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Der zweite Teil der beliebten Heidi-Geschichte aus den Schweizer Bergen: Heidi ist zurück aus Frankfurt und wieder auf der Alm. Schon bald kommt ihre Frankfurter Freundin Klara, die im Rollstuhl sitzt, zu ihr zu Besuch in die Berge. Die Mädchen verbringen eine schöne Zeit miteinander, aber das passt dem Geissenpeter gar nicht, weil Heidi jetzt weniger Zeit für ihn hat. Also heckt er einen Plan aus...-
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Seitenzahl: 188
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Johanna Spyri
Eine Geschichte für Kinder und solche, die Kinder lieb haben
Saga
Heidi kann brauchen, was es gelernt hatCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1881, 2020 Johanna Spyri und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726539998
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Heidi kann brauchen, was es gelernt hat
Reisezurüstungen
Der freundliche Herr Doktor, der den Entscheid gegeben hatte, dass das Kind Heidi wieder in seine Heimat zurückgebracht werden sollte, ging eben durch die Breite Strasse dem Hause Sesemann zu. Es war ein sonniger Septembermorgen, so licht und lieblich, dass man hätte denken können, alle Menschen müssten sich darüber freuen. Aber der Herr Doktor schaute auf die weissen Steine zu seinen Füssen, so dass er den blauen Himmel über sich nicht einmal bemerken konnte. Es lag eine Traurigkeit auf seinem Gesichte, die man vorher nie da gesehen hatte, und seine Haare waren viel grauer geworden seit dem Frühjahr. Der Doktor hatte eine einzige Tochter gehabt, mit der er seit dem Tode seiner Frau sehr nahe zusammengelebt hatte, und die seine ganze Freude gewesen war. Vor einigen Monaten war ihm das blühende Mädchen durch den Tod entrissen worden. Seither sah man den Herrn Doktor nie mehr so recht fröhlich, wie er vorher fast immer gewesen war.
Auf den Zug an der Hausglocke öffnete Sebastian mit grosser Zuvorkommenheit die Eingangstür und machte gleich alle Bewegungen eines ergebenen Dieners; denn der Herr Doktor war nicht nur der erste Freund des Hausherrn und seines Töchterchens, durch seine Freundlichkeit hatte er sich, wie überall, die sämtlichen Hausbewohner zu guten Freunden gemacht.
„Alles beim alten, Sebastian?“ fragte der Herr Doktor wie gewohnt mit freundlicher Stimme und ging die Treppe hinauf, gefolgt von Sebastian, der nicht aufhörte, allerlei Zeichen der Ergebenheit zu machen, obschon der Herr Doktor sie eigentlich nicht sehen konnte, denn er kehrte dem Nachfolgenden den Rücken.
„Gut, dass du kommst, Doktor“, rief Herr Sesemann dem Eintretenden entgegen. „Wir müssen durchaus noch einmal die Schweizerreise besprechen, ich muss von dir hören, ob du unter allen Umständen bei deinem Ausspruche bleibst, auch nachdem nun bei Klärchen entschieden ein besserer Zustand eingetreten ist.“
„Mein lieber Sesemann, wie kommst du mir denn vor?“ entgegnete der Angekommene, indem er sich zu seinem Freunde hinsetzte. „Ich möchte wirklich wünschen, dass deine Mutter hier wäre; mit der wird alles gleich klar und einfach und kommt ins rechte Geleise. Mit dir aber ist ja kein Fertigwerden. Du lässt mich heute zum dritten Male zu dir kommen, damit ich dir immer noch einmal dasselbe sage.“
