Heidi - Johanna Spyri - E-Book

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Johanna Spyri

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT+KRITIK. Das Waisenmädchen Heidi und ihr mürrischer Großvater, der Geißenpeter, Klara und Fräulein Rottenmeier – wer kennt sie nicht? Mit den atmosphärischen Schilderungen der Schweizer Berge und ihrer liebevollen Figurenzeichnung erreicht Johanna Spyri weltweit die Herzen ihrer Leser. Und bis heute haben Jung und Alt mit Heidi Heimweh, bis heute weckt sie unsere Sehnsüchte.

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Johanna Spyri

Heidi

Eine Geschichte für Kinder und solche, die Kinder lieb haben

Fischer e-books

Heidis Lehr- und Wanderjahre

Erstes KapitelZum Alm-Öhi hinauf

Vom freundlich gelegenen, alten Städtchen Mayenfeld aus führt ein Fußweg durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg zu steigen anfängt, beginnt bald das Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht steil und direkt zu den Alpen hinauf.

Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan, ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen in solcher Glut standen, daß sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes flammenrot durchleuchtete. Es war auch kein Wunder: das Kind war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre zählen; welches aber seine natürliche Gestalt war, konnte man nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes rotes Baumwolltuch um und um gebunden, so daß die kleine Person eine völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt und »im Dörfli« heißt. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster, einmal von der Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen war in seinem Heimatsort angelangt. Es machte aber nirgends Halt, sondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen, ohne stillezustehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief eine Stimme aus einer Tür: »Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst.«

Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer Hand los und setzte sich auf den Boden.

»Bist du müde, Heidi?« fragte die Begleiterin.

»Nein, es ist mir heiß«, entgegnete das Kind.

»Wir sind jetzt gleich oben; du mußt dich nur noch ein wenig anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde oben«, ermunterte die Gefährtin.

Jetzt trat eine breite, gutmütig aussehende Frau aus der Tür und gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des »Dörfli« und vieler umherliegender Behausungen.

»Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?« fragte jetzt die neu Hinzugekommene. »Es wird wohl deiner Schwester Kind sein, das hinterlassene.«

»Das ist es«, erwiderte Dete, »ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es muß dort bleiben.«

»Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk’ ich, nicht recht beim Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!«

»Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muß etwas tun; ich habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen, Barbel, daß ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das Seinige tun.«

»Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon«, bestätigte die breite Barbel eifrig; »aber du kennst ja den. Was wird der mit einem Kinde anfangen und dann noch mit einem so kleinen! Das hält’s nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?«

»Nach Frankfurt«, erklärte Dete, »da bekomm’ ich einen extraguten Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad, ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht fortkommen; und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen, und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein.«

»Ich möchte nicht das Kind sein«, rief die Barbel mit abwehrender Gebärde aus. »Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus, jahrein setzt er keinen Fuß in eine Kirche, und wenn er mit seinem dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus und muß sich vor ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein alter Heide und Indianer, so daß man froh ist, wenn man ihm nicht allein begegnet.«

»Und wenn auch«, sagte Dete trotzig, »er ist der Großvater und muß für das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er’s zu verantworten, nicht ich.«

»Ich möchte nur wissen«, sagte die Barbel forschend, »was der Alte auf dem Gewissen hat, daß er solche Augen macht und so mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie blicken läßt. Man sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiß auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?«

»Freilich, aber ich rede nicht; wenn er’s hörte, so käme ich schön an!«

Aber die Barbel hätte schon lange gern gewußt, wie es sich mit dem Alm-Öhi verhalte, daß er so menschenfeindlich aussehe und da oben ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten doch nicht für ihn sein. Auch wußte die Barbel gar nicht, warum der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde: er konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den sämtlichen Bewohnern sein. Da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den Alten nie anders als Öhi, was die Aussprache der Gegend für Oheim ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt, und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und besonderen Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli gebürtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr. Da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde von Ragaz hergekommen; bis Mayenfeld hatte sie auf einem Heuwagen fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und das Kind mitnahm. – Die Barbel wollte also diesmal die gute Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen; sie faßte vertraulich die Dete am Arm und sagte: »Von dir kann man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darüber hinaus sagen; du weißt, denk’ ich, die ganze Geschichte. Sag’ mir jetzt ein wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefürchtet und ein solcher Menschenhasser war!«

