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Frauenheld Klaus Fellbach ist ermordet worden – ein neuer Fall für Kommissarin Renni und Rechtsmedizinerin Dr. Monika Kowalski. In die Quere kommt ihnen jedoch die arrogante Staatsanwältin Charlotte Ahrens, die sich zu Rennis Missfallen sehr schnell an einer gewissen Bernadette Ernst als Mörderin festbeißt. Erst kurz zuvor ist Bernadette aus der JVA ausgebrochen, in der sie wegen des Mordes an ihrer Freundin Emmi einsaß. Und weil der Ermordete scheinbar ein Verhältnis mit Emmi hatte, steht Eifersucht als Tatmotiv für Ahrens fest. Doch Renni beginnt schon bald an Bernadettes Schuld zu zweifeln, denn der Fall ist komplizierter als gedacht – und als es ein zweites Mordopfer gibt, merkt Renni, dass sie mit ihren Ermittlungen in ein Wespennest gestochen hat ...
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Seitenzahl: 394
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Ein Renni-und-Monika-Thriller
© 2019édition el!es
www.elles.de [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-279-4
Herzlich bedanken möchte ich mich bei Sima G. Sturm. Ihre wertvolle Unterstützung hat dieses Buch erst möglich gemacht.
Das Klirren einer Schlüsselkette durchbrach ihre Gedanken, und sie sah verwirrt auf. Als könnte sie sich nicht erinnern, wie sie an diesen Ort gekommen war.
Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben und herumgedreht. Das Geräusch erschien unnatürlich laut.
Sie drehte den Kopf, erblickte die in Weiß gekleidete Gestalt, die eintrat.
»Es gibt Mohnbrötchen. Die mögen Sie doch, nicht wahr?« Eine sanfte, tiefe Stimme. So unpassend für die große Pflegerin.
Bernadette stand auf und ging auf die Pflegerin zu, die sie freundlich anlächelte.
Mit einer ansatzlosen Bewegung schoss ihr Bein in die Höhe, traf die Pflegerin am Kinn. Der lange Körper fiel um wie ein gefällter Baum.
Vorsichtig, aber dennoch zielgerichtet huschte Bernadette zu ihr, legte ihre Finger auf die Halsschlagader. Sie spürte, wie das Blut pochte. Sie hatte den Tritt exakt berechnet. Schließlich wollte sie die Pflegerin nicht töten. Nur raus hier.
Schnell zog sie die Frau in den Raum hinein, entkleidete sie ihres Kittels, hievte sie auf die Schlafliege an der Wand und deckte sie zu. Die Schlüssel klapperten verheißungsvoll in der Kitteltasche, als sie ihn anzog. Das war der Weg nach draußen. Nur musste sie noch den Weg bis zum Ausgang überwinden.
Sie war bisher wie eine Schlafwandlerin durch die Gänge geschlurft, von ihrem Zimmer zu Untersuchungen oder Therapie und zurück, aber ihr fotografisches Gedächtnis hatte sich von dem Schock, den sie erlitten hatte, nicht beirren lassen. Sie konnte die Bilder wie aus einem Album abrufen.
Bilder, Gesichter, Reaktionen, Uhrzeiten. Wann viele Leute da waren und wann wenige. Wie viele es waren. Wo sie standen. Wie sie sich verhielten.
Jetzt war es Morgen, früher Morgen, aber schon Zeit fürs Frühstück, denn man aß zeitig hier, egal, welche Mahlzeit es war. Zur Frühstückszeit war immer eine Menge los, alle kamen und gingen, und die Angestellten des Hauses waren morgendlich müde, mussten erst richtig an ihrem Arbeitsplatz ankommen. Viele rieben sich noch den Schlaf aus den Augen. Das war günstig.
Sie blickte auf das Tablett, das die Pflegerin auf dem Tisch am Eingang abgestellt hatte. Nein, eigentlich mochte sie keine Mohnbrötchen.
Den Kopf gesenkt ging sie an dem Tisch vorbei, huschte mit dennoch energischen Schritten – die Pflegerinnen waren immer an ihren energischen Schritten zu erkennen – durch den Gang, der Treppe zu. Schnell lief sie hinunter. Bis jetzt hatte niemand sie aufgehalten.
Sie hatte den Notausgang in ihrem Gedächtnis abgespeichert. Dort musste sie hin. Notausgänge durften nie verschlossen sein. Brandschutzvorschriften.
Am Ende des Ganges sah sie das rote Emblem leuchten. Sie ging darauf zu. Mühsam beherrschte sie sich, nicht zu laufen. Sie durfte auf keinen Fall auffallen.
»Schwester!«
Jemand rief sie an, aber sie drehte sich nicht um.
»Schwester, helfen Sie mir doch mal!«
Sie wandte leicht den Kopf. Sie kannte die Frau nicht, die sie gerufen hatte. Es würde Aufsehen erregen, wenn sie weiterging. Mit einem schiefen Lächeln blickte sie zurück. »Ich hab’s eilig.«
»Nur einen Moment.« Es war eine junge Ärztin, die offenbar mit einem Rollstuhl kämpfte, der sich nicht aufklappen lassen wollte.
Bernadette rechnete schnell alle Alternativen und deren Folgen im Kopf durch. Ihr Blick flog dabei wie ein Suchscheinwerfer über den Gang. Sie waren ziemlich allein. Aber die Ärztin außer Gefecht zu setzen war doch zu gefährlich. Und jeden Moment konnte die Pflegerin in ihrem Zimmer entdeckt werden, auch wenn sie die Tür abgeschlossen hatte.
Sie legte mit raschen Schritten die Distanz zu der jungen Ärztin zurück und klappte den Stuhl auf. »Hatte sich nur verhakt.« Gleich darauf war sie wieder auf dem Weg zum Notausgang. Die auf einmal überraschten grauen Augen hatten sich ihr eingeprägt. Aber kein Ruf erscholl.
Als sie die Tür nach draußen aufstieß, warf sie einen Blick zurück. Die junge Ärztin stand da, immer noch mit diesem überraschten Ausdruck im Gesicht.
Die schwere Eisentür fiel hinter Bernadette zu. Auf der Straße rollte der Verkehr. Autos, Busse, Fahrräder, Fußgänger. In einer einzigen Bewegung atmete sie tief durch und startete wie von einer Feder geschnellt einen blitzartigen Lauf, sprintete über den Bürgersteig davon, dass die Menschen ihr erstaunt nachsahen.
Sie lief und lief, bis Seitenstiche sie davon abhielten weiterzulaufen. Sie musste sich umziehen. Dieser weiße Kittel war zu auffällig, damit würden sie sie sofort finden. Kurzentschlossen bog sie in eine schmutzige Gasse ein. Müllcontainer. Sie zog den Kittel aus, öffnete eine der großen Klappen und verzog das Gesicht. Der Geruch, der ihr entgegenschlug, ließ sie fast ohnmächtig werden. Wenn da etwas drin war, würde sie es kaum tragen können. Aber loswerden konnte sie den Kittel so schon. Schnell ließ sie ihn in die stinkende Tiefe fallen und schlug die Klappe wieder zu.
Sie drehte den Kopf. Ihr Blick nahm alles in sich auf. Auf der großen Straße, die hinter dieser Gasse lag, gab es ein Kaufhaus, das wusste sie. Man musste den Stier bei den Hörnern packen, wenn man gewinnen wollte. Wer hatte das immer gesagt? Für einen Moment verdunkelten sich ihre Augen.
Emmi. Sie hatte es gesagt. Und dabei gelacht. Dieses wunderbare Lachen . . .
Bernadette riss sich zusammen. Es war verschwunden. Genauso wie Emmi. Nie mehr würde sie lachen oder so etwas sagen. Blut. Rot. Bilder blitzten in ihr auf, die ihr Unterbewusstsein gleich wieder unterdrückte. Aber ihr Bewusstsein wusste, dass Emmi umgebracht worden war. Schließlich war sie, Bernadette, dafür verurteilt worden.