„Ja, du hast recht, die Sache muss dich ungeduldig machen; aber du musst doch begreifen, lieber Freund“ — und Herr Sesemann legte seine Hand wie bittend auf die Schulter seines Freundes —, „es wird mir gar zu schwer, dem Kinde zu versagen, was ich ihm so bestimmt versprochen hatte und worauf es sich nun monatelang Tag und Nacht gefreut hat. Auch diese letzte schlimme Zeit hat das Kind so geduldig ertragen, immer in der Hoffnung, dass die Schweizerreise nahe sei und dass es seine Freundin Heidi auf der Alp besuchen könne; und nun soll ich dem guten Kinde, das ja sonst so vieles entbehren muss, die langgenährte Hoffnung mit einemmal wieder durchstreichen — das ist mir fast nicht möglich.“
„Sesemann, das muss sein“, sagte sehr bestimmt der Herr Doktor, und als sein Freund stillschweigend und niedergeschlagen dasass, fuhr er nach einer Weile fort: „Bedenke doch, wie die Sache steht. Klara hat seit Jahren keinen so schlimmen Sommer gehabt, wie dieser letzte war; von einer so grossen Reise kann keine Rede sein, ohne dass wir die schlimmsten Folgen zu befürchten hätten. Dazu sind wir nun in den September eingetreten, da kann es ja noch schön sein oben auf der Alp, es kann aber auch schon sehr kühl werden. Die Tage sind nicht mehr lang, und oben bleiben und da die Nächte zubringen kann Klara doch nun gar nicht; so hätte sie kaum ein paar Stunden oben zu verweilen. Der Weg von Bad Ragaz dort hinauf muss ja schon mehrere Stunden dauern, denn zur Alp hinauf muss sie entschieden im Sessel getragen werden. Kurz, Sesemann, es kann nicht sein! Aber ich will mit dir hineingehen und mit Klara reden, sie ist ja ein vernünftiges Mädchen, ich will ihr meinen Plan mitteilen. Im kommenden Mai soll sie erst nach Ragaz hinkommen; dort soll eine längere Badekur unternommen werden, so lange, bis es hübsch warm wird oben auf der Alp. Dann kann sie dort von Zeit zu Zeit hinaufgetragen werden, da wird sie diese Bergpartien, erfrischt und gestärkt, wie sie dann sein wird, ganz anders geniessen, als es jetzt geschähe. Du begreifst auch, Sesemann, wenn wir noch eine leise Hoffnung für den Zustand deines Kindes aufrechterhalten wollen, so haben wir die äusserste Schonung und die sorgfältigste Behandlung zu beobachten.“
Herr Sesemann, der bis dahin schweigend und mit dem Ausdrucke trauriger Ergebung zugehört hatte, fuhr jetzt auf einmal empor: „Doktor“, rief er aus, „sag es mir ehrlich: Hast du wirklich noch Hoffnung auf eine Änderung dieses Zustandes?“
Der Doktor zuckte die Achseln. „Wenig“, sagte er halblaut. „Aber komm, denk einmal einen Augenblick an mich, lieber Freund! Hast du nicht ein liebes Kind, das nach dir verlangt und sich auf deine Heimkehr freut, wenn du weg bist? Nie musst du in ein verödetes Haus zurückkehren und dich allein an deinen Tisch hinsetzen. Und dein Kind hat’s auch gut daheim. Muss es auch vieles entbehren, was andere geniessen können, so ist es in manch anderem auch vor vielen bevorzugt. Nein, Sesemann, ihr seid nicht so sehr zu beklagen, ihr habt es doch recht gut, so zusammen zu sein; denk an mein einsames Haus!“
Herr Sesemann war aufgestanden und ging nun mit grossen Schritten im Zimmer auf und ab, wie er immer zu tun pflegte, wenn ihn irgendeine Sache stark beschäftigte. Auf einmal stand er vor seinem Freunde still und klopfte ihm auf die Schulter.
