Heilige Wut - Prof. Thomas OSB Quartier - E-Book

Heilige Wut E-Book

Prof. Thomas OSB Quartier

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Beschreibung

Thomas Quartier ist seit seiner Jugend fasziniert von Klosterleben, Revolution und Bob Dylan. In seinem Buch beschreibt er, wie das nicht nur vereinbar ist, sondern warum es nicht ohne geht, zumindest nicht für ihn. Das Klosterleben ist für Quartier eine Provokation, die jeden innerhalb und außerhalb der Klostermauern wachrütteln kann. Diese Provokation erlebbar machen, das will Quartier in diesem Buch, denn: "Wer bereit ist, sich von diesem Leben inspirieren zu lassen, ist auch selber permanent im Aufbruch. Er wird zum Grenzgänger." Für Quartier ist das Leben als Mönch deshalb vor allem eines: radikal. Und seine Radikalität soll ansteckend sein, auch für Menschen, die nicht im Kloster leben. Sein Appell: Lasst uns Grenzjäger sein! Das Klosterleben gehört eindeutig nicht mehr zu den gesellschaftlich anerkannten Wegen, seinem Leben Sinn zu verleihen. Es stellt eigentlich keine realistische Lebensperspektive mehr dar. Menschen haben von der Tradition gehört, wissen, dass es Mönche und Nonnen gab. Aber heute kann doch kein normaler Mensch mehr auf die Idee kommen, diese Lebensform zu wählen, so mysteriös sie auch sein mag. Es gibt verschiedene Gründe, warum Quartier ins Kloster eingetreten ist. Heutzutage ist eine solche Lebensentscheidung für jeden ein sehr persönlicher Prozess. Er selbst hat ein Leben im Kloster bis kurz vor seinem Eintritt nie als realistische Möglichkeit in Betracht gezogen. Noch heute erschreckt er sich manchmal morgens, wenn er in seiner Klosterzelle aufwacht. Aber seit dem Tag seines Eintritts hat er keine Stunde als sinnlos erfahren. Es lohnt sich, das Ganz-Andere zu tun, sich verstören zu lassen. Nur so lassen sich Bereiche des Lebens erreichen, von denen man gar nicht wusste, dass es sie gibt. Was heißt "radikal leben"? Bedeutet es, ausgeflippt oder fanatisch zu sein? In der Alltagssprache denken viele an diese Bedeutungen. Radikalität fasziniert "junge Rebellen" und schreckt Menschen in einer gesetzteren Lebensform ab. Im eigentlichen Sinne geht es weder um Extravaganz noch um Extreme. Es geht vielmehr darum, sein Leben von der Wurzel her konsequent zu gestalten. Sicher gibt es scheinbar radikale Menschen, die aber ganz anders sind, als es ihr radikales Engagement vermuten lässt. Mönche sind nicht so. Ihr ganzes Leben entsprießt derselben Wurzel, nämlich radikal dem Ruf Gottes ins Kloster zu folgen. Ausnahmen gibt es im Idealfall nicht, auch keine Freizeit im eigentlichen Sinne. Mönch sein heißt radikal sein, und zwar radikaler als die "Radikalinskis", die gerade in unserer bewegten Zeit immer wieder für Schlagzeilen sorgen.

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Pittner Design

Umschlagmotiv: © iStock – aluxum

Als deutsche Bibelübersetzung ist zugrunde gelegt:

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes.

Vollständige deutschsprachige Ausgabe 

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005

E-Book-Konvertierung: post scriptum, Vogtsburg-Burkheim / Hüfingen

ISBN Print 978-3-451-37987-1

ISBN E-Book 978-3-451-81261-3

Inhalt

Verstörungen

I. Umwege ins Kloster

1 Wut

2 Berufung

3 Übergang

II. Dienst an Gott

4 Struktur

5 Bedeutung

6 Irritation

III. Dienst am Menschen

7 Gastfreundschaft

8 Gehorsam

9 Radikalität

IV. Resonanzen aus dem Kloster

10 Musik

11 Theater

12 Geschichte

Ewigkeit

Anmerkungen

Über den Autor

In dankbarer Erinnerung

an meinen Vater Paul Quartier (1936–1992)

Vorbild für die Suche

Verstörungen

»Warum sind Sie Mönch geworden?« Der Unterton, mit dem mir diese Frage oft gestellt wird, schwankt zwischen Neugier und irritierter Ablehnung. Die einen finden es erstaunlich, dass ein Wissenschaftler und Buchautor, Mitte vierzig, ein Leben als Klosterbruder führt. Die anderen ärgern sich, werfen mir vor, mich aus der Verantwortung zu stehlen: »Sie hätten in der Welt doch so viel bewegen können und verkriechen sich stattdessen in einem Kloster!« Viele Außenstehende verstehen nicht, dass Klosterleben sich nicht nach gängigen Maßstäben bemessen lässt. Die Bemerkung zweier älterer Damen, an denen ich einmal mit einem gleichaltrigen Mitbruder in der Stadt vorbeilief, hat mir dahingehend die Augen geöffnet: »Ach, wie schade!«, sagten sie. Und ich gehe fest davon aus, dass sie uns nicht als potenzielle Flirtpartner im Auge hatten. Vielmehr empfanden sie, was wir tun, als Verschwendung.

