Heimatlos ist nicht gleich hoffnungslos - Elisa Maria Brock - E-Book

Heimatlos ist nicht gleich hoffnungslos E-Book

Elisa Maria Brock

4,8

Beschreibung

Greta Geiser, 33 Jahre, findet eine alte Truhe bei einem Antiquitätenhändler. Beim Saubermachen der Truhe findet Greta unter einem Doppelboden ein Tagebuch und ein Bündel Briefe aus den Jahren 1944/45. Sie beginnt zu lesen und lernt die Geschwister Lieselotte, 18 Jahre und Carl Schumann, 20 Jahre kennen. Carl ist an der Front und schreibt Feldpostbriefe an seine Familie. Lieselotte schreibt parallel Tagebuch. Sie berichtet von der Evakuierung, dem Heimweh und der Ungewissheit, was aus Carl und all den anderen Verwandten bzw. Freunden geworden ist. Greta, die entdeckt hat, wie besonders das Tagebuch und die Briefe sind, möchte die gefundenen Aufzeichnungen Familie Schumann wieder zukommen lassen und startet mehrere Versuche die Familie ausfindig zu machen. Schließlich versucht sie es über die Kriegsgräberfürsorge. Dort lernt sie Matthias Jürgens kennen, der ihr bei der Suche hilft.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Epilog

Vorwort

Im 2. Weltkrieg wurde der Begriff Evakuierung für das in einem großen Umfang praktizierte Fortschaffen von Menschen und Material aus den von Bombardierungen und Kampfhandlungen bedrohten Gebieten in vermeintlich sicherere Gebiete verwendet.

Eine Evakuierung sollte nur zeitlich begrenzt sein.

Am 14.September 1944 wurde der Evakuierungsbefehl u.a. für den Raum Heinsberg und Umgebung erteilt.

Die Front zur Zeit der Evakuierung lief aus dem Raum Geilenkirchen auf Heinsberg bzw. der Rur zu.

Die Evakuierung wurde von der Feldgendarmerie überwacht.

Wer nach der Frist im Evakuierungsgebiet angetroffen wurde, galt als Spion oder Plünderer.

Die Evakuierten konnten aufgrund fehlender Transportmöglichkeiten nur das Nötigste mitnehmen.

Die Betroffenen mussten auf sich gestellt zum nächsten Bahnhof laufen und wurden dort mit unregelmäßig verkehrenden Zügen zu ihren Evakuierungsorten gebracht.

Keiner der Betroffenen wusste, wohin der Zug fuhr.

Die Länge der Reise und der Ankunftsort waren Zufallsprodukte.

Die Evakuierung der hier beschriebenen Personen wurde auch dringend notwendig, da die alliierten Truppen bereits über die noch bewohnten Dörfer hinweg schossen.

Bereits wenige Wochen später, am 16.11.1944 wurde Heinsberg durch einen Bombenangriff völlig zerstört.

Die Rückkehr der Evakuierten nach Kriegsende dauerte ca.3 Monate.

Die Evakuierungszeit dauerte fast 1 Jahr.

Auch hier mussten die betroffenen Personen alles selber regeln.

Kapitel 1

„Kann ich die Truhe jetzt für den Preis haben oder nicht?“

Der ältere Herr, dem der Antik-Hof gehörte, sah Greta mit abschätzenden Blick an: „Da müssen Sie aber nochmals 30,- Euro drauflegen, dann kommen wir ins Geschäft.“

Greta lächelte, der Alte wollte also handeln: „Gut abgemacht, aber dafür bringen sie mir das Teil frei Haus vor die Tür.“

Sie besiegelten das Geschäft per Handschlag, gab dem Mann eine Anzahlung, sowie die Adresse und verließ die Scheune und ging zu ihrem Auto.

Sie lächelte beim Anblick des Minis, dort hätte die große Truhe sowieso nicht reingepasst.

Greta hatte sich mit dem Händler in zwei Stunden verabredet, noch genug Zeit, um im Baumarkt Schleifpapier und Farbe zu kaufen. Sie wollte die Truhe weiß streichen und in ihrem Schlafzimmer vors Bett stellen. Wie früher in den alten Gutshäusern. Sie war stolz auf ihren Kauf und freute sich schon auf das Restaurieren.

