertraut! Er hat bekommen, was er verdient hat.« Er erreichte den Thron und verneigte sich pflichtschuldig. »Meine Ehrerbietung dem Großkhan. Viel Gruß dem Kanzler, der Kaiserin und der Herrin Ki.«

Der Großkhan betrachtete den jungen Adeligen mit Missfallen. Die Kaiserin vergaß Baoxiang. »Was hatte der dritte Prinz wohl so Wichtiges zu tun, dass er den Großkhan warten lässt?«, fragte sie giftig.

Der dritte Prinz, der einzig verbliebene Sohn des Großkhans und vermutlich sein Erbfolger, richtete sich auf. Er entschuldigte sich nicht, sondern schüttelte sich nur die Zöpfe aus dem Gesicht. Sein Bart war ordentlich gestutzt, und die vollen, geschwungenen Lippen erinnerten Baoxiang an die eigenartig grausamen Antlitze der Buddha-Statuen aus dem südlichen Vasallenstaat Champa. Der Prinz war noch gewachsen, seit Baoxiang ihn zum letzten Mal gesehen hatte, vor anderthalb Jahren bei jener katastrophalen Frühjahrsjagd des Großkhans. Kein Junge mehr, sondern ein Mann. Doch wie ein Junge harrte er noch immer: aufs Himmelsmandat, auf die Ernennung zum Kronprinzen. Es war höchst ungewöhnlich, dass sich sein Mandat noch nicht manifestiert hatte – selbst in den Provinzen munkelten die Adeligen, der wahre Kronprinz sei womöglich noch nicht geboren. Die Kaiserin war schließlich noch jung.

Die Herrin Ki schaute ihren Sohn kaum an; mit Blicken liebkoste sie den Großkhan. »Wie ich höre, war der dritte Prinz am Morgen auf der Jagd«, sagte sie leise. »Gewiss hat er darüber die Zeit vergessen … Er eifert dem Großkhan nach, doch unglücklicherweise sind dessen außerordentliche Jagderfolge schwer zu überbieten!«

»Ach, so ist das«, sagte der Großkhan freundlicher. »Es war nicht Unser Bestreben, einem jungen Mann das Leben schwer zu machen. Wir wollen ihn lieber ermutigen.« Er hob die Stimme. »Dem Sohn der Herrin Ki, dem dritten Prinzen, gewähren Wir Esen Temürs Adler!«

Die Herrin Ki verneigte sich anmutig im Sitzen. Der dritte Prinz grinste zufrieden und kam herüber, um das Adlerweibchen auf dem Handschuh des Dieners zu streicheln. Dabei schaute er unverwandt Baoxiang an. Sein Benehmen war so aggressiv, dass er ihn an einen jungen Hirsch erinnerte, dem sein erstes Geweih gesprossen war. Das vertraute Gefühl drohender Gefahr weckte eine fiebrige Erwartung in ihm.

»Dem dritten Prinzen der tiefste Respekt«, sagte er und verneigte sich.

»Herr Fürst.« Der Prinz ließ seinen Blick über Baoxiang wandern. Auf jeder anstößigen Einzelheit verweilte er länger: Baoxiangs Haarknoten; die lange, nichtmongolische Nase und die glatt rasierten schmalen Wangen; das elegante Gewand und die weichen Gelehrtenhände. Baoxiang wusste noch sehr gut, wie derselbe Blick im Jagdlager des Großkhans auf ihn gefallen war. Viele andere junge Männer hatten ihn schon ganz ähnlich gemustert, bevor sie gewalttätig geworden waren. Und doch gab es einen Unterschied. Der Blick des dritten Prinzen richtete sich wieder auf Baoxiangs Gesicht. Abscheu lag darin. Knabenhaft lange Wimpern umrahmten seine Augen. »Ich erinnere mich an Euch.«

Davon gehe ich aus, dachte Baoxiang mit grimmiger Genugtuung. Das schwarze Meer wogte in seiner Brust. Ich habe Euch auch nicht vergessen, mein Prinz.