„Doktor, ich habe einen Gedanken: Ich kann dich nicht so sehen, du bist ja gar nicht mehr der alte. Du musst ein wenig aus dir heraus, und weisst du, wie? Du sollst die Reise unternehmen und das Kind Heidi auf seiner Alp besuchen in unser aller Namen.“
Der Herr Doktor war sehr überrascht von dem Vorschlage und wollte sich dagegen wehren, aber Herr Sesemann liess ihm keine Zeit. Er war so erfreut und erfüllt von seiner neuen Idee, dass er den Freund unter den Arm fasste und nach dem Zimmer seines Töchterchens hinüberzog. Der gute Herr Doktor war für die kranke Klara immer eine erfreuliche Erscheinung, denn er hatte sie von jeher mit einer grossen Freundlichkeit behandelt und ihr jedesmal, wenn er kam, etwas Lustiges und Erheiterndes zu erzählen gewusst. Warum er das jetzt nicht mehr konnte, wusste sie wohl und sie hätte so gern ihn wieder froh gemacht. Sie streckte ihm gleich die Hand entgegen, und er setzte sich zu ihr hin. Herr Sesemann rückte seinen Stuhl auch heran, und indem er Klara bei der Hand fasste, fing er an von der Schweizerreise zu reden, und wie er sich selbst darauf gefreut hatte. Über den Hauptpunkt aber, dass sie nun unmöglich mehr stattfinden könnte, glitt er eilig hinweg, denn er fürchtete sich ein wenig vor den kommenden Tränen. Dann ging er schnell auf den neuen Gedanken über und machte Klara darauf aufmerksam, wie wohltätig es für ihren guten Freund wäre, wenn er diese Erholungsreise unternehmen würde.
Die Tränen waren wirklich aufgestiegen und schwammen in den blauen Augen, wie sehr sich auch Klara Mühe gab, sie niederzudrücken, denn sie wusste, wie ungern der Papa sie weinen sah. Aber es war auch hart, dass nun alles aus sein sollte, und den ganzen Sommer hindurch war die Aussicht auf die Reise zum Heidi ihre einzige Freude und ihr Trost gewesen in all den langen, einsamen Stunden, die sie durchlebt hatte. Aber Klara war nicht gewohnt zu markten, sie wusste recht gut, dass der Papa ihr nur versagte, was zum Bösen führen würde und darum nicht sein durfte. Sie schluckte ihre Tränen hinunter und wandte sich nun der einzigen Hoffnung zu, die ihr blieb. Sie nahm die Hand ihres guten Freundes und streichelte sie und bat flehentlich:
„O bitte, Herr Doktor, nicht wahr, Sie gehen zum Heidi, und dann kommen Sie, um mir alles zu erzählen, wie es ist dort oben, und was das Heidi macht und der Grossvater und der Peter und die Geissen, ich kenne sie alle so gut! Und dann nehmen Sie mit, was ich dem Heidi schicken will, ich habe schon alles ausgedacht, und auch etwas für die Grossmutter. Bitte, Herr Doktor, tun Sie’s doch; ich will auch gewiss unterdessen Fischtran nehmen, soviel Sie nur wollen.“
Ob dieses Versprechen der Sache den Ausschlag gab, kann man nicht wissen, aber es ist anzunehmen, denn der Herr Doktor lächelte und sagte:
„Dann muss ich ja wohl geben, Klärchen, so wirst du uns einmal rund und fest, wie wir dich haben wollen, Papa und ich. Und wann muss ich denn reisen, hast du das schon bestimmt?“
„Am liebsten gleich morgen früh, Herr Doktor“, entgegnete Klara.
„Ja, sie hat recht“, fiel hier der Vater ein; „die Sonne scheint, der Himmel ist blau, es ist keine Zeit zu verlieren, für jeden solchen Tag ist es schade, den du noch nicht auf der Alp geniessen kannst.“
Der Herr Doktor musste ein wenig lachen: „Nächstens wirst du mir vorwerfen, dass ich noch da bin, Sesemann; so muss ich wohl machen, dass ich fort komme.“
Aber Klara hielt den Aufstehenden fest; erst musste sie ihm ja noch alle Aufträge an das Heidi übergeben und ihm noch so vieles anempfehlen, das er recht betrachten und ihr dann davon erzählen sollte. Die Sendung an das Heidi konnte ihm erst später zugeschickt werden, denn Fräulein Rottenmeier musste erst alles verpacken helfen; sie war aber eben auf einer ihrer Wanderungen durch die Stadt begriffen, von denen sie nicht so schnell zurückkehrte.