Aber sie hatte es nicht getan. Auch wenn sie keine Erinnerung daran hatte, was geschehen war, aber das hatte sie nicht getan. Niemals. Niemals ihre schöne, zarte, wunderbare Emmi.
Ihre Lippen pressten sich zusammen. Welches Schwein auch immer das getan hatte, er würde es büßen.
Als ob sie nur auf dem Weg zu einem Einkaufsbummel wäre, betrat sie das Kaufhaus, blickte sich wie zufällig um. Aha, da war der Hausdetektiv. Den musste sie im Auge behalten. Sie nahm einen Schuh in die Hand, drehte ihn. Falsche Größe.
Während sie herumschlenderte, suchte sie sich alles zusammen, was sie brauchte. Dann ging sie auf die Toilette und zog sich um. Sie riss die Diebstahlsicherungen aus den Kleidungsstücken heraus. Auch eine Perücke hatte sie mitgenommen. Nun war sie blond, obwohl ihre Haare sonst dunkel wie die Nacht schimmerten.
Die Sonnenbrille verdeckte ihre Augen, die neuen Kleider ließen sie wie eine völlig andere Frau erscheinen. Geschmack hatte sie immer gehabt, aber diesmal hatte sie nach pragmatischen Gesichtspunkten ›eingekauft‹: dunkle, unauffällige Sachen.
Langsam ging sie zum Ausgang. Sie hoffte, sie hatte keine der Diebstahlsicherungen übersehen, sonst würden alle Alarmglocken schrillen, wenn sie das Kaufhaus verließ. Sicherheitshalber stieß sie beiläufig ein paar Parfümfläschchen auf dem Glasverkaufstisch am Eingang um. Auch eine Vase. Sie zerbrach mit splitterndem Knall auf dem Boden.
Alle Augen richteten sich auf das Unglück. Sie glitt hinaus wie eine Schlange im Dschungel, die zufrieden damit ist, dass sie Beute gemacht hat, und niemand belästigte sie.
Draußen angekommen hielt sie sich nah an der Hauswand, bis sie wieder in eine Gasse abbiegen konnte. Nun hatte sie Kleider, aber immer noch kein Geld. Sie würde nicht weit kommen, wenn sie es ohne das versuchte.
Erneut zeigte sich das schiefe Lächeln auf ihrem Gesicht, das für sie so typisch war. Gestohlen hatte sie schon lange nicht mehr. Sie hatte gedacht, das läge hinter ihr. Es war wie eine Reise in ihre Vergangenheit.
Sie schaute sich um, als sie den Marktplatz betrat. Hier würde es leicht sein, sich ein wenig Geld zu verschaffen. Die Leute achteten nicht sehr auf ihre Sachen, wenn sie Porree und Äpfel aussuchten.
Die Frauen ließ sie in Ruhe. Sie bestahl nur Männer. Sie waren so nachlässig, trugen ihr Portemonnaie in der Gesäßtasche. Nichts einfacher, als es dort herauszuziehen. Ihre Finger waren nicht mehr im Training, aber es dauerte nicht lange, und sie hatte einiges zusammen.
Schnell verließ sie den Marktplatz, sprang in die nächste Straßenbahn und fuhr irgendwo hin. Sie hatte nicht darauf geachtet, welche Linie oder Richtung es war. Das war völlig egal.
Heftig presste sie die Augenlider zusammen. Sie musste sich erinnern. Sie musste einfach. Was war damals geschehen? Was hatte sie gesehen?
In ihrem Gedächtnis waren alle Indizien eingegraben. Alle Indizien, die auf sie hingewiesen hatten. Doch diese Hinweise waren falsch. Waren sie mit Absicht gelegt? Aber von wem? Wer wollte Emmi töten und es ihr, Bernadette, in die Schuhe schieben?
Oder war es gar nicht so? Sie hob den Kopf und starrte blicklos durch die Scheibe hinaus, hinter der Häuser und Menschen verschleiert vorbeizogen.
Blut. Rot. Blut. Rot. Immer wieder blitzte diese Erinnerung in ihr auf. Es war die einzige Erinnerung, die sie hatte. Aber sie sagte ihr nichts.
Sie hatte die Fotos gesehen. Die Fotos von Emmis Leiche. Sie hatten sie ihr vorgelegt, um ein Geständnis von ihr zu erzwingen. Aber sie hatte geschwiegen. Das war nicht Emmi auf diesen Fotos, das war nur ein toter Körper, der nichts mit ihr, Bernadette, zu tun hatte. Fast distanziert hatte sie die Fotos betrachtet.
Sie waren gnadenlos gewesen, diese Fotos, zeigten jedes noch so grausame kleine Detail, und dennoch hatten sie sie kaum berührt. In der Erinnerung kniff sie die Augen zusammen.
Um Emmi herum hatte sich ein See aus Blut gebildet. Sie musste jeden Tropfen Blut verloren haben, den sie besaß. Unzählige Stiche hatten ihren Körper perforiert, die Halsschlagader getroffen und die Schlagader am Bein, viele Wege für das Blut geöffnet.
Das hatte man ihr, Bernadette, vorgeworfen: die besondere Grausamkeit dieses Verbrechens. Nur ein Psychopath konnte so etwas tun. Und sie hatte eine Geschichte als Psychopathin. Sie war schon einmal in der Psychiatrie gewesen, als Jugendliche.
Damals hatte sie sich angewöhnt, überhaupt nichts zu sagen. Jedes Wort konnte verdreht werden. Und zum Schluss kam doch nichts dabei heraus, nichts Positives jedenfalls. Wenn sie es verdrehten, dann sicherlich nicht zu ihren Gunsten. Sie wollten, dass Bernadette es gewesen war. Man hatte sie blutverschmiert über der Leiche gefunden, mit dem Messer in der Hand. Was brauchten sie noch?
Gar nichts. In ihren Augen war sie von Anfang an die Schuldige gewesen. Sie hatten gar nicht nach jemand anderem gesucht. Und dann waren sie alle aufmarschiert, die Schatten aus ihrer Vergangenheit, die Psychologinnen und Psychiater, die sie schon damals in der Jugendpsychiatrie betreut hatten.
Sie wäre immer verschlossen gewesen, hätte nie menschliche Bindungen gesucht oder sie sogar verachtet, willentlich zerstört, was andere ihr anboten. Sie wäre asozial, bindungsunfähig, verstieße gegen alle Regeln und Vorschriften, ihren Gefühlen entfremdet. Wenn sie überhaupt welche hatte.
Sie sah die Augen von Dr. Heidelinde Schnabel vor sich, als sie das gesagt hatte. Dr. Schnabel hatte sich sehr bemüht, Bernadette zu öffnen, ganz und gar. Denn Dr. Schnabel hatte sich in Bernadette verliebt. Es war Bernadette klar gewesen, als Dr. Schnabel sie das erste Mal berührte.
Wie alt war sie damals gewesen? Fünfzehn? Und doch hatte sie schon gewusst, dass Dr. Schnabel eine Chance war. Ihre erste Reaktion war verhalten gewesen, denn sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, so etwas war zuvor nie nötig gewesen. Aber dann hatte Dr. Schnabel ihr schnell gezeigt, was sie von ihr erwartete. Es war nicht schwer.
Autistische Tendenzen hatten sie ihr unterstellt, und deshalb waren alle froh gewesen, als Dr. Schnabel ihnen sagte, dass sie sich endlich geöffnet hätte. Es war Bernadettes Fahrkarte nach draußen.
Aber das lag weit in der Vergangenheit. Jetzt musste sie erst einmal sehen, dass sie nach Konstanz kam.
Denn dort befand sich die Lösung.
