Heimatkrimi - Maria J. Pfannholz - E-Book

Heimatkrimi E-Book

Maria J. Pfannholz

4,4

Beschreibung

Als der Förster Herrigl am Kegelberg zu Tode stürzt, geht die Polizei von einem Unfall aus. Doch der Lokalredakteur Jo Murmann folgt seinen Ahnungen. Kostete dem Förster der Streit mit den Almbauern den Kopf, war es eine Liebesaffäre, die ihm das Genick brach, oder geschah doch nur ein Unfall? Die Suche nach der Wahrheit führt Murmann tief in die dörflichen Konflikte und weit hinauf in die Intrigen der Hauptstadt. Dabei kann er sich auf seinen Kollegen und den Witz seiner Fantasie verlassen.

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Maria J. Pfannholz

Heimatkrimi

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Schwoab – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4362-6

1. Kapitel

Es war am untersten Huhn in der Hackordnung hängen geblieben. Nun saß die Volontärin heulend in der Küche: »Ihr Sohn ist tot und ich soll da hingehn und klingeln und dann …« Sie zog unter Tränen eine absurde Grimasse und piepste mit verstellter Stimme: »Hallo, wie geht’s Ihnen jetzt? War er gleich tot oder isser noch ein bisschen gekrabbelt, hammse nich ein Bild von der Firmung …« Sie brach ab und schob wütend die Pizzaschachtel weg, die Lehner ihr anbot. Alle anderen hatten Termine vorgeschützt, Murmann hatte sich sogar schlichtweg geweigert.

»Weißt’ was, Maderl«, sagte er jetzt und hoffte, dass er alt genug war, dass sie ihm das ›Maderl‹ als väterlich durchgehen ließ, »weißt’ was, Maderl, fahr da hin, dass du weißt, wie das Haus ausschaut, dann kommst’ zurück und sagst, dass niemand daheim war.«

»Geht das? Ich mein, fliegt das nicht auf?« Die Bernbacher sah ihn erstaunt an.

»Wie soll das auffliegen? Der Chef kennt die Leut nicht und wir sind die einzige Zeitung im Landkreis. Was wir nicht schreiben, ist nicht passiert. Fertig.« Der letzte Satz, den Murmann schon allzu oft selbst gehört hatte, war ein Originalzitat des leitenden Redakteurs.

Am Küchentisch herrschte die gleiche gespannte Stille wie vorhin in der Redaktionssitzung. Murmann probte den Aufstand und keiner wusste so recht, wie man sich dazu verhalten sollte. »Irgendwas werden wir aber bringen müssen«, sagte Hannelore Spittler schließlich. Sie war die dienstälteste Redakteurin, die Seele des Schiffs. Die Meuterei und die Loyalitätskonflikte, in die sie alle stürzen würde, beunruhigten sie. Nervös zerknüllte sie eine Papierserviette, strich sie wieder glatt, nahm ihre randlose Brille ab und begann sie zu putzen.

Den Göttern der Unterwelt muss ein Blutopfer gebracht werden, dachte Jo Murmann bitter und amüsiert zugleich. Laut sagte er: »Die Leute könnten ja wirklich nicht daheim sein, oder? Was machen wir dann? Dann könnten wir auch bloß den Polizeibericht ein bisserl wortreich gestalten und eine dramatische Schilderung des Unwetters vorausgehen lassen. Das wär doch eine ideale Aufgabe für eine Volontärin.« Er erhob sich und nahm die Kaffeetasse mit. An der Tür drehte er sich noch mal um: »Heut Abend treff ich in meiner Schafkopfrunde einen Förster, ich kann ja dem Chef einen Artikel über Bäume im Sturm anbieten und welche Äste besonders gern auf Leute fallen, die unbedingt im Sauwetter durch den Wald joggen gehen.«

Sabine Bernbacher sah ihm dankbar hinterher, schickte dann aus ihren großen blauen Augen einen provozierenden Blick in die Runde: »Der hat Rückgrat.«

»Der hat vor allem eine reiche Frau«, sagte Lehner, »dem kann wurscht sein, wenn er fliegt.«

*

Die Bemerkung war übertrieben. Jos Frau hatte das Haus ihrer Eltern geerbt, eigentlich ein Konglomerat aus Wohnhaus, Brennholzschuppen, einer alten Wellblechgarage und einem Garten, der allmählich seine Form verlor. In die früher sorgfältig gepflegten Gemüsebeete schickten die wilden Erdbeeren ihre Ableger hinein und was die neuen Besitzer laienhaft und zögernd an Salatpflänzchen setzten, wurde umgehend von den Nacktschnecken niedergemacht. Die Wicken betrieben ihre Invasion unterirdisch. Ihre Wurzeln schoben sich von der Hecke aus in die Blumenbeete, die Ranken wanden sich die Stängel der Rittersporne, der Iris und der Feuerlilien hoch und hissten dann oben die Siegesfahnen ihrer weißen Blüten.

Ratlos und ein wenig träge hatten sich Jo und seine Frau in dem alten Tuffsteinhaus verschanzt und ertrugen die grüne Belagerung und den Verlust des nachbarlichen Respektes mit der Hoffnung, dass sie die Kurve ins Landleben schon noch kriegen würden. Sie waren schließlich hier aufgewachsen, aber Ausbildung und Beruf hatten sie in die Großstadt gespült in einem Alter, bevor die gärtnerischen Instinkte erwachen und der geduldige Blick, der das Wachstum der Pflanzen verfolgt. Dann hatte das Schicksal kurz hintereinander zwei dicke Wegweiser in ihren Lebenspfad gerammt: Der erste war schwarz: Jo hatte einen Herzinfarkt. Er war spät von einer Ausschusssitzung des Landtags zurückgekommen, noch rechtzeitig hatte er den 80-Zeiler über die geplante Kürzung der Sozialleistungen getippt und als der Rahmen des Layouts am Bildschirm endlich grün erschien, die 80 Zeilen der Spalte genau gefüllt waren, fuhr der Schmerz in den linken Arm und die Luft hatte plötzlich nicht mehr genug Sauerstoff. Der zweite Wegweiser war vergoldet: Man hatte Birgit eine Stelle in der Leitung der Psychosomatischen Klinik in Werdenheim angeboten. Also machten sie die große Rochade: Sie zogen zurück zu den Stätten ihrer Jugend, Birgit arbeitete nun Vollzeit und Jo ergatterte eine Teilzeitstelle beim ›Werdenheimer Boten‹. Dass eine Stelle frei war, verdankten sie dem Umstand, dass der einzige Konkurrent des Werdenheimer Boten seine Lokalredaktion schließen musste und der Bote seine Anzeigenkunden erbte.

Von seinem Schreibtisch aus konnte Jo nun die Linden auf dem Marktplatz von Werdenheim sehen, die Rathausuhr und die Tische des Cafés gegenüber. Es hätte kaum einen größeren Kontrast geben können zur Stahl- und Glasfassade, die noch vor einem Vierteljahr sein Blickfeld ausgefüllt hatte. Dieses Bild des Marktplatzes und der Linden war für ihn zum Sinnbild geworden für seine neue Perspektive und die Aufforderung, sein Leben neu zu erfinden.

Es war später Nachmittag geworden, als er zuletzt noch die Meldung über die Restaurierung der Mariensäule tippte und zusammenpackte. Immer noch klassisch, der Notizblock. Vieles andere am Beruf hatte sich geändert, aber das war geblieben: Notizblock und Stift. Es war die unabdingbare Vorarbeit schon am Ort des Geschehens, die Gedanken zu ordnen, Unwichtiges von Wichtigem zu unterscheiden.

Bevor er ging, schaute er noch bei Lehner vorbei. Niki Lehner war Teil der Konkursmasse der Konkurrenz. Der Bote hatte ihn wegen seiner Erfahrung in der örtlichen Szene übernommen und auch Jo Murmann hatte bei seiner Bewerbung davon profitiert, dass er noch soziale Kontakte hier hatte, Schulkameraden und Fußballfreunde, die nun in Vereinen und Gemeinderäten saßen und als Informanten taugten.