Im Baumarkt war am Freitagnachmittag genau so viel los, wie in den Lebensmittelgeschäften - alle hatten frei und Zeit. Sie schlängelte sich schnell durch die Gänge, auf der Suche nach Farbe und Pinsel. Greta wollte sich gerade an einer schwangeren Frau vorbei schieben, die vor den Tapeten wie festgeklebt stand, als sie eine bekannte Stimme ihren Namen sagen hörte.

Sie drehte sich um und erkannte Jens, ihren Ex!

„Hallo Greta“, sagte er noch mal und sie starrte erst ihn und dann die schwangere Frau an, die sich jetzt bei ihm unter hakte.

„Aha, kann sie sich also doch bewegen“, dachte Greta und lächelte mühsam.

„Hallo Jens!“

„Wie geht’s dir denn? Haben uns lange nicht gesehen“, Jens strahlte sie an.

„Ja stimmt, genauer gesagt, seit du vor einem halben Jahr ausgezogen bist“.

Greta lief rot an, als sie das sagte. Jens Grinsen wurde noch breiter, dass seiner Freundin immer eisiger.

„Du kennst Maike?“ meinte er dann noch überflüssigerweise.

Greta musste innerlich fast lachen. „Ob ich sie kenne?“ dachte sie. „Was denkt er, was ich nun antworte: Nein, wer ist die schwangere Frau an Deiner Seite? Oder: Hey, schön dass du fragst, ich wollte immer schon die Frau kennenlernen, weswegen du mich verlassen hast, du Vollpfosten!“

Greta lächelte immer noch und entschied sich für ein: „Nur vom Hörensagen!“

Jens, der nun auch etwas verlegen wurde, nachdem er den eisigen Blick seiner Freundin sah, sagte schnell: „Nun kennt ihr euch ja!“

Beide Frauen wie aus einem Munde: „Mmm!“

Und die Blicke sagten: Und das genügt jetzt auch vollkommen!

„Schatzi, komm wir müssen noch Kleister kaufen und Tapeten“, meldete sich nun Maike zu Wort und Greta nahm die Aufbruchsstimmung zum Anlass, schnell ein paar Schritte weiter zu gehen.

„Ja ich hab`s auch eilig. Mach`s gut!“

Sie stolperte in den nächsten Gang und blieb bei den Abdeckfolien völlig außer Atem stehen. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihr, dass ihr Ex mit seiner Neuen außer Sichtweite war.

„Was für ein blöder Mist!“ dachte sie. „Jetzt schnell die Sachen besorgen und raus hier.“

Jens hatte Maike bei einem Junggesellenabschied auf Mallorca kennengelernt. Er war dort mit seinem besten Freund, der letztes Jahr im Dezember geheiratet hat. Jens hatte mit Maike weiter Kontakt gehalten. Wie es der Zufall so wollte, kam sie aus der gleichen Region.

Etwas 1,5 Monate nach der Junggesellentour kündigte Jens an, dass er ausziehen würde - einfach so, nach drei Jahren Beziehung. Greta hatte eigentlich schon die Hochzeitsglocken läuten hören und nun wurde der A…. Vater.

Und er freute sich auch noch, so als habe sie, Greta, nie von Kindern gesprochen. Greta war 33 Jahre und hatte in letzter Zeit häufig über Kinder nachgedacht. Und ja, sie hatte sich Jens als Vater ausgemalt. Und nun ließ er sie sitzen.

Er zog innerhalb eines Wochenendes aus der gemeinsamen Wohnung aus.

Und nun, ausgerechnet heute, an einem Tag, wo man nicht damit rechnete, stand er vor Greta – mit ihr!

Da sie und Jens einen gemeinsamen Freundeskreis hatten, musste Greta irgendwann damit rechnen, den Beiden zu begegnen. Jetzt war es also nicht auf einer Geburtstagsparty gewesen, sondern im Baumarkt.

„Was bildet der sich ein“, fluchte Greta beim Ausparken. „Er tut so, als wäre alles ganz normal zwischen uns!“

Sie bog auf die Straße ein und sah mit einem Blick auf die Uhr, dass ihre Truhe in einer halben Stunde geliefert würde.

