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Weihnachten zu zweit gemütlich zu Hause? Eine verschwundene Nonne durchkreuzt Rennis und Monikas Pläne gehörig ... Die neue Paketbotin bringt nicht nur ein Päckchen in Christinas Bistro, sondern auch Christinas Gefühlsleben völlig durcheinander ... Weihnachtseinkäufe sind schon stressig genug, da ist eine unhöfliche Vordränglerin nicht gerade hilfreich; noch schlimmer wird's, wenn sich diese Kundin als neue Kollegin entpuppt ... Diese und weitere weihnachtlichen Geschichten konnten Sie im Adventskalender 2015 lesen, jetzt sind sie als Buch erhältlich. Und als Bonus gibt es noch die Silvestergeschichte dazu.
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Seitenzahl: 350
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Weihnachtliche Liebesgeschichten
© 2016édition el!es
www.elles.de [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-201-5
Coverillustration: © lehvis – Fotolia.com
Eilig überholte eine mit Tüten bepackte Frau Sarah und öffnete direkt vor ihr die Eingangstür. Der Duft von tausenden Parfümproben drang durch die offene Tür. Gleichzeitig sprang die penetrante Weihnachtsmusik Sarah förmlich entgegen. Innerlich seufzend wappnete sie sich, machte sich bereit für den vorweihnachtlichen Kampf im Kaufhaus, als ihr plötzlich und unerwartet die schwere Eingangstür gegen die Schulter schlug.
»Verfluchte Sch. . .« Es war nicht Sarahs Art, in der Öffentlichkeit laut zu werden. Aber was fiel dieser Person ein? Erst drängelte sie sich vor der Eingangstür noch schnell an ihr vorbei, und dann hatte sie es nicht einmal nötig, die Tür eine Sekunde länger aufzuhalten. Noch mieser gelaunt gab Sarah der Tür einen energischen Schubser und marschierte mit finsterer Miene ins Chaos.
»Parfüm für die Dame?« Noch ehe Sarah auf das Angebot der Verkäuferin reagieren konnte, hatte sie schon einen Schwall des neuesten Duftes im Gesicht.
Ohne die Übeltäterin auch nur eines Blickes zu würdigen, setzte Sarah unbeirrt ihren Weg fort. Sie schaute nicht nach links oder rechts, sondern steuerte direkt auf die Herrenabteilung zu und blieb erst vor dem Sockenregal stehen. Nach einem kurzen prüfenden Blick schnappte sie sich fünf Packen der wärmsten und weichsten Socken und ging damit zur Kasse.
Wie nicht anders zu erwarten standen die Einkaufswütigen auch hier in einer langen Schlange an, um zu bezahlen. Da sag noch mal einer, die Leute kaufen nur noch im Internet! Es half ja alles nichts, lustlos reihte sie sich am Ende der Schlange ein und verbrachte die nächsten Minuten damit, in Trippelschrittchen der Kasse näher zu kommen.
Nur noch zwei Kunden vor ihr, bald würde sie endlich hier rauskönnen. Sie kramte schon einmal ihre Geldbörse hervor und rechnet im Kopf nach, was sie in etwa würde zahlen müssen.
»Hallo Frau Schneider, darf ich Ihnen das kurz reichen?« Direkt vor Sarahs Nase lehnte sich eine Kundin einfach über den Tresen und drückte der Verkäuferin einen Korb voller Waren in die Hand.
»Sie sind aber eigentlich noch nicht an der Reihe«, protestierte der Herr vor Sarah zaghaft.
Die Frau lächelte nur, und schon gab sich der Mann geschlagen.
»Unfassbar«, zischte Sarah. Und noch unfassbarer fand sie es, als sie die Frau erkannte. Die Rüpelin, die ihr die Tür vor der Nase hatte zufallen lassen.
Anscheinend war die gute Frau Stammkundin in diesem Haus, denn Frau Schneider nahm ihr lächelnd den Korb ab und kümmerte sich ausgiebig um den Einkauf der Kundin. Frau Zuger, wie Sarah dem Gespräch der beiden inzwischen entnommen hatte, hieß die unverschämte Person, die wie selbstverständlich durch das Leben anderer Leute trampelte.
»Man geht aber auch nicht an einem Samstag im Dezember in der Innenstadt einkaufen!« Tina schien keinen Funken Mitleid mit ihrer besten Freundin zu haben, als sie ihr am Abend in einem kleinen Restaurant am Stadtrand ihr Leid klagte.
»Manchmal geht es eben nicht anders«, brummte Sarah genervt in ihr Weinglas. Ein bisschen mehr Verständnis hatte sie sich schon erwartet. Schließlich hatte sie eine verdammt harte Woche hinter sich, und dann noch diese unverschämte Person im Kaufhaus. Konnte man da von der besten Freundin nicht etwas Aufmunterung und Bauchpinselei erwarten?
»Zum einen kann man im Internet auch Socken bestellen, und zum anderen kaufst du jedes Jahr fünf Paar Männersocken. Du hättest also heute gleich zehn Paar kaufen können, dann würdest du dir das nächstes Jahr die Einkauferei schon ersparen.«
»Es geht doch nichts über eine pragmatisch denkende beste Freundin.« Für einen Moment überlegte Sarah, ihre Antwort einfach runterzuschlucken und das Thema zu wechseln. Aber dann siegte der Drang, sich rechtfertigen zu wollen. »Ich muss die Socken anfassen und fühlen, bevor ich sie kaufe. Und was weiß ich, was nächstes Jahr ist. Vielleicht brauche ich dann keine warmen Männersocken mehr.«
»Ach komm schon«, Tina lachte laut. »Wir wissen beide, dass du auch nächstes Jahr vor Weihnachten wieder in der Suppenküche aushelfen wirst. Und auch nächstes Jahr wirst du wieder ein paar Obdachlosen warme Socken schenken. Ich wüsste nicht, was in aller Welt passieren könnte oder müsste, um dich von dieser Gewohnheit abzubringen.«
»Vielleicht bin ich ja irgendwann mal verheiratet und habe fünf Kinder, und dann habe ich keine Zeit mehr, mich um andere Hilfsbedürftige als meine eigene Familie zu kümmern«, gab Sarah trotzig zurück.
