Heimkehr in den Palast der Liebe - Alexandra Sellers - E-Book

Heimkehr in den Palast der Liebe E-Book

Alexandra Sellers

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Beschreibung

Ein neues Leben hat für Prinzessin Shakira begonnen: Lange musste sie sich im Ausland verstecken - jetzt darf sie endlich wieder in ihrem Palast leben. Aber nicht nur Dankbarkeit empfindet sie für Scheich Sharif, der sie nach Bagestan zurückbrachte. Leide

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Alexandra Sellers

Impressum

1. Kapitel

Unter der erbarmungslosen Glut der Sonne erstreckte sich, heiß und trocken und unwirtlich, die australische Wüste bis zum Fuß der Berge. Eine Straße durchschnitt sie wie ein steinernes graues Band, das keinen Unterschied machte zwischen Ebene, Vertiefung oder Anhöhe.

Ein großer Lastwagen, dessen Ladung mit einer hellblauen Plane abgedeckt und mit Seilen befestigt war, raste über die einsame Straße, als wolle der Fahrer verhindern, dass der heiße Asphalt die Reifen in Brand setzte.

Die Straße war ansonsten leer – bis auf einen silbern glänzenden Wagen, der sich dem Lastwagen rasch von hinten näherte. Scheich Sharif Azad al Dauleh blickte von der Straßenkarte auf, die er auf dem Lenkrad ausgebreitet hatte. Immer noch kein Anzeichen dafür, dass er sich seinem Zielort näherte. Nichts als unfruchtbare Wüste, fast wie die Wüsten in Bagestan, und doch ganz und gar fremd.

Der Ort, den er suchte, war nur mit Bleistift auf der Karte markiert. "Burry Hill Flüchtlingslager" stand neben einem großen Kreuz, nur ein paar Meilen von der nächsten Stadt entfernt. Sharif blickte suchend nach vorne, ob da nicht eine Seitenstraße zu sehen war. Soweit er wusste, gab es kein Hinweisschild. Niemand sollte auf die Idee kommen, ein Flüchtlingslager besuchen zu wollen.

Sharif seufzte. Eine schwierige Mission, das hatte der Sultan selbst gesagt. Aber weder Ashraf noch er selbst hatten eine Vorstellung davon gehabt, wie schwierig. Die Aufgabe, ein verschwundenes Mitglied der königlichen Familie irgendwo auf der Welt in einem der unzähligen Flüchtlingslager zu finden, war nicht nur ein logistischer Albtraum; das Ganze war eine seelische Belastung. Kein Mensch hätte gegen das Ausmaß an Leid immun sein können, dem Sharif begegnet war.

Der Lastwagen stieß eine widerliche dicke Rauchwolke aus. Deshalb gab der Scheich Gas und lenkte seinen Wagen auf die Überholspur.

Da fiel ihm ein in schmutzigen grauen Stoff gewickeltes Bündel auf, das an der Rückseite des Lastwagens hing. Es war halb von der Rauchwolke verborgen und flatterte heftig im Wind, als ob es im nächsten Moment den Halt verlieren würde. Sharif blinzelte ungläubig. Es war ein Junge, der sich mit aller Kraft an der Ladung festhielt. Ein blinder Passagier.

Der Junge wirkte ziemlich abgemagert, schien aber flink und geschickt wie ein Affe zu sein. Jetzt war er offenbar drauf und dran, von dem Lastwagen herabzuklettern. Was für ein Leichtsinn. Sharifs Herz setzte fast aus. Gebannt sah er zu, wie der Junge eines seiner dünnen Beine nach unten ausstreckte, bis er Halt auf der Stoßstange fand. Dann blickte er über die Schulter auf die Straße hinter ihm. Entsetzt begriff Sharif, dass sein eigener Wagen sich offenbar im toten Winkel des Jungen befand, denn dieser lehnte sich jetzt zur Seite und ließ schon mit einer Hand los, wie um abzuspringen.

Sharif fluchte hilflos. War er im Begriff, Zeuge eines Selbstmords zu werden? Doch als er mit aller Kraft auf die Hupe drückte, holte der blinde Passagier mit der freien Hand aus und warf etwas unter die Räder des Lastwagens.

Eine Explosion erstickte das Geräusch der Hupe. Der Lastwagen geriet aus der Spur und hielt abrupt. Sharif riss das Steuer herum, um ihm auszuweichen, da sah er, dass das Bürschchen im Begriff war, direkt vor seinem Wagen abzuspringen.