"Jetzt schnell nach Hause“, redete sie mit sich selber, wie so oft in letzter Zeit. Sie fühlte sich erschöpft und wollte endlich die Tür hinter sich zu ziehen. Seit einem Monat wohnte sie in ihrer neuen Wohnung. Sie hatte es in der alten Wohnung nicht mehr ausgehalten, auch die Möbel hatte sie alle entweder Jens gegeben oder bei eBay versteigert. Greta wollte einen Neuanfang und den konnte man nicht besser darstellen, als mit neuen Möbeln!

Das war das Gute an der Trennung: die Erneuerung und das Frische!

Die schlechte Seite war jedoch die Angst vor der Zukunft.

Greta war auf einem guten Weg gewesen, sie hatte die Trennung akzeptiert und dadurch, dass ein Kind unterwegs war, hatte sie auch nie daran gedacht, noch irgendetwas an dem Zustand ändern zu können. Die Zeit mit Jens war unwiderruflich beendet. Er hatte sich für eine andere Frau und gegen ein gemeinsames Leben entschieden. Den Gedanken, dass die letzten drei Jahre vergeudete Zeit waren, verbot Greta sich. Zeit konnte nie umsonst sein, auch wenn etwas zu Ende ging und man sich fragte: Was war das jetzt? Greta hatte gelernt, ihr Leben in die Hand zu nehmen und durch den Umzug hatte sie einen Neuanfang für sich gefunden.

Als sie ankam, stand der Mann vom Antik – Hof vor der Tür. Mit vereinten Kräften trugen sie die Truhe rauf in den zweiten Stock und stellten sie in das Arbeitszimmer.

Als das Geschäftliche geregelt war, schloss Greta die Tür und atmete tief ein und aus und dachte: „Endlich alleine!“ Eine Träne lief ihr nun doch über die Wange.

„Scheiße kommt, Scheiße geht!“ sagte sie zu sich selber und wischte sich die Träne trotzig weg. Ja, es war schwierig, die Gefühle zu kontrollieren.

Schnell nahm sie sich den Putzeimer und einen Lappen und begann, die Truhe abzuwaschen. Sie war ziemlich dreckig und die oberste Schicht, musste auf jeden Fall erst mal frei von Vogel- und Mäusedreck sein, bevor sie das Schleifpapier ansetzte, um die Truhe aufzurauen.

Die Arbeit tat ihr gut. Sie stellte ihre Lieblingsmusik an.

Nach einer halben Stunde war die Oberfläche sauber, nun musste sie die Truhe noch von innen anschauen. Eben in der Scheune hatte sie eigentlich ganz gut ausgesehen und gerochen - hier in der Wohnung roch es jetzt doch etwas muffig. Greta öffnete die Fenster und schaute dann in die Öffnung.

„Okay“, sagte sie laut. „Jetzt noch schnell innen und morgen geht’s weiter.“

Sie dachte an ein schönes Schaumbad und ging schnell ins Badezimmer und ließ schon mal das Wasser in die Wanne laufen.

Dann ging sie zurück und machte sich an die letzte Arbeit. Noch während sie mit dem Lappen das Holz bearbeitete, bewegte sich der Boden. Sie vernahm ein leichtes Knarzen und Greta spürte, dass der Boden sich irgendwie uneben an fühlte.

„Na toll, angeblich soll die doch massiv sein und echt. Wie kann ein 100 Jahre alter Truhenboden so uneben sein?“, fluchte sie schon.

Greta holte aus ihrem Werkzeugkasten einen Schraubenzieher.

„Hat der Alte also selbst an dem Teil herumgeschraubt und verkauft sie als steinalt“, fluchte sie weiter, während sie den Schraubenzieher an der Seite ansetzte, um den Boden anzuheben.

An der Seite sah sie, dass Wasser unter dem Boden stand und darunter noch ein Boden zu sehen war, der nun vom Putzwasser aufzuweichen begann.

„So ein Mist“, sagte sie laut und in diesem Moment brach der Schraubenzieher ab, der die Last des Holzbodens nicht weiter halten konnte.

Greta hörte das Wasser in die Wanne rauschen, konnte aber nun nicht aufhören und holte den Hammer und einen weiteren Schraubenzieher aus dem Werkzeugkasten.