Der Herr Doktor versprach alles genau auszurichten, die Reise, wenn nicht am Morgen früh, so doch womöglich noch im Laufe des folgenden Tages anzutreten und dann bei seiner Heimkehr getreulich Bericht zu erstatten über alles, was er gesehen und erlebt haben würde.
Die Diener eines Hauses haben oft eine merkwürdige Gabe, die Dinge zu erfassen, die im Hause ihrer Herren vor sich geben, lange bevor diese dazu kommen, ihnen Mitteilung davon zu machen. Sebastian und Tinette mussten diese Gabe in hohem Grade besitzen, denn eben, als der Herr Doktor, von Sebastian begleitet, die Treppe hinunterging, trat Tinette ins Zimmer der Klara ein, die nach dem Mädchen geschellt hatte.
„Holen Sie diese Schachtel voll ganz frischer, weicher Kuchen, wie wir sie zum Kaffee haben, Tinette“, sagte Klara und deutete auf die Schachtel hin, die schon lange bereitgestanden hatte. Tinette erfasste das bezeichnete Ding an einer Ecke und liess es verächtlich an ihrer Hand baumeln; unter der Türe sagte sie schnippisch:
„Es ist wohl der Mühe wert.“
Als der Sebastian unten mit gewohnter Höflichkeit die Türe aufgemacht hatte, sagte er mit einem Bückling:
„Wenn der Herr Doktor wollten so freundlich sein und dem Mamsellchen auch einen Gruss vom Sebastian bestellen.“
„Ah, sieh da, Sebastian“, sagte der Herr Doktor freundlich; „so wissen Sie denn auch schon, dass ich reise?“
Sebastian musste ein wenig husten:
„Ich bin — ich habe — ich weiss selbst nicht mehr recht — ach ja, jetzt erinnere ich mich: Ich bin eben zufällig durch das Esszimmer gegangen, da habe ich den Namen des Mamsellchens aussprechen gehört, und wie es so geht, man hängt dann so einen Gedanken an den anderen an und so — und in der Weise —“
„Ja wohl, ja wohl“, lächelte der Herr Doktor, „und je mehr Gedanken einer hat, je mehr wird er inne. Auf Wiedersehen, Sebastian, der Gruss wird bestellt.“
Jetzt wollte der Herr Doktor gerade durch die offene Haustür enteilen, aber er traf auf ein Hindernis: der starke Wind hatte. Fräulein Rottenmeier verhindert, ihre Wanderung weiter fortzusetzen; eben war sie zurückgekehrt und wollte ihrerseits durch die offene Tür eintreten. Der Wind hatte ihr weites Tuch, in das sie sich gehüllt hatte, aber dergestalt aufgebläht, dass es gerade so anzusehen war, als habe sie die Segel aufgespannt. Der Herr Doktor wich augenblicklich zurück. Aber gegen diesen Mann hatte Fräulein Rottenmeier von jeher eine besondere Anerkennung und Zuvorkommenheit an den Tag gelegt. Auch sie wich mit ausgesuchter Höflichkeit zurück, und eine Weile standen die beiden mit rüdsichtsvoller Gebärde da und i machten einander gegenseitig Platz. Jetzt aber kam ein so starker Windstoss, dass Fräulein Rottenmeier auf einmal mit vollen Segeln gegen den Doktor heranflog. Er konnte eben noch ausweichen; die Dame aber wurde noch ein gutes Stück über ihn hinausgetrieben, so dass sie wieder zurückkehren musste, um nun den Freund des Hauses mit Anstand zu begrüssen. Der gewalttätige Vorgang hatte sie ein wenig verstimmt, aber der Herr Doktor hatte eine Art und Weise, die ihr gekräuseltes Gemüt bald glättete und eine sanfte Stimmung darüber verbreitete. Er teilte ihr seinen Reiseplan mit und bat sie in der einnehmendsten Weise, ihm die Sendung an das Heidi so zu verpacken, wie nur sie zu packen verstehe. Dann empfahl sich der Herr Doktor.