Erst jetzt nahm der Junge ihn wahr. Für einen Sekundenbruchteil blickte er in Sharifs entsetzte Augen, dann landete er ungeschickt auf der Straße, verzog das Gesicht vor Schmerzen und rollte sich blitzschnell auf die Seite, in dem verzweifelten Versuch, dem Fahrzeug des Scheichs auszuweichen.

Die Reifen quietschen auf dem glühend heißen Asphalt, als Sharif gleichzeitig die Handbremse anzog und das Lenkrad herumriss. Steinchen prasselten gegen Karosserie und Fensterscheiben, und der beißende Geruch von verbranntem Gummi erfüllte die Luft.

Der Scheich kam mit seinem Wagen direkt am Straßenrand zum Stehen, nicht einmal einen halben Meter von dem Abhang entfernt, der hinunter zur Wüste führte. Etwas weiter vorne stand der Lkw. Beide Wagen bildeten einen flachen Winkel zueinander, und innerhalb dieses Winkels lag keuchend der Junge. Er hatte seine dünnen Arme schützend um den Kopf gelegt. Um ihn herum lag seine Beute auf der Straße verstreut – Schokoriegel, ein Spielzeug, und dann noch etwas, das in der grellen Sonne glitzerte. Eine Orange rollte langsam über den Asphalt. Ihre leuchtende Farbe wirkte fast obszön in dieser staubigen, trostlosen Umgebung.

Es herrschte Totenstille. Sharif stieg aus. Er war hoch gewachsen, genau wie der Sultan, und er hatte den Körperbau eines Kriegers und eine stolze, manche würden sagen arrogante, Haltung. Sein kantiges Kinn und seine gerade Nase fielen auf, er hatte sie von seiner ausländischen Mutter geerbt. Seine Oberlippe war wohlgeformt, seine volle Unterlippe zeugte von einer leidenschaftlichen Natur, von der jedoch nur wenige etwas ahnten. Der Blick seiner dunklen Augen, unter fast geraden schwarzen Brauen, ließ auf hohe Intelligenz schließen. Seine Wangenknochen waren ziemlich ausgeprägt, sein Teint glatt. Sein gewelltes schwarzes Haar war kurz geschnitten und aus der Stirn zurückgekämmt.

Der Knabe setzte sich auf und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er schien unverletzt zu sein.

"Du kleiner Dummkopf", sagte Sharif.

"Wo … wo kommen Sie denn her?" fragte der Kleine atemlos.

Sein dichter, von der Sonne gebleichter Schopf war unregelmäßig kurz geschnitten. Irgendwie wirkte das Gesicht zu zart für einen Jungen, der volle Mund und die Augen zu groß für dieses Gesicht. Und sein Ausdruck schien viel zu erwachsen für sein Alter – aber so war das bei allen, die in einem Lager wohnten. Sharif schätzte ihn auf ungefähr vierzehn.

Er lachte unwillig. "Wo ich herkomme? Was zum Teufel machst du hier? Du hast Glück, dass du noch lebst."

Einen Moment lang starrte ihn der Junge nur aus großen Augen an. Normalerweise trug in diesem Land niemand ein traditionelles arabisches Männergewand und ein Kopftuch, das von einer Kordel gehalten wurde. Doch Djellaba und Keffiyeh waren bei dieser Hitze genau die richtige Bekleidung.

"Ja, danke", sagte er.

Das kam so unerwartet, dass Sharif hell auflachte. Er zog ein goldenes Etui aus der Tasche seiner Djellaba, nahm eine dünne schwarze Zigarre heraus und schob sie sich zwischen die Lippen. Der Junge ging auf die Knie und streckte die Hand nach einem der Schokoriegel aus. Dabei verzog er plötzlich das Gesicht und fasste nach seinem Knöchel.

Sharif wollte gerade sein Feuerzeug aus der Tasche ziehen. "Bist du verletzt?"

"Nein", log der Junge, als ob es gefährlich sei, eine Schwäche einzugestehen. Er presste die Lippen aufeinander und versuchte erneut, seine Habseligkeiten einzusammeln.

Sharif stellte einen Fuß auf einen blauen, in bunte Pappe verpackten Plastikring, gerade als der Junge danach greifen wollte. Der hob den Kopf und blickte den großen Mann mit den dunklen Augen abschätzend und herausfordernd an.

"Schlimm?" fragte Sharif.

Der Junge zuckte mit den Achseln.

"Wie schlimm bist du verletzt?" fragte Sharif.