Tina schien die Unterhaltung zusehends zu amüsieren. Grinsend beugte sie sich über den Tisch und sagte leise: »Du scheinst zu vergessen, dass du auf Frauen stehst.«
Sarah beugte sich ebenso verschwörerisch zu Tina und antwortete: »Und du scheinst zu vergessen, dass auch zwei Frauen heiraten und Kinder haben können.«
»Und du denkst, dass du dann Weihnachten plötzlich mögen wirst?« Tina hatte sich wieder aufrecht hingesetzt und sprach in normaler Lautstärke weiter. »Wir wissen doch beide, dass du Weihnachten nicht ausstehen kannst. Sei mir nicht böse, aber ich sehe dich nicht in der Küche stehen und mit deinen Kindern Plätzchen backen, während im Radio Last Christmas gespielt wird.«
Als wäre dieser Tag nicht schon schlimm genug, musste Sarah nun auch noch die alljährliche Diskussion über Weihnachten über sich ergehen lassen. Bevor sie antwortete, bestellte sie sich noch ein Glas Wein beim Kellner. »Es gibt ja wohl auch etwas dazwischen, oder? Hätte ich eine glückliche Beziehung, dann würde mir Weihnachten vielleicht auch etwas bedeuten. Da dem jetzt aber nicht so ist, kann ich ebenso gut meine Zeit mit Menschen verbringen, denen Weihnachten auch nichts bedeutet. Und die nicht einmal eine Wohnung haben, in der sie sich verkriechen können, wenn sie wollen. Ich bin es leid, mich jedes Jahr dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich ein paar Obdachlosen was zu essen auf einen Teller gebe und ihnen ein Paar Socken schenke.« Sie hatte sich richtig in Rage geredet.
»Ach Sarah. Du weißt genau, dass es darum nicht geht. Ich mache mir Sorgen um dich. Und dafür muss ich mich anscheinend jedes Jahr rechtfertigen.«
Sarah konnte die Traurigkeit in Tinas Stimme hören. Sie hatte ja Recht. Aber wohin sollte diese Diskussion führen? Sie konnte diesem ganzen romantischen Weihnachtsgetue einfach nichts abgewinnen. Und sie war bestimmt nicht allein damit. Diese Frau Zuger heute im Kaufhaus wirkte auch nicht in Wir-haben-uns-plötzlich-alle-lieb-Weihnachtsstimmung. Wie kam denn jetzt diese unmögliche Person plötzlich in Sarahs Gedanken?
»Lass uns nicht streiten«, bat sie.
Tina ging nur zu gern auf das Angebot ein. Die Gesprächsthemen wurden unverfänglicher, sie begaben sich wieder auf neutralen Boden und hatten noch einen schönen Abend zusammen.
Das letzte Wochenende vor Weihnachten! Der Samstag, an dem sich Sarah jedes Jahr auf den Weg zur Suppenküche machte. Sie half nicht nur an Weihachten dort aus, ließ sich eher sporadisch zu Diensten einteilen. Der Dezember stand allerdings jedes Jahr fest in ihrem Terminkalender. Heute gab es etwas Besonderes zu essen, es gab Geschenke, und die Menschen hielten sich an diesem Tag länger als sonst in den Räumlichkeiten auf. Sie schienen die Wärme und Geborgenheit in dieser Zeit des Jahres besonders zu genießen.
»Du bist heute aber früh dran«, wurde Sarah in der Suppenküche begrüßt. Emma war so etwas wie die ›Mutter‹ hier, die alles zusammenhielt. Sie organisierte die Einsätze der freiwilligen Helfer, kümmerte sich um Spenden und hatte vor allem immer ein offenes Ohr für die Bedürftigen.
»Ich dachte, heute gibt’s bestimmt mehr als genug vorzubereiten. Und ich konnte sowieso nicht mehr schlafen.«
»Das ist schön. Wir bekommen heute nämlich eine Neue. Ich mag das eigentlich gar nicht, eine Neue an Tagen wie heute einarbeiten zu müssen. Aber es hat sich jetzt einfach so ergeben. Sie wird bald auftauchen, ich habe sie gebeten, zeitig hier zu sein. Denkst du, du könntest dich um sie kümmern? Ihr alles zeigen, sie einarbeiten und ein bisschen an die Hand nehmen? Damit würdest du mir viel abnehmen.«
Natürlich stimmte Sarah zu. Für sie spielte es keine Rolle, was sie tun musste, solange sie einfach nur helfen konnte. Und neue Helfer waren jederzeit willkommen, weil man so die Arbeit über das ganze Jahr gesehen auf mehrere Schultern verteilen konnte. Allerdings kamen die wenigsten regelmäßig. Gerade an Weihnachten entdeckten viele ihre soziale Ader, aber spätestens im Februar war sie wieder vergessen.
»Oh, da kommt sie schon«, sagte Emma in Sarahs Überlegungen hinein. Dann stürmte sie auf die Frau zu, die etwas verloren an der Eingangstür stand. Sarah schielte verschmitzt zu den beiden hin, konnte aber nicht viel erkennen. Vage hatte sie das Gefühl, die Frau schon einmal gesehen zu haben. Noch ehe sie sich weiter Gedanken machen konnte, kamen die zwei auf sie zu.
»Sarah, das ist unser neuestes Mitglied. Nicole, darf ich dir Sarah vorstellen? Sie wird sich heute um dich kümmern.«
Sarah ignorierte die ausgestreckte Hand der Fremden und blickte ihr stirnrunzelnd in die Augen. »Sie?«
»Ähm, hallo. Also, ich bin Nicole, und Emma meinte gerade, wir duzen uns hier alle?« Verunsichert zog die Neue die Hand wieder zurück. »Und . . . kennen wir uns, oder wie darf ich die Begrüßung verstehen?« Sie hatte anscheinend etwas Selbstsicherheit zurückgewonnen, denn sie lächelte Sarah jetzt offen an.
»Ich glaube kaum, dass Sie . . . dass du mich kennst. Aber wir hatten letzten Samstag den ein oder anderen Zusammenstoß.« Sarah tat sich schwer, die Frau zu duzen. Frau Zuger aus dem Kaufhaus! Und es war leichter, sich über eine arrogante Frau Zuger zu ärgern als über Nicole. Nicole in bequemen Klamotten, mit offenen Haaren und offenem Ausdruck in den Augen. Kein bisschen Arroganz, kein bisschen Hochnäsigkeit. Sie stand einfach in diesem kalten, unpersönlichen Raum und schien glücklich, hier zu sein.
»Ach, hatten wir?«, fragte sie amüsiert. »Schade, aber daran erinnere ich mich wirklich nicht mehr. Samstag war aber ehrlich gesagt auch ein furchtbar schrecklicher Tag, den ich am liebsten vergessen würde.« Als Sarah immer noch nichts sagte, fügte sie noch hinzu: »Und wenn ich sehe, wie böse du mich anschaust, dann würdest du unseren Zusammenstoß wohl auch lieber vergessen. War ich sehr unhöflich?«
Plötzlich kam Sarah sich kindisch vor. Wollte sie wirklich eine Frau anhand einer kurzen Begegnung im Kaufhaus beurteilen, wenn sie doch die Chance hatte, sie wirklich kennenzulernen? Auch wenn diese Frau hier so gar nichts von der Ziege im Kaufhaus hatte – aber es war ein und dieselbe Frau Zuger.