Der Prinz ließ die Hand auf dem Rücken des Adlerweibchens liegen. Seine klobigen Fingerknöchel wirkten, als wäre er noch immer nicht ganz ausgewachsen. »Ihr gleicht Eurem Bruder wirklich gar nicht. Aber Ihr könnt unmöglich so nutzlos sein, wie man sagt! Ich kann Euch doch sicher um einen Gefallen bitten, nicht wahr?« Sein grausamer Mund verzog sich zu einem begierigen Lächeln. »Haltet den Adler für mich, während ich den Handschuh anziehe.«

Da stand Baoxiang plötzlich wieder in den Stallungen seines Vaters, und der zwölfjährige Esen setzte einen Habicht auf seine kleine Faust in dem Lederhandschuh. Strohstaub und der modrige Geruch vertrockneter Gewölle stachen ihm in die Nase. Er gab sich große Mühe, seine Angst zu beherrschen, aber die ruckartigen Bewegungen des Raubvogels erschreckten ihn zutiefst. Je mehr er sich fürchtete, desto zorniger hüpfte der Habicht auf seiner Faust herum. Und dann fiel er rücklings herunter, verhedderte sich in seinem Geschüh und schrie vor Wut und Panik. Baoxiang konnte sich nicht rühren. Er zitterte bloß, während Esen frustriert den Habicht beruhigte und befreite. Am meisten hatte Baoxiang sich damals seiner eigenen Dummheit geschämt: Er hatte tatsächlich gehofft, Esen würde ihn ebenfalls trösten. Als hätte seine Angst in Esens Augen so viel Bedeutung wie die des Vogels.

»Streckt den Arm aus«, befahl der Prinz leise.

Baoxiang hielt den Blick ehrerbietig gesenkt, empfand jedoch Verachtung. Das hier war das grausame Spiel eines Kindes, das keine Ahnung hatte, wie durchschaubar sein Verhalten war. Sich so zu entblößen, machte den dritten Prinzen bloß angreifbar. Ja, Baoxiang konnte zufrieden sein. Vor mir könnt Ihr Euch nicht verstecken.

Er hob den linken Arm, den nur die Seide seines Gewandes schützte. Einwände zu erheben, hätte jedoch keinen Zweck; niemand würde eingreifen. Denn alle wollten sie dasselbe wie der dritte Prinz: ihn für sein bloßes Dasein bestrafen.

Das Weibchen, blind durch die Haube, hielt sich erschrocken an seiner neuen, eigentümlichen Stange fest. Es hatte Zehen so dick wie Baoxiangs Finger. Die Spitzen der Krallen bohrten sich durch seinen Ärmel. Sie verletzten ihn nicht – noch nicht. Er wusste jedoch, welchen Schaden Adler mit ihren Greiffüßen anrichten konnten. Er nahm sich zusammen, spürte jedoch, wie die Angst sich regte.

Der Prinz nahm den Handschuh von Baoxiangs Diener entgegen und streifte ihn sich langsam über. Dabei beobachtete er Baoxiang unverhohlen, als wüchse mit seinem Ekel auch die Faszination. Baoxiang derweil mühte sich redlich, weder auf das schwache Zucken der Greiffüße noch auf den aufgesperrten Schnabel des keuchenden Adlerweibchens zu achten. Kalter Schweiß brach ihm aus. Der Prinz wollte ihn bloß ängstigen, nicht verstümmeln – aber das Wissen vermochte gegen die Furcht nichts auszurichten. Baoxiang war schwach und feige, und dafür schämte er sich. Es stimmte, was sie über ihn dachten. Doch unter seinem Elend wogte und schäumte jener endlose schwarze Ozean des Zorns.

Der Prinz ließ ihn noch einen Augenblick lang zittern, ehe er den Vogel von seinem Arm pflückte. Seine Augen glitzerten unfreundlich. »Recht herzlichen Dank, Herr Fürst. Euer Geschenk erfreut mich wohl. Doch ach!« Mit gespielter Bestürzung begutachtete er die Risse in Baoxiangs Ärmel. »Euer schönes Gewand ist ruiniert! Was für ein Jammer. Wenn Ihr es ersetzt, solltet Ihr vielleicht eine Farbe wählen, die Euch besser steht.« Genussvoll fügte er hinzu: »Pfirsich!«

Geteilter Pfirsich. Schwuchtel. Der Prinz ließ seine Worte wirken und zog sich lächelnd zurück, Esens Adlerweibchen auf dem Handschuh.