»Hier, das wird dir gefallen.« Rennis Kollege Ingo kam mit einem breiten Grinsen zur Tür herein und wedelte mit ein paar Fotos. »Sie hat den Kerl geradezu abgeschlachtet. Und so, wie es aussieht, hatte er sich auf was anderes gefreut.« Er warf die Bilder auf den Tisch und setzte sich selbst auf die Ecke. »Du magst doch Frauen, die morden.«
Renni hob die Augenbrauen. »Woher willst du wissen, dass es eine Frau war?«
»Das ist klar wie Kloßbrühe.« Gleichgültig zuckte er die Achseln. »Wir wissen sogar schon, wer. Bernadette Ernst. Sie ist kurz vorher aus der Psychiatrie ausgebrochen. JVA. Saß da wegen Mord an ihrer . . .« Er runzelte die Stirn. »Wie heißt das bei euch? Geliebten? Gespielin?«
»Frau«, entgegnete Renni mit einem strafenden Blick. »Sag einfach Frau. Und lass das andere Monika lieber nicht hören.«
Ingo grinste. Er zog Renni immer wieder gern auf, auch wenn er sich manchmal das unpassende Objekt dafür auswählte. Monika gegenüber hielt er sich allerdings mit solchen Bemerkungen zurück, denn er hatte einen Heidenrespekt vor ihr. »Also verheiratet waren sie glaube ich nicht«, fuhr er fort. »Lebten nur schon eine Weile zusammen. Gemeinsame Wohnung und so.« Er grinste wieder. »Ist ihr wohl zu eng geworden, da hat sie das Mädel abgemurkst. Oder vielleicht hatte sie einen Kerl kennengelernt, und die Dame ist ausgerastet.«
Renni rollte die Augen zur Decke. »Du kennst dich echt mit Lesben aus, was?«
»Na komm . . .« Er schüttelte den Kopf. »So viel anders ist das auch nicht. Eifersucht ist immer ein gutes Motiv.«
»Da hast du recht.« Etwas abwesend schaute Renni auf die Bilder. »Wir haben doch hier in der Nähe gar keine Psychiatrie für Straftäter.«
»Sie war in Wiesloch. Die haben das immer noch nicht im Griff mit der Sicherheit.« Er verzog schief einen Mundwinkel. »Erinnerst du dich noch an den Taximörder? Der ist auch von da stiften gegangen.«
»Ich dachte, seither hätten sie aufgerüstet«, bemerkte Renni nachdenklich, immer noch den Blick auf die Bilder geheftet. Rot war die beherrschende Farbe. Blutrot. »Und haben sie den Typ damals nicht schon nach einem Tag wieder gefasst?«
»Weil er blöd war.« Er nickte. »Ist sie aber nicht. Top-Computerspezialistin. Hat für Sicherheitsfirmen gearbeitet, bevor –« Schadenfroh stülpte er die Lippen vor. »Die hat sich wahrscheinlich schlappgelacht über das, was die in Wiesloch Hochsicherheitstrakt nennen.«
»Wiesloch ist aber von hier nicht gerade um die Ecke«, wandte Renni ein. »Wieso sollte sie hergekommen sein, um hier einen Mord zu begehen?«
»Sie hat geschworen, sich für den Mord an ihrer . . . Frau zu rächen«, sagte Ingo. »Hat immer behauptet, dass sie unschuldig ist, obwohl alle Indizien auf sie wiesen. Und der Kerl hier war ein ehemaliger Kollege der Ermordeten. Wollte wohl auch was von der Kleinen. Vielleicht ist die Ernst so verrückt, dass sie denkt, er hat sie umgebracht, obwohl sie es selbst war.« Er stand auf. »Jedenfalls ist das dein Fall. Die Leiche ist in der Gerichtsmedizin.«
»Mein Fall? Wieso das denn?« Renni blickte ihn erstaunt an. »Ich war doch gar nicht am Tatort.«
»Der Chef meint wohl, du bist in dem Fall kompetenter als alle anderen.« Er grinste wieder.
»Na, dem werd’ ich was erzählen!« Wutentbrannt stand Renni auf. »Ich habe die Leiche nicht gesehen, wie sie gefunden wurde, keine Spuren . . .«
»Die SpuSi hat bestimmt alles gesichert. Der Fundort ist auch abgesperrt, kannst ihn dir ansehen.« Er wollte sich umdrehen.
»Nicht ohne dich, mein Freund!« Renni hielt ihn mit ihrer Stimme auf. »Du warst dort und hast alles gesehen, oder?«
»Hmhm.« Er nickte widerstrebend.
»Dann werden wir uns das noch mal zusammen ansehen«, entschied Renni. »Jetzt sofort. Auch wenn die Leiche nicht mehr da ist.«
Er zuckte die Achseln. »Wenn du das dem Chef verkaufst . . .«
»Darauf kannst du Gift nehmen!« Renni nahm ihre Waffe aus dem Schreibtisch und schnallte sie um. Dann zog sie ihre Jacke an. »Los, bevor noch mehr Zeit verlorengeht.«
»Kannst du schon etwas sagen?« Renni trat durch die Tür des Sektionssaals und ging schnell auf den hinteren Teil zu.
Monika hob höchst irritiert die Augenbrauen, während sie sich über der Leiche auf dem Untersuchungstisch aufrichtete. »Hast du einen neuen Fall?«
»Den da, denke ich.« Renni wies mit dem Kinn auf den Tisch. »Sieht jedenfalls so aus.«
Verwundert blickte Monika sie an. »Das ist doch Lohses Fall.«
»War es. Ich war gerade mit ihm am Leichenfundort.« Mit einem bedauernden Ausdruck verzog Renni das Gesicht. »Leider war die Leiche nicht mehr da. Die war schon bei dir.«
Monikas Mundwinkel zuckten. »Hättest du mir Bescheid gesagt, hätte ich selbstverständlich auf dich gewartet.«
Renni trat näher auf sie zu. »Ich habe es erst erfahren, als es schon zu spät war. Ingo kam mit den Fotos zu mir, als du den hier«, sie ließ ihren Blick über den nackten Körper schweifen, in dem kein Leben mehr war, »wahrscheinlich schon aufgeschnitten hast.« Sie seufzte. »Der Chef ist der Meinung, ich bin besser geeignet, den Fall zu untersuchen.«
»Ach?« Monika beugte sich über den geöffneten Brustkorb und schaute interessiert hinein, bevor sie mit Hilfe eines Skalpells eine Gewebeprobe entnahm und sie sorgfältig in einer Schale versorgte.
»Schatz?« Mit schiefgelegtem Kopf schaute Renni sie an. »Hast du irgendwas?«
Monikas Augäpfel drehten sich, ohne dass ihr Kopf folgte. Sie blinzelte Renni von unten herauf seitlich aus den Augenwinkeln an. »Du weißt, wie ich es hasse, nach Ergebnissen gefragt zu werden, bevor ich mit meinen Untersuchungen fertig bin.«
»Ich weiß.« Renni lächelte und hauchte einen Kuss auf ihre Wange. »Also?«
»Plage du.« Gleichzeitig tadelnd und doch nachsichtig verzog Monika die Lippen. »Geh und lass mich arbeiten, dann kriegst du den Bericht.«
»Monika . . . Liebling . . .« Locker umfasste Renni von hinten ihre Hüften und zog sie sacht an sich. »Ich habe schon Zeit verloren durch die Umstände. Und konnte den Tatort nicht ordentlich besichtigen, weil ich nicht als erste gerufen wurde. Könntest du nicht einmal von deinen eisernen Regeln abgehen? Für mich?«
Monika seufzte. »Wie oft ich das schon getan habe . . .« Ihre Stimme klang jedoch wesentlich weicher als zuvor.