»Ave«, sagte Lehner. »Morituri te salutant, die Todgeweihten grüßen dich, mein Held. Hat der Chef dein Versöhnungsbröckerl angenommen, das Förster-Rendezvous?« Er blinzelte hinter seinen Bergen ausgedruckter E-Mails und Pressemitteilungen hervor, die von seinen silbergerahmten Familienfotos gekrönt waren. Jo mochte ihn gut leiden. Er sah aus wie ein abgemagerter Zoolöwe, der schrecklich Kopfweh hat. In der Regel sah man von ihm nur die wolligen, rot-blonden Haare, weil er den Kopf tief über die Texte gebeugt hatte; wenn er auftauchte, massierte er sich meist die Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger, kniff die Augen zu und suchte nach einer Formulierung, dabei machte er den Eindruck, als ob er gegen eine ungeheure Zerstreutheit ankämpfen müsse. Wenn er sprach, murmelte er, machte Pausen, als ob er den Faden verloren hätte, verlor ihn aber nie.

»Er hat«, sagte Jo, »gnädig. Weil ich den Kommentar übernommen hab für heute. Ich habe das Ergebnis des Architektenwettbewerbs für die Sparkasse kommentiert.«

»Und? Was steht uns bevor?«

»Drei Entwürfe kriegt der Aufsichtsrat vorgelegt. Der erste ist ein postmoderner Erkersalat, der zweite ein sogenannter konsequenter Bau, das heißt, eine Schuhschachtel aus Beton, und der dritte …« Jo verdrehte die Augen und machte eine Kunstpause. »Also, wie soll ich das beschreiben: Der Bau soll ein Symbol für materielle Werte sein.« Lehners Augen begannen sich schon entsetzt zu weiten. »Also die Winkel sollen ihn so ein bisschen wie einen Kristall ausschauen lassen und dann soll er so ein bisschen glänzen.« Lehner ließ stöhnend seinen Kopf auf die Tischplatte sinken. »Zu dem Zweck wird er weiß gekachelt.« Lehner winselte. »Und damit der Lokalbezug gegeben ist, bekommt er auf die Spitze einen goldenen Wetterhahn.« Lehner hob den Kopf, verzog das Gesicht zu einem stummen Schrei und brachte damit Jo so zum Lachen, dass der vorschlug, statt seines Kommentars eine kleine Fotostrecke von Lehners Grimassen abzuliefern.

»Ja, freilich, Superidee. Dann kündigt die Sparkasse als unsere größte Kundin sämtliche Anzeigen und wir können den Laden hier auch zumachen. Na, sag, was hast du geschrieben?«

»Ich habe bemängelt, dass öffentliche Bauträger nicht die CO2-Bilanz der Gebäude verlangen. Keine Bauenergiekostenrechnung, keine Verwendung von Holz, keine Solaranlagen, nix.«

Lehner nickte. »Das ist allgemein genug und hellgrün, das lässt dir der Herzog durchgehen.« Der leitende Redakteur war politisch anders eingestellt als Lehner und Jo beziehungsweise die Zeitungen, für die sie vorher gearbeitet hatten, und die beiden teilten das Problem brüderlich.

»Freilich lässt der Chef das durchgehen.« Jo rutschte von der Schreibtischkante. »Letzten Sonntag hat der Pfarrer gegen Atomkraft gepredigt. Da steht der alte Kerl in seinem spätrömischen Gewand unter den Barockengeln, predigt gegen Atomkraft und ich hab mir gedacht, jetzt ist es aus mit den Meilern, jetzt ist es wirklich fertig. The times, they are a changing.«

*

›The times, they are a changing‹. Jo legte den alten Bob- Dylan-Song in die Stereoanlage ein und machte sich daran, Salatblätter zu rupfen, Tomaten und Paprika zu schneiden. Er war heute dran mit der Zubereitung des Abendessens. Jahrelang hatte er in einem solchen Fall einfach Brot, Butter, Käse und Wurst hingestellt, die Teller schräg auf den Tisch rutschen lassen wie Frisbees und vielleicht noch einen Senf aufgemacht. »Skorbut­essen«, hatte Birgit manchmal lächelnd, manchmal wütend diese lieblosen Arrangements genannt. Aber ihre didaktischen Versuche, irgendetwas daran zu ändern, waren stets gescheitert. Jo folgte dem überlieferten Beispiel seines Großvaters, der den Salat seiner sehr fortschrittlichen Gattin mit der Gabel auf dem Teller herumgeschoben und dabei gemurmelt hatte: »Oamoi mecht i oan grawln seng, so an Vita­min.« Er hatte niemals einen Vita­min krabbeln sehen, er musste aber auch niemals das Essen herrichten und er hatte niemals einen Herzinfarkt bekommen, sondern war, hochbetagt, friedlich eingeschlafen. Seinem Enkel aber war der Tod in die Rippen gesprungen, er hatte an seinem Bett gesessen, wenn man denn diese Hightech-Liege ein Bett nennen konnte, während sein Leben nervös in den Geräten herumpiepte und auf den Bildschirmen Zacken kritzelte. Seitdem beteiligte sich Jo kleinlaut an der Umsetzung allgemeiner Weisheiten über gesunde Lebensweise, obwohl er sie trotzig als Ablasshandel bezeichnete.

Der Salat war fertig und Birgit kam ausnahmsweise rechtzeitig heim. Jo hatte angekündigt, mit dem Essen nicht zu warten, weil er zu seiner Schafkopfrunde wollte. Sie traf sich alle zwei Wochen in einer Jagdhütte am Kegelberg und Jo freute sich auf den kleinen Ausflug ins Gebirge.

Birgit und Jo saßen am Tisch in dem kleinen Erker, an dem außen der wilde Wein wuchs. Der Kater Leutselig-Schnurrenberger hatte es sich auf dem Fensterbrett gemütlich gemacht, aber Jo konnte den Frieden der Szene nicht würdigen.

»Absperrbandjournalismus. Immer diese Fotos mit den rot-weiß-gestreiften Absperrbändern, dahinter der Rücken von einem Polizisten und das Einfamilienhäuschen, in das das Schicksal eingebrochen ist. Huhu, wie gruselt uns so angenehm, dass es uns nicht getroffen hat.

Der Herzog wollte unbedingt ›die Sache persönlicher gestalten‹, weil der Tote ein bisserl VIP ist im Landkreis, ein Bandleader. ›Kapellenblasn‹ nennt die sich, glaub ich, so nach dem Motto: Blaskapelle auf den Kopf gestellt. Jedenfalls, der Herzog wollte, dass wir der Familie auf den Pelz rücken.«

Birgit hörte nur mit halbem Ohr hin, weil sie damit beschäftigt war, die Salatblätter mithilfe des Bestecks kleiner zu falten. »Sag mal«, unterbrach sie ihn. »Kannst du die Stücke nicht irgendwie mundgerecht machen?«

»Mundgerecht?« Jo blickte auf seinen Teller, gabelte dann ein veritables Stück Paprika auf und schob es problemlos zwischen die Zähne. »Ist doch mundgerecht«, sagte er kauend.

Sie schaute ihn an. »Ich wunder mich immer wieder, wie weit du dein Maul aufsperren kannst. Mein Mund ist aber nicht so groß.«

Sie segelten unaufhaltsam auf eine Loriot-Szene zu.

