Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat - Johanna Spyri - E-Book

Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat E-Book

Johanna Spyri

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Beschreibung

Heidi ist wieder glücklich bei ihrem Großvater auf der Alm. Im Winter ziehen die beiden ins Dorf, damit Heidi zur Schule gehen kann. Nach langem Warten, kommt dann endlich Heidis Freundin Klara aus Frankfurt zu Besuch und blüht zum Erstaunen aller gesundheitlich auf. Bei einem Ausflug zur Alp hinauf geschieht dann ein richtiges Wunder … Auch der zweite Teil der bewegenden Heidi-Erzählung fesselt Groß und Klein bis zum Ende. Die vorliegende Ausgabe wurde komplett sorgsam überarbeitet.

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Seitenzahl: 183

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Johanna Spyri

Heidi kann brauchen,

was es gelernt hat

Impressum

Cover: Gemälde "Junges Mädchen" von Alexei Alexeivich-Harlamoff

Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2015

ISBN/EAN: 9783958702301

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.

www.nexx-verlag.de

Reisevorbereitungen

Der freundliche Herr Doktor, der die Entscheidung getroffen hatte, dass Heidi wieder in ihre Heimat zurückgebracht werden müsse, ging eben durch die breite Straße dem Hause Sesemann zu. Es war ein sonniger Septembermorgen, so hell und lieblich, dass man hätte denken können, alle Menschen müssten sich darüber freuen. Aber der Herr Doktor schaute auf die weißen Steine zu seinen Füßen, so dass er den blauen Himmel über sich nicht einmal bemerkte. Es lag eine Traurigkeit auf seinem Gesicht, die man vorher nie gesehen hatte, und seine Haare waren viel grauer geworden seit dem Frühjahr. Der Doktor hatte eine einzige Tochter gehabt, mit der er seit dem Tod seiner Frau sehr eng zusammen gelebt hatte und die seine ganze Freude gewesen war. Vor einigen Monaten war ihm das blühende Mädchen durch den Tod entrissen worden. Seither sah man den Herrn Doktor nie mehr so recht fröhlich, wie er vorher fast immer gewesen war.

Nach einem Zug an der Hausglocke öffnete Sebastian mit großer Zuvorkommenheit die Eingangstür und machte alle Bewegungen eines ergebenen Dieners; denn der Herr Doktor war nicht nur der beste Freund des Hausherrn und dessen Töchterchen, durch seine Freundlichkeit hatte er sich, wie überall, alle Hausbewohner zu guten Freunden gemacht.

»Alles beim alten, Sebastian?« fragte der Herr Doktor wie gewohnt mit freundlicher Stimme und ging die Treppe hinauf, gefolgt von Sebastian, der nicht aufhörte, allerlei Zeichen der Ergebenheit zu machen, obschon der Herr Doktor sie eigentlich nicht sehen konnte, denn er kehrte ihm den Rücken zu.

»Gut, dass du kommst, Doktor«, rief Herr Sesemann dem Eintretenden entgegen. »Wir müssen noch einmal die Reise in die Schweiz besprechen, ich muss wissen, ob du weiter bei deiner Meinung bleibst, auch nachdem sich der Zustand vom Klärchen gebessert hat.«

»Mein lieber Sesemann, wie kommst du mir denn vor?« entgegnete der Angekommene, während er sich zu seinem Freund setzte. »Ich wünschte wirklich, dass deine Mutter hier wäre; mit ihr wird immer alles gleich klar und einfach und kommt auf den richtigen Weg. Mit dir aber ist ja kein Fertigwerden. Du lässt mich heute zum dritten Mal zu dir kommen, damit ich dir noch einmal dasselbe sage.

»Ja, du hast recht, die Sache muss dich ungeduldig machen, aber du musst doch begreifen, lieber Freund« – und Herr Sesemann legte seine Hand wie bittend auf die Schulter seines Freundes – »es fällt mir gar so schwer, dem Kind zu versagen, was ich ihm so fest versprochen hatte und worauf es sich nun monatelang Tag und Nacht gefreut hat. Auch diese letzte schlimme Zeit hat das Kind so geduldig ertragen, immer in der Hoffnung, dass die Reise in die Schweiz nahe sei und dass es seine Freundin Heidi auf der Alm besuchen könne; und nun soll ich dem guten Kind, das ja sonst schon so vieles entbehren muss, die langgehegte Hoffnung mit einem Mal wieder nehmen – das ist mir fast nicht möglich.«

»Sesemann, es muss sein«, sagte der Herr Doktor sehr bestimmt, und als sein Freund stillschweigend und niedergeschlagen dasaß, fuhr er nach einer Weile fort: »Bedenke doch, wie die Sache steht. Klara hat seit Jahren keinen so schlimmen Sommer gehabt, wie dieser letzte war. Von einer so großen Reise kann keine Rede sein, ohne dass wir die schlimmsten Folgen zu befürchten hätten. Dazu ist es nun schon September, da kann es ja noch schön sein oben auf der Alm, es kann aber auch schon sehr kühl werden.