„Na warte, dir werde ich`s zeigen!“ sagte sie. „Das kann doch nicht so schwierig hoch zu stemmen sein.“

Greta hatte die Befürchtung, dass das Wasser unter der Verkleidung in die Truhe ziehen könnte und dass zu Schimmel führen könnte oder schon geführt hatte. Und so versuchte sie mit aller Kraft, den doppelten Boden hochzuheben. Mit lautem Knall gelang es ihr, das obere Brett war mittig einmal durchgebrochen.

„Ich bring den Mist zurück“ sagte sie und entdeckte in diesem Moment die schwarze Kladde und ein Paket Briefe.

Es roch fürchterlich nach vermodertem Papier oder Holz? Greta wusste es nicht so genau. Irgendwie, wie in einem feuchten Keller.

Vorsichtig griff sie nach der schwarzen Kladde. Sie hielt ein dünnes feuchtes Heft in der Hand. Sie öffnete es und hörte vor Aufregung über den unerwarteten Fund ihr Herz pochen. Sie las auf der ersten Seite:

„1944, Sei nie neugierig! Tagebuch von Lieselotte Schumann“

Greta konnte es kaum fassen, sie hatte die persönlichen Aufzeichnungen eines Menschen gefunden!

Schnell griff sie nach dem feuchten Paket Briefen. Es war in der Mitte mit einem verblassten roten Band zusammen gebunden worden. Auf dem Brief stand der Name eben dieser Lieselotte und der Name eines Carls.

Greta löste das Band und zählte 23 Briefe, sie waren mit Nummern versehen. Vor langer Zeit schien sie jemand geordnet zu haben. Nun waren sie aber allesamt leicht feucht. Greta drehte die Heizung auf und legte sie aufgereiht auf den Heizkörper. So nass konnte sie keinen einzigen lesen. Sie würden sich wahrscheinlich auflösen oder zerreißen, wenn sie einen aufmachen würde.

Das Tagebuch legte sie daneben und dann hörte sie es auch schon plätschern.

„Oh nein“, sie rannte ins Bad und stellte schnell das Wasser ab. Fast gleichzeitig zog sie den Stopfen aus dem Abfluss. Trotzdem schwappten noch ein paar Liter über den Wannenrand.

„Heute ist wohl Tag des Wasser“, schimpfte Greta und begann mit dem Badehandtuch und noch fünf weiteren das Wasser vom Boden zu wischen. Dabei dachte sie unentwegt über ihren Fund nach. Ob das Tagebuch seit damals unentdeckt geblieben ist? Durfte man das Tagebuch überhaupt lesen? So ganz ungefragt? Aber wen sollte sie fragen? Diese Lieselotte lebte bestimmt längst nicht mehr. Und wenn, war sie schon sehr alt - um die 90 Jahre.

„Erstmal baden und nachdenken“, dachte Greta und legte sich in die Badewanne.

Kapitel 2

Nach dem Baden und dem Trockenlegen des Badezimmers, schlug Greta das einigermaßen trockene Tagebuch auf. Zum Glück hat die Schreiberin mit Bleistift geschrieben, so dass nichts verlaufen war. Nur die Farbe des Stiftes war an einigen Stellen stark verblasst, aber Greta konnte noch genug lesen. Den Rest versuchte sie zu erraten.

14.09.1944

Räumungsbefehl in Schleiden angekommen. Solange es geht bleiben wir noch hier.

18. 09.1944

Generalabsolution bekommen.

Greta holte ihr Tablet und gab in einer Internetsuchmaschine das Wort Generalabsolution ein.

Bedeutungsübersicht:

sakramentale Lossprechung ohne Einzelbeichte (in Notfällen)

vollkommener Ablass, Nachlass der Sündenstrafe in Verbindung mit den Sakramenten der Buße und Eucharistie (für Sterbende oder Ordensmitglieder)

„Lieselotte hat also die Beichte abgelegt“, dachte Greta und las weiter.

21. 09.1944

In vielen Geschäften wird frei verkauft.

24.09.1944

Die Granaten sausen über uns. Familie Meinke nebenan, sind soeben weggefahren mit dem Handwagen- ob wir auch wegmüssen? Andauernd sind die Einschläge der Artillerie zu hören.

26. 09.1944

Eine schreckliche Nacht liegt hinter uns. Immer dieser zischende Laut der über uns sausenden Granaten. Die Kirche ist zum Teil zerstört.

28.09.1944

Carl geschrieben.