»Welcher Mund gibt hier die Salatnormen vor?«

»Der kleinste natürlich.« Sie grinste. »Wie wär’s mit einer Salatschablone? Wir legen sie auf die Schüssel und nur die Stücke, die durchpassen, kommen rein.«

»Salatschablone.« Er starrte sie fassungslos an. »Ich bin verrückt nach deiner Salatschablone. Süße rosenfarbene Salatschablone, kumme, kumm, mach mich gesund.«

Die nächsten Minuten konnten sie nicht weiteressen, weil sie immer wieder losprusteten. Als sie sich schließlich gefangen hatten, kam sie doch auf das Thema zurück, das Jo angeschnitten hatte. Es war wohl ihrem Beruf als Psychologin geschuldet, dass sie nichts so ganz überhörte und eine Art Zwischenlager unterhielt, das sie noch einmal durchkramte, ehe sie Dinge vergaß.

»Der Mann ist aber doch im Wald gestorben, von einem Ast erschlagen. Also bleiben dir die Absperrbänder am Einfamilienhäuschen erspart.«

Er seufzte und sagte die nächsten Sätze nicht, weil Birgit sie schon hundertmal gehört hatte. Früher hatte es das in einer seriösen Zeitung nicht gegeben. Sie hatte meist nur möglichst nüchtern den Polizeibericht gebracht, aber im Kampf um Käufer und Anzeigen hatte man dem Boulevard mehr und mehr nachgegeben.

»Die Redaktion im Chiemgau drüben, die haben im Sommerloch dieses arme Mädel. Zuerst vermisst, dann tot gefunden. Die Geschichte hat es natürlich bis in den Hauptteil der Zeitung geschafft, aber im Lokalteil bringen sie jeden zweiten Tag die Teddybären und Kerzen und die weinenden Freundinnen an der Fundstelle. Man liest diese Artikel und man schämt sich dafür, dass man sie gelesen hat. Es muss ein archaisches Bedürfnis geben, das Schreckliche in der nächsten Umgebung zu beäugen«, sagte er schließlich.

Birgit zuckte die Schultern. »Warum gehst du dicht an einen Abgrund heran? Nur Neugier? Es ist doch nicht nur die Frage, was da unten ist, sondern die Grenze zieht dich an. Dieses ›Zum Glück nicht ich!‹, in dem steckt ein Stück Selbstdefinition. So bin ich, das ist normal, und so ist das andere, das ich ganz und gar nicht sein will. Im einfachsten Fall: Ich bin lebendig, der ist tot.«

»Der einfachste Fall?« Jo schnaubte. »Irgendwann ist jeder tot, wie ich zu meiner unsäglichen Überraschung merken musste. Nein, der einfachste Fall von Abgrenzung ist der perverse Serienmörder. Nie, nie, nie werde ich sein wie er.«

Sie lächelte und tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. »Stimmt.«

»Was stimmt? Dass das der einfachste Fall ist oder dass ich nie einer sein werde?«

»Probier’s doch.«

»Was?« Jetzt waren sie wohl ganz durchgedreht in dieser Klinik. Veranstalteten sie für die armen Mobbingopfer, die sie scharenweise behandeln mussten, Selbsterfahrung als Jack the Ripper?

»Du solltest einen Krimi schreiben, das meine ich. Das voyeuristische Vergnügen der Leserschaft kannst du so befriedigen, ohne einem Menschen damit zu schaden, keinem Opfer und keinem Leser. Nebenher kannst du noch vollkommen legal jemanden über den Jordan befördern, der wie dein Chef aussieht, und kannst außerdem noch Geld verdienen damit. Wie ich gehört habe, ist es ein recht einträgliches Geschäft für deine Berufskollegen geworden, diese Lokalkrimis zu schreiben.«

»Verdien ich nicht genug? Ich dachte, unser finanzielles Arrangement hier ist klar. Wenn du meinst, ich brauche als Teilzeithausmann eine Nebenbeschäftigung, wer soll dann den Garten machen?«

»Der Mörder natürlich. Der Mörder ist immer der Gärtner.«

*

Er war ein bisschen beleidigt gewesen. Er reagierte meist recht empfindlich auf Vorschläge seiner Frau, die ihm allzu psychologisch erschienen. Es war seine Sache, wie er seine neue Rolle ausfüllte. Aber als er in Richtung des Kegelberges fuhr, auf dem Weg zu seiner Schafkopfrunde, merkte er, dass dieser Vorschlag ein recht ansteckender gewesen war.

Die rot-weißen Absperrbänder flatterten. Dahinter waren nur schemenhaft weiße Overalls der Spurensicherer zu erkennen. Kommissar … Wie konnte dieser Kommissar heißen? Bayerischer Name natürlich, ›Höllgruber‹ oder so. Also: Kommissar Höllgruber pfiff leise durch die Zähne, als der den goldenen Wetterhahn sah, der mit den Schwanzfedern voraus im Rücken des Toten steckte. Sein Assistent trat auf ihn zu: »Das Opfer ist ein bekannter Architekt. Er joggt jeden Tag diese Runde …«

An diesem Punkt brachen seine Überlegungen ab, weil er in die gekieste Forststraße einbog, die offene Schranke passierte und sich nun ganz auf den Weg konzentrieren musste, der sich mit unzähligen Kurven in Bachrinnen hinein und hinaus schräg den Kegelberg hochhangelte. Der Kegelberg war eher ein Vorberg, bewaldet bis obenhin, aber doch mit imposanten Felsabbrüchen auf seiner Südseite, wo der Griesbach sein Bett zwischen Kegelberg und Saukogel gegraben hatte. Jo hatte sich mit seinem Freund Klaus eine halbe Stunde früher verabredet, weil er noch ein paar Worte mit ihm wechseln wollte, ehe die anderen beiden Spieler eintrafen.

Klaus Herrigl war schon da, sonst wäre die Schranke nicht offen gewesen. Er stand in der Tür der Hütte, aus deren Inneren der vertraute Geruch von Herdrauch und alten Matratzen zog. Sein Hund stand neben ihm, ein großes, struppiges graues Tier, das Jos Gefühl nach immer misstrauisch schaute. Klaus hatte ihn ›Aufi‹ getauft und dessen Zwillingsbruder ›Abi‹. Es war eine Art linguistisches Experiment, wie viel Verwirrung diese beiden bayerischen Worte für ›hinauf‹ und ›hinab‹ stiften würden, wenn man Hunde mit diesen Namen in einer Gebirgslandschaft rief. Abi war inzwischen gestorben und Aufi fristete sein etwas griesgrämiges Alter nun einsam. Er galt als schwieriger Hund und Jo, der immer mit seiner Angst vor Hunden zu kämpfen hatte, hielt gern Abstand zu ihm.

Sie setzten sich auf die Bank in die Strahlen der Abendsonne und lehnten sich an die dunkelgraue, rissige Wand der Hütte, der Hund legte sich in den trockenen Staub unter dem Vordach. Klaus war Jos Klassenkamerad gewesen bis zur mittleren Reife. Dank seiner mehr als rebellischen Pubertät und seinem cholerischen Temperament war er dann aus dem Gymnasium geflogen. Die körperliche Anstrengung und die praktisch-notwendige Hierarchie einer Waldarbeiterlehre hatten schließlich seine Energie so weit gezähmt, dass er anschließend das Fachabitur und die Ausbildung zum Förster durchstand. Heute hätte man jemanden wie ihn wahrscheinlich mit Ritalin traktiert. Seine Impulsivität war ihm vom Gesicht abzulesen, die fast schwarzen Augen sprangen von einem Punkt der Aufmerksamkeit zum nächsten, leuchteten schnell auf und verdunkelten sich wieder unter den dichten Brauen. Seine lebhafte Mimik stand im Gegensatz zur Ruhe der Landschaft, deren Waldkulissen sich vor ihnen in Abstufungen von Grün und Blau zwischen die stille Hüttenbank und das Gesprenkel der Ortschaften schoben. Hier schien die Welt verlässlich und immer dieselbe, der Tod und die Zeitung sehr weit weg. Aber als Jo nach dem Unglück fragte, wusste Klaus schon Bescheid.

»Oh mei, ich hab’s schon gehört. Das ist immer eine sauungute Sach. Wenn der gute Mann auf einem Weg unterwegs war, dann gibt’s noch ein Nachspiel.«

»Warum ein Nachspiel?«, fragte Jo.