"Warum interessiert Sie das? Fühlen Sie sich besser, wenn Sie so tun, als ginge Sie das etwas an? Wenn Sie weiterfahren in Ihrem schönen, glänzenden Auto, werden Sie sich besser fühlen, weil Sie gefragt haben, wie es mir geht?"

Der Zynismus war schockierend – vermutlich das Resultat jahrelanger Schikane. Dabei war er immer noch ein Kind. Dass ein menschliches Herz so früh so tief von Misstrauen erfüllt sein konnte! Wie tragisch. Plötzlich wünschte Sharif sich nichts mehr, als diesem Kind verständlich zu machen, dass es auch echte Güte auf der Welt gab.

Im selben Moment tadelte er sich selbst für diese Schwäche. Seit Wochen sah er nichts als Szenen aus der Hölle, und er hatte es immer geschafft, den Kopf oben zu behalten. Warum nicht jetzt? Warum wegen dieses mageren Kerlchens, das keinem traute? Er wollte sich nicht emotional da hineinziehen lassen. Das wäre eine einseitige Angelegenheit. Sobald man sich nur einen einzigen Fall menschlichen Elends zu Herzen nahm, drohte man in einer Sintflut zu ersticken. Wie ein Chirurg musste man unbedingt Distanz wahren.

"Sei nicht dumm. Steig ein. Ich bringe dich zu einem Arzt."

Der Junge wich zurück. "Nein, danke. Nehmen Sie jetzt Ihren Fuß weg? Ich brauche das." Er versuchte, den Gegenstand unter Sharifs Fuß wegzuziehen, zerriss dabei aber nur die Verpackung.

Den Lastwagenfahrer hatten beide völlig vergessen. Der kam in diesem Moment wütend auf sie zugerannt.

"Verfluchter kleiner Bastard!" schrie er und beugte sich über den Jungen. "Was hast du gemacht? Du bist einer dieser verdammten Flüchtlinge, was?"

Er packte ihn beim Handgelenk und zog ihn hoch. Dabei fielen all die Sachen erneut auf den Boden. Der Kleine schrie auf vor Schmerz.

"Flüchtlinge?" fragte Sharif Azad al Dauleh.

Plötzlich war es still. Der Lastwagenfahrer betrachtete stumm den stolzen Fremden. Der trug eine eigenartige Kleidung, die man normalerweise in einer anderen Wüste trug, Welten entfernt.

"Dort drüben ist Burry Hill." Er wies mit dem Kopf zum Horizont, ohne darauf zu achten, wie sehr sich der Junge gegen ihn wehrte. "Es ist nicht so sicher wie die anderen Lager. Es heißt, man kann ziemlich einfach entwischen, aber wo sollen die schon hin? Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als wieder zurückzugehen. Ich hab schon von diesem Trick gehört – sie werfen so 'ne Art Feuerwerkskörper unter die Räder, und wenn man dann anhält, springen sie schnell ab und sind in der Wüste verschwunden, bevor man sie erwischt. Aber diesmal nicht, was?" Er zerrte am Handgelenk des Jungen und bleckte die Zähne. "Diesmal nicht."

"Lass mich los, du stinkender Kameltreiber!" schrie der Kleine, und dann schien er sein Englisch zu vergessen und verfiel in eine Art Lagerdialekt, offenbar eine Mischung aus bagestanisch gefärbtem Arabisch und Parvani. Es folgte ein Schwall von Beleidigungen.

Sharif knipste sein goldenes Feuerzeug an. Seine Mundwinkel zuckten verdächtig, als er den detaillierten Ausführungen des Jungen lauschte, während dieser dem Lastwagenfahrer erklärte, dass er wohl zu blöd sei, bei einer Ziege vorne von hinten zu unterscheiden. Sharif beugte den Kopf über die Flamme. Als er ihn wieder hob, fiel sein Blick erneut auf das Gesicht des Jungen. Einen Moment lang verharrte er wie erstarrt.

"Komm her, du kleiner …" Der Lastwagenfahrer versuchte, ihm einen Tritt zu versetzen, doch der Kleine war zu flink, trotz seiner Verletzung.

"Sohn einer räudigen Hündin!"

Das Feuerzeug schloss sich mit einem vornehmen Klicken. Sharif Azad al Dauleh hob den Kopf und nahm die Zigarre aus dem Mund.

"Lassen Sie ihn los."

Der Fahrer machte große Augen. "Was?"

"Sie sind größer als er. Und Sie können sich an Ihre letzte Mahlzeit erinnern."