Renni schmiegte sich leicht an ihren Rücken. »Todesursache?«, hauchte sie in ihr Ohr. »Todeszeitpunkt?«
»Er ist erstochen worden«, erwiderte Monika. »Das konntest du aber selbst auf den Fotos erkennen. Dreizehn Stiche in Brust, Rücken und Unterleib.«
»Dreizehn?« Renni runzelte die Stirn. »Könnte das etwas zu bedeuten haben? Irgendein Ritual? Eine Sekte oder so etwas?«
»Satanisten?« Mit skeptisch verzogenem Gesicht schüttelte Monika den Kopf. »Kann man natürlich nie genau sagen, aber ich würde es bezweifeln.«
»Was ist das da?« Renni streckte einen Arm aus und wies auf die Hand des Toten.
»Der Finger ist gebrochen«, sagte Monika.
Interessiert betrachtete Renni die Bruchstelle. »Ist das beim Kampf passiert? Als er sich gegen das Messer verteidigt hat?«
»Nein.« Monika schüttelte erneut den Kopf. »Das ist schon ein paar Tage alt. Hat nichts mit seinem Tod zu tun.«
»Ein Sturz oder so etwas?«, fragte Renni.
»Keine Ahnung.« Monika zuckte die Schultern wie um Renni abzuschütteln. »Wenn du mich arbeiten lassen würdest, könnte ich dir sicher mehr sagen.«
»Schon verstanden.« Renni lachte leicht und ließ sie los. »Zeitpunkt?«
»Ziemlich genau zwölf Uhr mittags. Die Leiche war noch warm, als ich kam.« Monika drehte sich leicht in den Hüften, um Renni anzusehen. »Kommst du heute Abend nach Hause? Oder wirst du dich in irgendwelchen Kneipen rumtreiben, um Zeugen zu befragen? Dann spare ich mir das Kochen nämlich.«
Renni schüttelte sich. »Wie du an Kochen denken kannst, während du hier Leichenteile sezierst . . .«
»Das hat nichts miteinander zu tun. Ich bereite sie ja nicht zu.« Monikas Lippen wollten sich zu einem Schmunzeln verziehen, das sie sofort unterdrückte.
Renni hatte es trotzdem gesehen. »Manchmal habe ich das Gefühl, es würde dir nichts ausmachen, das zu tun.« Sie legte einen Arm um Monikas Taille und betrachtete kurz die Einstichwunden, die sie erkennen konnte. »Ziemlich langes Messer.«
»Habe ich noch nicht gemessen«, sagte Monika, »aber wie du weißt, wurde so eine Art Jagdmesser neben ihm gefunden. Ob das die Mordwaffe war, wird sich herausstellen.«
»Hmhm.« Renni nickte. »Ich tippe auf das Jagdmesser. Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Beziehungsweise direkt neben der Leiche.« Sie duckte sich lachend, als sie Monikas Blick sah, der sie selbst fast wie mit einem Messer erstochen hätte. »Ich geh ja schon . . . Und heute Abend komme ich zum Essen nach Hause.« Noch einmal hauchte sie einen Kuss auf Monikas Wange und entfernte sich ein paar Schritte. »Versprochen.«
»Ha!« Monika stieß einen skeptischen Laut aus. »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Ich weiß wirklich nicht, warum wir zusammen wohnen. Wenn wir uns mal sehen, dann meistens hier.«
»Ist doch schön, dass wir so viele gemeinsame Interessen haben«, scherzte Renni, während sie sich von dem Metalltisch und damit von Monika zurückzog. »Privat und beruflich. Aber dennoch bin ich froh, dass du deine Arbeit nicht mit nach Hause bringst.«
Und bevor Monika etwas nach ihr werfen konnte, lief sie vergnügt schmunzelnd rasch aus der Leichenhalle hinaus.
»Wie ist der Stand der Dinge?«
Renni blieb abrupt stehen, als sie die Stimme hinter sich hörte, und drehte sich um. »Dreizehn Stiche, aber Dr. Kowalski meint, es hat nichts zu bedeuten. Die Zahl, meine ich.«
Ihr Chef Alfons Wortmann, der als Leiter des Morddezernates aufgrund seiner Führungsposition den fast unaussprechlichen Titel Erster Kriminalhauptkommissar trug, womit ihn allerdings glücklicherweise niemand anreden musste, hob die Augenbrauen. »Schon was Neues von der ausgebrochenen Psychopathin?«
»Noch nicht, Alfons. Ich bin erst dabei, mein Team zusammenzustellen.« Bedauernd zuckte Renni die Schultern. »Sie ist zur Fahndung ausgeschrieben. Vielleicht haben wir Glück, und sie geht uns ins Netz.«
»Du glaubst das aber nicht.« Alfons Wortmann musterte sie zweifelnd. »Sehe ich dir doch an.«
»Sie ist hochintelligent.« Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte Renni neben ihm den Gang entlang. »Ich frage mich, warum sie sich nicht verteidigt hat, als sie angeklagt wurde. Wie sie überhaupt festgenommen werden konnte. Man sollte meinen, so jemand legt sich einen guten Plan zurecht, wenn sie einen Mord begehen will. Ein wasserdichtes Alibi. Aber sie wurde direkt neben der Leiche gefunden mit der Mordwaffe in der Hand. Wie in einem schlechten Krimi.«
»Der Fall ist abgeschlossen«, erinnerte Alfons sie. »Sie wurde verurteilt.« Etwas misstrauisch schaute er sie von der Seite an. »Morgen bei der Dienstbesprechung mit deinem Team solltest du dich besser auf den aktuellen Fall beziehen. Für alte und zudem bereits gelöste Mordfälle haben wir kein Budget.« Er spitzte die Lippen. »Ach, übrigens. Die Staatsanwältin, die sie angeklagt hat, ist auch in deinem Team. Ich dachte, da sie die Frau bereits kennt . . .«
»Charlotte Ahrens?« Renni seufzte nicht sehr begeistert auf. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«
Fragend legte Alfons den Kopf zur Seite.
»Sie hat mehr eine Hexenjagd auf diese Bernadette Ernst veranstaltet«, erklärte Renni skeptisch. »Wollte sie unbedingt verurteilt sehen, um sich zu profilieren. Hat ihrer Karriere ja auch einen ganz schönen Schub verpasst.« Tief holte sie Luft. »Die macht mir das ganze Team kaputt, wenn das wieder so läuft.«
»Du leitest das Team, nicht sie«, wandte ihr Chef ein. »Du bist verantwortlich für das, was geschieht, und für die Ergebnisse.« Er lächelte zuversichtlich. »Ich weiß, dass du nicht der Typ für Hexenjagden bist.«
Renni hob schief einen Mundwinkel. »Die Frage ist: Weiß sie das auch?«
»Ist doch nicht die erste Mordkommission, die du leitest. Du schaffst das schon.« Mit einem aufmunternden Schlag auf die Schulter verabschiedete er sich von ihr und ging in sein Büro.
»Du hast gut reden.« Unzufrieden blickte Renni ihm hinterher. Ihr Chef hatte eine äußerst nonchalante Art, Entscheidungen für seine Mitarbeiter zu treffen, die sie nachher ausbaden mussten. Eigentlich war er ein ganz netter Kerl, und meistens kam sie gut mit ihm zurecht, aber in solchen Momenten hätte sie ihm gern die Meinung gesagt.
Nützte aber sowieso nichts. An ihm prallte alles ab. Mit einem Lächeln. Was es schwierig machte, ihm böse zu sein.
Sie ging in ihr Büro zurück und machte sich Gedanken über ihr Team. Charlotte Ahrens stand zu ihrem Leidwesen zwar schon fest, und selbstverständlich gehörte Monika dazu, die die Leiche untersuchen musste, aber wer sonst noch?
Ingo, weil er zuerst am Tatort gewesen war. Und zudem war er – trotz all seiner Sprüche – ein guter Polizist. Aber er war genauso voreingenommen wie Charlotte Ahrens. Renni gefiel es nicht, jemanden schon im Voraus zu verurteilen. Sie hatte lieber Beweise.
Charlotte Ahrens hatte wirklich eine Hexenjagd veranstaltet. Und Bernadette Ernst hatte ihr in die Hände gespielt, weil sie sich nicht gewehrt hatte.