Auf Baoxiangs linkem Arm brannten acht Stiche. Er verschränkte die Hände in den Ärmeln und spürte, wie sein Herzschlag sich beruhigte. Die Angst klang ab, und umso dichter und gewaltiger erschien ihm die Finsternis in seinem Herzen.

»Herr Fürst.« Der Kanzler trug dasselbe kastanienbraune Obergewand wie alle Beamten Groß-Yuans, unabhängig von ihrem Rang, doch sein befehlsgewohnter Ton war bezeichnend. Er war die wahre Macht hinter dem Thron, und jeder wusste es. »Euer Geschenk hat Anklang gefunden. Und nun sprecht: Was führt Euch an den Hof?«

Es war eine willkommene Rückkehr auf das Gebiet, das Baoxiang bevorzugte. Er verneigte sich über seinen gefalteten Händen und hüstelte bescheiden. »Dieser Diener gibt sich der kühnen Hoffnung hin, er könne dem ruhmvollen Reich in Khanbaliq von Nutzen sein. Zwar sind meine Fähigkeiten bescheiden, doch habe ich einige Erfahrung im Finanzwesen. Vor dem Tod meines Bruders war ich der Provinzverwalter Henans.«

Das war durchaus eine Stellung, derer man sich rühmen konnte: die höchste in der bedeutendsten Provinz Groß-Yuans. Allerdings war es ungewöhnlich, dass der Sohn eines adeligen Mongolen sie bekleidete. Aber, dachte Baoxiang bitter, ein adoptierter Mischling zählte schließlich kaum als mongolischer Prinz.

»Nun legt die Kleidung seines Dieners nahe, dass es um sein Landgut schlecht bestellt ist«, sagte die Kaiserin schnippisch. »Wie sollen wir da glauben, er sei ein guter Verwalter? Darüber hinaus ist ihm vielleicht nicht erinnerlich, dass die Ämter stets zu Beginn des Jahres vergeben werden. Oder glaubt er etwa, wir würden in Ermangelung eines freien Postens eine neue Stelle nur für ihn schaffen?« Ihr karminrotes höhnisches Lächeln ließ keinen Zweifel daran, wie unwahrscheinlich das war.

Der Kanzler dachte einen Augenblick lang nach. »Aber ist nicht gerade ein Posten im Finanzministerium freigeworden? Der des stellvertretenden Ministers.«

Innerlich lächelte Baoxiang, doch ohne jeden Humor.

»Der Kanzler beliebt zu scherzen!« Die Kaiserin weidete Baoxiang mit ihrem Blick aus. »Dieses Subjekt bringt durch seine bloße Anwesenheit Schande über den Hof! Wie können wir so einem Mann das Amt eines stellvertretenden Ministers zuerkennen?«

Graziös wandte sich die Herrin Ki dem Großkhan zu. In ihrem kunstvoll aufgesteckten Haar glitzerte ein goldener Phönix: Die Haarnadel war das Symbol dafür, dass sie die Gunst des Großkhans besaß. »Eure Hoheit, der Fürst von Henan eignet sich hervorragend für die Position. Hätte er sich zur üblichen Zeit beworben, wäre er gar für eine höhere Stellung in Betracht gekommen! Immerhin ist er ein Fürst von mongolischem Geblüt.« Ihre ungenierte Einflussnahme war schockierend. Dass die Yuan den Zugriff auf das Salz der Familie Zhang verloren hatten, stärkte die Herrin Ki: Ihr Heimatreich Goryeo war nun der Hauptlieferant des kostbaren Rohstoffs. Sie lächelte die Kaiserin an. »Gewisslich sollten wir jene nicht abweisen, die den Ruhm Groß-Yuans mehren wollen!«

Der Kanzler blickte den Großkhan an, und der machte eine zustimmende Geste. »Herr Fürst«, sagte der Kanzler. »Der treue und unermüdliche Einsatz Eurer Familie, unser geliebtes Reich zu verteidigen, verdient Respekt und Dankbarkeit. Meine Empfindungen sind sicher nur ein Schatten Eurer eigenen, doch ich war tief betrübt, vom Hinscheiden Esen Temürs zu erfahren. Da Ihr es ihm nicht gleichtun könnt, sollt Ihr das Amt des stellvertretenden Ministers übernehmen und seinem Andenken Ehre machen, indem Ihr Groß-Yuan im Rahmen Eurer Möglichkeiten dient.«