Andere wiederum stellen sich das Klosterleben als Idylle, fern vom »wirklichen Leben« vor: »Sie haben es gut im Kloster. Die Ruhe und die Ausgeglichenheit, die hätte ich gerne«, sagen mir viele. Ich kann diesen Eindruck nicht teilen. Das Kloster ist keine heile Welt! Oft genug war ich in den letzten Jahren verstört, musste immer wieder lernen, die Stille und den Raum des Klosters zu ertragen. Solche Erfahrungen assoziiere ich mit dem Wort »Verstörung«, das der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard für die Abgründe des Lebens verwendet. Seinem Roman mit gleichem Titel stellt er ein Zitat von Blaise Pascal voran: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern«.1 Die Fragen und Bemerkungen von Lesern und Zuhörern konfrontieren mich stets aufs Neue mit meinen eigenen Verstörungen. Mit jenen Erfahrungen, die einem alles abverlangen. Anders als bei Bernhard hoffe ich jedoch, dass mich jede Verstörung einen Schritt weiterbringt, dass das »Schweigen des unendlichen Raumes« zu einem heiligen Schweigen wird. Ich glaube, dass man Verstörungen in seinem Leben suchen und daran wachsen muss. Es ist unsere Aufgabe, sie zu heiligen.

Das Klosterleben gehört eindeutig nicht mehr zu den gesellschaftlich anerkannten Wegen, seinem Leben Sinn zu verleihen. Es stellt eigentlich keine realistische Lebensperspektive mehr dar. Menschen haben von der Tradition gehört, wissen, dass es Mönche und Nonnen gab. Aber heute kann doch kein normaler Mensch mehr auf die Idee kommen, diese Lebensform zu wählen, so mysteriös sie auch sein mag. Viele sagen mir das ins Gesicht: »Sie sind doch noch so jung …« Es ist wohl nicht als Kompliment gemeint. Auch werde ich immer wieder gefragt: »Zu wie vielen sind Sie noch in Ihrer Abtei?« Das finde ich taktlos. Was heißt hier »noch«? Diese Fragen zeigen, dass die Lebensform als solche – wie viele heilige Lebensformen und -bereiche – heute eine Verstörung ist.

Es gibt tatsächlich immer weniger Ordensberufungen. Das stimmt die meisten Leute pessimistisch, was die Zukunft des Klosterlebens angeht. Ob sie ahnen, welche Wut, Irritation, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit jeder einzelnen Entscheidung zum Eintritt in ein Kloster vorangehen? Da sind die vielen Zweifel an der Sinnhaftigkeit und der Relevanz des Klosterlebens; das erschaudernde Schweigen; der große Mut, gesellschaftlichen Trends und persönlichen Wunschvorstellungen zu trotzen. All das hat viel mit einer Wut im Bauch zu tun. Mit dem unruhigen Gefühl, dass die Welt einem nicht geben kann, wonach man sucht. Es mag manchen überraschen, dass ein Gefühl wie »Wut« mit dem Klosterleben zu tun haben kann. Wut ist längst nicht immer so zweck- und zielgerichtet, dass man sie direkt in ein Lebensprojekt umsetzen könnte. Sie verlangt die Bereitschaft, sich dem Leben auszusetzen, einschließlich seiner destruktiven Seiten. Im Kloster kann man nämlich nicht wegrennen. Die unbestimmte Wut im Bauch, die Heimatlosigkeit in der Welt, wird zu einer Zerreißprobe. Aber wenn man die akuten Krisenmomente übersteht, kommt man dem Ideal des Klosterlebens gerade durch seine Wut ein Stückchen näher. Man muss seine Wut heiligen, wenn man ein klösterliches Leben führen will.

Es gibt verschiedene Gründe, warum ich ins Kloster eingetreten bin. Heutzutage ist eine solche Lebensentscheidung für jeden ein sehr persönlicher Prozess. Ich selbst habe ein Leben im Kloster bis kurz vor meinem Eintritt für mich nie als realistische Möglichkeit in Betracht gezogen. Noch heute erschrecke ich mich morgens manchmal, wenn ich in meiner Klosterzelle aufwache. Habe ich tatsächlich diesen Schritt gewagt? Lebe ich nun so, wie ich es mir nie vorstellen konnte? Die Verstörung ist keineswegs aus meinem Leben verschwunden. Aber ich habe seit dem Tag meines Eintritts keine Stunde als sinnlos erfahren. Es lohnt sich, das Ganz-Andere zu tun, sich verstören zu lassen. Nur so lassen sich Bereiche des Lebens erreichen, von denen man gar nicht wusste, dass es sie gibt.

Man dringt bis zur Wurzel der eigenen Wut vor. Radix, das lateinische Wort für »Wurzel«, liegt unserem Wort »radikal« zugrunde. Ich muss bekennen, dass es mich immer fasziniert hat, wenn Leute radikal leben. Aber was heißt das? Bedeutet es, ausgeflippt oder fanatisch zu sein? In der Alltagssprache denken viele an diese Bedeutungen. Radikalität fasziniert »junge Rebellen« und schreckt Menschen in einer gesetzteren Lebensform ab. Im eigentlichen Sinne geht es weder um Extravaganz noch um Extreme. Es geht vielmehr darum, sein Leben von der Wurzel her konsequent zu gestalten. Ich bin sicher, dass viele scheinbar radikale Menschen in bestimmten Lebensbereichen ganz anders sind, als es ihr radikales Engagement vermuten lässt. Mönche können das nicht. Ihr ganzes Leben entsprießt sozusagen derselben Wurzel, nämlich radikal dem Ruf Gottes ins Kloster zu folgen. Ausnahmen gibt es im Idealfall nicht, auch keine Freizeit im eigentlichen Sinne. Mönch sein heißt radikal sein, und zwar radikaler als die »Radikalinskis«, die gerade in unserer bewegten Zeit immer wieder für Schlagzeilen sorgen.