Warum hatte sie sich nicht gewehrt? Diese Frage drehte sich erneut in Rennis Kopf. Sie musste sich unbedingt die alte Akte besorgen, vielleicht gab die Aufschluss. Nachdenklich ging sie hinunter ins Archiv.
»Frau Schneyder! Das ist ja nett, dass Sie mich mal wieder besuchen!« Ein freundliches Gesicht empfing sie in den eher unfreundlichen dunklen Kellergewölben. Die ältere Angestellte lächelte ihr entgegen.
»Ja, in letzter Zeit haben wir uns wohl immer verpasst.« Renni lächelte auch und trat auf den kleinen Tresen, hinter dem die Angestellte saß, zu. »Anscheinend waren unsere Arbeitszeiten sehr verschieden. Und dann waren Sie glaube ich . . . in Urlaub?« Sie beugte sich vor und lehnte ihre Ellbogen auf die Platte.
»Ach, Urlaub . . .« Frau Schüssler seufzte. »Das habe ich ja schon fast wieder vergessen. Endlich mal wieder ans Meer . . .«
»Dabei haben wir das schwäbische Meer doch vor der Tür.« Renni schmunzelte ein wenig.
Frau Schüssler schüttelte den Kopf. »Das können Sie nicht verstehen, wenn Sie nicht am Meer geboren sind, am richtigen Meer, an der Nordsee. Das ist nicht zu vergleichen.«
»Da haben Sie sicherlich recht«, erwiderte Renni. »Es tut mir jedoch leid, dass ich nicht länger bleiben kann«, fügte sie etwas bedauernd hinzu, »aber ich war eigentlich nur gekommen, um mir eine Akte zu holen.«
»Weshalb auch sonst?« Frau Schüssler verzog entsagungsvoll die Lippen. »Nur deshalb kommen ja alle zu mir.«
»Aber nein, Frau Schüssler.« Rennis Lächeln wurde noch wärmer. »Wir kommen alle nur deshalb, weil Sie so ein netter Mensch sind.«
Fast schien Frau Schüssler ein wenig zu erröten. »Danke«, hauchte sie fast wie ein Teenager, was Renni zeigte, dass sie entschieden zu wenig Komplimente bekam, denn sie war wirklich sehr nett. »Welche Akte brauchen Sie denn?«
Renni sagte es ihr, und Frau Schüssler ging nach hinten ins Archiv und kehrte bald darauf an den Eingangstresen zurück, wo Renni sich auf der Liste eintrug. So konnte jeder sehen, dass die Akte bei ihr war.
»Die Akte?« Frau Schüsslers Augen zeigten einen Anflug von Abscheu, bevor sie Renni die Akte überreichte. »Das war ja vielleicht eine furchtbare Sache. Wie kann eine Frau so etwas tun? Eine Frau!« Ihre Abscheu ging in Entsetzen über.
»Möglicherweise . . .«, erwiderte Renni langsam, »war sie es gar nicht.«
Das schien Frau Schüssler stutzen zu lassen. »Aber Frau Ahrens hat das damals doch eindeutig nachgewiesen. Sie war absolut davon überzeugt, dass dieses . . .«, ihre Mundwinkel fielen nach unten, »Monster es getan hat.«
»Ja.« Renni nickte. »Frau Ahrens . . . war davon überzeugt, sonst hätte sie sie sicherlich nicht vor Gericht gestellt.«
Sie wollte sich schon umdrehen, da sagte Frau Schüssler: »Frau Ahrens ist allerdings von so einigen Dingen überzeugt.«
Renni konnte ihre Mundwinkel kaum davon abhalten zu zucken, aber sie versuchte es soweit wie möglich zu unterdrücken. »Ach ja?« Sie hob die Augenbrauen.
»Also . . . ich meine . . . sie hatte ja recht . . .« Es schien, als wüsste Frau Schüssler nicht so recht, ob sie ihrer Abneigung gegen Charlotte Ahrens, die deutlich in ihrer Stimme zu hören gewesen war, oder ihrem Entsetzen über die grausame Tat den Vorzug geben sollte. »So etwas muss bestraft werden.«
»Natürlich.« Renni nickte. »Verbrechen dürfen nicht ungesühnt bleiben. So eins schon gar nicht.«
»Aber nicht alles ist gleich ein Verbrechen«, schränkte Frau Schüssler ein. »Manchmal ist es einfach nur . . . Junge Leute sind manchmal eben etwas übermütig, und dann sollte man . . . sollte man . . .« Sie brach ab. »Sollte man ihnen doch eine Chance geben«, fuhr sie dann geradezu trotzig fort.
»Das finde ich auch.« Wieder stimmte Renni ihr aus vollem Herzen zu.
»Wissen Sie, ich habe da so einen Neffen«, sagte Frau Schüssler. »Also eigentlich ist er nicht mein Neffe, er ist der Sohn meiner Cousine, aber wir sagen der Einfachheit halber Neffe.«
Ohne sie zu unterbrechen schaute Renni sie nur an. Sie wusste, das würde sie am ehesten im Redefluss halten.
»Als Frau Ahrens noch am Jugendgericht war –« Für einen Moment wirkte es so, als wollte Frau Schüssler nicht weitersprechen, aber dann tat sie es doch. »Na ja, da hat er mal eine Dummheit gemacht. Er ist wirklich kein schlechter Junge, aber wenn die Jungs so zusammen sind, dann hecken sie eben manchmal etwas aus . . . Er kommt doch aus einem guten Elternhaus. Meine Cousine und ihr Mann sind sehr anständige Leute . . . Aber das hat Frau Ahrens alles nicht interessiert. Sie hat ihm gleich die Höchststrafe aufgebrummt. Obwohl es das erste Mal war.«
Das war so typisch für Charlotte Ahrens, dass Renni sich nicht wirklich darüber wundern konnte. »Das ist nicht üblich«, sagte sie. »Nicht unter diesen Umständen.«
»Eben.« Frau Schüssler schaute sie an. »Und weil sie das getan hat, ist er dann in schlechte Gesellschaft geraten, und nun . . . nun ist das ein großes Problem für meine Cousine und ihren Mann.«
»Er hat wieder etwas Dummes getan?«, fragte Renni.
Frau Schüssler nickte. »Das wäre alles nicht passiert, wenn –« Sie presste die Lippen zusammen.
»Verstehe«, sagte Renni. »Vielleicht kann ich ja etwas für Ihren Neffen tun. Manchmal braucht es nur die richtigen Argumente.« Sie lächelte zuversichtlich.
»Das würden Sie tun?« Frau Schüssler Augen öffneten sich weit vor Überraschung.
»Aber natürlich«, sagte Renni. »Geben Sie mir nur die Nummer seiner Eltern, dann rufe ich sie an. Vielleicht können wir auf Ihren Neffen einwirken.«
Schnell schrieb Frau Schüssler etwas auf einen Zettel und reichte ihn ihr. »Vielen Dank«, sagte sie, und ihre Augen begannen wieder zu leuchten. »Vielen, vielen Dank.«
»Kein Problem.« Renni nickte ihr zu. »Dafür sind wir ja schließlich da. Freunde und Helfer.« Sie beugte sich leicht zu Frau Schüssler vor. »Und übrigens . . . Falls Frau Ahrens wissen möchte, wer die Akte ausgeliehen hat, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich benachrichtigen würden.«
»Soll sie nur fragen.« Grimmig, aber auf eine gewisse Art auch schadenfroh vergnügt pressten Frau Schüsslers Lippen sich erneut zusammen. »Ich fürchte, wenn sie fragt, kann ich ihr nicht gleich Auskunft geben. Es ist so kompliziert, diese Listen zu führen und am richtigen Ort abzulegen, sodass man sie auch wiederfindet.« Sie sah für einen Augenblick tatsächlich so aus, als ob sie das kompliziert fände, was garantiert nicht der Fall war, aber sicherlich auch Charlotte Ahrens überzeugen würde, die ohnehin jeden außer sich selbst für einen Deppen hielt. »Ja, wenn wir einen Computer hätten . . .« Frau Schüsslers Mundwinkel zuckten.
»Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Schüssler, aber ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen Ärger bekommen.« Etwas besorgt schaute Renni sie an.
»Den bekomme ich schon nicht.« Auf einmal schien Frau Schüssler recht heiter. »Ich bin eine alte Frau, wissen Sie? Schusslig. Das denkt Frau Ahrens sowieso. Und warum sollte ich es dann nicht auch sein?«
Renni lachte. »Sie sind weder alt noch schusslig, Frau Schüssler. Darüber würde ich eine eidesstattliche Erklärung abgeben.«
Frau Schüssler zwinkerte. »Gut, dass Frau Ahrens das nicht weiß, oder?«
Mit einem schmunzelnden Kopfschütteln winkte Renni ihr zu, um sich zu verabschieden. »Sie haben es faustdick hinter den Ohren, Frau Schüssler. Ich werde die Akte hüten wie meinen Augapfel.« Bestätigend hob sie die Akte hoch und ging dann hinaus.
Während sie die Treppe hochlief – aus Fitnessgründen nahm sie nie den Fahrstuhl, wenn sie es vermeiden konnte –, flog es ihr so durch den Sinn, warum sie damals nicht an diesem Fall beteiligt gewesen, noch nicht einmal hiergewesen war. Sie war mit Monika auf . . . Hochzeitsreise gewesen.
Auch wenn sie nicht verheiratet waren, nannten sie es so. Renni hatte Monika einen Antrag gemacht, aber Monika wollte nicht heiraten. Sie hatte Rennis Antrag zwar mit Tränen in den Augen gelauscht, aber ihre Freiheit ging ihr über alles. Sie hatte sich in früheren Zeiten zu sehr abhängig gemacht, und das hing ihr immer noch nach. Sie wollte selbständig sein.
Renni hatte das bedauernd zur Kenntnis genommen, aber da sie danach zusammengezogen waren, gab es eigentlich keinen Unterschied, ob sie verheiratet waren oder nicht. Sie hatten beide das Gefühl, zueinander zu gehören.
Nachdem sie in ihrem Büro angekommen war, begann sie in der Akte zu blättern. Zuerst einmal las sie den Tathergang. Das hieß: die Rekonstruktion des Tatherganges, denn die Beschuldigte hatte sich ja nicht dazu geäußert. Sie hatte weder etwas zugegeben noch bestritten. Lange Zeit hatte sie überhaupt nichts gesagt. Was ihr als Schuldbekenntnis ausgelegt wurde.
Dann hatte sie ihr Anwalt anscheinend dazu überredet, ihre Unschuld zu beteuern. Aber das hatte auch nichts mehr genützt. Zu lange waren alle Ermittlungen nur auf sie gerichtet gewesen. Andere Verdächtige gab es nicht.
Ihre Freundin und sie hatten sich gestritten. Heftig gestritten. Dann hatte sie türenknallend das Haus verlassen. Nachbarn hatten einen erneuten Streit ein paar Stunden später gehört, dabei war etwas zu Bruch gegangen. Die Nachbarn hatten die Polizei gerufen. Und als die ankam, saß Bernadette Ernst blutbeschmiert auf dem Boden neben der Leiche, das Messer in der Hand.
Alles schien eindeutig. Die Nachbarn bestätigten, dass dies nicht der erste Streit gewesen war. Die beiden schienen keine besonders harmonische Beziehung geführt zu haben. Offenbar hatte Bernadette Ernst sich auch nicht viele Freunde gemacht. Alle waren auf Seiten der Toten, die als zart und zurückhaltend geschildert wurde. Immer nett und freundlich zu den Nachbarn. Bernadette Ernst hatte oft noch nicht einmal gegrüßt. Die Nachbarn mochten sie nicht.
Im beruflichen Umfeld hatte Bernadette Ernst auch keine Freunde. Sie arbeitete lieber allein. Saß den ganzen Tag vor ihrem Computer oder ihren sonstigen technischen Geräten und war am glücklichsten, wenn sie mit niemandem sprechen musste. Da sie immer wieder in anderen Firmen arbeitete, hatte sie keine Kollegen, die sie näher kannten. Sie war stets nur für kurze Zeit in einer Firma.
In dieser kurzen Zeit brachte sie es jedoch fertig, von allen gehasst zu werden. Oder wenn nicht gehasst, dann zumindest gemieden. Denn sie konnte sehr giftig reagieren, wenn man sie störte oder auch nur zum Kaffee einlud.
Die Firmen schätzten ihre fachliche Kompetenz und bezahlten sie gut, aber alle waren froh, wenn sie wieder ging. Sie war nicht gerade eine Sympathieträgerin.
Vermutlich hatte das ihr zum Schluss dann auch den Hals gebrochen. Sie war störrisch, widerspenstig, nicht kooperativ. Und Charlotte Ahrens hatte das ausgenutzt, um selbst im besten Licht zu erscheinen. Es hatte ihrer Karriere nicht geschadet.
Es klopfte an der Tür, und Renni blickte hoch. Sie hatte die Tür nicht geschlossen. Es war selten, dass jemand sich aufgefordert fühlte zu klopfen.
Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie und ließ die Akte möglichst unauffällig unter einem ganzen Aktenstapel verschwinden. »Frau Ahrens? Was kann ich für Sie tun?«
Charlotte Ahrens kam leicht lächelnd herein, wie immer auf hochhackigen Schuhen. Auch ihre sonstige Erscheinung wirkte geradezu verführerisch. Der Rock ihres eigentlich konservativen Kostüms bewegte sich nah an der Grenze zu nicht jugendfrei. Auch das Dekolleté der Bluse gewährte tiefe Einblicke. Dennoch brachte sie es fertig, wie eine ernstzunehmende Staatsanwältin zu erscheinen.
»Wie ich hörte, arbeiten wir zusammen.« Ihr Lächeln hatte genau die richtige Mischung aus Ich bin dir gewogen und Das ist alles rein beruflich.
»Ja, ich hörte, dass Sie sich für mein Team beworben haben.« Aus irgendeinem Grund löste Charlotte Ahrens’ Aufmachung nicht das Geringste in Renni aus. Nicht einmal das, was jede attraktive Frau in ihr auslöste, einen wohlwollenden Blick. Ahrens hätte genauso gut ein Mann sein können.
»Nicht direkt beworben«, erwiderte Charlotte Ahrens fast zu freundlich. »Ich habe es Ihrem Chef gegenüber wohl einmal erwähnt.« Sie trat noch einen Schritt näher. »Ich dachte, wir sollten vielleicht ein paar Informationen austauschen. Sie waren damals ja nicht da, als der Fall verhandelt wurde.«
»Im Gegensatz zu Ihnen«, sagte Renni. »Sie waren sehr präsent.«
Charlotte Ahrens Mundwinkel verzogen sich leicht. »Ich habe die Anklage vertreten.«
»Und das überzeugend«, sagte Renni. »Hatten Sie nie Zweifel? Wieso sind keine anderen Verdächtigen gesucht worden?«
»Weil es ein eindeutiger Fall war.« Charlotte Ahrens machte ein hochmütiges Gesicht. »Ihr Kollege, der die Sache damals bearbeitet hat, war da ganz meiner Meinung.«
Vielleicht hat er aber auch nur auf deine Bluse gestiert, dachte Renni. Sie wusste, dass die meisten Männer in Charlotte Ahrens’ Gegenwart unruhig wurden.
Sie selbst empfand Ahrens als kalten Fisch. Sie strahlte nichts Warmherziges aus. Es schien, als ob die Temperatur im Zimmer gefallen wäre.