»Ah, wegen der Scheißverkehrssicherungspflicht.«

Das mit einer Verbalinjurie verzierte Wort leitete eine Erörterung über die juristischen Feinheiten im Umfeld von fallenden Bäumen und Ästen ein: »Wenn du in den Wald reinlaufst, dann laufst’ in die Natur und da gehst’ eben das Risiko ein, dass dir was drauffallt. Bloß …«, Klaus machte eine Kunstpause, »wenn …«, noch eine Kunstpause, »einer da einen Weg reinbaut, hat er als Grundbesitzer die Verantwortung, weil er den Menschen sozusagen in die Gefahr hineinlockt.«

»Die Kieselsteinspur von Hänsel und Gretel?«

»Genau. Wie die Kieselspur vom Hänsel im Hexenwald. Und dann muss es der Waldbesitzer sicher machen und entlang vom Weg alle morschen Bäume und Äste wegschneiden. Das ist die Verkehrssicherungspflicht. Das heißt, wenn, also wenn der gute Mann quer durch den Wald gejoggt ist, ist der Waldbesitzer aus dem Schneider, wenn er aber auf einem Weg war, dann hat er schlechte Karten.«

»Aber es war doch ein furchtbares Gewitter! »

»Wurscht. Da hat es Urteile gegeben, das glaubst du nicht.«

»Aber das ist doch nicht realistisch.« Jo fing an zu protestieren, brach aber ab, weil er anscheinend nur offene Türen einrannte.

»Realistisch? Ich frag mich langsam, was die Gesetze überhaupt noch mit Realität zu tun haben. Da hätt ich was anderes für dich zum Schreiben, was Handfestes, was man öffentlich machen sollt. Den Toten kannst’ nimmer lebendig machen, aber da muss was geändert werden, dringend.«

Jo zog es innerlich ein bisschen zusammen. Das war eine Situation, die er hasste. Jemand erwartete von ihm das Heil der empörten Öffentlichkeit, den Deus ex Druckmaschine, der es richten sollte, und das meist dann, wenn das Kind schon im politischen Brunnen lag. Aber weil Klaus sein Freund war, folgte er ihm, als er aufstand und ein Stück weiter die Straße entlang bergauf marschierte, während Aufi wie ein Schatten an seiner rechten Seite blieb und Klaus daher vorzugsweise auf der linken Seite lief. Klaus referierte noch etwas über tote Bäume, tote Äste und tote Fußgänger, bis sie den Punkt erreichten, wo die Straße hart am Rand eines Abgrunds eine Haarnadelkurve vollführte. Von dort stiegen sie zu Fuß senkrecht den Hang hoch, immer am Rand des Felsabbruchs entlang. »Es is ned weit«, versicherte Klaus seinem schon schwerer atmenden Freund, der auch nicht das richtige Schuhwerk trug und sorgfältig seine Füße zwischen Wurzeln und Steinen setzte. Nach kaum 150 Metern schnitt ihnen der Abgrund quasi rechtwinklig den Weg ab. Der Berg endete jäh wie ein Pult und eröffnete den Blick in das dahinterliegende Griesbachtal und den imposanten Gegenhang, der sich bis zum Gipfel des Saukogels auftürmte. Der Rand dieses Pultes verlief mehr oder weniger glatt bis auf einen Felssporn, der wie eine Kanzel waagrecht ins Leere ragte, und auf diese traten sie nun hinaus. Jo war einigermaßen schwindelfrei, aber dieser Platz machte ihn doch etwas nervös. Tief unten am Fuße der Wand schlängelte sich der Griesbach sein Tal hinab der Schöllach entgegen, die seine Wasser dann aufnahm und nach Norden durch Schöllau floss. Auf der anderen Seite des Griesbachs verlief ein Weg. Jo kannte ihn, es war der Weg auf die Saukogelalm. Klaus schaute nicht in die Tiefe, sondern auf den Berg gegenüber. »Da!«, rief er und zeigte auf den Hang. »Siehst’ den Weg im Hang?«

Jo nickte. »Der zweigt im Tal ab und geht von da auf die Griesalm.«

»Genau. Und was ist rechts und links vom Weg?«

»Ja, äh, Wald.«

»Denkst du! Seit Herbst 2010 ist das kein Wald mehr. Aus.« Klaus hielt sich nicht mit einer Erklärung auf. »Und da?« Er schwenkte seinen empört ausgestreckten Arm nach links und höher. »Da oben unter der Nordwand?«

»Na ja. Halb Wald, halb Geröll, halb Gras.«

Klaus ignorierte, dass es so viele Hälften gar nicht gab. »Das ist Schutzwaldsanierungsgebiet. Die alten Bäume sind nach und nach ausgefallen, junge sind keine mehr nachgekommen, zuerst nicht, weil das Wild alles wegbeißt, später nimmer, weil der Schnee im Winter rutscht und die Verjüngung rausreißt. Du weißt ja, was unten im Schöllachtal los ist, wenn Hochwasser ist, wenn Muren oder Lawinen den Bach zuschütten und aufstauen, und zuletzt kommt das ganze Wasser auf einmal. Zwischen die alten Bäume haben wir Verbauungen rein, im Schutz von den Verbauungen dann die jungen Pflanzln gesetzt, dass der Schnee sie nicht mitnimmt. Ein sausteiler Hang, eine Knochenarbeit, im Sommer, in der Hitz, du kannst es dir nicht vorstellen, Zigtausende Euro Steuergelder. Dazu die Jagd, nix für Hobbyjäger, in dem Gelände kein Wochenendvergnügen. Und jetzt …« Klaus drehte sich abrupt um. »Und jetzt!« Er schrie fast.

Jo verzog sich vorsichtig ein paar Schritte von der Hangkante weg, das war ihm zu viel ungebremste Emotion am Rand einer Senkrechten. »Und jetzt?«

»Kein Wald mehr im Sinne des Gesetzes.« Die verhängnisvollen Worte fielen als schriftdeutsches Zitat. »Aus. Jeder Arsch kann den roden, wenn’s ihm einfällt, wenn ihn der Sturm schmeißt, passiert nix, wenn ihn die Gamserln auffressen, auch nix. Aus.«

Mitten im dramatischen Höhepunkt seiner Ausführungen dudelte die Melodie von ›Oh, du lieber Augustin, alles ist hin, hin, hin …‹ Jo verbiss sich ein Lächeln, während Klaus das Handy aus der Jackentasche fischte. Es war schwarz und mit einem Einhorn in Rosa und Silber verziert. »Meine Tochter …«, sagte Klaus ein wenig verlegen wegen des Aufklebers und zugleich stolz auf den Beweis der kindlichen Zuneigung. Zwei Kinder hatte er. Die Tochter und einen Sohn, der wohl die Unruhe und das Draufgängertum des Vaters geerbt und einen hohen Preis dafür gezahlt hatte. Er war mit dem Skateboard auf einer von der Dorfjugend selbst gebauten und ganz und gar nicht TÜV-geprüften Rampe unterwegs gewesen und so unglücklich gestürzt, dass er querschnittsgelähmt war. Mit manchen Leuten ging das Schicksal grob um.