Die Tage sind nicht mehr lang, und da oben bleiben und die Nächte verbringen kann Klara doch nun gar nicht. So hätte sie nur ein paar Stunden die sie oben bleiben kann. Der Weg von Bad Ragaz dort hinauf muss ja schon mehrere Stunden dauern, denn zur Alm hinauf muss sie unbedingt im Sessel getragen werden. Kurz, Sesemann, es kann nicht sein! Aber ich will mit dir hineingehen und mit Klara reden, sie ist ja ein vernünftiges Mädchen, ich will ihr meinen Plan mitteilen. Im kommenden Mai soll sie erst nach Ragaz kommen; dort soll eine längere Badekur unternommen werden, so lange, bis es hübsch warm wird oben auf der Alm. Dann kann sie dort von Zeit zu Zeit hinaufgetragen werden, da wird sie diese Bergpartien frisch und gestärkt, wie sie dann sein wird, ganz anders genießen, als sie es jetzt könnte. Du begreifst auch, Sesemann, wenn wir noch eine leise Hoffnung für den Zustand deines Kindes aufrechterhalten wollen, ist äußerste Schonung und die sorgfältigste Behandlung angebracht.«

Herr Sesemann, der bis dahin schweigend und mit dem Ausdruck trauriger Ergebung zugehört hatte, fuhr jetzt auf einmal hoch:

»Doktor«, rief er, »sag es mir ehrlich: Hast du wirklich noch Hoffnung auf eine Änderung dieses Zustandes?«

Der Herr Doktor zuckte die Achseln. »Wenig«, sagte er halblaut. »Aber komm, denk einmal einen Augenblick an mich, lieber Freund! Hast du nicht ein liebes Kind, das nach dir verlangt und sich auf deine Heimkehr freut, wenn du weg bist? Nie musst du in ein einsames Haus zurückkehren und dich allein an deinen Tisch setzen. Und dein Kind hat's auch gut daheim. Muss es auch vieles entbehren, was andere genießen können, so ist es in manch anderem auch vor vielen bevorzugt. Nein, Sesemann, ihr seid nicht so sehr zu beklagen, ihr habt es doch recht gut, so zusammen zu sein; denk an mein einsames Haus!«

Herr Sesemann war aufgestanden und ging nun mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, wie er immer zu tun pflegte, wenn ihn irgendeine Sache stark beschäftigte. Auf einmal stand er vor seinem Freund still und klopfte ihm auf die Schulter.

»Doktor, ich habe einen Gedanken: Ich kann dich nicht so sehen, du bist ja gar nicht mehr der alte. Du musst ein wenig aus dir heraus, und weißt du, wie? Du sollst die Reise unternehmen und Heidi auf ihrer Alm in unser aller Namen besuchen.«

Der Herr Doktor war sehr überrascht von dem Vorschlag und wollte sich dagegen wehren, aber Herr Sesemann ließ ihm keine Zeit. Er war so angetan und erfüllt von seiner neuen Idee, dass er den Freund unter den Arm fasste und zu dem Zimmer seines Töchterchens hinüberzog.

Der gute Herr Doktor war für die kranke Klara immer eine erfreuliche Erscheinung, denn er hatte sie von jeher mit einer großen Freundlichkeit behandelt und ihr jedes Mal, wenn er kam, etwas Lustiges und Erheiterndes zu erzählen gewusst. Warum er das jetzt nicht mehr konnte, wusste sie wohl und hätte ihn so gern wieder froh gemacht. Sie streckte ihm gleich die Hand entgegen, und er setzte sich zu ihr hin. Herr Sesemann rückte seinen Stuhl auch heran, und während er Klara bei der Hand fasste, fing er an von der Reise in die Schweiz zu reden und wie er sich selbst darauf gefreut hatte. Aber den wichtigsten Punkt, dass die Reise nun unmöglich mehr stattfinden könnte, erwähnte er kurz und beiläufig, denn er fürchtete sich ein wenig vor den kommenden Tränen. Dann ging er schnell auf den neuen Gedanken über und machte Klara darauf aufmerksam, wie gut es für ihren guten Freund wäre, wenn er diese Erholungsreise unternehmen würde.