Renni stand auf. Die hochhackigen Schuhe machten Charlotte Ahrens größer, aber in Wirklichkeit war sie eine eher kleine Frau. Ganz sicher war sie nicht gekommen, um Informationen auszutauschen, sondern um welche zu bekommen. Sie hätte Renni garantiert nicht mehr gesagt als das, was in den Akten stand. Rennis neue Erkenntnisse wollte sie jedoch brühwarm übermittelt bekommen.
Warum auch immer. Vielleicht hatte sie doch ein wenig Angst, dass sie damals etwas übersehen haben könnte, das nun herauskam. Obwohl es unwahrscheinlich erschien, dass sie so etwas wie Angst überhaupt kannte.
»Was den aktuellen Fall betrifft, da erfahren die Mitglieder des Teams alles morgen bei der Dienstbesprechung«, erklärte Renni ihr ziemlich frostig. »Im Moment werden noch die Spuren ausgewertet, und die Untersuchung der Leiche ist auch noch nicht abgeschlossen.«
»Und wie ist Ihr erster Eindruck?« So leicht gab Charlotte Ahrens nicht auf. Sie legte unschuldig den Kopf schief und schaute zu Renni hoch. Sicherlich eine erfolgreiche Masche bei Männern, die – wie es üblicherweise der Fall war – größer waren als sie. Es hatte etwas von Anbetung.
Die meisten männlichen Wesen springen garantiert darauf an, dachte Renni. Dabei übersahen sie die blaugrauen Eiszapfen in Ahrens’ Gesicht. Wann schauten Männer einer Frau schon in die Augen, wenn sie freien Einblick in ihr Dekolleté hatten?
Rennis Mundwinkel zuckten, während sie selbst einen Blick auf die ansonsten verführerischen Halbkugeln warf, dann drehte sie sich um. »Ich fürchte, Sie werden ebenso wie alle anderen bis zur Dienstbesprechung warten müssen«, entgegnete sie gelassen, während sie zu einem Aktenschrank hinüberging. »Und selbst bis dahin erwarte ich noch nicht viele Erkenntnisse. Wir stehen ganz am Anfang.«
»Das würde ich nicht sagen«, widersprach Ahrens. »Wir haben schon eine ganze Menge. Schließlich hat Bernadette Ernst schon einmal gemordet. Auf die gleiche Art. Mit einem Messer.« Ihre Augen musterten Renni so kalt und abschätzend wie die einer Giftschlange. Offenbar versprach sie sich von ihrem verführerischen Gehabe jetzt nichts mehr.
»Das heißt noch lange nicht, dass sie es in diesem Fall auch getan hat. Dafür liegen noch keinerlei Beweise vor, noch nicht einmal Indizien.« Renni drehte sich um und schaute Ahrens so herablassend an, wie sie konnte.
»Na, ein Indiz ist zumindest, dass sie kurz zuvor ausgebrochen ist. Und ein weiteres, dass sie das Opfer kannte«, entgegnete Ahrens nicht weniger von oben herab. »Nicht nur kannte, sondern hasste, weil er ihr ihre Freundin weggenommen hatte.« Sie gab ein hohles Geräusch von sich. »Es gab Fälle, in denen ich die Täter mit weniger Hinweisen angeklagt habe.«
Davon bin ich überzeugt, dachte Renni. Du klagst jeden sofort an, wenn es dir in den Kram passt – und deiner Karriere dient.
»Sie wissen selbst«, Renni lächelte süßlich, »dass das bei weitem nicht ausreicht, um ein Verfahren zu eröffnen. Das sind alles nur Vermutungen, Spekulationen. Die bis jetzt durch nichts untermauert sind.« Ihr Lächeln wurde fast noch verbindlicher. »Und im Übrigen würde ich mir wünschen, dass alle Mitglieder meines Teams vorurteilsfrei an diese Sache herangehen. Auch wenn Sie den Fall damals verhandelt haben, ist nichts von dem, was damals ermittelt wurde, für den jetzigen Fall relevant. Es gibt keinen eindeutigen Tatverdacht gegen Bernadette Ernst. Momentan gehen wir von einem Tod durch einen Unbekannten aus. Mehr ist nicht möglich.«
»Und warum haben Sie sie dann zur Fahndung ausgeschrieben?«, fragte Charlotte Ahrens mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Das haben die Kollegen aus Wiesloch veranlasst, wegen ihres Ausbruchs. Es kann reiner Zufall sein, dass der Ausbruch und das Tötungsdelikt zeitlich so nah aufeinander folgten.« Rennis Blick hielt Ahrens wie in einem Schraubstock fest. »Es ist sogar höchst unwahrscheinlich, dass Bernadette Ernst sich zuerst von Wiesloch nach Konstanz begeben hat, um einen Mord zu begehen. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie sich möglichst weit weg von hier versteckt, in Hamburg vielleicht.«
»Das glauben Sie doch selbst nicht.« Ahrens spielte verächtlich mit einem Stift auf Rennis Schreibtisch. »Sie will Rache. Den Liebhaber ihrer Lebensabschnittspartnerin«, routiniert rollte das Wortungetüm über Ahrens’ Lippen, »hat sie schon umgebracht, und nun belauert sie das nächste Opfer.«
»Und wer sollte das sein?«
Erneut legte Ahrens den Kopf schief, diesmal jedoch weniger unschuldig als missbilligend.
»Sie haben Angst um Ihr Leben?« Es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn Ahrens mal einem Serienkiller zum Opfer fiele, dachte Renni.
»Ich habe sie angeklagt«, erinnerte Charlotte Ahrens sie. »Psychisch gestörte Menschen machen oft andere für ihre Taten und deren Folgen verantwortlich, insbesondere wenn sie bestraft werden. Sie fühlen sich unschuldig – das hat sie ja auch behauptet – und somit zu Unrecht an den Pranger gestellt. Das Rechtssystem ist für sie nicht existent. Sie haben ihr eigenes.«
»Da könnten Sie recht haben.« Renni lächelte leicht. »Aber wir wissen doch beide, dass unser Rechtssystem nicht unfehlbar ist.«
Ahrens’ Augen öffneten sich weit vor Erstaunen. »Sie hat ihre Freundin umgebracht, weil die sie mit eben jenem Mann betrogen hatte. Das habe ich nachgewiesen. Und dann hat sie ihn umgebracht, sobald sich die Gelegenheit ergab. Motiv bei beiden: Eifersucht. Und nun wird sie ihre Rache vollenden wollen. Der Richter, die Staatsanwaltschaft, die ermittelnden Beamten –«
Renni schüttelte irritiert den Kopf. »Gehen Sie da nicht ein bisschen zu weit? Eifersucht ist das eine, aber die Rache dann auf so viele Leute auszudehnen, die gar nichts damit zu tun hatten –«
»Für sie hatten wir alle damit zu tun.« Ahrens fixierte sie kalt. »Sie waren damals nicht da. Sie sind nicht betroffen. Natürlich können Sie sich bequem zurücklehnen. Gegen Sie hat sie ja nichts.«
Mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck setzte Renni sich wieder. »Ganz sicher lehne ich mich nicht zurück«, bemerkte sie mit Nachdruck. »Ich untersuche einen Mordfall. Mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln.« Sie musste Ahrens in ihre Schranken weisen, sonst war das Desaster im Ermittlungsteam noch mehr vorprogrammiert als ohnehin schon.