Emma legte einen Arm um Sarah und zog sie ein wenig beiseite. »Was ist denn los mit dir? Warum zischst du die Neue so böse an? So unhöflich kenne ich dich gar nicht. Geht’s dir nicht gut?«
»Entschuldige. Nein, es ist alles in Ordnung mit mir.« Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. »Hi, ich bin Sarah«, wandte sie sich an Nicole. »Schön, dass du da bist. Wir können heute wirklich jede Hand gebrauchen.«
»Und was war nun am Samstag?«, hakte Nicole nach. Sarahs Stimmungsschwankungen verunsicherten sie.
»Vergessen wir das einfach. Du hattest einen schlechten Tag, und ich hatte heute einen schlechten Start. Liegt wohl an meiner schmerzenden Schulter«, konnte sie sich dann doch nicht verkneifen nachzuschieben. Schließlich waren Nicole und die zugeschlagene Tür der Grund für den blauen Fleck an ihrer Schulter. Doch sie ließ Nicole keine Möglichkeit, etwas dazu zu sagen. »Am besten beginnen wir mit der Deko. Wir wollen alles hier etwas gemütlicher machen. Die Wände, die Tische, überall ein bisschen Farbe und Deko.«
Gemeinsam gingen sie ins hintere Lager und kramten kartonweise Weihnachtsdekoration hervor. Wenige Minuten später kamen sie schwer bepackt zurück in den Raum, in dem die Essensausgabe in wenigen Stunden stattfinden würde.
»Na, dann wollen wir mal!« Emma ergriff sofort die Initiative, delegierte die Arbeit, sortierte Kartons, drückte abwechselnd Sarah und Nicole Dinge in die Hand mit genauen Anweisungen, was sie damit tun sollten. »Der Kranz kommt über die Durchreiche zur Küche. Warte, nimm Nicole mit, sie muss die Leiter halten.«
»Emma ist ein toller Mensch«, stöhnte Nicole, als sie außer Hörweite waren.
Sarah lachte, da Nicoles Tonfall sie Lügen strafte. »Du glaubst, sie ist eine Sklaventreiberin, oder?«
»Ein bisschen«, gab Nicole zu. »Aber auf eine gute Art.«
»Sie ist wirklich ein herzensguter Mensch. Und ohne sie würde hier alles zusammenbrechen.« Sarah wusste selbst nicht, warum ihr Ton plötzlich so scharf wurde.
»Oh . . . entschuldige. Ich wollte ihr oder dir nicht zu nahe treten.«
Sarah stieg auf die Leiter. Froh, aus Nicoles Nähe fliehen zu können. Auch wenn sie nicht wusste, woher dieser Drang plötzlich kam. Doch nun stand sie auf der Leiter und war sich Nicoles Blicken mehr als bewusst. »Schon okay«, brummelte sie vor sich hin. »Ich bin wohl etwas gereizt heute. Was bin ich froh, wenn dieses Weihnachten endlich vorbei ist und die Menschen wieder normal werden.« Sie sprach so leise, dass Nicole es kaum verstehen konnte. Hatte sie gar nur mit sich selbst gesprochen?
»Warum magst du mich eigentlich nicht? Habe ich mich so danebenbenommen letzten Samstag?«
Sarah stieg gerade die Leiter hinab, als Nicols direkte Frage sie unvermittelt traf. So unvermittelt, dass sie ins Stolpern geriet und die letzte Stufe verpasste. Ein spitzer Schrei entfuhr ihr, und sie versuchte verzweifelt, sich irgendwo festzuhalten.
›Irgendwo‹ entpuppte sich schließlich als Nicoles Schulter. Ihre Hände packten kräftig zu und retteten Sarah vor dem Sturz auf den Boden.
Wovor sie aber niemand retten konnte, war der Sturz in Nicoles Augen. Der Duft, der ihr in die Nase stieg, meilenweit von dem entfernt, was damals im Kaufhaus an Düften auf sie einprasselte. Die kräftigen, aber doch zärtlichen Hände um ihre Hüften. Und als würde ihr das nicht schon genug weiche Knie bereiten, fragte sie jetzt auch noch viel zu nah und viel zu sanft an ihrem Ohr, ob es ihr gutginge.
»Alles gut, danke.« Hektisch löste sie sich aus den Armen.
Doch Nicole ließ sich nicht so einfach abschütteln. Sie legte ihre Hand auf Sarahs Schulter und wiederholte die Frage von vorhin. »Warum magst du mich nicht? Was war am Samstag los?«
Wütend darüber, wie sie auf Nicole reagierte, antwortete Sarah barsch: »Es ist nichts passiert. Du hast dich benommen wie eine arrogante Ziege, der die Welt gehört. Du hast mir einen blauen Fleck beschert und mir einen Grund gegeben, Weihnachten noch schlimmer zu finden, als ich das eh schon tue.«
»Oh, das tut mir leid. Das ist eigentlich gar nicht meine Art. Aber wie gesagt, am Samstag war ein wirklich schlimmer Tag, und ich musste in der . . . also beruflich . . . musste ich . . . es war einfach . . . manchmal muss man Dinge tun, die einem zuwider sind, und vielleicht habe ich mich am Samstag wie ein Arschloch benommen, weil ich mich wie eines gefühlt habe.«
Wow. Mit so einer leidenschaftlichen und offenen Antwort hätte Sarah nicht gerechnet. Nicole nahm ihr damit tatsächlich den Wind aus den Segeln. »Schon okay«, sagte sie leise und machte sich von Nicoles Umarmung frei.
»Nein, es ist nicht okay, wenn ich dir dadurch Weihnachten vermiese.«
Lachend winkte Sarah ab. »Da gibt’s wahrlich nichts mehr zu vermiesen bei mir. Aber nun lass uns zurück an die Arbeit gehen.«
Kopfschüttelnd blickte Nicole ihr hinterher. Irgendwie wurde sie aus dieser Frau nicht schlau. Doch wenn sie ehrlich war, sie wurde auch aus sich selbst nicht schlau. Oder wie sollte sie sich den Wunsch erklären, dieser Frau, die sie kaum ein paar Stunden kannte, die Freude auf Weihnachten zurückzugeben?