Die Tränen waren wirklich aufgestiegen und schwammen in den blauen Augen, wie sehr sich auch Klara Mühe gab, sie niederzudrücken, denn sie wusste, wie ungern der Papa sie weinen sah. Aber es war auch hart, dass nun alles aus sein sollte, und den ganzen Sommer hindurch war die Aussicht auf die Reise zur Heidi ihre einzige Freude und Trost gewesen in all den langen, einsamen Stunden, die sie durchlebt hatte. Aber Klara war nicht gewohnt zu verhandeln, sie wusste recht gut, dass der Papa ihr nur versagte, was zum Bösen führen würde und darum nicht sein durfte. Sie schluckte ihre Tränen hinunter und wandte sich nun der einzigen Hoffnung zu, die ihr blieb. Sie nahm die Hand ihres guten Freundes und streichelte sie und bat flehentlich:

»Oh bitte, Herr Doktor, nicht wahr, Sie gehen zur Heidi, und dann kommen Sie, um mir alles zu erzählen, wie es ist dort oben ist und was Heidi macht und der Großvater und der Peter und die Geißen, ich kenne sie alle so gut! Und dann nehmen Sie mit, was ich Heidi schicken will, ich habe schon alles überlegt und auch etwas für die Großmutter. Bitte, Herr Doktor, tun Sie's; ich werde unterdessen auch gewiss Fischtran nehmen, soviel Sie nur wollen.«

Ob dieses Versprechen der Sache den Ausschlag gab, kann man nicht wissen, aber es ist anzunehmen, denn der Herr Doktor lächelte und sagte: »Dann muss ich ja wohl gehen, Klärchen, so wirst du uns einmal rund und fest, wie wir dich haben wollen, dein Papa und ich. Und wann muss ich abreisen, hast du das schon entschieden?«

»Am liebsten gleich morgen früh, Herr Doktor«, entgegnete Klara.

»Ja, sie hat recht«, fiel hier der Vater ein; »die Sonne scheint, der Himmel ist blau, es ist keine Zeit zu verlieren, für jeden solchen Tag, den du nicht auf der Alm genießen kannst ist es schade.«

Der Herr Doktor musste ein wenig lachen: »Nächstens wirst du mir vorwerfen, dass ich noch da bin, Sesemann; so muss ich wohl machen, dass ich fortkomme.«

Er wollte aufstehen, aber Klara hielt ihn fest; erst musste sie ihm ja noch alle Aufträge an Heidi übergeben und ihm noch so vieles erklären, was er genau betrachten und ihr dann davon erzählen sollte. Die Sendung an Heidi konnte ihr erst später zugeschickt werden, denn Fräulein Rottenmeier musste erst alles verpacken helfen; sie war aber gerade auf einer ihrer Wanderungen durch die Stadt, von denen sie nicht so schnell zurückkehrte.

Der Herr Doktor versprach, alles genau auszurichten, die Reise, wenn nicht morgen früh, so doch möglichst noch im Laufe des folgenden Tages anzutreten und dann bei seiner Heimkehr genaustens Bericht zu erstatten über alles, was er gesehen und erlebt haben würde.

Die Diener eines Hauses haben oft eine merkwürdige Gabe, die Dinge zu erfassen, die im Haus ihrer Herren vor sich gehen, lange bevor diese dazu kommen, sie ihnen mitzuteilen. Sebastian und Tinette mussten diese Gabe in hohem Grad besitzen, denn eben, als der Herr Doktor, von Sebastian begleitet, die Treppe hinunterging, trat Tinette ins Zimmer der Klara ein, die nach dem Mädchen geklingelt hatte.

»Holen Sie diese Schachtel voll ganz frischer, weicher Kuchen, wie wir sie zum Kaffee haben, Tinette«, sagte Klara und deutete auf die Schachtel, die schon lange bereitgestanden hatte. Tinette erfasste die gezeigte Schachtel an einer Ecke und ließ sie verächtlich an ihrer Hand baumeln. In der Tür sagte sie schnippisch:

»Es ist wohl der Mühe wert.«

Als der Sebastian unten mit gewohnter Höflichkeit die Tür aufgemacht hatte, sagte er mit einem Bückling:

»Wenn der Herr Doktor wollten so freundlich sein und dem Mamsellchen auch einen Gruß vom Sebastian bestellen.«

»Ah, sieh da, Sebastian«, sagte der Herr Doktor freundlich; »so wissen Sie denn auch schon, dass ich reise?«

Sebastian musste ein wenig husten.