»Ob er immer so war, kann ich, denk’ ich, nicht präzis wissen: ich bin jetzt sechsundzwanzig, und er sicher siebzig Jahr alt; so hab’ ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten. Wenn ich aber wüßte, daß es nachher nicht im ganzen Prättigau herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm; meine Mutter war aus dem Domleschg, und er auch.«

»A bah, Dete, was meinst du denn?« gab die Barbel ein wenig beleidigt zurück; »es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prättigau, und dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muß. Erzähl’ mir’s jetzt, es soll dich nicht gereuen.«

»Ja nu, so will ich, aber halt Wort!« mahnte die Dete. Erst sah sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nahe sei und alles anhöre, was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es mußte schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli hinunter übersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.

»Jetzt seh’ ich’s«, erklärte die Barbel; »siehst du dort?« und sie wies mit dem Zeigefinger weit ab vom Bergpfad. »Es klettert die Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der heut so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerade recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir um so besser erzählen.«

»Mit dem Nach-ihm-sehen darf sich der Peter nicht anstrengen«, bemerkte die Dete; »es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab’ ich schon bemerkt an ihm, und es wird ihm einmal zugut’ kommen, denn der Alte hat gar nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte.«

»Hat er denn einmal mehr gehabt?« fragte die Barbel.

»Der? Ja, das denk’ ich, daß er einmal mehr gehabt hat«, entgegnete eifrig die Dete, »eins der schönsten Bauerngüter im Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte nichts tun, als den Herren spielen und im Lande herumfahren und mit bösem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der Bruder, der dadurch auch am Bettelstab war, ist vor Verdruß in die Welt hinaus, es weiß kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er nichts mehr hatte als einen bösen Namen, war auch verschwunden. Erst wußte niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von ihm zwölf und fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er wieder in Domleschg mit einem halberwachsenen Buben und wollte diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte: ins Domleschg setze er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da mit dem Buben. Die Frau muß eine Bündnerin gewesen sein, die er dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er mußte noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias, ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen, natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel. Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter Großmutter mit seiner Großmutter Geschwisterkind gewesen war. So nannten wir ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben nur noch der ›Alm-Öhi‹.«

»Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen«, fragte gespannt die Barbel.

»Wart’ nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen«, erklärte Dete. »Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels, und so wie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie’s sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, wie der Tobias an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen. Sie war sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände gehabt, daß man nicht recht wußte, schlief sie oder war sie wach. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben, und ihm selbst wurde es gesagt, und auch der Herr Pfarrer redete ihm ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun; aber er wurde immer grimmiger und verstockter und redete mit niemand mehr, es ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich; es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und gab es der alten Ursel oben im Pfäfferserdorf an die Kost. Ich konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil ich zu nähen und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte und die mich mitnehmen will. Übermorgen reisen wir ab, und der Dienst ist gut, das kann ich dir sagen.«

»Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete«, sagte die Barbel vorwurfsvoll.

»Was meinst du denn?« gab Dete zurück. »Ich habe das Meinige an dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke, ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind ja schon halbwegs auf der Alm?«

»Ich bin auch gleich da, wo ich hin muß«, entgegnete die Barbel; »Ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter. So leb’ wohl, Dete, mit Glück!«

Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während diese der kleinen dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und daß sie in einer kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so baufällig und verfallen aus, daß es auch so noch ein gefährliches Darinwohnen sein mußte, wenn der Föhnwind so mächtig über die Berge strich, daß alles an der Hütte klapperte, Türen und Fenster, und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.

Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm hinaufzutreiben, damit sie da die kurzen kräftigen Kräuter abfressen konnten bis zum Abend. Dann sprang der Peter mit den leichtfüßigen Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte auf dem Platz seine Geiß. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen, denn die friedlichen Geißen waren nicht zu fürchten, und das war denn den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da er immer am Morgen sehr früh fort mußte und am Abend vom Dörfli spät heimkam, weil er sich da noch so lange wie möglich mit den Kindern unterhalten mußte, so verbrachte er daheim nur gerade so viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend eben dasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Berufe gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt. Seine Mutter, die zwar Brigitta hieß, wurde von jedermann um des Zusammenhangs willen die Geißenpeterin genannt, und die blinde Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen Großmutter.

Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu erblicken seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit Zeichen großer Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen. Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn der Peter wußte viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze und Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin- und hersprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen, schlanken Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge hinaufkletterten. Auf einmal setzte sich das Kind auf den Boden nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit niemand es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg, und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen, die bloßen Arme aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft hinausstreckend. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben dem Peter her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der Peter hatte nicht achtgegeben, was das Kind mache, als es zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht auseinander und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen; er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht fühlte, fing es ein Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an zu reden und mußte auf vielerlei Fragen antworten, denn das Kind wollte wissen, wie viele Geißen er habe und wohin er mit ihnen gehe und was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie: »Heidi, was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft für den Berg und dir neue Strümpfe gemacht, und alles fort! alles fort! Heidi, was machst du, wo hast du alles?«

Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: »Dort!« Die Base folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas, und obenauf war ein roter Punkt, das mußte das Halstuch sein.

»Du Unglückstropf!« rief die Base in großer Aufregung; »was kommt dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das sein?«

»Ich brauch’ es nicht«, sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus über seine Tat.

»Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch gar keine Begriffe?« jammerte und schalt die Base weiter; »wer sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm, Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell und steh nicht dort und glotze mich an, als wärst du am Boden festgenagelt!«

»Ich bin schon zu spät«, sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu rühren, auf demselben Flecke stehen, von dem aus er, beide Hände in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört hatte.

»Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk’ ich, nicht weit auf die Art«, rief ihm die Base Dete zu; »komm her, du mußt etwas Schönes haben, siehst du?« Sie hielt ihm ein neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte sie auf und erschien damit so schnell, daß ihn die Base rühmen mußte und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte. Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht glänzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil.

»Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja auch den Weg«, sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte, den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des Geißenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und folgte der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend. Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen, dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen steilen Felsen hinan.

An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf seine Kniee gelegt und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen und die Base Dete herankletterten, denn die letztere war nach und nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: »Guten Abend, Großvater!«

»So, so, wie ist das gemeint?« fragte der Alte barsch, gab dem Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen, durchdringenden Blick an unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und den dichten grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich anzusehen, daß Heidi ihn recht betrachten mußte. Unterdessen war auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Weile stillestand und zusah, was sich da ereigne.

»Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi«, sagte die Dete hinzutretend, »und hier bring’ ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jährig war, habt Ihr es nie mehr gesehen.«

»So, was soll das Kind bei mir?« fragte der Alte kurz. »Und du dort«, rief er dem Peter zu, »du kannst gehen mit deinen Geißen, du bist nicht zu früh; nimm meine mit!«

Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn angeschaut, daß er schon genug davon hatte.

»Es muß eben bei Euch bleiben, Öhi«, gab die Dete auf seine Frage zurück. »Ich habe, denk’ ich, das Meinige an ihm getan die vier Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch einmal zu tun.«

»So«, sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete. »Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln, wie kleine Unvernünftige tun, was muß ich dann mit ihm anfangen?«

»Das ist dann Eure Sache«, warf die Dete zurück; »ich meine fast, es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun hatte. Jetzt muß ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der Nächste am Kind. Wenn Ihr’s nicht haben könnt, so macht mit ihm, was Ihr wollt, dann habt Ihr’s zu verantworten, wenn’s verdirbt, und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, noch etwas aufzuladen.«

Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden; er schaute sie so an, daß sie einige Schritte zurückwich, dann streckte er den Arm aus und sagte befehlend: »Mach, daß du hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so bald wieder!« Das ließ sich die Dete nicht zweimal sagen. »So lebt wohl, und du auch, Heidi«, sagte sie schnell und lief den Berg hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab, denn die innere Aufregung trieb sie vorwärts wie eine wirksame Dampfkraft. Im Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und wußten, wem das Kind gehörte, und alles, was mit ihm vorgegangen war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern tönte: »Wo ist das Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?«, rief sie immer unwilliger zurück: »Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, Ihr hört’s ja!«

Nun wurde sie aber unwillig, weil die Frauen von allen Seiten ihr zuriefen: »Wie kannst du so etwas tun!« und »Das arme Tröpfli!« und: »So ein kleines Hilfloses da droben lassen!« und dann wieder und wieder: »Das arme Tröpfli!« Die Dete lief, so schnell sie konnte, immer weiter, und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben das Kind noch übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie könne dann ja eher wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel Geld verdiene, und so war sie sehr froh, daß sie bald weit von allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg und zu einem schönen Verdienst kommen konnte.