»Sie haben sie nicht erlebt. Bei den Vernehmungen. Im Gerichtssaal. Sie haben ihre Augen nicht gesehen.« Ahrens schien sich innerlich zu schütteln. »Sie ist wie ein Computer. Sie berechnet alles. Die normale Welt zählt für sie nicht, keine Regeln, keine Gesetze. Nur knallharte Logik. Wie eine Maschine, die man nicht mehr stoppen kann, wenn sie einmal in Gang gesetzt ist. Ein Roboter.«
»Sie haben sie gestoppt.«
»Das war Zufall. Die Polizei war da, bevor sie fliehen konnte.«
»Das hatte sie nicht vorausberechnet?« Nachdenklich spitzte Renni die Lippen. »Ist das nicht unwahrscheinlich? Bei einem so mathematischen Gehirn?«
»Wer weiß. Vielleicht kann sie kein Blut sehen und ihr ist schlecht geworden oder so etwas«, warf Ahrens beiläufig hin. »Das kann man nicht vorausberechnen.«
»Man sollte meinen, dass man weiß, ob man Blut sehen kann oder nicht«, murmelte Renni, aber ihre Gedanken schweiften ab.
Alles, was Charlotte Ahrens erzählte, machte es immer unwahrscheinlicher, dass Bernadette Ernst einen Mord so begangen haben sollte, wie er begangen worden war. Damals der erste schon und nun der zweite erschienen wie Affekthandlungen. Dreizehn Stiche. Bernadette Ernst hätte sich ausgerechnet, dass einer reichen würde. Sie hätte sich nur die Kenntnisse aneignen müssen, wo genau der sitzen musste. Das wäre ein Leichtes für sie gewesen.
Und beim ersten Mal? Ja, eine Beziehungstat. Das war angenommen worden. Beziehungstaten hatten grundsätzlich nichts mit Berechnung zu tun, die erfolgten immer im Affekt. Aber war ein mathematisch-logisches Gehirn da nicht auch anders? Kalte Rache, genau geplant – das hätte eher gepasst. Wenn Bernadette Ernst eine Psychopathin war, dann eine sehr ungewöhnliche.
»Sie stellen die damalige Ermittlungsarbeit in Frage?«, kam es scharf aus Ahrens’ Ecke.
Renni schreckte aus ihren Gedanken auf. »Ich stelle nur in Frage«, erwiderte sie bedächtig, »dass die damaligen Ermittlungen etwas mit den Ermittlungen im aktuellen Fall zu tun haben. Wenn wir von vornherein annehmen, dass Bernadette Ernst die Täterin ist, tun wir uns keinen Gefallen. Ich werde in alle Richtungen ermitteln, ohne vorgefasste Meinung.« Sie blickte Charlotte Ahrens freundlich an. »So wird es schließlich vom Gesetz verlangt, nicht wahr, Frau Staatsanwältin?«
Wenn Eis noch kälter werden konnte, dann wurde es das. »Sie platzen ja vor Neid!«, zischte Ahrens. »Nur weil damals Ihr Kollege einen großen Erfolg verbuchen konnte, von dem Sie wahrscheinlich meinen, dass er Ihnen zugestanden hätte. Nur weil ich die Anklage vertreten habe . . . Ich weiß, Sie können mich nicht leiden. Weil Sie an diesem Fall nicht beteiligt waren und sich keine Lorbeeren anstecken konnten, deshalb verwenden Sie nun all Ihre Energie darauf, uns zu übertrumpfen und dabei so nebenher noch unsere Arbeit schlechtzumachen.« Es war unglaublich, wie Eis dampfen konnte.
»Das liegt mir wirklich fern –«, setzte Renni an.
Aber Ahrens unterbrach sie. »Sie werden noch sehen, was Sie davon haben!«, fauchte sie. »Und wenn Sie noch so viele Mordfälle gelöst haben, Ihre Stellung ist nicht unantastbar!«
Ihre hohen Hacken quietschten wie die Reifen eines Porsche, der zu schnell in die Kurve geht, als sie sich auf dem Absatz umdrehte und hinausstürmte.
»Junge, Junge«, murmelte Renni vor sich hin, während sie ihr nachsah. »Welcher Katze bin ich denn da auf den Schwanz getreten?«
Aber sie hatte Besseres zu tun, als sich um die Empfindlichkeiten einer karrieregeilen Staatsanwältin zu kümmern.
Sie hatte einen Fall zu lösen.
»Charlotte Ahrens?« Monika spitzte die Lippen.
»Oh, bitte, Schatz, das ist doch jetzt nicht dein Ernst!« Rennis Gesichtsausdruck spiegelte Unglauben wider.
»Was?«
»Du weißt genau, was. Und du weißt auch ganz genau, dass ich nicht auf diese Klapperschlange auf zwei Beinen stehe.« Mit einem Lächeln ging Renni auf Monika zu. »Wie sollte ich auch? Wo ich dich habe?«
»Weiß man’s?« Monika wirkte nicht überzeugt.
Schnell zog Renni sie in ihre Arme und küsste sie. »Glaubst du es jetzt?« Sie musterte Monikas Gesicht mit einem zärtlichen Blick. »Du bist einmalig. Ich würde dich gegen keine andere Frau eintauschen. Und schon gar nicht gegen Charlotte Ahrens.« Sie stieß geradezu entsetzt die Luft aus.
»Sie ist nicht verheiratet und scheint auch mit niemandem näher befreundet zu sein«, bemerkte Monika nachdenklich. »Frei wie ein Vogel.«
»Woran das wohl liegt?« Renni lachte trocken auf. »Neben der bekommt man ja Frostbeulen.« Ihre Hand fuhr ziemlich eindeutig über Monikas schön gerundeten Po. »Ganz im Gegensatz zu dir.«
»Essen oder Sex«, sagte Monika. »Du musst dich entscheiden. Beides gibt es nicht.«
Irritiert runzelte Renni die Stirn. »Seit wann das denn? Ist das eine neue Regel?«
»Ich frage mich, wie Charlotte Ahrens das handhabt«, murmelte Monika versonnen.
»Ach, deshalb . . .« Renni grinste. »Ich wette, sie kocht nicht. Also . . . wenn du mich vor die Wahl stellst, weiß ich schon, wofür ich mich entscheide.«
»Ich habe aber Hunger«, sagte Monika. »Es gibt Herz-Lungen-Haschee.«
Während Renni schluckte, schien es fast, als würde sie ein wenig blass.
»Nicht aus meinen Leichen«, beruhigte Monika sie mit einer gewissen Schadenfreude. »Vom Metzger.«
»Du kannst eine ganz schön erschrecken.« Rennis Mundwinkel zuckten.
»Hast du verdient«, sagte Monika. »Und jetzt wasch dir die Hände und setz dich an den Tisch. Sonst wird alles kalt.«
Nun konnte Renni ihre Mundwinkel kaum mehr beherrschen. »Ja, Mami«, sagte sie. »Bin gleich wieder da.« Im Bad legte sie Waffe und Jackett ab, wusch sich Hände und Gesicht und richtete sich dann auf, um sich abzutrocknen. Dabei fiel ihr Blick in den Spiegel. Sie grinste sich selbst zu. »Bist schon ein verdammt glückliches Teil, Renni Schneyder«, murmelte sie übermütig. »Wer hätte das vor einiger Zeit gedacht?«
»Kommst du?«, hörte sie Monikas Stimme. »Mit wem unterhältst du dich da?«
»Niemand«, rief Renni zurück. »Komme schon.«
»Niemand?«, fragte Monika misstrauisch, als Renni sich endlich vor ihren Teller setzte. »Hörte sich an, als hättest du im Bad telefoniert.«
Mit einem ernsthaften Nicken tat Renni so, als würde sie diese Vermutung bestätigen. »Mit Charlotte Ahrens. Wir wollten uns heute Abend noch treffen.« Als sie Monikas Gesichtsausdruck sah, fing sie an zu lachen. »Schatz, wirklich. Jetzt hör aber auf. Ich habe mit mir selbst gesprochen.« Sie griff nach Monikas Hand und drückte sie liebevoll. »Womit ich so viel Glück verdient habe, habe ich mich gefragt. Du bist hier, bei mir, ich komme nach Hause und habe das Gefühl . . .« Kurz blickte sie sich um. »Ja, es ist wirklich ein Zuhause. Nicht nur ein Ort, an dem man schläft, weil das ja irgendwo sein muss.«