Klara erwartete, dass sie erst einige Kämpfe mit Fräulein Rottenmeier zu bestehen haben würde, bevor diese ihre Zustimmung zum Absenden all der Gegenstände geben werde, die Klara für das Heidi bestimmt hatte. Aber diesmal hatte sie sich getäuscht: Fräulein Rottenmeier war ausnehmend gut gelaunt. Sogleich räumte sie alles weg, was auf dem grossen Tische lag, um die Dinge alle, die Klara zusammengebracht hatte, darauf auszubreiten und dann vor ihren Augen die Sendung zu verpacken. Es war keine leichte Arbeit, denn die Gegenstände, die da zusammengerollt werden sollten, waren vielgestaltig. Erst kam der kleine dicke Mantel mit der Kapuze, den Klara für das Heidi ausgesonnen hatte, damit es im kommenden Winter die Grossmutter besuchen könnte, wann es wollte, und nicht warten müsste, bis der Grossvater kommen konnte, und es dann in den Sack eingewickelt werden musste, damit es nicht erfriere. Dann kam ein dickes, warmes Tuch für die alte Grossmutter, damit sie sich darin einhülle und nicht frieren müsse, wenn der Wind wieder so schaurig um die Hütte klappern würde. Dann kam die grosse Schachtel mit den Kuchen; die war auch für die Grossmutter bestimmt, dass sie zu ihrem Kaffee auch einmal etwas anderes als ein Brötchen zu essen habe. Jetzt folgte eine ungeheure Wurst; die hatte Klara ursprünglich für den Peter bestimmt, weil er doch nie etwas anderes als Käse und Brot bekam. Aber sie hatte sich jetzt anders besonnen, denn sie fürchtete, der Peter könnte vor Freuden die ganze Wurst auf einmal aufessen. Darum sollte die Mutter Brigitte diese bekommen und erst für sich und die Grossmutter einen Teil davon nehmen und dem Peter den seinigen in verschiedenen Lieferungen abgeben. Jetzt kam noch ein Säckchen Tabak; der war für den Grossvater, der ja so gern ein Pfeifchen rauchte, wenn er am Abend vor der Hütte sass. Zulegt kam noch eine Anzahl geheimnisvoller Säckchen, Päckchen und Schächtelchen, welche Klara mit besonderer Freude zusammengekramt hatte, denn da sollte das Heidi allerhand überraschungen finden, die ihm grosse Freude machen würden. Endlich war das Werk beendet, und ein stattlicher Ballen lag reisefertig an der Erde. Fräulein Rottenmeier schaute darauf nieder, in tiefsinnige Betrachtungen über die Kunst zu packen versunken. Klara ihrerseits warf Blicke froher Erwartung darauf hin, denn sie sah das Heidi vor sich, wie es vor Überraschung in die Höhe springen und aufjauchzen würde, wenn das ungeheure Paket bei ihm anlangte.
Jetzt trat Sebastian herein und hob mit einem starken Schwung den Ballen auf seine Schulter, um ihn unverzüglich nach dem Hause des Herrn Doktors zu spedieren.