»Ich bin ... ich habe ... ich weiß selbst nicht mehr recht ... ach ja, jetzt erinnere ich mich: Ich bin eben zufällig durch das Esszimmer gegangen, da habe ich den Namen des Mamsellchens aussprechen gehört, und wie es so geht, man hängt einen Gedanken an den anderen an und so ... in der Weise ...«

»Jawohl, jawohl«, lächelte der Herr Doktor, »und je mehr Gedanken einer hat, je mehr begreift er. Auf Wiedersehen, Sebastian, der Gruß wird bestellt.«

Jetzt wollte der Herr Doktor gerade durch die offene Haustür enteilen, aber er traf auf ein Hindernis: Der starke Wind hatte Fräulein Rottenmeier daran gehindert, ihre Wanderung weiter fortzusetzen. Gerade war sie zurückgekehrt und wollte ihrerseits durch die offene Tür eintreten. Der Wind hatte ihr weites Tuch, in das sie sich gehüllt hatte, aber dergestalt aufgebläht, dass es gerade so aussah, als habe sie ein Segel aufgespannt.

Der Herr Doktor wich augenblicklich zurück. Aber gegen diesen Mann hatte Fräulein Rottenmeier von jeher eine besondere Anerkennung und Zuvorkommenheit an den Tag gelegt. Auch sie wich mit ausgesuchter Höflichkeit zurück, und eine Weile standen die beiden mit rücksichtsvoller Gebärde da und machten einander gegenseitig Platz. Jetzt aber kam ein so starker Windstoß, dass Fräulein Rottenmeier auf einmal mit vollen Segeln gegen den Doktor flog. Er konnte eben noch ausweichen; die Dame aber wurde noch ein gutes Stück weggeweht, so dass sie wieder zurückkehren musste, um den Freund des Hauses mit Anstand zu begrüßen. Der gewalttätige Vorgang hatte sie ein wenig verstimmt, aber der Herr Doktor hatte eine Art und Weise, die ihr gekräuseltes Gemüt bald glättete und eine sanfte Stimmung darüber verbreitete. Er teilte ihr seinen Reiseplan mit und bat sie in der freundlichsten Weise, ihm die Sendung an Heidi so gut zu verpacken, wie sie konnte. Dann empfahl sich der Herr Doktor.

Klara erwartete, dass sie erst einige Kämpfe mit Fräulein Rottenmeier zu bestehen haben würde, bevor diese ihre Zustimmung zum Absenden all der Gegenstände geben werde, die Klara für Heidi bestimmt hatte. Aber diesmal hatte sie sich getäuscht: Fräulein Rottenmeier war ausnehmend gut gelaunt. Sogleich räumte sie alles weg, was auf dem großen Tisch lag, um alle Dinge, die Klara zusammengebracht hatte, darauf auszubreiten und dann vor ihren Augen zu verpacken.

Es war keine leichte Arbeit, denn es waren viele unterschiedliche Gegenstände, die da zusammengepackt werden sollten. Erst kam der kleine dicke Mantel mit der Kapuze, den Klara für Heidi ausgesucht hatte, damit sie im kommenden Winter die Großmutter besuchen könnte, wann sie wollte, und nicht warten müsste, bis der Großvater kommen konnte und sie in den Sack eingewickelt musste, damit sie nicht erfror.

Dann kam ein dickes, warmes Tuch für die alte Großmutter, worin sie sich einhüllen konnte und nicht mehr frieren müsse, wenn der Wind wieder so schaurig um die Hütte pfiff.

Dann kam die große Schachtel mit den Kuchen. Sie war auch für die Großmutter bestimmt, dass sie zu ihrem Kaffee auch einmal etwas anderes als ein Brötchen zu essen habe.

Jetzt folgte eine ungeheure Wurst; die hatte Klara ursprünglich für den Peter bestimmt, weil er doch nie etwas anderes als Käse und Brot bekam. Aber sie hatte es sich jetzt anders überlegt, denn sie fürchtete, der Peter könnte vor Freuden die ganze Wurst auf einmal aufessen. Darum sollte die Mutter Brigitte sie bekommen und erst für sich und die Großmutter einen guten Teil davon nehmen und dem Peter seinen Teil in Portionen geben.