»Das habt ihr wirklich schön gemacht!« Emma klatschte vor Freude in die Hände und blickte jeden der Helfer dankbar in die Augen. Inzwischen hatte sich eine kleine Gruppe im festlich dekorierten Raum versammelt. Das Essen in der Küche war vorbereitet und wartete darauf, verteilt zu werden, die Tische wirkten einladend geschmückt, es spielte leise Weihnachtsmusik. »Ich danke euch allen für euren Einsatz. Egal ob in der Küche, beim Spendeneinsammeln, Dekorieren oder was auch immer ihr heute und das ganze Jahr über geleistet habt. Und bevor wir jetzt allzu sentimental werden, lasst uns die Tür öffnen und das Essen unter die Leute bringen.«
Die fleißigen Helfer klatschten frenetisch Beifall und verteilten sich dann auf ihre Positionen. »Was soll ich jetzt machen?«, fragte Nicole flüsternd. Sie hatte sich wie einige andere eine alberne Nikolausmütze aufgesetzt.
Wie niedlich, dachte Sarah als sie Nicole jetzt ansah. Passend zur Mütze hatten sich ihre Wangen leicht gerötet, und sie wirkte ängstlich und neugierig zugleich. Verdammt!, schimpfte Sarah sich noch in derselben Sekunde. Nur weil sich Emma nach ihrer Ansprache heimlich ein paar Tränchen aus den Augen wischte, hieß das noch lange nicht, dass auch sie gleich sentimental werden musste.
Warum weckte diese Frau so gegensätzliche Gefühle in ihr? Beim Gedanken an die Zicke aus dem Kaufhaus würde sie ihr am liebsten eine knallen – und bei dem Anblick wollte sie sie einfach nur in Arm nehmen.
Sie war so in ihren Gedanken versunken, dass sie beinahe vergessen hätte zu antworten. »Wir haben . . .«, ihre Stimme versagte, hastig räusperte sie sich und versuchte es erneut, »wir haben das so geregelt: Wer den ganzen Vormittag in der Küche steht und das Essen zubereitet, der darf es auch auf die Teller verteilen. Der Rest tut, was eben so anfällt. Tische abräumen, Geschirr spülen, Sauerei aufwischen. Oder sich einfach mal dazusetzen und mit den Leuten reden.«
»Hast du da keine Berührungsängste? Also versteh mich nicht falsch, aber viele sind ja doch alkoholisiert oder riechen streng, und ich habe das Gefühl, dass man mit manchen nicht gerade ein sinnvolles Gespräch führen kann.«
»Gib ihnen einfach eine Chance«, antwortete Sarah. Sie selbst kannte diese Fragen und Zweifel nur zu gut. Und ja, es gab Obdachlose, die stanken und besoffen waren und einen betatschen wollten. Aber es gab auch viele, die froh über ein bisschen Aufmerksamkeit und Interesse an Ihrer Geschichte waren. »Zumal hier nicht nur Obdachlose herkommen. Wir haben auch für Menschen, die nicht so viel haben, immer eine offene Tür. Und gerade vor Weihnachten gibt es viele einsame, traurige Gestalten hier, die froh sind, nicht allein sein zu müssen oder mal etwas Besonderes auf den Teller bekommen möchten.« Sie lächelte Nicole aufmunternd zu. Diese nervöse Frau hatte so wenig mit der geschäftsmäßig aussehenden Frau vom Samstag gemeinsam.
Nicole atmete tief durch und machte sich auf den Weg ins Getümmel.
»Mut hat sie ja«, murmelte Sarah und machte sich dann an die Arbeit.
Wie sich herausstellte, besaß Nicole nicht nur Mut, sondern stellte sich auch sehr geschickt an. Sie hatte eine herzliche, warme Ausstrahlung, die bei allen gut ankam. Sie hatte absolut keine Berührungsängste – und das im wahrsten Sinn des Wortes. Sie tätschelte Hände, legte ihren Arm auf Schultern, streichelte mitfühlend über Rücken. Sie war die perfekte, aufmerksame Zuhörerin, und hin und wieder schien sie tatsächlich eine Träne zu verdrücken. Kurz darauf war sie in der Küche zu sehen, die Ärmel ihrer Bluse hochgekrempelt spülte sie Berge von Geschirr ab. Sie hatte stets einen Blick für anstehende Arbeiten, war gut organisiert und hatte für jeden ein Lächeln übrig.
»Wenn sie dich so fasziniert, dass du sie minutenlang anstarrst, warum bist du dann manchmal so unhöflich zu ihr?«
Sarah zuckte dermaßen zusammen, dass das Geschirr auf ihrem Tablett laut schepperte. Ein paar Köpfe drehten sich zu ihr, darunter auch Nicoles. Kopfschüttelnd griff Emma nach dem Tablett, offenbar aus Angst, dass es sonst noch auf dem Boden landen würde.
»Ach Emma«, seufzte Sarah. »So richtig weiß ich das selbst nicht. Ich habe sie vor ein paar Tagen zufällig auf der Straße getroffen und hatte seitdem ein ganz bestimmtes Bild von ihr vor Augen.«
Emma kniff fragend die Augen zusammen.
»Kein gutes Bild«, gab Sarah kleinlaut zu.
»Und nun bist du verwirrt, weil Sie gar nicht so ist, wie du dachtest?«
»Vielleicht. Und vielleicht ist sie ja wirklich ganz nett.«
Emma nahm Sarah das Tablett aus den Händen. Bislang hatten sie sich beide daran festgehalten. »Und vielleicht«, flüsterte sie ihr dabei verschwörerisch über die Teller hinweg zu, »bist du ja manchmal so unhöflich zu ihr, eben weil sie ganz nett ist.« Das ganz nett betonte sie dabei besonders. Und ohne auf eine Antwort zu warten brachte sie die schmutzigen Teller in die Küche.
Nachdenklich und in Gedanken versunken kramte Sarah ihre Geschenke aus dem Rucksack. Hätte sie doch wirklich beinahe die extra gekauften Socken vergessen. Der Grund, warum sie überhaupt an einem Samstag ins Kaufhaus musste. Es war inzwischen ein liebgewonnenes Ritual geworden. Jedes Jahr kaufte sie fünf Paar warme Wollsocken, und jedes Jahr suchte sie sich fünf Männer aus, die es in ihren Augen am nötigsten hatten und beschenkte sie.
Nachdem auch der letzte Bedürftige die warme Stube verlassen hatte und der letzte Teller gespült war, konnte Sarah es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Sie warf sich ihre warme Jacke über, zog ihre Mütze tief über die Ohren und winkte in die Runde der noch Verbliebenen. »Schöne Weihnachten allen zusammen, wir sehen uns dann im nächsten Jahr!«
Alle winkten, riefen ihr gute Wünsche zu und verabschiedeten sie schließlich in die kalte Nacht.
Tief atmete Sarah die frische Luft ein, als sie vor die Tür trat.