Der Anruf kam von der Hütte, die beiden anderen Spieler waren eingetroffen. Jo und Klaus traten den Rückweg an, vorsichtig und stumm, abwärts über die Wurzeltreppen, gepolstert von altem Laub. Als sie auf der Forststraße nebeneinander laufen konnten, setzte Klaus zu einer Erläuterung an. »Die Flächen haben Almbauern am Landwirtschaftsamt als Weideflächen angegeben und EU-Subventionen dafür kassiert. Auch rechts und links vom Weg, wo beim Almauftrieb eine Kuh vielleicht mal ein Halmerl nascht. Bei der Sanierungsfläche reine Fantasie, da lauft keine Kuh rein in das Geröll. Egal. Sie haben kassiert. Der blanke Subventionsbetrug. Und dann, wo die Forstpartie ihnen Schwierigkeiten gemacht hat, sind sie den politischen Weg gegangen.«

Klaus schob das Kinn vor und dehnte die Vokale so grob wie möglich: »›I hob fei die Händinumma vom Ministapräsenten. I hob mit dem scho im Huppschrauba telefoniert!‹« Jo konnte sich vorstellen, welchen Typ er imitierte. »Den Schmarrn magst’ immer nicht glauben, wenn sie damit kommen. Aber scheint’s, stimmt’s doch. Ich Beamtendepp hab keine Händinumma, aber die. In Berlin ist die Novellierung des Waldgesetzes angestanden, was für eine Gelegenheit, wo doch die Landwirtschaftsministerin pfeilgrad aus Bayern ist. Dann haben sie eine Ergänzung ins Waldgesetz gemacht, dass alle Flächen, die als Weide subventioniert worden sind, nimmer als Wald gelten. Dann war der Hafen gflickt.«

Auf der Bank saßen der Lauterbach Konrad und Hans Send. »Du hast die Hütte offen lassen. Wir haben das ganze Bier schon weggetrunken.« Lauterbach hob grinsend die Flasche, während er Aufi den Kopf tätschelte. Der Hund hatte ihn, wie Jo neidisch bemerkte, durch leichtes Schwanzwedeln zur Kenntnis genommen. »Ich bin ja zu Fuß da. Klimaschutz durch Alkohol.«

»Kunststück, wenn ich dich fahr«, ließ sich Send vernehmen. Er faltete die Hände vor dem Bauch und schaute ebenso gutmütig wie selbstzufrieden unter seiner blonden Struwwelfrisur hervor. »Wo treibt ihr euch denn rum?«

»Ich hab ihm die INVEKOS-Flächen zeigt«, antwortete Klaus knapp und unverständlich.

Lauterbach seufzte. Der Send Hans zog fragend seine Augenbrauen hoch. »INtegrales VErwaltungs- und KOntrollSystem für die Agrarpolitik der EU«, übersetzte Lauterbach den Begriff lakonisch. Er war auch in die Försterei gegangen, aber über Abitur und Universität. Inzwischen war er eine höhere Charge irgendwo im Ministerium, wohnte jedoch immer noch in Jachenkirch und pendelte nach München. Mit Klaus verband ihn die gemeinsame Jugend in Schöllau und die Jagd am Kegelberg, mit seiner Studentenzeit sein Pferdeschwanz, den er hartnäckig weiter trug, obwohl er inzwischen schon ein wenig ausdünnte. Lauterbach rumpelte hoch und trat mit den Bergschuhen gegen die Schwelle, um den Staub abzuklopfen und gleichzeitig das Thema zu beenden. »Lass gut sein, wir werden uns noch lange genug damit rumärgern. Ich mag heut nicht dran denken.«

Klaus angelte die vier Schnapsgläser aus dem Hängeschränkchen, verziert mit den Ludwig-Schlössern: auf dem einen eine Ansicht von Neuschwanstein, auf dem anderen Herrenchiemsee, das Schachenhaus sowie Schloss Linderhof. Dann schraubte er die Flasche mit dem Obstler auf und musste einfach noch etwas loswerden: »Das sag ich dir, wenn wieder mal Hochwasser ist im Schöllachtal, wenn s’ wieder einfliegen, die Herren Politiker mit ihrem Huppschrauba, und ›schnelle, unbürokratische Hilfe‹ versprechen, dann kotz ich.«

»Klaus!«, mahnte Lauterbach. »Langt schon.« Er hob sein Glas zum rituellen Beginn des Abends.

*

Das Knattern des Hubschraubers hallte von der Bergwand wider. Nur mühsam konnte Jo vor der zerklüfteten Kulisse die Maschine erkennen, die allmählich an Höhe gewann. Erst als sie über den Grat gegen den Himmel flog, sah er, dass unter ihr an einem Seil ein Mensch hing. Das Seil war ein rot-weißes Absperrband und plötzlich sah er den Menschen gestochen scharf und sein Gesicht ganz nah. Es war Klaus. »Du musst was schreiben!«, schrie der, zuerst noch hörbar, dann wurde das Knattern des Helikopters immer penetranter.

Es war der Wecker.

Jo schraubte mühsam sein Wachbewusstsein zusammen. »Was für eine Scheißidee mit diesem Krimi«, sagte er schließlich laut. Aber seine Frau war schon längst aufgestanden und yogierte auf der Matte in ihrem Arbeitszimmer. Birgit war zwar etwas rundlich, aber dennoch extrem beweglich. Meine Güte, diese Selbstdisziplin. Sie würde sicher 100 Jahre alt werden. Oder auch nicht.

Jo schob den Schutt des Traumes beiseite und klaubte Erinnerungen zusammen. Mehr als dieses eine Glas Schnaps hatte er nicht getrunken und natürlich trotzdem wieder beim Kartenspiel verloren, ungefähr 15 Euro. Er hatte ein lausiges Gedächtnis, so glaubte er wenigstens, ein lausiges Gedächtnis für einen Journalisten zumindest. Ohne Notizblock musste er immer Bruchstücken hinterherrennen, einzelnen Schnappschüssen, die er wie verstreute Karteikarten in eine Reihenfolge zu bringen versuchte.

Er fing von hinten her an: Die erste Karteikarte war die Heimfahrt, die Prozession der Straßenpfosten im Scheinwerferlicht, die zweite das Verlassen der Hütte, als Klaus noch die Gläser im Dunkeln am plätschernden Brunnen abspülte und der Lichtkegel der Stirnlampe von Lauterbach sich schon den Wanderweg hinuntertastete, der von der Hütte senkrecht ins Tal führte.

Dann erstand die Stimmung in der Hütte wieder in ihm, das vertraute Spiel mit den alten, zerfledderten Karten, die Ansagen wie ›I spui mit der Schellnsau‹, die strategischen Überraschungen.

Durch den Wirbel der Spielkarten ploppte dann der Moment gespannten Schweigens in sein Gedächtnis, als Klaus und Lauterbach konzentriert ihr Kartenblatt zu fixieren schienen, aber eine Atmosphäre von ihnen ausging, die in etwa besagte: ›Noch ein Wort und es wird extrem ungemütlich.‹ Der Send Hans hatte mit einem anzüglichen Blick auf den als Sitzgelegenheit dienenden Bettkasten gemeint, man könne so eine Jagdhütte ja auch für anderes nutzen als fürs Kartenspielen – oder so ähnlich.

Hans war ein Depp, beschloss Jo nicht zum ersten Mal. Er war einer dieser Kerle, die nie ganz erwachsen werden, weil sie nach dem Abitur eine kurze Schleife durch ein Sportstudium drehen und dann wieder in der Schule landen, diesmal im Lehrerzimmer, wo sie den burschikosen Sonnyboy abgeben, der keine gefährlich schlechten Noten vergeben muss und den Jungs imponiert.

»Depp«, sagte Jo, den Abend abschließend, in den Rasierspiegel.

*

In der Redaktion griff er sich erst die letzte Ausgabe des Boten vom Regal, holte sich dann eine zweite Tasse Kaffee und begutachtete den Lokalteil. Es war nicht zu fassen: Sie hatten den Chiemgau dramaturgisch eingeholt.FALLENDER AST TRIFFT WERDENHEIMER INS HERZ.Das Bild zeigte brennende Kerzen an einer dicken Buche, keine Teddys, dazu war der Tote wohl zu alt geworden, aber die Fans hatten bemalte Herzen deponiert und Schilder mit Aufschriften wie ›Milo, wir werden dich nie vergessen‹.Die Nachricht musste sich wie ein Lauffeuer verbreitet haben.