Greta stoppte kurz und sah auf. Wer war Carl? Ach ja Carl, der Mann der die Briefe geschrieben hatte. Sie stand auf und fühlte, inwieweit sie auf der Heizung getrocknet waren. Die Briefe mit den Nummern 1,2 und 3 nahm sie mit zum Bett und faltete den Ersten vorsichtig auf.

Brief Nr. 1

Schwedt, den 09.01.1944

Meine Lieben!

Heute ist Sonntag und da will ich Euch schreiben. Gestern Morgen war ich beim Arzt. Er sagte mir: „Innendienst“.

Bis jetzt, hab ich mich noch immer nicht richtig hier eingelebt. Gerade heute am Sonntag kommt es mir komisch vor. Ist Toni heute auch zu Hause? Das Essen hier ist sehr schlecht. In Russland war es 100-mal besser. Eine neue Raucherkarte haben wir hier auch noch nicht bekommen. Vorgestern Abend waren wir mir der ganzen Kompanie im Kino. Der Film der heute in Aachen läuft! Er war sehr schön. Heute Nachmittag gehe ich hier in die Kantine ins Kino. „Der Tiger von Eschnapur“.

Fliegeralarm haben wir hier noch keinen gehabt. Schwedt liegt noch circa 70-80 km hinter Berlin. In Berlin sieht es ganz toll aus. In der Nacht wo ich da war, war Mondlicht, da konnte man alles genau sehen.

Der Schmitz von Köln ist schon wieder nach Russland.

Für heute Schluss. Gruß Carl

Brief Nr. 2

Absender Gefr. Carl Schumann

Schwedt/Oder

Schwedt, den 11. 1. 1944

Meine Lieben!

Möchte Euch kurz mitteilen, dass ich heute Nachmittag ins Lazarett komme. Und zwar nach Eberswalde. Eine Station hinter Berlin. Gestern Mittag war ich beim Arzt zur Untersuchung. Und da musste ich heute früh zurückkommen.

Da hat er mich ins Lazarett überwiesen. Wenn es geht, lasse ich mich wieder nach Hause verlegen. Gruß Carl

Schickt keine Post mehr.

Brief Nr. 3

Eberswalde, den 15.1.19

Meine Lieben!

Die besten Grüße aus Eberswalde sendet euch allen Carl. Mir geht es gut. Hoffe das gleiche von Euch. Ich habe eine Bitte an Euch. Geht mal einer nach Backhaus und holt mir Hubert seine Adresse. Ich glaube der liegt auch hier in Eberswalde.

Gruß Carl

Greta legte die noch klammen Briefe wieder auf die Heizung und griff zum Tagebuch. Sie hatte so viele Fragen: Wer waren die Beiden? War es ein Liebespaar oder waren es Geschwister?

Nein, die Romantik fehlte in den Briefen. Man liest Sehnsucht nach der Heimat heraus und das ein sehr junger Mann weit weg von zu Hause sein musste.

„Ich denke, die beiden Menschen waren Geschwister und Lieselotte schreibt ihrem Bruder“, dachte Greta.

„Nur seltsam, dass die Daten unterschiedlich sind! Die Tagebuchaufzeichnungen beginnen erst 8 Monate später. Der letzte Brief hat einen Poststempel vom 19.8.1944. Was ist mit Carl danach geschehen und hat er die Briefe seiner Schwester überhaupt noch im September bekommen?

Inzwischen war es nach 23.00 Uhr, aber Greta konnte nicht aufhören zu lesen. Zudem hatte sie seit drei Tagen Sommerferien. Die Grundschule, in der sie als Lehrerin beschäftigt war, würde auch erst wieder am 04. August öffnen. Eigentlich wollte Greta in ihren Ferien das Projekt „Truhe restaurieren“ verwirklichen. Nun schien das Schicksal oder der Zufall ihr ein anderes „Projekt“ geschickt zu haben!

Gespannt schlug Greta das Tagebuch auf und las weiter.

29.09.1944

Heute Morgen 9 Uhr war ich bei Anne. Wir müssen räumen. In Vinn meinen die Leute, sie könnten noch bleiben. Jutta war sehr munter.

Anne mit Marie aus Bocket (Cousine Onkel Otto) sind heute Mittag noch mal dagewesen. Anne meint, wir sollen nach Vinn kommen, aber hat es Zweck? Über kurz oder lang müssen die auch weg.