Jetzt kam noch ein Säckchen Tabak; der war für den Großvater, der ja so gern ein Pfeifchen rauchte, wenn er am Abend vor der Hütte saß.

Zuletzt kam noch eine Anzahl geheimnisvoller Säckchen, Päckchen und Schächtelchen, die Klara mit besonderer Freude zusammengekramt hatte, denn darin sollte Heidi allerhand Überraschungen finden, die ihr große Freude machen würden. Endlich war das Werk beendet, und ein stattlicher Ballen lag reisefertig auf der Erde. Fräulein Rottenmeier schaute darauf, in tiefsinnige Betrachtungen über die Kunst zu verpacken versunken. Klara ihrerseits warf Blicke froher Erwartung darauf, denn sie sah Heidi vor sich, wie sie vor Überraschung in die Höhe springen und aufjauchzen würde, wenn das ungeheure Paket bei ihr ankam.

Jetzt trat Sebastian herein und hob mit einem starken Schwung den Ballen auf seine Schulter, um ihn unverzüglich nach zum Haus des Herrn Doktors zu bringen.

Ein Gast auf der Alm

Das Morgenrot glühte über den Bergen, und ein frischer Morgenwind rauschte durch die Tannen und wogte die alten Äste mächtig hin und her. Heidi schlug ihre Augen auf, der Ton hatte sie geweckt. Dieses Rauschen packte Heidi immer im Innersten ihres Wesens und zog sie mit Gewalt hinaus unter die Tannen. Sie schoss von ihrem Lager auf und hatte kaum Zeit, sich fertigzumachen; das musste aber doch sein, denn Heidi wusste nun recht gut, dass man immer sauber und ordentlich aussehen muss. Jetzt kam sie von dem Leiterchen herunter; Großvaters Bett war schon leer; sie sprang hinaus. Draußen vor der Tür stand der Großvater und schaute den Himmel nach allen Seiten hin an, wie er es jeden Morgen tat, um zu sehen, wie der Tag werden wollte.

Es zogen rosige Wölkchen über den blauen Himmel, und drüben floss es wie lauter Gold über die Höhen und das Weideland, denn eben kam die Sonne über die hohen Felsen heraufgestiegen.

»Oh wie schön! Oh wie schön! Guten Morgen, Großvater«, rief Heidi heranspringend.

»So, sind deine Augen auch schon wach?« gab der Großvater zurück, Heidi die Hand zum Morgengruß hinhaltend.

Jetzt lief Heidi unter die Tannen und hüpfte vor Freude über das Tosen und Sausen da droben unter den wogenden Ästen herum, und bei jedem neuen Windstoß und lauten Wipfelbrausen jauchzte sie auf vor Wonne und sprang noch ein wenig höher.

Unterdessen war der Großvater zum Stall gegangen und hatte Schwänli und Bärli gemolken. Dann hatte er beide für die Bergreise schön geputzt und gewaschen und brachte sie nun auf den Platz heraus.

Als Heidi ihre Freunde erblickte, kam sie herangesprungen und fasste beide um den Hals, begrüßte sie zärtlich, und sie meckerten fröhlich und zutraulich, und jede von den Geißen wollte Heidi mehr Zuneigung beweisen und drückten ihren Kopf noch immer näher an ihre Schultern, so dass sie zwischen den beiden fast erdrückt wurde. Aber Heidi hatte keine Furcht, und wenn das lebhafte Bärli gar zu arg bohrte und drängte mit seinem Kopf, dann sagte Heidi: »Nein, Bärli, du stößt ja wie der große Türk«, und augenblicklich zog Bärli seinen Kopf zurück und stellte sich ganz anständig hin, und das Schwänli hatte auch schon seinen Kopf in die Höhe gereckt und machte eine vornehme Gebärde, so dass man deutlich sehen konnte, es dachte bei sich: Das soll mir keiner nachsagen, dass ich mich benehme wie der Türk. Denn das schneeweiße Schwänli war noch ein wenig vornehmer als das braune Bärli.

Jetzt hörte man von unten herauf die Pfiffe des Peter und bald kamen sie heraufgesprungen, all die lustigen Geißen, voran der flinke Distelfink in hohen Sprüngen. Gleich war Heidi wieder mitten in dem Rudel drin, und vor lauter stürmischen Begrüßungen wurde sie hin- und hergeschoben, und dann schob sie wieder ein wenig, denn sie wollte zu dem schüchternen Schneehöppli vordringen, das ja von den größeren immer wieder weggedrängt wurde, wenn es Heidi entgegenstrebte.