"Was hat das damit zu tun? Er hätte uns beide umbringen können! Er ist ein Dieb! Sehen Sie sich diesen Kram hier an – alles geklaut, das steht fest!" schrie der Fahrer und deutete auf die Gegenstände auf dem Boden.

"Lassen Sie ihn los."

"Sie haben kein …"

Der Lastwagenfahrer musste aufschauen, um dem Fremden in die Augen zu blicken. Er zögerte. Sharif verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte. Der Junge nutzte den Moment, um sich loszureißen und an Sharif vorbeizuhumpeln. Keuchend suchte er hinter der offenen Wagentür Schutz.

"Ich glaube, Sie haben sich geirrt. Sie sind über eine Plastikflasche gefahren", erklärte Sharif.

Es folgte ein langer Moment gegenseitigen Anstarrens. Schließlich blickte der Lastwagenfahrer von dem dunkeläugigen Scheich zu dem dunkeläugigen Jungen und schnaubte verächtlich.

"Verstehe. Er gehört zu Ihnen, was?"

"Ja", erwiderte Sharif leise. "Er gehört zu mir."

Irgendetwas in seinem Gesichtsausdruck ließ den anderen zurückweichen. "Ach was", brummte er. "Ich hab keine Zeit für so was. Muss meine Termine einhalten." Er spuckte auf die am Boden verstreuten Besitztümer des Jungen, drehte sich um und stapfte zurück zu seinem Gefährt.

Kurz darauf raste der Lastwagen wieder über die Straße, als wolle er seinen eigenen Abgasen entkommen.

Sharif blieb kurz stehen und blickte zum Horizont. Er fragte sich, ob er wirklich gesehen hatte, was er glaubte, gesehen zu haben. Vielleicht hatte er auch nur zu viel Sonne abbekommen.

"Komm her!" befahl er, ohne jedoch seine Stimme zu erheben.

Der Kleine sah halb verhungert aus. Die nackten Arme, die aus dem zu weiten T-Shirt herausragten, waren schrecklich dünn, und der lange Hals und die hohlen Wangen erweckten erst recht den Eindruck, als ob er dringend eine richtige Mahlzeit brauchte. Aber was die Ähnlichkeit betraf, da war kein Irrtum möglich.

"Wie heißt du?" fragte Sharif auf Arabisch.

Der Junge sah ihn an wie ein verwundetes Tier, das nur auf die Rückkehr seiner Kräfte wartet, um zu fliehen.

"Ich frage aus einem bestimmten Grund", sagte Sharif.

Der Junge erklärte ihm, er könne sich seine Frage und die Gründe dafür sonst wohin schieben, und benutzte dabei die gleiche Sprache wie gegenüber dem Lastwagenfahrer. Er erwies sich dabei als überaus kreativ und fantasievoll.

"Sag mir den Namen deines Vaters."

Für einen kurzen Moment senkte sich ein Schatten auf das Gesicht des Kleinen, aber dann zuckte er nur die Schultern, als wolle er sagen, "zum Teufel mit dir", und humpelte über die Straße, um eine Orange aufzuheben. Sharif nahm den Fuß von dem bunten Plastikding, und einen Moment lang sah ihn der Junge an, als rechnete er damit, getreten zu werden. Offenbar hielt er Sharif für keinen Deut besser als den Lastwagenfahrer.

Sharif hob nur eine Braue, bückte sich und hob das Ding auf. Der Junge verstaute all die anderen Sachen unter seinem weiten T-Shirt. Dann baute er sich im Abstand von ein oder zwei Metern vor Sharif auf.

"Das gehört mir. Geben Sie's her."

Sharif nahm die Zigarre aus dem Mund. "Hast du es nicht gestohlen?"

"Was geht Sie das an? Ich habe es gestohlen. Nicht Sie. Es gehört mir. Wenn Sie es behalten, sind Sie auch ein Dieb, genauso wie ich. Geben Sie es her."

Der Junge hinkte so stark, offenbar hatte er seinen Knöchel gebrochen. Das Wichtigste war jetzt, ihn zu einem Arzt zu schaffen. Um alles andere könnte Sharif sich später kümmern.

Er warf dem Jungen das Plastikding zu und wies mit dem Kopf auf seinen Wagen. "Steig ein."

Doch der Kleine fing den Gegenstand auf, wirbelte herum und eilte auf den Straßenrand zu. Plötzlich hinkte er längst nicht mehr so stark. Sharif musste lächeln.