»Warte auf mich«, hörte sie es plötzlich hinter sich rufen. »Darf ich dich ein Stück begleiten?«
»Nicole«, stellte Sarah fest. Sie wusste nicht so recht, ob sie sich über ihr Auftauchen freuen sollte oder nicht. Der Gedanke, die Frau, die solch widersprüchliche Gefühle in ihr weckte, eventuell nie wiederzusehen, machte sie schon traurig. Andererseits war sie müde und hatte nichts anderes als ein warmes Bad und ein gemütliches Bett im Sinn.
»Du weißt doch gar nicht, in welche Richtung ich muss.«
»Egal, zur Not laufe ich einfach wieder zurück. Ich würde mich einfach freuen, ein paar Schritte mit dir gehen zu können. Vielleicht können wir einfach mal ungestört reden? Ich habe das Gefühl, da schwelt so einiges zwischen uns.«
Oh je, das fehlte Sarah gerade noch. Hundemüde sollte sie ein Gespräch führen mit einer Frau, deren Gegenwart sie dermaßen überforderte, dass sie sich schwer damit tat, ihre Gedanken zu sortieren. Geschweige denn sinnvolle Sätze zu bilden. »Es ist ziemlich kalt . . .«, begann sie.
»Ja, stimmt. Dann gehen wir einen Kaffee trinken? Irgendwo? Da vorn ist so ein amerikanisches Diner. Oder wir können auch zu mir, wenn dir das lieber ist?«
»Nicole, sei mir bitte nicht böse. Aber ich bin wirklich sehr, sehr müde und geschafft. Lass uns das einfach ein anderes Mal machen, ja?«
Nicoles Enttäuschung war nahezu greifbar. Ihre Schultern sackten nach unten, sie blicke auf den Boden. »Okay«, gab sie sich leise geschlagen.
Na prima, nun habe ich auch noch ein schlechtes Gewissen. Noch ehe ihr Gehirn richtig nachdenken konnte, hörte sie sich selbst sagen: »Morgen?«
»Wirklich? Ich dachte, du willst mich nur vertrösten, und ich höre nie wieder von dir.«
Sarah fühlte sich ertappt, denn genau das hatte sie eigentlich vorgehabt. Nicole nie wiedersehen, so weit wie möglich vor ihr davonlaufen. Und nun hatte sie eine Verabredung mit ihr. Sie schob es auf ihre Müdigkeit. Und darauf, dass Weihnachten wohl nicht mal an ihr spurlos vorbeizog.
»Mein Auto steht gleich hier. Soll ich dich heimfahren?«, frage Nicole. Sarah wollte schon dankend ablehnen, doch Nicole fiel ihr ins Wort: »Es ist bitterkalt, und du bist müde und willst nach Hause.« Sarah zögerte immer noch, doch ihr Widerstand bröckelte bereits. Verschmitzt lächelnd fügte Nicole hinzu: »Und mein Auto hat Sitzheizung.«
Sarah lachte herzhaft auf. Nicoles offene Art war einfach entwaffnend und unwahrscheinlich liebenswert. Liebenswert? Spinnst du jetzt total?
»Überredet.« sie konnte nicht verhindern, Nicole dabei anzustrahlen.
Im Wageninneren breitete sich die Wärme tatsächlich schnell aus. Das Gebläse spendete innerhalb weniger Sekunden warme Luft, und die Sitzheizung tat ihr Übriges. Sarah bedauerte es bereits, dass es nur ein kurzer Weg zu ihrer Wohnung war. Bald schon musste sie die wohlige Wärme verlassen und wieder in die Kälte hinaus.
Ja, sie fühlte sich wohl. Sie müsste jetzt einfach nur die Augen schließen und würde sicher sofort einschlafen. Ein tiefes Gefühl der Geborgenheit umhüllte sie. Die angenehme Müdigkeit, die Wärme, Nicoles Gegenwart. So albern dieser Gedanke auch schien, aber es war der perfekte Augenblick. Sie hätte ewig hier sitzen können.
»Oder soll ich dich die ganze Nacht über spazierenfahren, das mach ich wirklich gern.« Obwohl Nicole sehr sanft gesprochen hatte, zuckte Sarah zusammen. Nicole hatte den Wagen am Straßenrand geparkt.
»Oh Gott, sag nicht, dass ich tatsächlich eingeschlafen bin.«
»Ein bisschen.« Nicole lächelte verträumt. »Und es ist mir nicht leichtgefallen, dich zu wecken.«
Sarah suchte Nicoles Augen, fand sie im Schimmer der Straßenlaterne und hatte wieder dieses Gefühl vom perfekten Augenblick. Nicoles Hand zuckte leicht, und Sarah war sich sicher, dass sie ihr gleich über die Wange streichen würde.
Doch die Hand legte sich unverrichteter Dinge wieder auf Nicoles Bein. »Du hast mir deine Hausnummer nicht verraten«, sagte Nicole leise. »Du hast mir nur die Straße gesagt, und nun weiß ich nicht, wo ich hinmuss. Aber eigentlich hätte ich dich am liebsten mit zu mir genommen.«
Diese Worte wirkten so leise und unwirklich, dass Sarah nicht sicher war, ob sie sie wirklich gehört hatte, oder ob es Wunschdenken war. Wunschdenken? Sie schüttelte sich ein wenig und wusste selbst nicht, ob sie den Schlaf oder diese eigenartigen Gedanken abschütteln wollte. Sie deutete ein Stück die Straße hinunter auf das Haus, in dem sie wohnte.
Nicole fuhr weiter und hielt direkt davor an. »Darf ich dich morgen abholen?« Ihre Stimme klang nun wieder etwas lauter, sachlicher. Auch wenn ihre Augen immer noch diesen verklärten Ausdruck hatten. Oder war es nur die Angst, dass Sarah doch noch einen Rückzieher machen würde?
Ich möchte nicht aussteigen. Ich möchte bei dir bleiben. Alles in Sarah schien sich an Nicole klammern zu wollen. Doch es gab keinen vernünftigen Grund zu bleiben. Sie war schließlich diejenige, die Nicole eine Abfuhr erteilt hatte. Nun musste sie auch die Konsequenzen tragen und aussteigen.
Mit einem tiefen Seufzer setzte sie sich aufrecht in den Autositz. »Ja, gern. Danke fürs Heimfahren.«
Ursprünglich wollte sie sich für den Abend mit Nicole verabreden. Doch der Gedanke noch so viele Stunden warten zu müssen, gefiel ihr gar nicht. Nach einigem hin und her einigten sie sich darauf, sich am späten Vormittag zu treffen.
»Schön, dann bin ich um elf Uhr da!« Nicole lächelte.