Zweites KapitelBeim Großvater

Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife; dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall, der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts darin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so stark, daß es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind um die andere Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin, legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater schaute auf. »Was willst jetzt tun?« fragte er, als das Kind immer noch unbeweglich vor ihm stand.

»Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte«, sagte Heidi.

»So komm!« und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte hinein.

»Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit«, befahl er im Hereintreten.

»Das brauch’ ich nicht mehr«, erklärte Heidi.

Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind, dessen schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da drinnen sein konnten. »Es kann ihm nicht an Verstand fehlen«, sagte er halblaut. »Warum brauchst du’s nicht mehr?« setzte er laut hinzu.

»Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte Beinchen.«

»So, das kannst du, aber hol das Zeug«, befahl der Großvater, »es kommt in den Kasten.« Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die Tür auf, und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da stand ein Tisch und ein Stuhl darin; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in einer anderen hing der große Kessel über dem Herd, und auf der anderen Seite war eine große Tür in der Wand, die machte der Großvater auf, es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin, und auf einem Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem anderen standen einige Teller und Tassen und Gläser und auf dem obersten ein rundes Brot und geräuchertes Fleisch und Käse; denn in dem Kasten war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht hatte, kam das Heidi schnell heran und stieß sein Zeug hinein, so weit hinter des Großvaters Kleider wie möglich, damit es nicht so leicht wiederzufinden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem Raum und sagte dann: »Wo muß ich schlafen, Großvater?«

»Wo du willst«, gab dieser zur Antwort.

Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein und schaute jedes Plätzchen aus, wo am schönsten zu schlafen wäre. In der Ecke vorüber an des Großvaters Lagerstätte war eine kleine Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.

»Hier will ich schlafen«, rief Heidi hinunter, »hier ist’s schön! Komm und sieh einmal, wie schön es hier ist, Großvater!«

»Weiß schon«, tönte es von unten herauf.

»Ich mache jetzt das Bett«, rief das Kind wieder, indem es oben geschäftig hin- und herfuhr; »aber du mußt heraufkommen und mir ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch, und darauf liegt man.«

»So, so«, sagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das mußte so etwas sein wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben wo der Kopf liegen mußte, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das Gesicht kam so zu liegen, daß es gerade auf das offene runde Loch traf.

»Das ist recht gemacht«, sagte der Großvater, »jetzt wird das Tuch kommen, aber wart’ noch« – und damit nahm er einen guten Wisch Heu von dem Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte Boden nicht durchgefühlt werden konnte –; »so, jetzt komm her damit!« Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte es aber fast nicht tragen, so schwer war’s; aber das war sehr gut, denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht durchstechen. Jetzt breiteten die beiden miteinander das Tuch über das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopfte Heidi die Enden eilfertig unter das Lager. Nun sah es recht gut und reinlich aus, und Heidi stellte sich davor und betrachtete es nachdenklich.

»Wir haben noch etwas vergessen, Großvater«, sagte es dann.

»Was denn?« fragte er.

»Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das Leintuch und die Decke hinein.«

»So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?« sagte der Alte.

»O, dann ist’s gleich, Großvater«, beruhigte Heidi; »dann nimmt man wieder Heu zur Decke«, und eilfertig wollte es gleich wieder an den Heustock gehen, aber der Großvater wehrte es ihm.

»Wart’ einen Augenblick«, sagte er, stieg die Leiter hinab und ging an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen großen, schweren, leinenen Sack auf den Boden.

»Ist das nicht besser als Heu?« fragte er. Heidi zog aus Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinanderzulegen, aber die kleinen Hände konnten das schwere Zeug nicht bewältigen. Der Großvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag, da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor seinem neuen Lager und sagte: »Das ist eine prächtige Decke, und das ganze Lager ist schön! Jetzt wollt’ ich, es wäre schon Nacht, so könnte ich hineinliegen.«

»Ich meine, wir könnten erst einmal etwas essen«, sagte der Großvater, »oder was meinst du?« Heidi hatte über dem Eifer des Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen kam, stieg ein großer Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute noch gar nichts bekommen als früh am Morgen sein Stück Brot und ein Täßchen dünnen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: »Ja, ich mein’ es auch.«

»So geh hinunter, wenn wir denn einig sind«, sagte der Alte und folgte dem Kinde auf dem Fuße nach. Dann ging er zum Kessel hin, schob den großen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette hing, setzte sich auf den hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein großes Stück Käse über das Feuer und drehte es hin und her, bis es auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugesehen. Jetzt mußte ihm etwas Neues in den Sinn gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von da immer hin und her. Jetzt kam der Großvater mit einem Topf und dem Käsebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schön geordnet, denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wußte, daß man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.