"Sei nicht dumm!" rief Sharif. "Du bist verletzt! Lass dich zum Arzt bringen!"

Der Junge blickte kurz zurück. Die Abendsonne ließ die Schatten unter seinen Augen und um die Wangenknochen so deutlich hervortreten, dass Sharif sich endgültig sicher war, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben.

"Wie ist dein Name? Zu welcher Familie gehörst du?"

Doch der Junge glitt, halb rennend, halb rutschend, den Abhang hinab. Kurz darauf war er, flink wie ein Djinn in der Wüste, verschwunden.

2. Kapitel

"Bist du es, mein Sohn? Hat Gott es gut mit dir gemeint?"

Farida lag auf dem Bett neben ihrem Baby und versuchte, den weinenden Säugling mit einem in Zuckerwasser getränkten Stofffetzen zu beruhigen. Ihr schweißfeuchtes Haar hatte sie mit einem Schal zurückgebunden. Als Hani eintrat, blickte die junge Mutter auf und wischte sich seufzend mit der Hand über die feuchte Stirn. In dem Raum herrschte eine Temperatur wie in einer Sauna, obwohl die Sonne nur durch ein winziges, vergittertes Fenster hereindrang.

Der Junge holte die Ausbeute des Tages unter seinem T-Shirt hervor. Nacheinander landeten mehrere Schokoriegel, ein Armband, ein Beißring für Babys und mehrere Orangen auf dem Bett. Farida lächelte müde.

"Wie hast du das geschafft?" fragte sie und schüttelte staunend den Kopf.

Der Junge zuckte nur mit den Achseln und ließ noch mehr Gegenstände auf das Bett fallen – manche waren nützlich, andere würden sich gegen Nützliches eintauschen lassen. Hani gelangen Dinge, von denen andere nur träumten.

Er war ein geborener Jäger und Sammler. Vielleicht war es nur der elfengleichen Geschmeidigkeit seiner Bewegungen zu verdanken oder seiner Erfahrenheit, oder vielleicht war es einfach Glück, jedenfalls versorgte Hani seine Familie gut. Es war ein Glückstag für Farida gewesen, als der Junge sich ihr angeschlossen hatte. Er war zwar sehr jung und sehr zierlich, aber er hatte viele Jahre in Camps verbracht, und er war hart und zäh und dabei so schlau wie ein Erwachsener. Oft beschützte er sie und das Kind, einfach indem er schnell und gewitzt reagierte, wo ein Erwachsener seine Muskeln eingesetzt hätte.

Wahrscheinlich nutzte er seine Fähigkeit, fließend Englisch sprechen zu können, um die Leute in den Läden auszutricksen. Niemand im Lager wusste, was er alles draufhatte – und wie nützlich das war! Hani wusste zum Beispiel immer, was im Lager vor sich ging, einfach weil er regelmäßig um die Verwaltungsbüros herumstrich und Augen und Ohren offen hielt. Er hatte auch als erster Bescheid gewusst über den Gesandten des Sultans, der kommen würde.

Der Junge ließ einen letzten Gegenstand auf das Bett fallen. Eine Brieftasche aus schwarzem Leder.

Farida staunte. Hani betätigte sich nicht oft als Taschendieb. Die Brieftasche sah sehr teuer aus, das Leder war fein und weich. Farida öffnete sie und seufzte, als sie das Bargeld im Innern sah. Rasch zählte sie es und lächelte. Dieser Betrag würde ihnen über viele Tage, ja Wochen, hinweghelfen!

Sie reichte Hani das Geld, und der nahm einen Joghurtbecher, der auf dem Waschtisch zwischen einer Spülschüssel und einem Wassereimer stand. Darin steckte ein kaum kleinerer Becher, der einen Topfkratzer, ein Stück grüne Seife und einen Schwamm enthielt. Hani nahm den kleineren Behälter heraus, legte das Geld in den größeren und setzte den kleineren wieder hinein. Das war ihre Bank.

"Barakullah! Was ist das?" zischte Farida. Sie hielt eine Visitenkarte mit Goldschnitt in der Hand. "Seine Exzellenz Sharif Azad al Dauleh …" In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Verblüffung und Entsetzen. "Du hast einen bagestanischen Diplomaten bestohlen?" flüsterte sie, denn die Wände waren sehr dünn. "Was ist das für ein Mann? Wie bist du ihm so nah gekommen?"

Hani schöpfte mit der Hand Wasser aus dem Eimer, um den blauen Beißring abzuspülen. Dann bespritzte er sich Gesicht und Hals mit seinen kleinen, knochigen Händen. Den Beißring gab er dem Baby.