Viele Leute können sich nicht vorstellen, was Mönche den ganzen Tag lang tun. Sie wissen wenig von ihren Empfindungen und von jenem schwierigen Gleichgewicht zwischen klösterlicher Zurückgezogenheit und gesellschaftlichem Engagement, zwischen persönlicher Eigenheit und klösterlicher Disziplin, zwischen Aufgeschlossenheit und Absonderung. Wenn man dieses Gleichgewicht sucht, bringt es nichts, seine spontanen Gefühle zu unterdrücken. Denn früher oder später würden sie auch im Kloster wieder zum Vorschein kommen, im »Schweigen des unendlichen Raumes«. Man muss sich seiner Wut stellen, und zwar radikal, von Grund auf. Das Kloster hilft, dabei nicht verrückt zu werden. Es bietet eine Struktur, die hilft, nicht in der Verstörung stecken zu bleiben. Man öffnet sich im geschlossenen Raum. Radikalität in diesem Sinne schottet nicht ab und verstellt nicht den Blick. Im Gegenteil, sie zwingt einen, die Augen zu öffnen.

Oft frage ich mich, worauf sich Wut und Radikalität eigentlich richten: auf einen selbst, auf die Menschen in der direkten Umgebung, auf die Gesellschaft oder die Politik? Alles das ist nicht falsch, aber der Kern ist ein anderer. Die Wut sitzt tiefer, sie ist selber radikal: unbestimmt und dadurch allumfassend. Heiligt man sie, öffnet man sich für den eigenen Lebensentwurf.

Ich lebe im Kloster mit einer Gruppe von Menschen, die ich mir nicht selber ausgesucht habe. Es geht nicht um meine persönliche Vorliebe, nicht um Sympathie oder Antipathie, sondern um das gemeinsame Ideal. Nicht die Wut aufeinander bestimmt unseren Tagesablauf, auch wenn es in einer Gruppe von Junggesellen weiß Gott genug Irritationen gibt. Nein, uns alle treibt die Wut auf eine Scheinwirklichkeit an, die uns ein menschenwürdiges Leben, das für Gott offen ist, unmöglich zu machen droht.

Dieser Antrieb ist Zweck an sich und heiliges Ziel zugleich. Er kann durch keine schlechten Prognosen für die Zukunft des Ordenslebens ins Wanken gebracht werden. Ob nun viele oder wenige denselben Weg gehen wie ich, ist mir persönlich relativ egal. Natürlich freue ich mich, wenn es in unserem Kloster neue Berufungen gibt. Aber letztlich würde ich auch mit nur zwei Mitbrüdern dasselbe tun wie heute: »Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.« (Mt 18,20) Auch die Meinung, dass ich als junger Wissenschaftler »einen toten Gaul reite«, weil ich mich für das Klosterleben entschieden habe, wie mir ein guter Freund letztens scherzhaft bei einem Bier sagte, berührt mich nicht wirklich. Solange ich auf diesem Weg bin, existiert er. Ich habe mich genug darüber aufgeregt, mich daran gerieben und darunter gelitten.

Ich habe meine Verstörungen aus den letzten Jahren vor und während des Noviziats und die Versuche, meine Wut zu heiligen, aufgeschrieben. Sie sind wahrscheinlich ganz und gar nicht, was sich Außenstehende unter der ersten Phase eines Klosterlebens vorstellen. Ich habe den Versuch unternommen, meiner Entwicklung radikal auf den Grund zu gehen. Dabei sind für mich sehr merkwürdige Erfahrungen und Gefühle ans Tageslicht gekommen. Daher eignen sich die folgenden Kapitel absolut nicht als Einführung ins Klosterleben. Sie bieten auch keinen Leitfaden für jene, die sich von Klosterweisheiten inspirieren lassen wollen. Aber sie können Mönche und Nonnen, Assoziierte (bei uns heißen sie »Oblaten«), Gäste und all die vielen anderen, die ihre eigene heilige Wut und ein radikales Leben suchen, zum Nachdenken anregen. Wenn meine Verstörungen ein Spiegel sind, in dem sie alle sich betrachten können, haben sie ihren Zweck mehr als erfüllt.

I. Umwege ins Kloster

1 Wut

Als ich zum ersten Mal für längere Zeit in einem Kloster zu Gast war, packte mich die Wut. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Es war in meiner Studentenzeit. Ich war zwar schon öfters für Besichtigungen in Abteien gewesen oder hatte in Klosterbuchhandlungen gestöbert, doch dieses Mal war es eine bewusste Entscheidung. Wir sollten mit einer Gruppe einige Tage dort verbringen. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, denn Wut war zu der Zeit meine Lebenshaltung. Es gab nichts, worüber meine damaligen Weggefährten und ich in der Gesellschaft, der Kirche und der Weltpolitik nicht wütend gewesen wären. Wir waren engagiert und angetrieben von dem sicheren Gefühl, dass alle, die unsere Empörung nicht teilten, schlechten Willens sein mussten. Es war eine ungestüme und wunderbare Zeit! Würde an einem Ort der beschaulichen Ruhe Raum für diese Wut sein? Oder würde ich wütend auf die braven Klosterbrüder werden? Ich lief natürlich mit dem Kopf gegen die Wand. Keiner schien sich im Kloster dafür zu interessieren, was mich antrieb. Und das brachte mich erst richtig in Rage. Aber der Reihe nach.