Er ging über den Flur in das Zimmer, das sich Hannelore Spittler mit der Bernbacher Sabine teilte. Sie hatten ihre Schreibtische einander gegenüber und Hannelore versorgte ihr Küken mit journalistischem Know-how und extra scharfen Lutschbonbons.

Als Jo eintrat, nickte Hannelore ihm kurz zu, ohne ihr Tippen zu unterbrechen. Wie immer, wenn sie konzentriert arbeitete, hatte sie die Schuhe ausgezogen und ihre nylonbestrumpften Zehen um das Gestell des Bürostuhls gefaltet. Die Bernbacherin begrüßte Jo strahlend.

»Na«, sagte er, »das ging ja doch ganz gut mit ›dem Affen ein bisschen Zucker geben‹. War die Spurensicherung schon fertig?«

»Spurensicherung? Ich weiß nicht, ob die dort war. Wie ich dort war, war da nix.«

»Wie nix?«

»Ja, nix halt. Bloß Autospuren, wahrscheinlich vom Sanka, ziemlich tief eingegraben in die Erde. Da ist ja sonst bloß so ein Jogging-Pfad. Ich hab auf der Polizei gefragt. Man findet die Stelle, wenn man den Autospuren nachgeht.«

»Dass die Fans das schon alle wissen.«

Die Bernbacherin lächelte breit und wurde gleichzeitig ein bisschen rot. Die Spittler hörte auf zu tippen, es wurde ein halbes Grad kälter.

»Hast du nachgeholfen?«, fragte sie. Die Bernbacherin errötete noch heftiger.

»Vielleicht hättest du doch lieber zu den Eltern gehen sollen«, sagte Jo, drehte sich um und ging in sein Zimmer zurück. Vom Regen in die Traufe, entweder eine persönliche oder eine journalistische Schweinerei, man konnte es sich aussuchen.

Er überflog seine E-Mails und die Pressemitteilungen, die hereingekommen waren. Dann öffnete er das Programm mit dem Layout und begann, den 60-Zeiler zu füllen, der ihm für seine abgebrochenen Äste zur Verfügung stand. DER TOD AUS DEN WIPFELN. Das war schon mal gut. Aber dann reute es ihn, dass er seinen Notizblock nicht mitgenommen hatte. Wie war das noch mal gewesen: Für den Naturschutz brauchte man alte Bäume mit vielen Höhlen und Vögeln drin und Käfern dran, aber wenn sie dann jemandem drauffallen, war das wieder eine Sache für den Staatsanwalt.

Lehner schob sich herein und setzte sich, saß stumm da, bis Jo aufblickte. »Kunstnacht«, murmelte er düster. »Wir bekommen wieder eine Kunstnacht.«

»Weiß ich doch. Schlimm?«

Lehner massierte die Nasenwurzel. »Drei Vernissagen hintereinander, wahrscheinlich alle mit Blumenaquarellen, eine im Café, eine in der Raiffeisenbank und die dritte im Foyer vom Rathaus. Dazu billiger Prosecco und eine Rede vom zweiten Bürgermeister.«

»Abendtermin?«

»Am Freitag. Mein Sohn hat Geburtstag, ich hab versprochen, dass wir ins Erlebnisbad fahren, was ich ja eigentlich hasse. Und ob ich da rechtzeitig wieder rauskomme, ist fraglich. Nimmst du mir den Termin ab?«

Freitag war eigentlich Jos freier Tag. »Na ja, vielleicht kommt Birgit mit.«

Lehner schenkte ihm einen ebenso dankbaren wie melancholischen Löwenblick. »Über Picasso schreiben kann jeder Idiot. Aber wir Lokaljournalisten, wir müssen uns echt was einfallen lassen.«

»Birgit meint, ich soll einen Lokalkrimi schreiben.«

»Ha! Hast du schon mal einen gelesen?« Das Thema schien Lehner zu gefallen, er lebte merklich auf. »Wir könnten zusammen einen schreiben, als ein Autorenkollektiv. Natürlich eine Serie.« Er stand auf und schlenderte zur Tür: »Kunstnacht«, sagte er, »das ist schon mal sehr gut. Heutzutage hat man diese Ein-Wort-Titel: ›Föhnlage‹, ›Niedertracht‹, ›Erbarmen‹ und so weiter. ›Kunstnacht‹, sehr gut«, murmelte er zufrieden. »Blut auf der Leinwand, vergifteter Prosecco, wunderbar.«

Jo schaute ihm amüsiert hinterher. Es hatte auch ihn erwischt, der Krimi-Virus war hochvirulent.

Gegen 10 Uhr wanderten alle in den Konferenzraum und setzten sich an den Tisch. Sie waren elf Leute, als Letzter schob sich noch der Fotograf durch die Tür. Er war kahl rasiert, trug eine Hose im Safari-Look mit einer Menge Taschen sowie Stiefel und eine Tarnjacke, dazu stets einen etwas gelangweilten Ausdruck, als wäre er auf Heimaturlaub aus einem Krisengebiet und leide nun darunter, dass er statt Talibans und Kalaschnikows den Almauftrieb fotografieren musste.

Herzog, der leitende Redakteur, die fitnessgestählte Brust im schwarzen T-Shirt, die schmale Brille als intellektueller Glanzpunkt in seinem markanten Profil, eröffnete die Redaktionssitzung. Wie immer begann er mit einer kurzen Blattkritik vom Vortag und schenkte der Bernbacher ein wohlwollendes Lächeln, das sie scheu erwiderte. Sie sah blass aus, die Spittler hatte ihr offensichtlich den Kopf gewaschen.

»Da müssen wir natürlich dranbleiben«, sagte er. »Vielleicht spielt der Rest der Band zur Beerdigung oder so. Die ›Kapellenblasn‹ vor der Friedhofskapelle. Nur allzu passend.«

Lehner und Jo wechselten einen Blick.

Die rot-weißen Absperrbänder flatterten. Kommissar Höllgruber blickte fragend auf den Gerichtsmediziner, der sich kopfschüttelnd aufrichtete. »Ein Knebel aus Zeitungspapier, ungewöhnlich.«

»Jedenfalls kein Raubmord«, bemerkte Höllgruber, »die Leiche trägt ihre Rolex noch.«

Jo rief sich zur Ordnung und konzentrierte sich.

»Unsere Serie müssen wir auslaufen lassen«, fuhr Herzog fort. »›Wunderbare Werkstätten‹ hat großen Anklang gefunden. Aber jetzt läuft das schon ziemlich lang und die Werkstätten werden immer gewöhnlicher. Wir brauchen ein neues Thema. Brütet da mal ein bisschen drüber, Leute. Dann sind da noch zwei Themen für den südlichen Landkreis, die wir ins Auge fassen müssen.« Jo, die Spittler und die Bernbacherin gingen innerlich in Habachtstellung. »Die Vogelbergbahnen planen eine neue Lifttrasse und Schneekanonen. Natürlich wird das ein Geschrei geben mit dem Naturschutz, voraussichtlich über Wochen. Aber wir werden nicht mehr wie früher jedem Blümchen hinterherschreiben. Tempi passati.«

Herzog bezog sich auf seinen Vorgänger im Amt, den Jo gar nicht gekannt hatte.

»Andererseits, Respekt vor Ehrenamt und Bürgersinn müssen wir schon zeigen. Ich würde sagen, wir geben Naturschutzthemen ein bisschen Raum. Da ist eine Einladung vom Naturschutz zu einer Besichtigung der Jachensee-Insel und den Auerochsen drauf. Jemand sollte da hin.«

Jo nickte freiwillig. Die Jachensee-Insel war ein netter Ausflug. Seit seiner Kindheit war er dort nicht mehr gewesen. Herzog heftete seine wasserblauen Augen auf Jo: »Gut, machst du es. Es gibt übrigens schon wieder was für unseren Försterspezialisten. Wir haben mit der Post ein Stück interessante Information hereinbekommen.«

Während Jo noch im Kopf sortierte, wie er das mit dem ›Försterspezialisten‹ auffassen sollte, schob Herzog ein Foto über den Tisch. Es war eine Infrarotaufnahme eines Mannes beim Wasserlassen. Sein Urin plätscherte auf eine Art Fass am Boden, im Hintergrund des Bildes sah man Baumstämme. Herzog schob einen Brief hinterher. »Das Schreiben behauptet, dass es sich bei diesem Mann um einen Forstbeamten handelt, der mittels Geruchsbelästigung das Wild von einer Fütterung vergrämt und den Hungertod der Tiere in Kauf nimmt. Ist das vielleicht dein Bekannter?«, fragte er.