»So, das ist recht, daß du selbst etwas ausdenkst«, sagte der Großvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; »aber es fehlt noch etwas auf dem Tisch.«

Heidi sah, wie einladend es aus dem Topfe hervordampfte, und lief schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges Schüsselchen. Heidi war nicht lange in Verlegenheit, dort hinten standen zwei Gläser; augenblicklich kam das Kind zurück und stellte Schüsselchen und Glas auf den Tisch.

»Recht so, du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?« Auf dem einzigen Stuhl saß der Großvater selbst. Heidi schoß pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuß zurück und setzte sich darauf.

»Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit unten«, sagte der Großvater; »aber von meinem Stuhl aus wärst du auch zu kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt mußt du aber einmal etwas haben, so komm!« Damit stand er auf, füllte das Schüsselchen mit Milch, stellte es auf den Stuhl und rückte den ganz nahe an den Dreifuß hin, so daß das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Großvater legte ein großes Stück Brot und ein Stück von dem goldenen Käse darauf und sagte: »Jetzt iß!« Er selbst setzte sich nun auf die Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein Schüsselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat es einen langen Atemzug – denn im Eifer des Trinkens hatte es lange den Atem nicht holen können – und stellte sein Schüsselchen hin.

»Gefällt dir die Milch?« fragte der Großvater.

»Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken«, antwortete Heidi.

»So mußt du mehr haben«, und der Großvater füllte das Schüsselchen noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das vergnüglich in sein Brot biß, nachdem es von dem weichen Käse daraufgestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und das schmeckte ganz kräftig zusammen, und zwischendurch trank es seine Milch und sah sehr vergnüglich aus. Als nun das Essen zu Ende war, ging der Großvater in den Geißenstall hinaus und hatte da allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu, wie er erst mit dem Besen säuberte, dann frische Streu legte, daß die Tierchen darauf schlafen konnten, wie er dann nach dem Schöpfchen ging nebenan und hier runde Stöcke zurechtschnitt und an einem Brett herumhackte und Löcher hineinbohrte und dann die runden Stöcke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi staunte das Werk an, sprachlos vor Bewunderung.

»Was ist das, Heidi?« fragte der Großvater.

»Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig«, sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.

»Es weiß, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort«, bemerkte der Großvater vor sich hin, als er nun um die Hütte herumging und hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tür etwas zu befestigen hatte und so mit Hammer und Nägeln und Holzstücken von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder wegschlug, je nach dem Bedürfnis. Heidi ging Schritt für Schritt hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der größten Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr kurzweilig anzusehen.

So kam der Abend heran. Es fing stärker an zu rauschen in den alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die Ohren und ins Herz hinein, daß es ganz fröhlich darüber wurde und unter den Tannen umher hüpfte und sprang, als hätte es eine unerhörte Freude erlebt. Der Großvater stand unter der Schopftür und schaute dem Kinde zu. Jetzt ertönte ein schriller Pfiff. Heidi hielt an in seinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und mitten drin der Peter. Mit einem Freudenruf schoß Heidi mitten in den Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute morgen einen um den anderen. Bei der Hütte angekommen, stand alles still, und aus der Herde heraus kamen zwei schöne, schlanke Geißen, eine weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten seine Hände, denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar. Heidi streichelte zärtlich die eine und dann die andere von den Geißen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch zu streicheln, und war ganz Glück und Freude über die Tierchen. »Sind sie unser, Großvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in den Stall? Bleiben sie immer bei uns?« so fragte Heidi hintereinander in seinem Vergnügen, und der Großvater konnte kaum sein stetiges »Ja, ja!« zwischen die eine und die andere Frage hineinbringen. Als die Geißen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte der Alte: »Geh und hol dein Schüsselchen heraus und das Brot!«

Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Großvater gleich von der Weißen das Schüsselchen voll und schnitt ein Stück Brot ab und sagte: »Nun iß, und dann geh hinauf und schlaf! Die Base Dete hat noch ein Bündelchen abgelegt für dich, da seien Hemdlein und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du’s brauchst; ich muß nun mit den Geißen hinein, so schlaf wohl!«

»Gut’ Nacht, Großvater! Gut’ Nacht – wie heißen sie, Großvater, wie heißen sie?« rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und den Geißen nach.