Um 4 Uhr mit dem kleinen Karren weggefahren, Richtung Klein– Gladbach.

Gut aufgenommen bei Abels.

Auf Stroh müssen wir schlafen.

Ist egal, wenn wir nur hierbleiben können.

5.10.1944

Morgen müssen wir auch hier in Klein-Gladbach wieder weg. Die Feldgendarmerie hat uns herausgetrieben.

Bis jetzt hat Vater noch jeden Tag nach Haus fahren können. Hat auch noch allerlei geholt und dann das Vieh immer gefüttert. Ich war auch noch einmal da, mit Gretchen.

Vater hat durch Paul Wahlenberg das Schwein holen lassen, dafür kriegt der das halb. Jetzt haben wir wenigstens etwas.

6.10.1944

Um 12 Uhr mit zwei Wägelchen weggegangen auf eins kriegten wir nicht alles. Sehr gut gehabt bei Familie Abels.

In Erkelenz in der Stadthalle warten wir jetzt auf den Sonderzug.

Carl geschrieben.

Zwei Nächte in der Stadthalle auf Stroh geschlafen.

7.10.1944

Um 8 Uhr abends ab Erkelenz mit dem Sonderzug.

Sonderzug?- Ein Elendszug, richtiges Flüchtlingselend!

Keine Scheiben in den Rahmen, keine Heizung, schlechte Verpflegung. War fürchterlich kalt. Die ganze Nacht und noch den ganzen Montag gefahren, um 22 Uhr in Löbnitz/b. Halle.

Opa ganz doll im Kopf, redet ganz durcheinander. Diese Nacht in Löbnitz in der Schule auf Stühlen geschlafen.

9.10.1944

Zwei Zimmer bei Frau Dr. Offenbauer. Zwei richtige Betten und drei Luftschutzbetten.

11.10.1944

Carl und Anne geschrieben, nach Bad Meinberg. Muss heute viel an Anne denken.

14.10.1944

Zum ersten Mal hier im Stadtbad gewesen, nicht so schön wie in Oberbruch.

15.10.1944

Viel an Kathrin Schiffers gedacht.

Im Kino gewesen „Immensee“. Wo wir in Aachen schon immer hinwollten.

16.10.1944

Eltern „Silberhochzeit“. Aus der Kirche überall gelaufen für Blumen, endlich Dahlien bekommen. Frau Offenbauer ein Alpenveilchen geschenkt.

17.10.1944

Mutter hat an Carl geschrieben. Vater nach Köln, Gauamt der NSDAP geschrieben zwecks Anmeldung.

19.10.1944

Vater nach Elberfeld geschrieben zwecks Forderung des Gehalts und weitere Verhaltensmaßregeln erbeten.

21.10.1944

Mein 18 Jahre Geburtstag! Weiter nichts von gemerkt, als dass die Lebensmittelration noch mehr zusammengeschrumpft ist!!!

Vater an Bürgermeister von Löbnitz für einen Küchenschrank geschrieben.

22.10.1944

Mutter hat an Carl geschrieben und an seine Einheit.

Greta sah auf und musste schlucken.

„Was waren das nur für Zeiten?“ dachte sie. Greta wusste aus den Erzählungen ihrer Oma, dass der 2. Weltkrieg für alle Familien Verlust und Angst bedeutet hat. Ihre Oma wurde damals auch evakuiert und sie musste damals als 18-jähriges Mädchen auf einem Bauernhof schuften. „Richtige Männerarbeit“, hatte sie gesagt. Greta erinnerte sich, dass die Oma Narben an den Fingern hatte von der schweren Feldarbeit. Überhaupt waren die Hände der Oma immer rau und stark gewesen.

Greta war, nach dem Autounfall ihrer Eltern 1982, bei ihrer Oma aufgewachsen. Der Opa starb 1986 an einem Herzinfarkt und da Greta keine Geschwister hatte, war sie mit 10 Jahren nicht nur Waise, sie hatte auch nur noch einen einzigen Menschen auf dieser Welt - ihre Oma.