Wir begannen unseren Aufenthalt mit einem Sprung ins kalte Wasser. Als wir gegen 16.30 Uhr ankamen, machte keiner auf. Einem Schild an der Pforte entnahmen wir, dass um 17.00 Uhr die Vesper stattfinden würde. Als junger Theologiestudent hatte ich spontan keine rechte Idee, was ich mir darunter vorstellen sollte. Komisch eigentlich, aber mit dem Stundengebet hatte ich bisher keine Erfahrung, und mit dem klösterlichen schon gar nicht. Wie sollte ich mich verhalten? Wurde von mir erwartet, dass ich mitmache? Das einzige, was ich wusste, war, dass der erste Eindruck aus der Vesper entscheidend sein würde, ob das mulmige Gefühl blieb oder nicht. Denn aus dem Aushang konnte ich schlussfolgern, dass wir in den kommenden Tagen noch viele Gottesdienste dieser Art besuchen würden. Sieben Mal täglich, um genau zu sein. Ich kannte den Leitspruch: »ora et labora« (bete und arbeite). Das also tat man hinter den dicken Klostermauern, hinter denen ich mich nun wiederfand.

Der erste Gottesdienst in der Klosterkirche irritierte mich ungemein. Das war verschiedenen Umständen geschuldet. Zunächst machte mich die Ruhe der Mönche nervös. Wie sie in einer unendlich langsamen Prozession in die Kirche einzogen, wie sie mit Bedacht ihre Chorbücher aufschlugen, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, dass ein innerer Antrieb den Gottesdienst zu einem lebendigen Geschehen machen würde! Schon der Beginn wirkte sehr träge, die Mönche beinahe desinteressiert. Hatten diese Männer keine Lust? War die Ruhe das Resultat einer abgestumpften Routine? Auch der Gesang, den sie schließlich intonierten, war von einer Eintönigkeit, dass ich nach der langen Autofahrt zum Kloster beinahe einschlief. Waren die Mönche nicht schon längst innerlich eingeschlafen? Waren sie ihrer eigenen klösterlichen Stille zum Opfer gefallen?

Die zweite Irritation folgte auf dem Fuße. Die Gemeinschaft, die dort so geruhsam einzog, wies große Unterschiede auf, was Gesundheitszustand und Mobilität betraf. Unter ihnen waren langsame Mönche, die am Stock gingen. Wie würde es für die anderen sein, sich nach ihnen zu richten? Würde einer des anderen Last tragen? Ich ging davon aus, dass sie einander helfen, sich gegenseitig durch kleine Gesten anspornen und ermutigen würden, immer aufmerksam auf die Signale der Bedürftigen achtend. Aber da waren keine persönlichen Gesten der Verständigung, kein Lächeln, keine helfende Hand. Die Mitglieder waren so aneinander gewöhnt, dass sie sich scheinbar mit den Schwächen der anderen arrangiert hatten. Ich hatte etwas anderes erwartet, eine aktive Zuwendung. Gab es hier denn keinen Zusammenhalt? Wurde denn in dieser sogenannten Gemeinschaft keine Solidarität gelebt?

Die Mönchsgemeinschaft glich eher einer Ansammlung von Individuen, die nebeneinander herlebten und ihre Umgebung kaum wahrzunehmen schienen. Das war der dritte Punkt, der mich am meisten von allen störte. Die einzelnen Mitglieder schauten während der Vesper allesamt auf den Boden. Wenn sie sangen, versanken sie in ihren dicken Chorbüchern. Als ob sie die Gesänge, die sie Woche für Woche anstimmten, nicht schon längst auswendig kannten. Manchmal ließen einige den Blick eher teilnahmslos aus dem gegenüberliegenden Kirchenfenster in die Ferne schweifen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie die Welt da draußen überhaupt nicht wahrnahmen. Die Fenster waren dafür nicht tief genug; sie erlaubten nur einen Blick in den an diesem Tag völlig wolkenlosen Himmel. Die Mönche sangen quasi zwangsläufig ins Blaue hinein. Wussten diese Männer überhaupt, was da draußen los war? Was außerhalb ihrer winzigen Umgebung hier in der Abtei irgendwo im Niemandsland passierte? Dass vielen Menschen die Sonnenseite des Lebens verborgen blieb?

Naivität

Dieses Kloster, in dem ich die nächsten Tage verbringen sollte, machte mich wütend. Meine Aufregung wurde hier nicht beruhigt, im Gegenteil. Wie ungerecht war dieses Miteinander, wie ignorant konnte ein Einzelner sein. Ja, das Kloster war der lebende Beweis, dass Wut die einzig richtige Lebenshaltung war! Vielleicht projizierte ich tatsächlich meine Unzufriedenheit mit der Welt auf diesen Ort. Er wirkte auf mich wie ein Gefängnis. Die Insassen waren freiwillig hier, und das konnte ich beim besten Willen nicht verstehen. Hatten sich diese Menschen vor grauer Vorzeit aus einer jugendlichen Naivität hier einschließen lassen? Meine Wut war lebendig, ihre war tot, sie waren weder Rebellen noch Weltverbesserer, höchstens Steine des Anstoßes. Dabei sahen einige der Brüder durchaus sympathisch aus. Ich hätte gern mit ihnen gesprochen, sie näher kennengelernt. Aber die rigide Form des Klosterlebens machte das nahezu unmöglich. Es waren Gefangene ihrer eigenen Tradition. Ich fragte mich, ob sie nicht auch gerne mit uns Studenten ein Schwätzchen gehalten hätten? Der Rahmen dieses kalten, klobigen Abteibaus lud jedoch auch nicht zur persönlichen Begegnung ein.