»Die weiße heißt Schwänli und die braune Bärli«, gab der Großvater zurück.

»Gut’ Nacht, Schwänli, gut’ Nacht, Bärli!« rief nun Heidi noch mit Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun setzte sich Heidi noch auf die Bank und aß sein Brot und trank seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz herunter. So machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und herrlich schlief, als nur einer im schönsten Fürstenbett schlafen konnte. Nicht lange nachher, noch eh’ es völlig dunkel war, legte auch der Großvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer schon mit der Sonne wieder draußen, und die kam sehr früh über die Berge hereingestiegen in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der Wind so gewaltig, daß bei seinen Stößen die ganze Hütte erzitterte und es in allen Balken krachte; durch den Schornstein heulte und ächzte es wie Jammerstimmen, und in den alten Tannen draußen tobte es mit solcher Wucht, daß hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten in der Nacht stand der Großvater auf und sagte halblaut vor sich hin: »Es wird sich wohl fürchten.« Er stieg die Leiter hinauf und trat an Heidis Lager heran. Der Mond draußen stand einmal hellleuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken darüber hin, und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein eben leuchtend durch die runde Öffnung herein und fiel gerade auf Heidis Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner schweren Decke, und ganz ruhig und friedlich lag es auf seinem runden Ärmchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen sah ganz wohlgemut aus. Der Großvater schaute so lange auf das friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken trat und es dunkel wurde; dann kehrte er auf sein Lager zurück.

Drittes KapitelAuf der Weide

Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, daß alles golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und wußte durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: woher es gekommen war, und daß es nun auf der Alm beim Großvater sei, nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr hörte und meistens fror, so daß sie immer am Küchenfeuer oder am Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen müssen, oder doch ganz in der Nähe, damit die Alte sehen konnte, wo es war, weil sie es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So war es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich erinnerte, wieviel Neues es gestern gesehen hatte, und was es heute wieder alles sehen könnte, vor allem das Schwänli und das Bärli. Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles wieder angezogen, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei, daß sie sich der Gesellschaft anschlössen. Heidi lief ihm entgegen, um ihm und den Geißen guten Tag zu sagen.

»Willst du mit auf die Weide?« fragte der Großvater. Das war dem Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freuden.

»Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus, wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, daß du schwarz bist; sieh, dort ist’s für dich gerichtet.« Der Großvater zeigte auf einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand. Heidi sprang hin und platschte und rieb, bis es ganz glänzend war. Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem Peter zu: »Komm hierher, Geißengeneral, und bring’ deinen Habersack mit!« Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.

»Mach auf!« befahl der Alte und steckte nun ein großes Stück Brot und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Der Peter machte vor Erstaunen seine runden Augen so weit auf wie nur möglich, denn die beiden Stücke waren wohl die Hälfte so groß wie die zwei, die er als eignes Mittagsmahl drinnen hatte.

»So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein«, fuhr der Öhi fort, »denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg, es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag, denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder herunterkommst; gib acht, daß es nicht über die Felsen hinunterfällt, hörst du?«

Nun kam Heidi hereingelaufen. »Kann mich die Sonne jetzt nicht auslachen, Großvater?« fragte es angelegentlich. Es hatte sich mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor der Sonne so erstaunlich gerieben, daß es krebsrot vor dem Großvater stand. Er lachte ein wenig.

»Nein, nun hat sie nichts zu lachen«, bestätigte er. »Aber weißt du was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in den Zuber wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geißen, da bekommt man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen.«

Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten darauf stand die leuchtende Sonne und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da waren ganze Trüppchen feiner roter Himmelsschlüsselchen beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen, goldenen Zistusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die flimmernden, winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Geißen und auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen und packte sie in sein Schürzchen ein, denn es wollte sie alle mit heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, daß es dort werde wie hier draußen. –

So hatte der Peter heut nach allen Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders schnell hin- und hergingen, hatten mehr Arbeit, als er gut bewältigen konnte, denn die Geißen machten es wie das Heidi: sie liefen auch dahin und dorthin, und er mußte überallhin pfeifen und rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die verlaufenen zusammenzutreiben.