"Es passierte auf der Straße. Sein Wagen folgte einem Lastwagen, den ich als Taxi benutzte. Um ein Haar hätte er mich überfahren, aber er hat sehr gute Reflexe."

Erschrocken blickte Farida auf. "Bist du verletzt?"

Der Junge zuckte nur mit den Achseln.

"Erzähl mir, was passiert ist."

Farida stand auf und ging in dem engen Zimmer auf und ab, während sie Hanis Bericht lauschte. Das Baby hatte sie sich über die Schulter gelegt. Es kaute auf dem Beißring und beobachtete Hani mit großen, glänzenden Augen.

"Mein Sohn, er hat dein Leben gerettet und dich davor bewahrt, verprügelt zu werden, und du stiehlst ihm seine Brieftasche?" sagte Farida, als Hani die Schilderung seines Abenteuers beendet hatte.

Der Junge schwieg.

"Hani, aber überleg doch – das muss Sultan Ashrafs Gesandter sein."

Seit Tagen schon herrschte große Aufregung im Lager, denn einem Gerücht zufolge wurde ein hoher Vertreter der Regierung Bagestans erwartet. Den Grund für sein Kommen kannte niemand, aber die bagestanischen Flüchtlinge innerhalb des Lagers hofften sehr darauf, dass er gekommen war, um sie zu repatriieren, nun, da der neue Sultan auf dem Thron saß. Selbst Flüchtlinge aus anderen von Bürgerkriegen heimgesuchten Staaten glaubten, dass ihre Rettung kurz bevorstand.

"Er war allein, er hatte nicht einmal einen Chauffeur. Ein Diplomat, der ein Flüchtlingslager besucht, tritt nicht ohne Assistenten und Presse auf", erklärte Hani altklug.

"Vielleicht folgen sie ja in anderen Autos. Warum sonst sollte so ein Mann an einem Ort wie diesem sein? Ya Allah! Der Tafelgefährte des Sultans! Wenn er nur nicht merkt, dass du ihm die Brieftasche gestohlen hast, Hani! Meinst du, er wird dich erkennen?"

In diesem Augenblick klopfte es laut an der Tür.

Die junge Mutter zuckte zusammen und drückte mit zitternden Händen die Brieftasche an sich. Das Baby öffnete den Mund, ließ den Beißring fallen und begann zu weinen.

"Was sollen wir tun?" zischte Farida.

"Gib sie mir." Hani griff nach der Brieftasche und ließ sie unter seinem weiten T-Shirt verschwinden.

"Hani!" flüsterte Farida, doch da klopfte es wieder. Mit vor Angst geweiteten Augen öffnete Farida die Tür.

Es war einer der "Wachleute", Männer, die selbst Flüchtlinge waren und die man mit einem Abzeichen versehen und mit der Aufgabe betraut hatte, als Verbindungsleute zwischen Lagerverwaltung und Lagerinsassen zu fungieren. Was die Lagerverwaltung nicht merkte oder nicht merken wollte, war die Tatsache, dass mit diesen Abzeichen einer skrupellosen Lagermafia Rückendeckung gegeben wurde.

Der Mann sah Hani missmutig an.

"Du warst heute in der Stadt", erklärte er in dem merkwürdigen Sprachenmischmasch der Lagerinsassen. Sein Blick fiel auf das Bett, wo die armselige Ausbeute von Hanis Expedition lag. "Lass mal sehen!"

Hani sprang ihn an, packte seinen Arm und versuchte, seine Schätze zu verteidigen. Aber der Mann war groß und stark. Er warf den Jungen einfach zur Seite, so dass er gegen den Waschtisch fiel. Einen Moment lang blieb er dort liegen und hielt sich den schmerzenden Knöchel.

Er verfluchte den Wachmann mit der erbitterten Verachtung des Schwächeren. "Ein Babyschnuller!" rief er hämisch. "Willst du daran saugen? Vielleicht wachsen dir ja dann deine verfaulten Zähne nach!"

Blitzschnell war er wieder auf den Beinen. Er sprang dem Wachmann auf den Rücken, als dieser sich über das Bett beugte. Mit seiner kleinen Faust traf er den Mann am Ohr. Da wurde sein Handgelenk von einer großen, kräftigen Hand gepackt und brutal verdreht. Der Junge schrie auf und gab sich geschlagen. Wie ein Stück Abfall wurde er einfach fallen gelassen.