Wie rücksichtslos und egoistisch war es, sich nicht stützend jenem alten Mönch zuzuwenden, der trotz seiner Gebrechlichkeit sein Bestes tat, an der Vesper teilzunehmen. Sah denn keiner von seinen Mitbrüdern seine Not? Ich hätte ihm am liebsten selber geholfen. Stattdessen sah es so aus, als würden sich die anderen noch darüber ärgern, wie langsam er lief. Wie konnte man nur so miteinander umgehen! Ich hatte es mir selber zum Prinzip gemacht, mich der Hektik in den Weg zu stellen, wenn Menschen mit Handicaps belächelt oder gedrängt wurden. Ich wusste aus meinem Zivildienst, den ich mit Menschen mit Behinderung absolviert hatte, wie unglaublich diskriminierend und verletzend schon die kleinste Geste sein konnte.

Nur naiv die Augen zu verschließen, wie es hier geschah, das hatte nichts mit Religion zu tun, wie sie zu unserem studentischen Engagement, unserer Energie passte. Zu dieser Zeit lief oft ein Lied im Radio: »How can we sleep, while our beds are burning?« An vielen langen Abenden, an denen wir in Studentenkneipen das Schicksal der Welt erörtert und Pläne geschmiedet hatten, wie wir sie würden verbessern können, hatten wir es rauf und runter gehört. Ich bedauerte, dass der Sänger der australischen Gruppe Midnight Oil, die den Song komponiert hatte, hier im Kloster wohl nicht gehört wurde. Hier war man schon zu Bett gegangen, als die Welt in Brand stand, schon vor Jahrhunderten. Und seitdem hatte sich, so dachte ich damals, rein gar nichts mehr an dieser Tradition geändert. Mönche waren schlicht im Bett geblieben, während es rundherum lichterloh brannte. Das schläfrige Gefühl, das mich bei den nicht enden wollenden Wechselgesängen in der ersten Klostervesper meines Lebens überkam, drohte mich in diese Scheinwelt zu entführen.

Aber das durfte ich nicht zulassen. Mein mulmiges Gefühl kochte immer wieder hoch. Ich wollte nicht in den Himmel schauen, nicht durchs gegenüberliegende Kirchenfenster und auch nicht vor die eigenen Füße! Ich wollte der Realität dieser Welt ins Auge sehen. Naive Blindheit war das Schlimmste, was wir uns als Studenten vorstellen konnten. Wir wollten uns dem Unrecht in der Welt widersetzen, nicht in einen meditativen Schlaf fallen. Ich war fest davon überzeugt, dass man als Mensch die Pflicht hatte, die Welt zu verändern. Man musste sie besser machen! Das war unmöglich, wenn man sich von einer rigiden Klosterdisziplin einlullen ließ.

Pflicht

Ich ahnte bei jenem ersten Klosterbesuch noch nicht, welche Zweifel der Aufenthalt bei mir auslösen würde. Ich wusste nicht, wie viele Veränderungen, Undeutlichkeiten, Panikattacken, aber auch läuternde Momente noch folgen würden. Ich war so versteift in meiner Wut auf das Kloster, auf die Gemeinschaft und die einzelnen Mönche, dass ich nicht in der Lage war, über meine Nasenspitze hinaus zu schauen. Ich hatte dieses bestimmte und bestimmende Gefühl, dass ich der Einzige war, der hier wusste, was jeder Mensch zu tun hatte, um die Welt zu retten. Dieser Blick sagte mir überdeutlich: »Klosterleben ist das sinnloseste Leben, das es gibt«, wie ich es damals in meinem Tagebuch festhielt. »Mönche entziehen sich wirklich jeder Verantwortung. Sie unterscheiden sich kaum von der Ignoranz breiter Gesellschaftsschichten. Die Selbstgerechtigkeit, den Konformismus, Egoismus und die Ignoranz kann ich nicht akzeptieren!«

Hatte ich wirklich etwas anderes erwartet? Vielleicht. Denn bei aller Unkenntnis haftete dem Klosterleben doch auch etwas Ungewohntes, ja Unwirkliches an. Vielleicht kam daher das Muffensausen bei unserer Ankunft. Vielleicht hatte ich mich zu sehr von Klischees leiten lassen, aber ich hatte auch in meinem Studium aufgeschnappt, dass die »Verbürgerlichung« seit den Anfängen des Mönchtums eines seiner Schreckbilder gewesen war. Es gab wohl kaum eine auffälligere Art, sein Leben einzurichten.

Die frühen Asketen entflohen den bürgerlichen Zwängen durch den Kampf in der Wüste. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es so etwas wirklich gab. Insgeheim fragte ich mich: Lebten diese Männer wie wir? Wie sah ihr praktisches Leben aus, ihre Schlafumgebung, ihre Körperhygiene? All das entzog sich meiner Vorstellungskraft. Die Mönche in der Abtei, wo wir zu Gast waren, lebten vielleicht nicht ganz so asketisch. Aber unwirklich waren sie trotzdem.