Greta wischte sich bei den Gedanken an ihrer Oma Clara Tränen aus den Augen: „Ach Mensch Oma“, sagte sie laut. „Eigentlich wollte ich immer, dass du mich zum Altar führst an meiner Hochzeit.“

Daraus war nichts geworden. Oma Clara starb vor zwei Jahren. „Verschlissen“, sagte die Nachbarin, Frau Meier, die schon seit den 50ern neben der Oma gewohnt hatte. Oma Clara war fast 86 Jahre geworden, ein durchaus langes und auch ein sehr erfülltes Leben.

„Ich habe dich immer gerne bei mir gehabt, mein Kind“, sagte sie immer wieder zu ihrer Enkelin.

Greta wohnte lange bei ihrer Oma, erst zum Studieren zog sie aus und vorübergehend in eine WG in Kassel. Jedes Wochenende kam sie aber nach Hause in den kleinen Ort Riede (Bad Emstal).

Später dann, nach dem Studium, zog sie sofort mit Jens zusammen und die Besuche beschränkten sich auf einmal in der Woche nach der Schule und am Wochenende. Jens kam selten mit. Er hatte selbst einen großen Freundeskreis und eine anstrengende Familie.

Und so war Greta die meiste Zeit am Wochenende auf der Autobahn und fuhr zwischen Kassel und Riede hin und her. Ihre Oma war fit bis zum letzten Tag, wäre da nicht der Schlaganfall dazwischen gekommen. „Sie hatte zu lange gelegen“, sagte ihr der Arzt im Krankenhaus. Seine Prognose war niederschmetternd, die Großmutter musste sterben, noch in den nächsten Stunden. Greta war froh, sich verabschieden zu können. Das schlechte Gewissen und die Vorwürfe fraßen sie heute noch auf, da sie nicht dagewesen war, als ihre Oma gestürzt war und dann noch einen Schlaganfall erlitten hatte, da sie ein Tag und eine Nacht unentdeckt liegen blieb. Die Nachbarin hatte sie schließlich gefunden und hatte den Notarzt verständigt. Greta schluckte schwer: „Ach Oma, ich vermisse dich so!“

Greta war damals sofort ins Krankenhaus gefahren, aber der Arzt konnte ihr nur noch sagen, dass sie sich verabschieden sollte. Und es ging dann wirklich sehr schnell. Oma Clara hatte sie noch einmal ganz klar angesehen und ihre Augen hatten gelächelt: „Kind“, sagte sie, bevor Greta merkte wie der Druck an ihrer Hand nachließ. Ihre Oma war gestorben. Greta erinnerte sich schwach daran, dass die Krankenschwester das Fenster öffnete mit den Worten: „Damit die Seele raus kann!“ Greta fand die Vorstellung, dass ihre Oma immer bei ihr war, tröstlich und so trösteten sie die Worte der Krankenschwester. Vor ihr lag nur die Hülle, der Körper war leer nach dem Tod, aber die Seele, die blieb noch eine ganze Weile auf der Erde. Jedenfalls stellte es sich Greta so vor.

Erschöpft löschte sie die Nachttischlampe und schlief sofort ein.

Kapitel 3

Brief Nr.4

Eberswalde, den 21.1.1944

Meine Lieben!

Erhielt gestern Euren lieben Brief vom 17.1. Herzlichen Dank. Die Post war ja schnell gegangen. Von Schwedt hab ich noch keine Post bekommen. Ihr fragt, wie das Essen hier ist. So gut wie in Linnich nicht. Aber viel besser wie in Schwedt. Rauchwaren bekomme ich keine. Meine Karte hatte ich ja vergessen. Die hat Toni. Hoffentlich hat er sie mir schon geschickt. Für heute grüßt euch denn alle Euer Sohn Carl. Erhielt gerade die Karte von Marlene und einen Brief von Leni aus dem Kloster.

An Schnaps gibt es nicht viel. Aber immerhin kann man sich einmal gut besaufen davon. Und das werde ich auch tun. Als Trost für den schönen Urlaub, der mir dadurch gerutscht ist. Wie du mir auch schreibst liebe Mutter ist Maria von Tante Josi in Urlaub. Jetzt ist sie ja wieder weg. Schreib mir doch mal ihre Adresse. Vielleicht kann sie doch mal bis hier kommen. Bis am Samstag bleiben wir bestimmt noch hier. Ich komm hier nicht weg. Was wir heute den ganzen Nachmittag noch machen werden, weiß ich noch nicht. Etwas durch die Stadt bummeln. Was soll