Nun kam der Peter heran und tat einen letzten, fürchterlichen Pfiff, der sollte die Geißen aufscheuchen und zur Weide jagen, denn er wollte Platz bekommen, um Heidi etwas zu sagen. Die Geißen sprangen ein wenig auseinander auf den Pfiff hin; so konnte der Peter vorrücken und sich nun vor Heidi hinstellen.

»Du könntest heute mal wieder mitkommen«, war seine etwas störrische Begrüßung.

»Nein, das kann ich nicht, Peter«, entgegnete Heidi. »Jeden Augenblick können sie jetzt von Frankfurt kommen, und dann muss ich daheim sein.«

»Das hast du schon oft gesagt«, brummte der Peter.

»Es gilt aber immer noch, und es gilt, bis sie kommen«, gab Heidi zurück. »Oder meinst du etwa, ich müsse nicht daheim sein, wenn sie von Frankfurt zu mir kommen? Meinst du das, Peter?«

»Sie können zum Öhi kommen«, versetzte der Peter knurrend.

Jetzt ertönte von der Hütte her die kräftige Stimme des Großvaters: »Warum geht's nicht vorwärts mit der Armee? Fehlt's am Feldmarschall oder an den Truppen?«

Augenblicklich kehrte der Peter um, schwang seine Rute in der Luft, dass sie sauste und alle Geißen, die den Ton wohl kannten, auf und davon rannten, der Peter hinter ihnen drein, alle miteinander in vollem Trab den Berg hinauf.

Seit Heidi wieder daheim beim Großvater war, kam ihr hier und da etwas in den Sinn, woran sie vorher nie gedacht hatte. So machte sie jetzt jeden Morgen mit großer Anstrengung ihr Bett zurecht und strich so lange daran herum, bis es ganz glatt aussah. Dann lief sie in der Hütte hin und her, stellte jeden Stuhl an seinen Ort, und was etwa da und dort herumlag oder -hing, das kramte sie alles in den Schrank hinein. Dann holte sie einen Lappen, kletterte auf einen Stuhl und rieb so lange mit ihrem Lappen auf dem Tisch herum, bis dieser ganz blank war. Wenn dann der Großvater wieder hereinkam, schaute er wohlgefällig um sich und sagte: »Bei uns ist's jetzt immer wie am Sonntag, Heidi ist nicht vergebens in der Fremde gewesen.«

Auch heute hatte sich Heidi, nachdem der Peter fortgetrabt war und sie mit dem Großvater gefrühstückt hatte, gleich an ihre Aufgaben gemacht, aber sie wurde fast nicht fertig damit. Draußen war es heute Morgen gar so schön, und alle Augenblicke geschah wieder etwas, was das Kind in seiner Tätigkeit unterbrach. Jetzt kam durch das offene Fenster ein Sonnenstrahl so lustig hereingeschossen, und es war geradezu, als riefe er: »Komm heraus, Heidi, komm heraus!« Da konnte sie nicht mehr drinnen bleiben, sie rannte hinaus. Da lag der funkelnde Sonnenschein um die ganze Hütte herum, und auf allen Bergen glänzte er bis weit, weit ins Tal hinunter, und der Boden dort am Abhang sah so goldig und trocken aus, sie musste sich ein wenig darauf niedersetzen und umherschauen. Dann kam ihr auf einmal in den Sinn, dass das dreibeinige Stühlchen noch mitten in der Hütte stand und der Tisch nach dem Morgenessen noch nicht geputzt war. Nun sprang sie schnell auf und lief in die Hütte zurück.

Aber es währte gar nicht lange, da sauste es draußen so mächtig durch die Tannen, dass es Heidi in alle Glieder fuhr, sie musste wieder hinaus und ein wenig mithüpfen, wenn alle Zweige da droben hin und her wogten und rollten. Der Großvater hatte einstweilen hinten im Schopf allerlei Arbeit zu verrichten; er trat von Zeit zu Zeit zur Tür hinaus und schaute lächelnd Heidis Sprüngen zu. Eben war er wieder zurückgetreten, als mit einem Mal Heidi laut aufschrie:

»Großvater, Großvater! Komm, komm!«

Er trat rasch wieder heraus, fast erschrocken, was mit dem Kind sei. Da sah er, wie dieses dem Abhange zulief, laut schreiend: »Sie kommen, sie kommen! Und voran der Herr Doktor!«