Jo zuckte die Schultern: »Könnt’ er sein oder auch nicht. Nachts sind alle Katzen grau.« Aber der Crocodile-Dundee-Hut, den Klaus bevorzugte, war selbst mit den Falschfarben klar zu erkennen.

»Fest steht bloß, dass der Briefschreiber, wie heißt er noch mal«, Jo verrenkte den Hals, um den Briefkopf zu lesen, »der gute Doktor Hebel schon ein älterer Jahrgang ist. Jüngere Leute erledigen solche Denunziationen per Internet.«

*

»Dann hat er das Foto und den Brief wieder eingesammelt. Wortlos.« Jo kicherte.

Birgit nippte am Rotwein und streichelte den Kater etwas geistesabwesend. MUTIGER JOURNALIST ÄRGERT LEITENDEN REDAKTEUR, diese Sorte Schlagzeile war sie inzwischen gewohnt.

»Und? Hast du ihn gewarnt?«

»Wen?«

»Na, den Klaus!«

Der mutige Journalist bröselte etwas an den weniger mutigen Rändern. »Ich wusste nicht, wie ich das machen sollte. Von wem, wenn nicht von mir, kann Klaus die Info haben, wenn er beim Herzog anruft, um sich zu beschweren? Ich kann der Firma nicht voll in den Rücken fallen. Ich bin aber schließlich doch raus zum ›Hörnchen-Kaufen in der Bäckerei‹. Und hab ihn mit dem Handy angerufen.«

»Ah«, Birgit wechselte beim Kraulen vom Kopf des Katers unter sein Kinn.

»Die Geschichte hat den Klaus nicht im Mindesten beunruhigt, im Gegenteil. Er hat fett gelacht und gesagt, er wüsste genau, von wem der Scheiß kommt, der könne ihm gar nichts. Es war ein bisserl schwer, ihn zu verstehen, im Hintergrund haben ein Haufen Leute und Maschinen gelärmt. Jedenfalls sinngemäß, glaub ich, hat er gesagt, dass er, der Klaus, bieseln könnte, wo es ihm passt, besonders auf Fütterungen im Frühling. Dass der Hebel eine Kamera installiert hat, um rauszukriegen, um welche Zeit die Viecher kommen, würd ihm gleichsehen, dem faulen Sack. Ich hab versucht, den Klaus zu warnen. Ein Bild ist ein Bild, das bleibt den Leuten im Kopf, egal, was drunter steht. Aber dann kam raus, dass er es eh schon weiß, weil der Herzog schon in der Forstverwaltung angefragt hat, was sie denn dazu sagen.«

»Der Herzog hat also recherchiert?«

»Hm. Am Nachmittag ist dann diese Frau durch die Redaktion marschiert, mit der gleichen grau-grünen Jacke, in der Klaus immer rumläuft. Sie hat die Sorte Adlernase, die ich unwiderstehlich finde, aber die heutzutage gern wegoperiert wird. Nun, sie ist schon nicht mehr so jung, da besteht immerhin die Hoffnung, dass sie ihrer Nase die Treue hält.«

»Und sonst?« Birgit war hellhörig geworden. »Sonst noch was Unwiderstehliches?«

»Dunkelblaue Augen. Mehr dunkel als blau.« Jo seufzte in sein Bierglas.

»Verliebt«, stellte Birgit nüchtern fest.

»Sie hat mit Herzog die Klingen gekreuzt. Ich muss gestehen, ich hab mich bei der Tür rumgedrückt, ich hatte also, äh, ziemlich lang am Kopierer zu tun. Es ging um Persönlichkeitsrechte, Recht am eigenen Bild und so, und dann hat sie gesagt, der Herzog soll sich gut überlegen, wie weit er Arbeitszeit investieren will in die Story, weil, wenn das eine Fütterung wär und es liegt weit und breit kein Schnee auf dem Bild, dann wär die sehr wahrscheinlich illegal, weil Fütterungen ausdrücklich nur in Notzeiten erlaubt sind. Und wenn das so ist, dann werde es eher für den Briefschreiber unangenehm und dann wiederum wär es fraglich, ob das dem Mehrheitseigner der Zeitung gefällt.« Jo kicherte. »Herzog hat empört zurückgewiesen, dass sich der Fürst Steineck in die Zeitung einmischt, aber sie war schon dabei, einen alten Dampftopf aufzumachen, man hört das am Ton, so langsames Zischen beim Druckablassen. Sie hätte mit großer Verwunderung nach einer Erklärung dafür gesucht, dass seine Zeitung letzten Winter über verhungerte Hirsche berichtet hat, die sich nach ihrem grausamen Tod in Luft auflösten. Kein Mensch hat sie zu Gesicht bekommen außer dem natürlich völlig unvoreingenommenen, uneigennützigen Informanten, einem Jäger und Neffen des Fürsten. Der Herzog hat gemeint, es könnten doch Füchse oder so die Kadaver gefressen haben, aber das war für sie eine Steilvorlage. Das wären wohl schon riesige Füchse, die ganze Hirsche verdrücken und anschließend noch den Schnee sauber lecken. Dann hat sie, bevor das ganze Gespräch aus der Kurve geflogen wär, den Waggon wieder in die politische Schiene gehebelt: Sie hätten halt den gesetzlichen Auftrag, den Grundsatz ›Wald vor Wild‹ durchzusetzen und das sei doch nicht dadurch zu erschweren, indem man die Förster als Tierquäler darstellt, und man sei doch in einer Demokratie auf die Presse angewiesen und gedeihliche Zusammenarbeit etc.«

»Eindeutig aus der Führungsebene«, sagte Birgit.

»Klaus’ Vorgesetzte, hundertpro.«

Sie wechselte vom Kinn des Katers zu seiner Schwanzwurzel und er verfiel in Ekstase. »Willst du jetzt Förster werden?«, fragte sie anzüglich.

»Alle Männer wollen Förster werden, das weißt du doch«, sagte Jo zärtlich.

Dann seufzte er noch einmal abgrundtief. Birgit wandte sich, fast schon ernsthaft irritiert, nach ihm um, aber es war nicht der Eros, der ihn quälte: »Klaus hat die Gelegenheit genutzt. Er hat mich noch mal eingeladen auf die Hütte. Er ist auf einem Kreuzzug. Ich soll was schreiben. Du meine Güte. Soweit ich begriffen habe, wegen der Änderung des Bundeswaldgesetzes, ich kleiner Lokalschreiber soll ihm da helfen.«

*

Wieder war er früh dran im Schöllachtal, aber das war gut so. Über dem Saukogel stieg eine Gewitterwolke hoch, wie eine Explosion in Zeitlupe schob sich die weiße Säule Dampfballen um Dampfballen in den Himmel, an anderen Stellen des Gebirgskammes wuchsen ihre kleineren Geschwister heran, es würde noch ordentlich krachen heute. In der Ortschaft musste er sich aber in Geduld üben, denn es war Stallzeit und die Bauern trieben die Kühe ein. Im Schritttempo zockelte Jo hinter und mit den Tieren, die ihn teilweise überholten, seinen Rückspiegel etwas verstellten und allenthalben in der mäßigen Aufregung ihrer Wanderschaft große Fladen auf den Asphalt platschen ließen.