Zu wissen, dass Nicole schon bald wieder vor ihrem Haus stehen würde, erleichterte Sarah das Aussteigen ungemein. Sie eilte mit großen Schritten durch die Kälte in ihre Wohnung. Dort entschied sie sich, dass sie dringend eine Dusche nötig hatte. Anschließend kuschelte sie sich hundemüde in ihr warmes Bett. Und starrte mit offenen Augen die Decke an. Warum in aller Welt hatte sie sich nur mit Nicole verabredet? Und das auch noch so früh am Morgen? Der Moment im Auto, das hatte sie irgendwie einfach überwältigt. Da war so viel Wärme – und das nicht nur von der Sitzheizung. Da war Nicole ihr so nah. Doch jetzt, einsam in ihrem Bett liegend, war sie davon überzeugt, sich das nur eingebildet zu haben. Nicole war einfach nur höflich und Sarah übermüdet gewesen. Da war nichts zwischen ihnen, was Anlass zur Sorge gegeben hätte.
Nachdem sie sich das fünfmal vorgesagt hatte – einmal sogar laut in die stille Nacht hinein –, glaubte sie es zumindest so sehr, dass sie beruhigt einschlafen konnte.
Sarah war unsicher. Unsicher, was sie anziehen sollte, unsicher, ob sie in der Wohnung oder vor der Tür unten auf Nicole warten sollte. Unsicher, was sie zusammen unternehmen sollten. Unsicher, was sie fühlte.
Noch ehe sie die Wo-warte-ich-Frage endgültig für sich klären konnte, wurde ihr die Entscheidung abgenommen. Nicole stand über zehn Minuten zu früh vor der Tür.
»Ich hoffe ich bin nicht aufdringlich«, begrüßte sie Sarah. »Aber ich habe gestern noch gewartet, dass du sicher in die Wohnung kommst. Und dabei ist mir aufgefallen, dass in der Erdgeschosswohnung Licht anging. Also habe ich mir gedacht, ich klingle einfach mal hier, deinen Namen wusste ich ja leider nicht.«
»Das ist schon okay.« Sarahs vernünftige Überlegungen der letzten Nacht schienen beim Öffnen der Tür die Flucht ergriffen zu haben.
»Außerdem dachte ich mir, kannst du dir hier dann gleich noch in eine Vase stellen.« Vorsichtig hielt Nicole einen bunten Blumenstrauß hoch.
Sarahs Herz machte einen wilden Hüpfer. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie jemals Blumen von einer Frau bekommen hatte. »Das ist sehr aufmerksam von dir. Die sind wunderschön, aber das wäre wirklich . . .«
»Ich weiß«, fiel Nicole ihr ins Wort. »Aber wäre die Welt nicht ein trauriger Ort, wenn wir nur tun würden, was nötig wäre?«
Dem war wahrlich nichts entgegenzusetzen. Sarah bat Nicole in die Wohnung. Nervös kramte sie im Schrank nach einer Vase, die groß genug für den Strauß war. Dann verschwand sie wortlos in die Küche und kam kurz darauf wieder zurück. Die Blumen waren versorgt, doch was sollte sie mit Nicole anfangen?
»Schön hast du es hier.« Nicole drehte sich begeistert in dem – wie Sarah fand – viel zu kleinen Wohnzimmer. Doch sie erwartete offenbar keine Antwort auf das Kompliment. »Wollen wir essen gehen? Ich habe dir doch von dem Diner erzählt, und ich hätte Lust auf einen guten Burger.«
Froh darüber, dass ihr die Entscheidung so leicht gemacht wurde, griff Sarah nach ihrer Jacke, und sie machten sich auf den Weg.
»Wohnst du hier in der Nähe, oder woher kennst du den Diner?«, fragte Sarah, als sie im Auto saßen. Einer Nobelkarosse, wie sie bemerkte. Am Abend zuvor war ihr das gar nicht so aufgefallen. Und wie am Abend zuvor genoss sie das Gefühl, tief in den Sitz zu versinken.
»Nicht wirklich, ein kleines Stückchen außerhalb der Stadt. Aber für einen guten Burger ist mir kein Weg zu weit.« Dabei lachte sie, doch Sarah hatte das Gefühl, dass sie das durchaus ernst meinte.
»Und, gefällt es dir hier?«, fragte Nicole wenig später. Sie hatten es sich in einer Ecke im Diner gemütlich gemacht. Und gemütlich traf es wirklich exakt. Sie saßen sich auf einer knallroten, weichen Lederbank gegenüber. Es gab jede Menge Deko im ganzen Raum, angefangen von Leuchtreklame bis hin zu einem Motorrad, so dass jeder Tisch Privatsphäre besaß und man sich nicht wie auf dem Präsentierteller fühlte. Im Hintergrund spielte leise und unaufdringlich Musik, und obwohl fast alle Tische besetzt waren, fühlte Sarah sich, als wäre sie mit Nicole allein.
»Es ist wunderbar hier. Fast ein bisschen wie Urlaub«, schwärmte sie.
Was folgte waren lustige Anekdoten, die die beiden Frauen im Urlaub erlebt hatten, Schwärmerei über den Burger, den sie bestellt hatten und gerade verspeisten, und manchmal summte Nicole sogar ein bisschen vor sich hin, wenn ihr ein Lied aus dem Radio besonders gut gefiel.
»Kannst du tanzen?« fragte Sarah, als Nicole bei einer Ballade verträumt die Augen geschlossen hatte.
Sie öffnete die Augen und schaute Sarah direkt an. »Leider nicht«, gab sie bedauernd zu. »Und du?«
»Ich tanze eigentlich ganz gern. Aber mir mangelt es ehrlich gesagt an Gelegenheiten. Ich bin nicht gerade eine Partymaus oder so. Und außerdem gibt es ja nicht so viele Möglichkeiten, mit einer anderen Frau zu tanzen, wenn man nicht gerade in einer Lesbendisko herumhüpfen möchte.« – Oh, das war ihr jetzt so herausgeschlüpft. Wusste Nicole eigentlich, dass sie auf Frauen stand? Sie kramte in ihrem Gehirn, worüber hatten sie die ganze Zeit gesprochen? Nein, niemals über ihre Vorliebe für Frauen, da war sie sich sicher. Sie war einfach davon ausgegangen, dass das bei Nicole auch so war. Aber wirklich ausgesprochen hatte es bislang keine von beiden.
»Das kenne ich.« Nicole ließ die Worte ein paar Sekunden wirken, bevor sie weitersprach. »Meine Ex-Freundin wollte auch immer tanzen. Aber im Gegensatz zu dir gab sie sich mit dem Disko-Herumhüpfen zufrieden. War ja auch die beste Gelegenheit, um andere Frauen aufzugabeln, während ich am Wochenende arbeiten musste.«
»Oh, das tut mir leid.« Das waren jetzt fast ein bisschen zu viele Informationen auf einmal für Sarah.