Darum sprach ich jene, denen ich im Kloster begegnete, auch nicht an. Ich hatte das Gefühl, dass man das eben nicht macht. Andersheit so konsequent zu wagen, das konnte es eigentlich nicht geben. Das war verrückt! Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich selber einmal Mönch sein würde, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Die Andersheit des Klosters widersprach so ungefähr allem, was mir in meinen Studentenjahren heilig war. Gerade wegen der respekteinflößenden Distanz blieb ich bei meinem ersten Besuch mehr als kritisch. Diese Mönche machten in meiner Wahrnehmung nichts aus dem Potenzial ihrer Lebensform. Weder was ihre jeweilige Ausstrahlung noch was ihr Zusammenleben oder gar den Bezug zur Weltpolitik anging. Sie kamen ihrer Pflicht nicht nach, sie stahlen sich einfach aus der Affäre.

Ich finde immer noch, dass man dem eigenen Leben, seinen Mitmenschen und der Weltpolitik nach bestem Wissen und Gewissen verantwortungsvoll entgegenzutreten hat. Aber wer kann von sich behaupten, darin je einen konkreten Erfolg erzielt zu haben? Was ist ein Erfolg, wenn es ums Weltverbessern geht? Wer setzt die Maßstäbe? Meine Ablehnung kam vielleicht auch durch mein Unvermögen, mit meinem eigenen Engagement, meiner Weltverbesserer-Attitüde ins Reine zu kommen. Ich weiß noch, wie wir als Erstsemester Flyer verteilten. Sie luden zu einer Mahnwache gegen die Entscheidung des Stadtrates, Bäume im Stadtzentrum abzuholzen, ein. Es kamen ganze fünf Leute, und wir hielten unser Projekt für gescheitert. Ein Resultat der Aktion war jedoch, dass zwei meiner Kommilitonen sich Greenpeace angeschlossen haben. Sie engagieren sich auch heute noch für den Umweltschutz und haben gelernt, dies aus ihrem theologischen Wissen heraus zu begründen. Sie wurden zu echten Schöpfungstheologen, ihr ganzes Leben hat sich geändert. Auch ohne messbaren Erfolg machten sie weiter.

Ein Misserfolg? Mitnichten, nur hat sich der Erfolg nicht in einem direkten Effekt geäußert. Wenn etwas tatsächlich eine heilige Pflicht ist, dann lässt der Sinn der Sache sich nie an ihrer Zweckmäßigkeit bemessen. Nicht der Erfolg ist entscheidend, sondern der gemachte Anfang birgt die Erfüllung schon in sich. Das bedeutet nicht einfach, dass es einen Trostpreis für den Zweiten gibt. Es ist keine billige »Dabeisein ist alles«-Ausrede oder eine trotzige »Jetzt erst recht«-Reaktion. Vielmehr sind hier all jene Handlungen gemeint, die Menschen ohne Wenn und Aber verrichten. Ohne großes Aufsehen. Aktionen, deren Beginn und Ende man eben nicht selber in der Hand hat. Bei meinen Kommilitonen hätte man nicht fragen müssen, wie sie ihr Leben nach ihrer Wut auf die Umweltzerstörungen konkret ausgerichtet haben. Wichtig war, dass sie ihr Engagement für die Natur nicht mehr dem Erfolgsdruck von außen unterordneten.

Positive Vorzeichen

Solche Handlungsfelder, deren Sinn auf einer Art heiligem Grundsatz basiert, sind in der heutigen Gesellschaft selten geworden. Was würden wir überhaupt tun, wenn wir schon vorher davon ausgehen, keinen nennenswerten Erfolg zu haben? Wenig, so müssen wir uns wohl eingestehen. Entzogen sich die Mönche nicht genau diesem Erfolgsdruck, der mich selber als jungen Studenten antrieb? Im Vorfeld des Klosterbesuchs hatte ich mir klare Ziele gesetzt, an denen ich würde abmessen können, ob ich etwas davon gelernt hatte und ob es mir etwas bringen würde für mein ach so wichtiges Engagement als junger Theologe. Ich konnte nur enttäuscht werden. Daher konnte ich es nicht ertragen, dass das Engagement der Brüder hier schlicht anders und vor allem viel umfassender und weniger zielgerichtet war.

Eines war mir damals viel weniger klar, als ich mir selber eingestand: wie man die Welt verändert. Wie man seine Wut über Scheitern, Leiden und Ungerechtigkeit fruchtbar machen kann, ohne in blinden Aktionismus zu verfallen. Ich tat, was ich konnte. Die Probleme der Welt raubten mir zuweilen den Schlaf. Wie gingen die Mönche im Kloster mit ihrer Sehnsucht nach einer besseren Welt um? Diese Frage hatte ich beantwortet, bevor ich sie überhaupt stellte. Ihre Sehnsucht war erkaltet, sie hatten sie in einer Wolke aus Weihrauch erstickt. Die vielen ganz in der Nähe immer wieder ausbrechenden Kriege, die Schändung des Völkerrechts, all das ließ sie kalt. Wirklich? Oder war das Kloster sogar der Ort, an dem man am intensivsten in Beziehung zu allem stand, was in der Welt geschah? Sah es vielleicht nur auf den ersten Blick so aus, als wären die Brüder unnahbar? War es nur äußerer Schein, dass sie sich nicht füreinander und für die schwächeren Mitglieder ihrer Gemeinschaft und auch nicht für Politik interessierten? Hatten sie ihre Sehnsucht vielleicht so verinnerlicht, dass sie Teil ihrer Suche nach Sinn und Identität geworden war? Nach Gott?