Eine riesige Hand legte sich auf die Kante seiner Autotür und ein breites Gesicht erschien im offenen Fenster. »Ja, der Muri, ja da verreckst, der Muri.«

Jo, alias Muri, einst hoffnungsvoller Nachwuchslinksaußen des FC Werdenheim, bevor er in die Großstadt zog und dort der Dekadenz des Fechtsports erlag, kannte diese Pranke nur allzu gut. Sie hatte zu einem gewaltigen Torwart gehört, dessen schiere Muskel- und Knochenmasse, gepaart mit einer erstaunlichen Behändigkeit, jeden Vorstoß in den Strafraum zu einem Kamikaze-Unternehmen werden ließ, sie war das gar nicht so geheime Erfolgsgeheimnis des SV Schöllau.

»Sepp«, erinnerte sich Jo, »der Bichl Sepp!«

Sepp ließ seine Kühe ziehen und machte es sich, an Jos Auto gelehnt, häuslich gemütlich. Jo war mehr oder weniger gezwungen auszusteigen, um die Bekanntschaft auf Augenhöhe zu erneuern. So tat sich der Bichl Sepp leicht, sein Leben sozusagen en passant vorzustellen: Hinter den Kühen her kam eine braun gebrannte Frau, deren Freundlichkeit und Lächeln die fleckige Kittelschürze überstrahlte, sowie ein Sohn, der das Höhlenbärenskelett seines Vaters geerbt hatte.

So ein Glück, dass sie sich getroffen hätten, meinte der Sepp, sie wären die Woche über auf der Saukogel­alm gewesen, um das Dach neu zu decken. Jo solle doch hereinkommen und derweil warten, bis sie mit dem Stall fertig seien. Seine Tochter würde ihn schon unterhalten, sie sei jetzt die letzten Tage oft allein herunten gewesen und sei nach ihrer Hotellehre doch nun den Umgang mit Menschen gewohnt: »… aa mit so a bisserl Großkopferte, wia du jetzt oana bist.«

Das ›Großkopfert‹ war nett gemeint, signalisierte aber auch die Warnung vor einem sozialen Unterschied. Jo konnte und wollte nicht ablehnen, ohne zu versprechen, ein andermal vorbeizuschauen. Und er würde reichlich Zeit dafür einplanen müssen. Die Gastfreundschaft der Bichls kannte er und den Standard-Spruch von Sepps Mutter: ›Satt gibt’s ned, hungrig oder krank.‹

Von den Kühen war schon längst nichts mehr zu sehen, nur eine Spur von Erd- und Grasstückchen und ihre Fladen erinnerten an ihre Prozession, als Jo das Auto anließ. Sepp beugte sich noch einmal zum offenen Fenster herunter. »Fahr ned z’schnell auf der Forststraß. Es san allaweil wieder Gspinnerte unterwegs. Mir is heit aufm Weg von der Alm hinter a Kurvn fast a Münchner neigfahrn. Auf ana gsperrtn Straß und fahrt wiera Depp. Erst kemman s’ ned ausm Bett und dann mittags no schnell zum Saukogelanstieg hinterpreschn. Leit gibt’s, des glaubst’ ned.«

›Leut gibt’s, des glaubst’ ned.‹ Den Spruch wiederholte Jo, als er an der verschlossenen Schranke der Forststraße stand. Was sollte er jetzt machen? Hatte Klaus den Termin vergessen? Das war doch schwer glaubhaft, nachdem er solchen Wert darauf gelegt hatte. Bei Klaus’ Handy ging nur die Mobilbox dran, am Festnetz endlich erwischte er seine Frau Lena, die er nicht besonders gut kannte. Sie war keine Hiesige. Jo erinnerte sich beim Klang ihrer Stimme verschwommen an eine etwas herbe Blonde. »Ich weiß schon, dass er noch einen Termin auf der Hütte hat bis um acht«, sagte sie. »Er wollte zum Abendessen heimkommen, aber er ist immer noch nicht da und ich erwisch ihn auch nicht am Handy. Wahrscheinlich ist er gleich oben geblieben und weiß nicht, dass jemand die Schranke zugemacht hat.«

Jo schaute zu den Wolken hoch. Die nächste hatte schon die Stratosphäre erreicht und begann, sich ambossförmig auszubreiten. Wie viel Zeit blieb ihm noch? Er schalt sich selbst einen sturen Idioten, als er seinen Wagen am Wanderparkplatz abstellte und die Serpentinen des Wanderweges hochstieg. Er sollte sich bewegen, aber nicht abhetzen.

Kommissar Höllgruber beugte sich über die nicht allzu schlanke Leiche. »Wozu rufen Sie mich zu einem ganz normalen Herzinfarkt!«, fauchte er den Gerichtsmediziner an.

Einfach ein blöder Tod. Er zwang sich, gleichmäßig und überlegt zu gehen, die Tritte sorgfältig und nicht zu hoch zu wählen. Wenn es sein musste, dann wurde er eben nass.

Und wenn Klaus gar nicht da war, die Hütte verrammelt?

»Ein normaler Herzinfarkt?«, fauchte der Gerichtsmediziner zurück. »Die Fingernägel sind fast alle abgebrochen bei dem Versuch, die Hüttentür durchzukratzen.«

Doch die Wolken ließen sich Zeit. Sie hatten heute besonders viel vor, schoben immer mehr Masse in den Kopf ihres Ambosses, der sich zunehmend finster und breit vor die Sonne schob. Jo war durchgeschwitzt, als er die letzte Kehre hochstieg und zu seiner großen Erleichterung Klaus’ Auto vor der Hütte stehen sah. Aufi, der im Gepäckraum saß, schien weniger erfreut. Als er Jo erblickte, raste er wüst bellend an die Scheibe.

»Blödes Vieh«, dachte Jo, als er die Klinke der Hüttentür niederdrückte und in die sichere Zelle trat.

2. Kapitel

Klaus war nicht da.

Auf dem Tisch stand ein Schnapsglas, eine Umhängetasche lag auf der Bank. Jo trat wieder in die Tür und schaute hinaus, ein Windstoß fuhr herein, die Wipfel schwankten und rauschten plötzlich, als ob sie aufstöhnten. Wo immer Klaus auch steckte, es war für ihn Zeit, schleunigst zurückzukommen.

Ein weiterer Windstoß fuhr in die Hütte, Jo holte ein Bierglas, füllte es am Brunnen und setzte sich draußen auf die Bank, um auf Klaus zu warten. Aber der Wind kam ungemütlich, Jos nass geschwitzter Rücken wurde kalt und er verzog sich ins Innere der Hütte. Dort saß er, während die Böen immer kräftiger um die Wände fauchten und der Donner hinter dem Berggrat herumgrollte. Dann prasselten die ersten Tropfen gegen das westliche Fenster. Das Inferno brach nicht plötzlich los, marschierte in geordneter Frontlinie heran. Und je näher es rückte, desto unsicherer wurde Jos Ärger über Klaus’ Abwesenheit und wechselte sich mit echter Sorge ab. Der Kerl hatte ja nicht einmal seine Jacke dabei, sie lag neben Jo auf der Bank.

Der Regen rauschte jetzt herunter, es wurde dämmrig, die Wolken brachten einen frühen Abend. Jo kramte in der Tischschublade erfolgreich nach Streichhölzern, drehte, wie er es bei Klaus gesehen hatte, die Gaszufuhr der Lampe auf, aber nichts kam aus der Leitung. Er suchte und fand die Gasflasche, drehte den Verschluss auf, aber die Lampe verweigerte weiter den Dienst. Die Donner wurden kürzer und lauter und immer wieder leuchteten die Fenster auf und zeigten ein fahl erhelltes Waldpanorama, in dem die Bäume wild ihre Äste schwenkten. Dazwischen schien jemand eimerweise Wasser an das Glas des westlichen Fensters zu schmeißen. Am Fensterbrett erschien ein Rinnsal; er sollte doch besser die Läden schließen, du meine Güte, dachte Jo.