»Muss es nicht. Es ist schon eine ganze Weile her.« Sie schob ihren Teller beiseite und legte ihre Hand auf Sarahs Arm, der ausgestreckt auf dem Tisch lag. »Aber schön, dass das zumindest schon mal zwischen uns geklärt ist.«
Sarah wurde heiß unter Nicoles Blicken und ihrer Berührung. »Ja«, war alles, was ihre zittrige Stimme zustande brachte.
»So, hat es den Damen geschmeckt?« Die Kellnerin griff mit geübten Griffen nach den Tellern, im selben Moment nahm Nicole ihre Hand von Sarahs Arm. Nachdem die Kellnerin ein eifriges Nicken als Antwort bekommen hatte, fragte sie, ob vielleicht noch Platz für einen Nachtisch wäre.
Die zwei winkten ab, bestellten aber Kaffee. Soll ja gut für die Verdauung sein, dachte Sarah. Und es hatte natürlich nichts damit zu tun, dass sie die gemeinsame Zeit mit Nicole in die Länge ziehen wollte.
Wie sich herausstellte, war diese Angst unbegründet. Nicole machte keine Anstalten, das gemeinsame Essen beenden zu wollen. Sie ließ sich ihre Kaffeetasse immer wieder aufs Neue von der Kellnerin füllen.
»Darf ich dir jetzt erklären, warum ich letzte Woche wie ein Trampel durch die Gegend gelaufen bin?«, fragte Nicole in einem der seltenen stillen Momente.
»Das musst du nicht.«
»Und wenn ich es aber möchte?« Ihre Stimme zitterte ein wenig.
»Also gut, ich höre zu.« Sarah spürte, dass es Nicole sehr wichtig war, diesen Vorfall endlich aufklären zu können.
»Um das vom Samstag zu erklären, muss ich allerdings etwas weiter ausholen.«
»Ich habe alle Zeit der Welt.«
»Mein Vater hat in jungen Jahren ein sehr erfolgreiches Geschäft aufgebaut. Ein Export-Unternehmen. Es war ihm immer gelungen, den anderen einen Schritt voraus zu sein. Er hat in Märkte investiert, von denen andere die Finger ließen, und kurz darauf, wenn der Boom losging, hatte er seinen Fuß bereits fest in der Tür. Für so etwas hatte er wirklich ein Händchen. Das dumme war nur, dass er von seinem Sohn das gleiche erwartete. Mein Bruder hatte aber nie auch nur einen Funken Interesse an der Firma. Ich hingegen war da sehr offen, einfach, weil mir imponiert hat, was er erschaffen hatte. Aber er hat es nie verwunden, dass sein Sohn ihm die kalte Schulter zeigte.«
Nachdenklich schaute Nicole aus dem Fenster, doch was sie sah, war nicht der Parkplatz davor, sondern die Vergangenheit. Die Streitigkeiten in der Familie, der Kampf um Anerkennung. Der Versuch, dem Vater zu beweisen, dass sie die Firma auch allein würde führen können.
»Weißt du«, sie kehrte zurück in die Gegenwart, »ich dachte wirklich, ich hätte ihn überzeugt. Ich dachte, er wüsste, dass er sich auf mich verlassen könnte, dass ich das Zeug dazu hatte, die Firma allein zu führen. Ich dachte, wir hätten alle in unserer Familie unseren Frieden damit gemacht.«
»Aber dem war wohl nicht so«, warf Sarah vorsichtig ein.
»Das erfuhren mein Bruder und ich dann bei der Testamentseröffnung. Meine Mutter war ein Jahr zuvor gestorben, mein Vater hatte seine letzten Monate damit verbracht, verbittert zu sein. Mein Bild von ihm, dem tollsten Papa der Welt, war ziemlich ins Wanken geraten. Auch wenn ich immer noch versuchte, ihn zu verstehen und sein Verhalten vor anderen rechtfertigte. Nachdem er gestorben war, gingen wir alle davon aus, dass ich seine Nachfolgerin sein würde. Schließlich hatte ich das Geschäft schon jahrelang geführt, auch wenn er immer noch seine Finger mit im Spiel hatte. Doch dann kam der große Knall: Er vermachte meinem Bruder einundfünfzig Prozent der Firma, mir den Rest, und mein Bruder wurde als Geschäftsführer festgeschrieben.«
»Dein Bruder wollte aber doch gar nicht in die Firma, also hätte er dir ja nur seine Anteile übertragen müssen, oder geht das nicht so einfach? Entschuldige, wenn ich so naiv frage, aber ich kenne mich in solchen Dingen nicht besonders gut aus.« Sarah fühlte sich gerade etwas überfordert. Nicole eine Geschäftsfrau in der eigenen Firma? Familiendramen wie in Soap Operas?
Nicole knetete nervös ihre Hände. »Theoretisch wäre das möglich gewesen, ja. Aber mein Vater hat sich ein paar nette juristische Spitzfindigkeiten mit seinem Anwalt ausgedacht, so dass Stefan nicht aus der Geschichte herauskam. Er musste ein Jahr in der Firma aktiv mitarbeiten, sonst hätte er alles verloren. Und mit alles meine ich wirklich alles! Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem Willen meines Vaters zu beugen. Wie mir auch. So hat es mein Vater geschafft, dass wir am Ende alle unglücklich waren.«
Nicole wandte den Blick von Sarah ab, damit sie ihre feuchten Augen nicht sehen konnte. Doch sie hatte es bereits gemerkt. Ohne nachzudenken rutschte sie ums Eck und setzte sich eng neben Nicole. Erschrocken stellte sie fest, dass Nicoles Hand eiskalt war, als sie danach griff.
»Blöde Idee, das in der Öffentlichkeit zu erzählen«, stellte Nicole halb lachend, halb weinend fest. »Aber ehrlich gesagt rede ich nicht oft darüber, deswegen bin ich selbst etwas überrascht, wie mich das emotional mitnimmt.«
»Es ist alles gut«, beruhigte Sarah sie. »Hier kann uns keiner sehen oder hören.« Sie schaute sich im Lokal um, fast alle Tische waren leer. »Machen die irgendwann zu?«, fragte sie mit einem Blick auf die Kellnerin, die Tische sauberwischte.
»Nein, die haben fast rund um die Uhr offen. Wir können also ruhig noch bleiben, wenn du nichts anderes vorhast.«
»Hab ich nicht.« Sie spürte, dass Nicoles Hand langsam wieder warm wurde. Wann hatte sie eigentlich angefangen, ihre Hand zu streicheln? Und wann hatte Nicole ihre Finger um Sarahs Finger geschlungen?