Im Laufe der Zeit wurde ich immer unsicherer, wenn es darum ging, herauszufinden, worin meine eigene heilige Pflicht bestand. Ich beschloss, meinem Leben eine geistlichere Richtung zu geben, um von meinem eigenen Anspruch nicht erdrückt zu werden. Vielleicht war dafür Wut nötig. Aber dann mit positiven Vorzeichen. Dazu musste ich ihr einen Rahmen geben, eine Bestimmung. Wenn ich weiterhin mein Bauchgefühl nur auf die Mönche projektieren würde, die nicht das taten, was ich bis dahin als sinnvoll erachtet hatte, sagte das im Endeffekt mehr über mich aus als über sie. Ich wollte meine vorgefertigten Muster loslassen, ohne dabei meine Empörung zu verlieren. Gelungen ist mir das lange Zeit nicht. Ich habe mich schwarzgeärgert. Aber manchmal müssen sich die Wogen im Leben erst ein wenig glätten, bevor man erkennt, wohin einen die Strömung treibt.

Heiligkeit

Eines aber war mir von Anfang an klar: die Lebensform der Mönche ist etwas Heiliges. Gottesmänner beherrschen die Kunst, ihre Lebensform ganz auszufüllen. Man könnte sie mit dem Soziologen Max Weber als »religiöse Virtuosen« bezeichnen.2 Damit ist nicht das Tempo ihrer Bewegungen, der Abläufe in ihrem Alltag oder ihres Gottesdienstes gemeint. Wohl aber, dass sie sich ganz einem Stil verschrieben haben. Der religiöse Virtuose heiligt, was er tut. Nur was genau im Kloster geheiligt wurde, wusste ich anfangs nicht. Ich habe erst nach und nach erkannt, dass einfach alles hier der Heiligung unterlag. In einer Abtei gibt es keinen Lebensbereich, der nicht unter heiligen Vorzeichen steht. Die Stille hat mich immer besonders berührt. Ich wunderte mich: Warum schweigen die Mönche? Haben sie sich denn nichts zu sagen? Das war mein erster Gedanke. Erst im Laufe der Zeit verstand ich: Die Tatsache, dass im ganzen Haus auf Stille geachtet wird, erhöht die Aufmerksamkeit, ob man nun geht oder steht. Diese aufmerksame Stille heiligt die Gemeinschaft, so dass sie offen wird für das, worum es wirklich geht.

Das Wort Heiligkeit klingt sehr abstrakt. Was genau ist damit gemeint? Ich kann es nur mit dem Wort »Gott« ausdrücken. Hier mag nun der Moment anbrechen, wo mancher anarchistische Aktivist meinen Erfahrungen beim Klosterbesuch nicht mehr folgen kann. »Gott« gehört in die Kirche, hat aber nichts mit der Welt von heute zu tun, die wir verbessern wollen. Vielleicht aber doch. Denn nur, wenn wir unser Engagement als Ausdruck eines ultimativen Verlangens, als Heimweh nach einer besseren Welt verstehen, wird unsere Wut geheiligt. Sonst verläuft sie sich in destruktiven Emotionen. Das bedeutet nicht, dass wir uns damit vertrösten sollten, dass »Gott schon alles richten wird«. Solche Ausreden sind viel zu billig, als dass man sein ganzes Leben danach ausrichten könnte. Nein, vielmehr kommt man zu einer heiligen Lebenshaltung. Aber wie macht man das?

Der heilige Benedikt von Nursia, der im sechsten Jahrhundert seine berühmte Regel für Mönche in seinem Kloster schrieb, sagt, dass es nur auf eines ankommt, wenn jemand ins Kloster eintritt: dass er »Gott sucht« (RB 58,7).3 Sollte das eine Möglichkeit sein, engagiert zu leben? Ich war bei meinem ersten Besuch längst noch nicht so weit, das zu erkennen. Gott zu suchen heißt, sich voll und ganz der Welt zuzuwenden. Aber nicht irgendwo, sondern hier und jetzt, im fokussierten Raum des Klosters. Ich habe lange Zeit dafür gebaucht zu verstehen, dass die Mönche, die ich da in der ersten Vesper sah, alles andere als weltfremde Träumer waren.

Es ist mir, um ehrlich zu sein, während jenes ersten Besuchs kein bisschen gelungen. Ich bin mit demselben unguten Gefühl im Bauch wieder nach Hause gefahren. Dieses Gefühl war profan, es richtete sich gegen alles, was ich erlebt, aber nicht wirklich wahrgenommen hatte. Ich war mir sicher, nie wieder in ein solches Kloster zu fahren. Es widerstrebte meiner kritischen Studentenehre, mich mit Menschen zu identifizieren, die nicht bereit waren, die Konsequenzen aus ihren Empfindungen zu ziehen. So faszinierend die Klosterwelt auch für viele sein mochte, für mich war sie ein trügerischer Schein. Ich wollte mich nicht in den Chor der angepassten Ruheapostel scharen, die im Gottesdienst so tun, als sei die Welt ein friedlicher Ort. Je weiter ich mich als Theologiestudent entwickelte, umso mehr hatte ich das Gefühl, dass man in Bewegung kommen muss, um die Welt zu verändern. Und schon waren meine Emotionen wieder mit mir durchgegangen.