Ein Gast auf der Alm
Das Frührot glühte über den Bergen, und ein frischer Morgenwind rauschte durch die Tannen und wiegte die alten Äste mächtig hin und her. Das Heidi schlug seine Augen auf, der Ton hatte es erweckt. Dieses Rauschen packte das Heidi immer im Innersten seines Wesens und zog es mit Gewalt hinaus unter die Tannen. Es schoss von seinem Lager auf und hatte kaum Zeit, sich fertig zu machen; das musste aber doch sein, denn Heidi wusste nun recht gut, dass man immer sauber und ordentlich aussehen muss.
Jetzt kam es von dem Leiterchen herunter. Des Grossvaters Lager war schon leer; Heidi sprang hinaus. Draussen vor der Tür stand der Grossvater und schaute den Himmel an nach allen Seiten hin, wie er jeden Morgen tat, um zu sehen, wie der Tag werden wollte.
Es zogen rosige Wölkchen oben hin, und mehr und mehr blaute der Himmel, und drüben floss es wie lauter Gold über die Höhen und das Weideland, denn eben kam droben die Sonne über die hoben Felsen heraufgestiegen.
„O wie schön! O wie schön! Guten Tag, Grossvater“, rief das Heidi heranspringend.
„So, sind deine Augen auch schon hell?“ gab der Grossvater zurück, dem Heidi die Hand zum Morgengruss hinhaltend.
Jetzt lief das Heidi unter die Tannen und hüpfte vor Freuden über das Tosen und Sausen da droben unter den wogenden Ästen herum, und bei jedem neuen Windstoss und lauten Wipfelbrausen jauchzte es auf vor Wonne und sprang noch ein wenig höher.
Unterdessen war der Grossvater zum Stalle hingegangen und hatte dem Schwänli und Bärli die Milch abgenommen; dann hatte er beide schön geputzt und gewaschen zur Bergreise und brachte sie nun auf den Platz heraus. Als das Heidi seine Freunde erblickte, kam es herangesprungen und fasste sie beide um den Hals, begrüsste sie zärtlich, und sie meckerten fröhlich und zutraulich, und jede von den Geissen wollte dem Heidi mehr Zuneigung beweisen und drückte ihren Kopf noch immer näher an seine Schultern heran, so dass es zwischen den zweien fast zerdrückt wurde. Aber das Heidi hatte keine Furcht, und wenn das lebhafte Bärli gar zu arg bohrte und drängte mit seinem Kopfe, dann sagte das Heidi: „Nein, Bärli, du stösst ja wie der grosse Türk“, und augenblicklich zog Bärli seinen Kopf zurück! und stellte sich ganz anständig hin, und das Schwänli hatte auch schon seinen Kopf in die Höhe gereckt und machte eine vornehme Gebärde, so dass man deutlich sehen konnte, es dachte bei sich: „Das soll mir denn keiner nachsagen, dass ich mich benehme wie der Türk.“ Denn das schneeweisse Schwänli war noch ein wenig vornehmer als das braune Bärli.
Jetzt hörte man von unten herauf die Pfiffe des Peter ertönen, und bald kamen sie heraufgesprungen, die lustigen Geissen alle, voran der flinke Distelfink in hohen Sprüngen. Gleich war das Heidi wieder mitten in dem Rudel drin, und vor lauter stürmischen Begrüssungen wurde es hin- und hergeschoben, und dann schob es wieder ein wenig; denn es wollte zu dem schüchternen Schneehöppli vordringen, das ja von den grösseren immer wieder weggedrängt wurde, wenn es dem Heidi entgegenstrebte.
Nun kam der Peter heran und tat einen letzten, fürchterlichen Pfiff, der sollte die Geissen aufscheuchen und der Weide zujagen, denn er wollte Platz bekommen, um dem Heidi etwas zu sagen. Die Geissen sprangen ein wenig auseinander auf den Pfiff hin; so konnte der Peter vorrücken und sich nun vor das Heidi hinstellen.
„Du kannst einmal wieder mitkommen heut“, war seine etwas störrige Anrede.