»Und das war Samstag?«, fragte sie, um das Gespräch wiederaufzunehmen.
»Was?« Nicole schaute stirnrunzelnd zu ihr hoch. »Ach, das Testament? Nein, nein. Das alles ist schon länger her. Die eigentliche Geschichte beginnt jetzt erst.«
»Oh, na da bin ich aber gespannt.« Das Drama ging noch weiter?
»Mein Bruder stimmte den Bedingungen zu. Er sagte mir, er würde das eine Jahr absitzen. Ich solle mich weiterhin um alles kümmern, er sei da, wenn ich ihn brauchte, unterschriebe, was ich wollte, nähme an Sitzungen teil, wenn es nötig sei. Und wenn die Zeit abgelaufen wäre, dann würde er sein Leben zu leben anfangen. Er träumte schon immer von einer Karriere als Musiker, und mit dem Geld, das ich ihm ausbezahlen würde, hätte er ein nettes Startkapital.«
»Aber so ist es wohl nicht gelaufen, oder?«
»Dieses auf erzwungene Leben machte ihn todunglücklich. Er konnte nicht verstehen, warum unser Vater ihm das angetan hatte. Der Frust, wie er ihn selbst nach seinem Tod noch im Griff hatte, das war einfach zu viel für ihn. Eines Tages kam er zu spät zu einem Geschäftsessen, und ich habe sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Er war viel zu gut gelaunt, viel zu gesprächig, viel zu ausgelassen.«
»War er betrunken?«
»Er war high. Und es gefiel ihm. Mit Drogen konnte er das alles viel besser ertragen, wie er immer wieder betonte. Ich muss dir ja wohl nicht erzählen, dass er immer tiefer rutschte, die Kontrolle mehr und mehr verlor und schließlich vor dem Nichts stand. Er hatte Schulden, die falschen Freunde und hatte schon den einen oder anderen Geschäftskunden vergrault. Wir hatten einige sehr unangenehme Gespräche, ich habe alles versucht, ihn wachzurütteln, aber ich bin überhaupt nicht mehr zu ihm durchgedrungen.« Nicole drückte Sarahs Hand und lächelte ihr dankbar zu. Ihre Stimme war jetzt ganz leise, als sie weitersprach. »Er muss sehr verzweifelt gewesen sein. Denn er hat Firmengelder veruntreut, um seine Schulden zu zahlen und an neue Drogen zu gelangen.«
»Oh mein Gott!« Sarah war erschüttert.
»Der hat mir leider auch nicht geholfen«, sagte Nicole traurig. »Plötzlich steht die Polizei vor der Tür, dein eigener Bruder wird verhaftet, du selbst stehst unter Verdacht, und das Lebenswerk deines Vaters bröckelt.«
Die Kellnerin lief mit ihrer Kaffeekanne vorbei und blickte fragend zu Sarah. Die schüttelte nur den Kopf, sie wollte nicht, dass sie jetzt gestört wurden.
»Ich habe Monate gebraucht, das Chaos wieder zu ordnen. Um die Firma wieder auf gesunde Beine zu stellen, war einiges an Reorganisation nötig. Und am Samstag hatte ich den letzten Schritt vor mir. Einerseits war ich froh, dass nun die Dinge wieder ihren geregelten Gang liefen, andererseits war der letzte Schritt auch mit Abstand der schwerste.«
Sie machte eine Pause und atmete tief durch.
»Ich musste fünf meiner Mitarbeiter entlassen. Langjährige Mitarbeiter, mit Familie. Ich meine, wer braucht das Geld heutzutage nicht, und bisher musste ich nur Kündigungen aussprechen, wenn Mitarbeiter nicht fähig waren, ihre Arbeit korrekt zu erledigen. Aber guten Kollegen zu kündigen, nur weil mein eigener Bruder ein Krimineller war, das hat mir wirklich den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich fühlte mich wie das größte Arschloch auf dieser Welt, und auch, wenn mir keiner wirklich Vorwürfe machte, so konnte ich doch die Wut in ihren Augen lesen. Die Frage: ›Warum ich?‹«. Aber ich hatte mir sehr lange Gedanken darüber gemacht, wen ich opfern musste. Ja, es tat mir um jeden einzelnen leid, aber es hätte mir auch um die leidgetan, die bleiben dürfen.«
Sarah fehlten die Worte. Nicole sah aus, als würde sie das alles gerade noch einmal durchleben, und Sarah saß hilflos daneben. Was konnte man da auch Kluges darauf antworten? »So grausam das auch für dich war, aber immerhin konntest du die Firma und damit ja auch einige Arbeitsplätze retten.«
»Lieb, dass du das sagst. Und wenn ich darüber nachdenke, dann weiß ich, dass das stimmt. Aber in diesem Moment war mir das überhaupt kein Trost. Und weißt du, was passiert ist, nachdem ich den Kollegen erklärte, dass ich ihnen am Montag die Kündigung aussprechen würde? Sie kamen ein paar Stunden später zu mir und bedankten sich für die gute Zusammenarbeit. Sie beteuerten mir, dass ich keine Schuld an dem Dilemma trug, dass einzig mein Bruder verantwortlich war und selbst mein Vater in ihren Augen eine gewisse Mitschuld trug. Sie waren so nett und warmherzig zu mir, dass ich mich gleich noch viel schrecklicher fühlte. Also habe ich sie und ihre Familien für den Sonntag zu einer Feier bei mir eingeladen und bin ins Kaufhaus gestürmt, um Geschenke für alle zu besorgen.«
»Und da bist du auf mich gestoßen.« Sarah konnte jetzt verstehen, warum Nicole wie eine Furie durch den Laden gestürmt war.
»Ich war wie in Trance. Ich habe einfach alles um mich herum ausgeblendet, alle Gefühle weggedrückt und wollte einfach nur so schnell wie möglich meine Einkäufe erledigen. Und in solchen Momenten«, Nicole lachte ein wenig, »stelle ich auf arrogante Geschäftsfrau um.«
»Das ist eine ziemlich krasse Geschichte.« Sarah ließ sich gegen die Rückenlehne fallen.
»Die ich noch keinem so ausführlich erzählt habe.«
Verlegen lächelte Sarah sie an. »Danke«, flüsterte sie. Und nach einem Augenblick, in dem sie in Nicoles Augen versank, fragte sie: »Was ist aus deinem Bruder geworden?«
»Er sitzt seine Strafe ab, versucht von den Drogen loszukommen und möchte mit mir und seinem alten Leben nichts mehr zu tun haben.«
»Das ist aber traurig.« Sarah hatte keine Geschwister und konnte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, einen Bruder zu haben, mit dem man keinen Kontakt mehr hatte.