»Wo bist du schon wieder, Heidi?« rief er jetzt mit ziemlich grimmiger Stimme.

»Da«, tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemand, denn Heidi saß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit duftenden Prünellen besäet war; da war die ganze Luft umher so mit Wohlgeruch erfüllt, daß Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in vollen Zügen ein.

»Komm nach!« rief der Peter wieder. »Du mußt nicht über die Felsen hinunterfallen, der Öhi hat’s verboten.«

»Wo sind die Felsen?« fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem Kinde lieblicher entgegen.

»Dort oben, ganz oben; wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt.«

Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.

»Jetzt hast du genug«, sagte dieser, als sie wieder zusammen weiter kletterten; »sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle nimmst, hat’s morgen keine mehr.« Der letzte Grund leuchtete Heidi ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, daß da wenig Platz mehr gewesen wäre, und morgen mußten auch noch welche da sein. So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geißen gingen nun auch geregelter, denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen Weideplatz schon von fern und strebten deshalb ohne Aufenthalt dahin. Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich Halt machte mit seinen Geißen und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße der hohen Felsen, die erst noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der Alp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter, und der Großvater hatte recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war, nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken Stößen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen. Dann streckte sich der Peter lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er mußte sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.

Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit unten im vollen Morgenglanz. Vor sich sah Heidi ein großes, weites Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder Seite ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi nieder. Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum – weit umher war eine große, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise ging der Wind über die zarten blauen Glockenblümchen und die golden strahlenden Zistusröschen, die überall herumstanden auf ihren dünnen Stengelchen und leise und fröhlich hin- und hernickten. Der Peter war eingeschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geißen kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi war es so schön zumute wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein und begehrte gar nichts mehr, als so da zu bleiben immerzu. So verging eine gute Zeit, und Heidi hatte so oft und so lange zu den hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, daß es nun war, als hätten sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm hernieder, so wie gute Freunde.

Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend über Heidis Kopf.

»Peter! Peter! erwache!« rief Heidi laut. »Sieh, der Raubvogel ist da, sieh, sieh!«

Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach, der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und endlich über den grauen Felsen verschwand.

»Wo ist er jetzt hin?« fragte Heidi, das mit gespannter Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.

»Heim ins Nest«, war Peters Antwort.

»Ist er dort oben daheim? O wie schön so hoch oben! Warum schreit er so?« fragte Heidi weiter.

»Weil er muß«, erklärte Peter.

»Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist«, schlug Heidi vor.

»O! o! o!« brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter Mißbilligung hervorstoßend; »wenn keine Geiß mehr dorthin kann und der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen!«

Jetzt begann der Peter mit einemmal ein so gewaltiges Pfeifen und Rufen anzustimmen, daß Heidi gar nicht wußte, was begegnen sollte; aber die Geißen mußten die Töne verstehen, denn eine nach der anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der grünen Halde versammelt, die einen fortnagend an den würzigen Halmen, die anderen hin- und herrennend, und die dritten ein wenig gegeneinanderstoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geißen umher, denn das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie die Tierlein durcheinandersprangen und sich lustig machten, und Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz persönliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere Erscheinung für sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin waren, schön auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die großen Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn er wußte genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das Schüsselchen und melkte schöne frische Milch hinein vom Schwänli und stellte das Schüsselchen mitten ins Viereck. Dann rief er Heidi herbei, mußte aber länger rufen als nach den Geißen, denn das Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, daß es nichts sah und nichts hörte außer diesen. Aber Peter wußte sich verständlich zu machen, er rief, daß es bis in die Felsen hinauf dröhnte, und nun erschien Heidi, und die gedeckte Tafel sah so einladend aus, daß es um sie herumhüpfte vor Wohlgefallen.

»Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen«, sagte Peter; »jetzt sitz’ und fang an!«

Heidi setzte sich hin. »Ist die Milch mein?« fragte es, nochmals das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen betrachtend.

»Ja«, erwiderte Peter, »und die zwei großen Stücke zum Essen sind auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein Schüsselchen vom Schwänli, und dann komm’ ich.«

»Und von wem bekommst du die Milch?« wollte Heidi wissen.

»Von meiner Geiß, von der Schecke. Fang’ einmal zu essen an!« mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als es Peters eigenes Stück gewesen, das nun schon samt Zubehör fast zu Ende war, reichte es diesem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und sagte: »Das kannst du haben, ich habe genug.«