„Nein, das kann ich nicht, Peter“, entgegnete das Heidi. „Jeden Augenblick können sie jetzt von Frankfurt kommen, und dann muss ich daheim sein.“
„Das hast du schon manchmal gesagt“, brummte der Peter.
„Es gilt aber immer noch, und es gilt, bis sie kommen“, gab das Heidi zurück. „Oder meinst du etwa, ich müsse nicht daheim sein, wenn sie von Frankfurt zu mir kommen? Meinst du etwa so etwas, Peter?“
„Sie können zum Öhi kommen“, versetzte der Peter knurrend.
Jetzt ertönte von der Hütte her die kräftige Stimme des Grossvaters: „Warum geht’s nicht vorwärts mit der Armee? Fehlt’s am Feldmarschall oder an den Truppen?“
Augenblicklich machte der Peter kehrum, schwang seine Rute in der Luft, dass sie sauste und alle Geissen, die den Ton wohl kannten, auf und davon rannten, der Peter hinter ihnen drein, alle miteinander in vollem Trabe den Berg hinan. —
Seit das Heidi wieder daheim beim Grossvater war, kam ihm hier und da etwas in den Sinn, woran es vorher nicht gedacht hatte. So machte es jetzt alle Morgen mit grosser Anstrengung sein Bett zurecht und strich so lange daran herum, bis es ganz glatt aussah. Dann lief es in der Hütte hin und her, stellte jeden Stuhl an seinen Ort, und was etwa da und dort herumlag oder -hing, das kramte es alles in den Schrank hinein. Dann holte es einen Lappen herbei, kletterte auf einen Stuhl hinauf und rieb so lange mit seinem Lappen auf dem Tische herum, bis dieser ganz blank war. Wenn dann der Grossvater wieder hereinkam, schaute er wohlgefällig um sich und sagte etwa: „Bei uns ist’s jetzt immer wie Sonntag, das Heidi ist nicht vergebens in der Fremde gewesen.“
Auch heute hatte Heidi, nachdem der Peter fortgetrabt war und es mit dem Grossvater. gefrühstückt hatte, sich gleich an seine Geschäfte gemacht; aber es wurde fast nicht fertig damit. Draussen war es heut morgen gar so schön, und alle Augenblicke geschah wieder etwas, was das Kind in seiner Tätigkeit unterbrach. Jetzt kam durch das offene Fenster ein Sonnenstrahl so lustig hereingeschossen, und es war geradezu, als riefe er: „Komm heraus, Heidi, komm heraus!“ Da konnte es nicht mehr drinnen bleiben, es rannte hinaus. Da lag der funkelnde Sonnenschein um die ganze Hütte herum, und auf allen Bergen glänzte er und weit, weit das Tal hinunter, und der Boden dort am Abhang sah so goldig und trocken aus, es musste ein wenig darauf niedersitzen und umherschauen. Dann kam ihm auf einmal in den Sinn, dass das Dreibeinstühlchen noch mitten in der Hütte stand und der Tisch noch nicht geputzt war vom Morgenessen. Nun sprang es schnell auf und lief in die Hütte zurück. Aber es währte gar nicht lange, so sauste es draussen so mächtig durch die Tannen, dass es dem Heidi in alle Glieder fuhr, es musste schon wieder hinaus und ein wenig mithüpfen, wenn alle Zweige da droben hin- und herwogten und rollten. Der Grossvater hatte einstweilen hinten im Schopf allerlei Arbeit zu verrichten; er trat von Zeit zu Zeit unter die Tür hinaus und schaute lächelnd Heidis Sprüngen zu. Eben war er wieder zurückgetreten, als mit einemmal das Heidi laut aufschrie:
„Grossvater, Grossvater! Komm, komm!“
Er trat rasch wieder heraus, fast erschrocken, was mit dem Kinde sei. Da sah er, wie dieses dem Abhange zulief, laut schreiend: „Sie kommen, sie kommen! Und voran der Herr Doktor!“