Heute weiß ich, dass hinter diesen Empfindungen mein eigener Kampf mit dem uralten Dilemma zwischen einem aktiven und einem kontemplativen Leben steckte. Ich konnte mir unter dem Wort »Kontemplation« nichts vorstellen. Wenn man Unrecht sieht und einen dadurch die Wut packt, muss man zur Tat schreiten. Es hilft gar nichts, so dachte ich damals, sich der spirituellen Suche nach dem Höheren zu widmen, zu meditieren oder gar zu beten. Der Umkehrschluss galt genauso: wenn man nicht in Aktion kommt, ist man blind für das Unrecht. Diese Logik schien mir keine Missverständnisse zuzulassen. Die Geschichte des geistlichen Lebens aber lehrt uns, dass das Verhältnis zwischen der Suche nach dem Höheren und dem Engagement für die Kleinen komplizierter ist, als ich glaubte. Es galt, nach einem Gleichgewicht zwischen Kontemplation und Aktion zu suchen, auch wenn ich das damals noch nicht so benennen konnte. Der amerikanische Trappistenmönch Thomas Merton, eines meiner großen geistlichen Vorbilder, hat mir schon früh den Weg gewiesen: »Aktion ist Liebe, die sich nach außen wendet, an andere Menschen. Kontemplation ist Liebe, die sich nach innen zieht, zu ihrem göttlichen Ursprung. Aktion ist der Strom, Kontemplation die Quelle.«4

Die Tatsache, dass ich im Kloster so heftig reagierte, hat etwas mit der Musikalität zu tun, von der im Zusammenhang mit religiöser Empfindung häufig gesprochen wird. Nur wenige musikalische Menschen, aber kein unmusikalischer wird ein Virtuose. Ich habe im Laufe der Zeit gelernt, dass es viele engagierte Weltverbesserer gibt, die zugleich religiös musikalisch und dadurch große Beter sind. Es hat Jahre gedauert, bis ich gespürt habe, dass ihr Gebet kein Ablenkungsmanöver, keine Zeitverschwendung und keine Beruhigungstechnik war, sondern Teil ihres Engagements. Es gab Leute, die sehr praktisch veranlagt waren, wenn sie mit ihrer heiligen Wut irgendwohin mussten. Andere waren eher beschaulich und gaben ihrer Wut im Gebet Raum. Aber sie alle hatten nur ein Ziel, sie wollten die Welt besser machen, »damit Gott in allem verherrlicht werde« (RB 57,9), wie Benedikt es von uns verlangt. Das ist die Musik des Lebens. Kein Trost, sondern Antrieb, keine Ignoranz, sondern vertieftes Bewusstsein, keine Verantwortungslosigkeit, sondern Selbstaufgabe als Zeichen der Verantwortung. Ich sehe mich heute wie ein Klavierschüler, der durchaus Gefühl für Musik hat, sich aber zu oft vor den Fingerübungen drückt. Früher oder später muss er sich auch diesen stellen, sonst wird sich seine Musikalität nie ganz entfalten. Er muss einen angemessenen Rahmen für seine eigene Musik finden, denn man kann auch in kleine, leichtere Stücke eine große Portion Musikalität legen. Ein Virtuose bin ich nie geworden.

Unruhe

Noch immer beschleicht mich während der Vesper in derselben Abtei, in der ich inzwischen seit einigen Jahren als Mönch lebe, eine gewisse Unruhe. Manchmal ist sie latent, manchmal heftig. Was mache ich hier in Gottes Namen, wenn ich es nun selber bin, der aus dem viel zu hohen Kirchenfenster oder auf den Boden schaut wie seinerzeit »die Mönche«? Ich bin immer noch auf der Suche, aber eines ist klar: das mulmige Gefühl habe ich nicht verloren, bis jetzt zum Glück noch nicht. Ich bin politisch viel wacher als während meiner Studentenzeit. Die Unruhe stört mich auch nicht, im Gegenteil. Sie erinnert mich daran, dass ich in meiner Lebensform meine Wut stets aufs Neue heiligen muss, dass ich ihr einen Raum geben muss, der nicht von äußeren Maßstäben abhängig ist. Dieser Raum ist für mich das Kloster geworden. Ein Ort der Suche nach Ruhe und Frieden, voller heilsamer Unruhe.

Aus vielen Gesprächen mit Freunden, Gästen und Kollegen habe ich gelernt, dass genau diese Suche keineswegs nur im Kloster stattfindet. Jeder Mensch, der verantwortlich leben will, steht vor derselben Herausforderung. Das Kloster ist lediglich ein möglicher Rahmen, in dem engagierte Menschen konsequent zu leben versuchen. Einigen durfte ich begegnen. Die letzte Vesper, bei der ich unruhig wurde, war zu Christi Himmelfahrt. Als Schriftlesung hörten wir aus der Apostelgeschichte: »Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor?« (Apg 1,11). Taten wir nicht genau das? Schauten wir nicht zum Himmel und vergaßen die Welt, hier in der Idylle unserer Abtei? Sehr schnell fühlte ich wieder die Wut in mir aufsteigen. Aber während der Meditation wurde mir klar: wir brauchen nicht zum Himmel zu starren, um die Heiligkeit unserer Welt zu sehen. Wir können sie überall finden, selbst in unserer Magengrube, in der sich ein Gefühl breitmacht. Kloster und Wut können zusammengehen! Denn ein Kloster ist ein Ort des Friedens. »Pax« steht über dem Eingang vieler Benediktinerabteien. Das ist kein Zufall, denn der Friede ist das Resultat geheiligter Wut.